Parlamentswahlen in der Türkei: Einparteienregierung in Gefahr Erdinç Benli, Co-Head des Global Emerging Equities Team bei GAM 3. Juni 2015 Die anstehenden Wahlen am Sonntag, den 7. Juni, werden international mit grossem Interesse verfolgt. Die Türkei muss die sich abkühlende Wirtschaft im Griff behalten und ist politisch gespalten. Das Ergebnis der Wahlen könnte die politische Lage des Landes grundlegend verändern. Die regierende AKP-Partei gerät in der Türkei zunehmend unter Druck angesichts der eher negativen politischen Schlagzeilen der letzten Jahre. Überdies ist die Arbeitslosenquote angestiegen und die türkische Lira verzeichnet einen dramatischen Wertverfall. Dennoch sollte die Unterstützung für die AKP in der wahlberechtigten Bevölkerung nicht unterschätzt werden. Insgesamt war die Regierung seit 2002 dank Reformen, Privatisierung und ihrer Haushaltsdisziplin eine Erfolgsgeschichte. Die im Vergleich zu den 1990er Jahren stark verbesserte politische Stabilität hat Investitionen in die Türkei gefördert. Die Inflationsrate ist stark gesunken, während sich das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt dank der stark wachsenden Wirtschaft verdreifacht hat. Ein Teil dieses Wachstums wurde jedoch mit ausländischen Krediten finanziert. Dieser Umstand erweist sich jetzt als Achillesferse für die wirtschaftliche Stabilität. Das Leistungsbilanzdefizit ist mit 5% immer noch eines der Höchsten in den Schwellenmärkten. Das wirtschaftliche Wachstum hat sich in jüngster Zeit in Anbetracht stagnierender wichtiger Exportmärkte, einschliesslich der EU und Russlands, verlangsamt. Auch der Wertverfall der türkischen Lira und die höhere Inflationsrate haben die Verbraucherstimmung auf ein Rekordtief gesenkt, das nur in den Jahren 2008/2009 unterboten wurde. Eine Veränderung der Machtverhältnisse könnte bei dieser Wahl durch die pro-kurdische demokratische Volkspartei HDP herbeigeführt werden, die gute Aussichten hat, die 10%-Hürde zu überwinden und in das Parlament einzuziehen. In diesem Fall könnte die AKP erstmals seit 2002 die absolute Mehrheit verlieren und gezwungen sein, eine potenziell instabile Koalitionsregierung einzugehen. Wir glauben, dass sich dies zumindest kurzfristig auf den Aktienmarkt auswirken würde. AKP bleibt stärkste Partei, verliert aber an Boden 30 Parteien treten bei dieser Wahl an. Eine Partei benötigt mindestens 10% der Wählerstimmen, um in das Parlament einzuziehen. Wahrscheinlich werden jedoch nur drei oder vier Parteien die 10%-Hürde überwinden. 2011 war die Wahlbeteiligung mit 83% hoch. Die AKP war bei der letzten Parlamentswahl 2011 mit 49,8% der Stimmen die stärkste Partei. Die Zustimmung für die AKP fiel in den aktuellen Meinungsumfragen jedoch auf ca. 43%. Neben wirtschaftlichen Faktoren wie der steigenden Arbeitslosigkeit liegen die Gründe hierfür in einer Polarisierung der türkischen Bevölkerung auf politischer Ebene, weil sich die liberale Bildungsbürgerschicht im Westen des Landes nicht angemessen in der Regierung vertreten fühlt. Die Proteste am Gezi-Park sind wohl Ausdruck dieser Entwicklung. Entscheidend wird sein, ob die HDP die 10%-Hürde überwindet Die besondere Bedeutung der anstehenden Wahlen besteht darin, dass die AKP zum ersten Mal seit 2002 ihre Mehrheit verlieren könnte sowie in dem Vorhaben des derzeitigen Präsidenten und früheren Premierministers Erdogan, das politische System in ein exekutives Präsidialsystem mit mehr Machtbefugnissen umzuwandeln. Dies erfordert eine Verfassungsänderung, die wiederum eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Parlamentsstimmen (mehr als 360 von insgesamt 550 Sitzen) oder die Unterstützung von mindestens 50% der wahlberechtigten Bevölkerung in einem Referendum erfordert. Ein solcher Prozess kann nur mit der Zustimmung von mindestens 330 Parlamentsstimmen eingeleitet werden. Die Sitzverteilung hängt in hohem Masse davon ab, ob die prokurdische HDP die 10%-Hürde nimmt und in das Parlament einzieht. Das Ergebnis wird die Chancen der AKP, eine Mehrheit im Parlament zu erzielen, entsprechend erhöhen oder senken. Aktuelle Umfragen ergeben eine Zustimmung der Bevölkerung