151006_Reisebericht

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Wahlkrieg in der Türkei
Reisebericht der Friedensdelegation in der Türkei vom 4. – 7.10.2015
Auf Einladung des Friedensblocks, einem Zusammenschluss von
Gewerkschaften, linken Parteien, der Friedensbewegung und sozialen
Bewegungen, war eine Delegation von Politiker*innen, Friedensaktivist*innen
und Journalisten aus den Niederlanden, Österreich und Deutschland zwei Tage
in den kurdischen Regionen im Südosten der Türkei. Organisiert wurde diese
Reise von DIDF, der Föderation demokratischer Arbeitervereine. Die
Reisegruppe wollte sich ein Bild von den Auswirkungen der jüngsten Angriffe des
türkischen Militärs auf die kurdische Bevölkerung machen und Solidarität
zeigen.
Nach Ankunft und Sammlung der Delegation am 4.Oktober in Istanbul flog sie
am 5.10.15 nach Diyarbakir. Dort kam für den Friedensblock Nuray Sansar dazu
und übernahm die Leitung der Delegation. Die 15 Mitglieder der Delegation
bereisten die Städte Mardin, Nusaybin, Cizre, Silvan und Diyarbakir. Aus
aktuellem Anlass ging es zunächst nach Nusaybin in der Provinz Mardin, direkt
an der Grenze zu Syrien. In der Stadt herrschte seit dem 1.10.2015 eine
Ausgangssperre. Diese wurde von türkischem Militär und Polizei durchgesetzt,
indem geschossen wird, sobald nur jemand ans Fenster geht. Es soll bereits 14
Tote und viele Verletzte geben.
Nach türkischem Recht kann eine Ausgangssperre nur mit Zustimmung des
Parlaments ausgerufen werden. Das Parlament wurde jedoch nach Aussage von
Abgeordneten der „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) nicht einbezogen.
Gegen die vom Militär verhängte Ausgangssperre und die Belagerung der Stadt
protestieren Menschen aus der Umgebung und einige Abgeordnete der HDP am
Ortseingang. Die Delegation war eingeladen mit den Protestierenden zu reden
und sich ein Bild von der Situation zu machen.
Auf dem Weg nach Nusaybin wurde der Bus der Delegation durch eine gerade
aufgebaute Straßensperre des Militärs aufgehalten. Auf Nachfragen wird
erklärt, die Delegation dürfe nicht nach Nusaybin fahren, die Abgeordneten der
HDP, die wir besuchen wollten, können ja zu uns kommen.
In Telefonaten mit Behörden in der Hauptstadt und Gesprächen mit dem Militär
an der Straßensperre versucht die Delegation durchgelassen zu werden. Wir
erreichen dann in Begleitung des HDP-Abgeordneten Mithat Sancar auf
Umwegen über Feldwege die Protestierenden am Stadtrand. Der Zugang nach
Nusaybin ist von Polizei und Militär mit Sturmgewehren, Wasserwerfen und
gepanzerten Fahrzeugen blockiert – angeblich um Terroristen zu bekämpfen und
die öffentliche Ordnung wieder herzustellen.
Der HDP-Abgeordnete Mithat Sancar aus Mardin erläutert die Situation:
Seit fünf Tagen gäbe es eine Ausgangssperre in Nusaybin. Abgeordnete, die sich
über die Situation der Bevölkerung, Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln
informieren wollten, seien nicht in die Stadt gelassen worden. Die Begründung
sei, bewaffnete Jugendliche würden Straßensperren aufbauen und die müssten
nun abgebaut werden. Das Angebot der HDP-Abgeordneten, in dem Konflikt zu
vermitteln und für Sicherheit zu sorgen, wurde vom Militär abgelehnt. Sancar
sieht die Ursache für die Drangsalierung der Bevölkerung in der Region darin,
dass in der Stadt mit 120.000 Einwohner*innen bei den letzten Wahlen die HDP
90 % der Stimmen bekommen habe. Es gäbe eine lange Tradition des
Widerstandes. Ziel der Regierung sei es, die Bevölkerung zu brechen, damit sie
nicht mehr die HDP wählen und die AKP bei den Wahlen im November die
absolute Mehrheit erhalte.
