i i “kompendium” — 2010/10/12 — 8:33 — page 412 — #424 i 412 i 6. Bioelektrizität 6.3.2 Herzflimmern Eine geordnete Bildung und Ausbreitung der Erregung im Herzen kann auch beim völlig Gesunden durch einen elektrischen Reiz in ein völliges Chaos verwandelt werden, das keine Pumpfunktion mehr ermöglicht (das Herz steht still, nur eine Unruhe der Oberfläche, Flimmern“, ist noch zu ” beobachten). Dieser akut lebensbedrohliche Zustand des Herzflimmerns ist die Ursache für tödliche Ausgänge von Stromunfällen, aber auch bei vielen krankhaften Zuständen im Herzen eine ständige Gefahr (plötzlicher Herztod). Wie kommt es zum Herzflimmern? Eine Erregung kann sich unter bestimmten Bedingungen auf kleinem Raum erneuern und das Herz als funktionelles Synzytium bietet die Möglichkeit des Zirkulierens von Erregungen. Tatsächlich ist dieser Wiedereintritt (engl. reentry) in sehr rascher Folge die sehr wahrscheinliche Ursache von Flimmern. Sie wird gefördert durch kurze Refraktärdauer und langsame Ausbreitungsgeschwindigkeit. Bei elektrischer Anisotropie7 ist weiter ein unidirektionaler Block der Erregungsausbreitung möglich. Diese Voraussetzungen können durch viele krankhafte Veränderungen im Myokard erfüllt und so die Wahrscheinlichkeit von Herzflimmern erhöht werden. Aber in der Phase nach Ende der absoluten Unerregbarkeit (absolute Refraktärphase, ARP in Abb. 6.25), also bei gerade wieder beginnender Erregbarkeit (relative Refraktärphase, RRP in Abb. 6.25) sind diese Voraussetzungen kurzfristig auch beim völlig gesunden Herzen gegeben. Deshalb gibt es eine sogenannte vulnerable Phase (Zeitspanne, in der Flimmern leicht auszulösen ist) im Herzen. So wird verständlich, warum neben vielen anderen Faktoren beim Blitzschlag auch der zeitliche Bezug zwischen Kammererregung und Blitzeinwirkung (wegen der möglichen Auslösung von Herzflimmern) wichtig ist und warum die Dauer der Stromeinwirkung (zunehmende Wahrscheinlichkeit, eine vulnerable Phase zu treffen) sowie der Einschaltzeitpunkt beim Stromunfall wichtig sein müssen (Abb. 6.26). Natürlich müssen auch Herzschrittmacher so gebaut sein, daß sie in der vulnerablen Periode keine Impulse abgeben (kammergesteuerte Schrittmacher). Die raschen und ungeordneten Erregungen bei Herzflimmern können auf die Vorhöfe beschränkt bleiben (der AV-Knoten schützt die Kammern durch seine TiefpaßFrequenzfilterfunktion, das heißt es werden nur niedrige Frequenzen übergeleitet, hohe Frequenzen aber gestoppt) und so über lange Zeit toleriert werden. Kammerflimmern ist dagegen akut lebensbedrohlich 7 nis:(anisos) ungleich trìpos:(tropos) Richtung anisotrop:richtungsabhängige Unterschiede von physikalischen Eigenschaften (z.B. Lichtausbreitungsgeschwindigkeit in doppelbrechenden Kristallen) i i i i i i “kompendium” — 2010/10/12 — 8:33 — page 413 — #425 i 6.3 Elektrostimulation des Herzens i 413 (Stop der Pumpfunktion, Blutdruckabfall, fehlende Durchblutung des Herzens und anderer lebenswichtiger Organe, Abb. 6.26). Abb. 6.25 Verhalten der Reizschwelle in der Zeit nach Beginn der Kammererregung (QRS). Einer Phase völliger Unerregbarkeit (ARP, absolute Refraktärperiode) folgt eine Phase rasch ansteigender Erregbarkeit (RRP, relative Refraktärperiode). Am Anfang der RRP, etwa zum Zeitpunkt des Anstiegs der T-Welle im EKG, ist die Schwelle zur Auslösung des lebensbedrohlichen Kammerflimmerns extrem niedrig. Abb. 6.26 Wechselstromreizeffekte auf das Herz in Abhängigkeit von der Dauer, dem Zeitpunkt des Herzzyklus und der Stärke (Breite des Wechselstrombandes). Kurzdauernde Impulse lösen nur während der ansteigenden T-Welle Herzflimmern aus. Impulse, die länger als ein Herzzyklus sind, treffen mit Sicherheit die ansteigende T-Welle oder vulnerable Periode einer ausgelösten Erregung und lösen auch bei geringer Stromstärke Flimmern aus. i i i i i i “kompendium” — 2010/10/12 — 8:33 — page 414 — #426 i 414 i 6. Bioelektrizität Durch einen sehr starken Stromimpuls