für die HDP zwischen 9% und 11%. Es gibt ausserdem Anhaltspunkte dafür, dass neben der pro-kurdischen Bevölkerung auch junge gebildete Bürger aus den westlichen Städten aus strategischen Gründen für die HDP stimmen, um einen zu grossen Machtgewinn der AKP zu verhindern. Best-Case-Szenario mit positiver Marktreaktion Das unserer Ansicht nach wahrscheinlichste und marktfreundlichste Ergebnis wäre, dass die HDP die 10%Hürde überwindet und in das Parlament einzieht, während die AKP gleichzeitig ihre Regierungsmehrheit behält. Dies würde die politische Stabilität erhöhen und soziale Unruhen durch kurdische Unterstützer wären unwahrscheinlich, da sie im Parlament vertreten wären. Gleichzeitig könnte eine relativ stabile Ein-Parteien-Regierung unter Führung der AKP ihre Politik fortsetzen. Um die Verfassung zu ändern und ein exekutives Präsidialsystem einzuführen, müsste die AKP eine Koalition mit einer anderen Partei bilden. Insgesamt würde dies zu einer mehr konsensbasierten Politik mit stärkeren Prüfungsfunktionen und einem ausgewogeneren Machtverhältnis führen. Worst-Case-Szenario mit negativer Marktreaktion Wenn die HDP die 10-%-Hürde überschreitet und die AKP weniger als 276 Sitze (50 %) erhält, würde der Markt unserer Meinung nach höchstwahrscheinlich kurzfristig negativ reagieren. Die AKP würde ihre absolute Mehrheit verlieren und eine Regierungskoalition bilden müssen. Investoren würden dieses Ergebnis nicht begrüssen, da die politische Stabilität gefährdet wäre. Probleme zwischen den Parteien, einen Konsens zu erzielen, würden dringend benötigte Reformen Parlamentswahlen in der Türkei behindern und zu zunehmenden Spannungen und möglicherweise zu vorzeitigen Neuwahlen führen. Mittel- bis längerfristig würde ein solches Szenario jedoch tatsächlich zu einer besseren Politik führen und Fortschritte in der Türkei fördern. Dies würde letztendlich zu einem konvergierenden gesellschaftlichen Gefüge führen, in dem unterschiedliche Meinungen respektiert werden und ein nationaler Konsens ermöglicht wird. Die Türkei ist eine noch relativ junge Demokratie mit einem parlamentarischen Mehrparteiensystem, die erst seit den 1940er Jahren besteht. Nicht zuletzt aufgrund mehrerer Militärcoups, der letzte im Jahre 1980, ist die Implementierung verschiedener demokratischer Institutionen noch nicht abgeschlossen. Die Türkei verfügt über ein attraktives strukturelles Potential, so zum Beispiel eine junge unternehmerische Bevölkerung, von der 50 % jünger als 30 Jahre sind. Neben der Politik der Parteien sind für Investoren auch die wirtschaftliche Agenda der Parteien und die Frage, wer in Zukunft die Wirtschaft des Landes anführt, wichtig. Der bisher politisch für die Wirtschaft verantwortliche stellvertretende Premierminister Ali Babacan muss nach drei Amtszeiten und einer Erfolgsgeschichte, die ihm die Wertschätzung der Investoren eingebracht hat, abtreten. Kapitalmärkte: Kurskorrektur birgt Anlagegelegenheiten Der türkische Aktienmarkt fiel seit Ende Januar hinter andere Schwellenmärkte zurück und die Währung hat durch die politische Unsicherheit vor der Wahl und die schwächere wirtschaftliche Dynamik an Wert verloren. Auch wenn die Wahlen höchstwahrscheinlich zu einer Ein-Parteien-Regierung unter der Leitung der AKP führen werden, hat die Wahrscheinlichkeit einer Koalitionsregierung laut den jüngsten Umfragen zugenommen. Angesichts der in den letzten beiden Wochen rückläufigen Aktienkurse passt sich der Markt preislich an ein solches Szenario an. Türkische Dividendenpapiere wurden bereits erheblich abgewertet und werden derzeit mit dem höchsten Preisnachlass der letzten fünf Jahre gehandelt. Eine weitere Kurskorrektur türkischer Dividendenpapiere würde unserer Ansicht nach einen attraktiven Eintrittspunkt für langfristige Anleger bieten. Quelle: GAM, falls nicht anders angegeben. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben wird keine Haftung übernommen. Das Dokument ist nur für den eigenen Gebrauch der Person, für welche es bestimmt ist, und darf weder reproduziert noch an andere Personen verteilt werden. 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