kann Herzflimmern durchbrochen und die normale elektrische Aktivität wiederhergestellt werden. Man bezeichnet diese Form der Elektroschocktherapie als Defibrillation. Die Defibrillation erfolgt meist mit einem Gleichstromimpuls mit einer maximalen Energie von 400 J (am offenen Herzen 80 J), wozu sehr hohe Ströme durch den Patienten (Herz im Stromweg) fließen müssen, bis zu ca. 60 A. Offensichtlich gelingt es so, alle Herzzellen kurzfristig auf ein einheitliches Potential und so in Gleichschritt“ zu zwingen und das ” elektrische Chaos zu beenden. Diese Stromstärken erfordern großflächige Elektroden (Vermeidung von Hautverbrennungen) und Schutz von Arzt und Helfern sowie von technischen Geräten (Abb. 6.28). Eingesetzt wird eine Kondensatorentladung über einen erdfreien Ausgangskreis mit einem 3 – 8 ms dauernden Impuls mit Spitzenspannungen bis 3 kV (Abb. 6.27), über dessen optimale Form noch keine endgültige Klarheit besteht. Während die Defibrillation eine klassische Notfallmaßnahme ist, ist die Kardioversion8 (Synchron-Defibrillation der Vorhöfe) klinische Routine. Um bei Defibrillation der Vorhöfe nicht versehentlich Kammerflimmern auszulösen, muß der Elektroschock-Impuls bei Kardioversion in genauer zeitlicher Zuordnung zur Kammererregung gesetzt werden (R-Zacke des EKGs zur Steuerung des Impulses). Abb. 6.27 zeigt die Kardioversion, welche man in der absoluten Refraktärphase der Ventrikel (Abb. 6.25) vor der vulnerablen Phase durchführt. 6.4 Stromunfall 6.4.1 Stromweg, Stromdichte, Hautwiderstand • Stromweg Bei Stromfluß durch den Körper ist das Herz durch den geringen Widerstand der Blutbahn in Gefahr, von hohen Stromdichten durchflossen zu werden. In Abbildung ?? sind die Beziehungen zwischen GesamtStromstärke (I) und Feldstärke (ER ) am Herzen für verschiedene Stromwege dargestellt (Versuche an Leichen). Offensichtlich werden im Vergleich zum Stromweg linke Hand – linker Fuß unterschiedliche Stromstärken je nach Weg toleriert, ehe die Flimmergrenze überschritten wird. Die Gefahr des Stromunfalls liegt in der Auslösung von Herzflimmern. 8 Kardioversion:Behebung pathologischer Herzrhythmen durch Elektroschock i i i i i i “kompendium” — 2010/10/12 — 8:33 — page 415 — #427 i 6.4 Stromunfall i 415 • Stromstärke Haushaltsstrom (50 bzw. 60 Hz) wird, bei einer Elektrode in jeder Hand, bei 1 mA zu 50% von erwachsenen Männern schon empfunden, die Empfindungsschwelle von Frauen ist etwa um 1/3 niedriger (Hautdicke). Ab etwa 10 mA kommt die starke Reizwirkung auf Nerven und Muskulatur in Form von willentlich nicht mehr zu beeinflussenden Muskelkontraktionen zum Tragen. Das Loslassen von stromführenden Teilen kann unmöglich werden. Abbildung 6.29 zeigt die Stromstärken, bei denen noch 50% der erwachsenen Männer loslassen können, die Werte für Frauen und Kinder liegen niedriger (Loslassschwelle, engl. Let-go-Schwelle). Bei etwa 9 mA können noch 99.5% stromführende Teile loslassen. Steigt die Stromstärke weiter an, kommt es zu Schmerzen, krampfartigem Zusammenziehen der Arme, Atmungsbeschwerden, Blutdrucksteigerung; die Grenze der Erträglichkeit liegt bei ca. 30 mA effektiver Stromstärke, Schockwirkung und Bewußtlosigkeit können dabei schon auftreten. Bei intakter Haut im Stromweg spielt der Hautwiderstand eine ganz wesentliche, stromlimitierende Rolle. Unter Stromfluß bleibt der Hautwiderstand aber nicht konstant, sondern er sinkt ab und, wie die Abbildung 6.30 zeigt, steigt der Strom an. Ab welchen Stromstärken kann nun beim Menschen Herzflimmern ausgelöst werden? Abb. 6.27 Impulsform an den Elektroden bei Kardioversion. Der Zeitpunkt des Defibrillationsimpulses muß mittels EKG exakt auf den Herzzyklus so abgestimmt werden, daß die vulnerable Phase zur Flimmerauslösung vermieden wird. Bei implantierten Schrittmachern zur Defibrillation werden auch biphasische Impulse eingesetzt. Die ideale Impulsform zur Defibrillation ist noch Gegenstand der Forschung. i i i i