Diese Einschätzung wurde von vielen Teilnehmer*innen bei einer kurzfristig
abgehaltenen Kundgebung auch zum Ausdruck gebracht.
Die Abgeordneten und unsere Delegation verhandeln mit dem Militär, um in die
Stadt zu kommen und uns ein Bild von der Situation der Bevölkerung zu
machen. Dies wird abgelehnt. Nach langem Hin und Her genehmigt das Militär,
auf einer vorgegebenen Route eskortiert von zwei Militärfahrzeugen am
Stadtrand entlang zu unserer nächsten Station, der Stadt Cizre zu fahren. Die
Straßen sind leer, niemand ist zu sehen, die Situation wirkt gespenstisch, nur
gepanzerte Polizeifahr- oder Militärfahrzeuge patrouillieren durch Nusaybin.
Später hören wir, dass die Stadt erneut bombardiert wurde.
In Cizre trafen wir den amtierenden Bürgermeister, Kadir Kunur, und die von
der Regierung abgesetzte Co-Bürgermeisterin, Leyla Imret. Wie auch in
Deutschland bekannt wurde, war die Bürgermeisterin aufgrund ihrer Aussage
abgesetzt worden: „Ich befürchte, dass das Land in einem Chaos, in einem Krieg
endet“. Dies wurde ihr als Aufruf zum Bürgerkrieg ausgelegt.
Cizre wurde, wie uns der Bürgermeister berichtete, neun Tage lang einer
Ausgangssperre mit Scharfschützen ausgesetzt. Bereits einige Tage vorher
waren tausende Polizisten und Sondereinheiten mit gepanzerten Fahrzeugen in
die Stadt gebracht worden. Am 4. September wurde dann von diesen Kräften
eine Ausgangssperre verhängt. Alle Telefon- und Internetverbindungen, die
Strom- und Wasserversorgung wurden gekappt. Die ganze Stadt mit ca. 140.000
Einwohner*innen war bis auf zwei Stadtteile sozusagen von der Welt
abgeschnitten. Die Rechnung dieser Belagerung war hart. Es gab 21 Tote, alles
Zivilisten im Alter von einem Monat bis zu einem 60jährigen Mann. Sie wurden
direkt vor ihren Haustüren oder in ihren Vierteln getroffen. 11 starben durch
Kopfschuss, sechs weil die Ambulanz nicht fahren und Kranke und Verletzten
nicht ins Krankenhaus bringen durfte. Es gab über 100 Verletzte. Nur ein Arzt
war im Krankenhaus aufgrund der Ausgangssperre eingesperrt. Keine Apotheke,
keine Bäckerei, kein Laden durfte aufmachen, die Menschen mussten in ihren
Häusern bleiben und von ihren Vorräten leben. Strom und Wasser waren
abgestellt. Einige Häuser haben noch Wassertanks auf dem Dach. Diese wurden
beschossen und das Wasser lief aus, so dass auch auf diesem Wege kein Wasser
zur Verfügung stand. Nach Beendigung des Ausnahmezustandes hat das Militär
behauptet, alle Einrichtungen, sowie das Krankenhaus und die Apotheken seien
geöffnet gewesen, das Leben sei ganz normal weiter gegangen, aber das Militär
habe in der Stadt Terroristen gefunden.
Nach dem Gespräch machten wir einen Rundgang durch den besonders
betroffenen Stadtteil Nur und sehen eine Spur der Verwüstung, der Stadtteil
wirkt wie nach einem Krieg. Viele Häuser und Geschäfte sind zerstört, manche
ausgebrannt, überall sehen wir Einschusslöcher von unterschiedlicher Größe.
Ärzte berichten vom Einsatz sehr unterschiedlicher Waffen, die sie nicht alle
einschätzen könne, sie denken, dass auch Streumunition zum Einsatz kam. Das
größte Problem sei die absolute Ausgangssperre gewesen, die verhindert habe,
dass Kranke und Verwundete behandelt werden konnten.
Dann berichtet uns noch Emine Cagirga, die Mutter der zwölfjährigen Demile,
die im Hof ihres Hauses erschossen wurde. Die Mutter holte sie vom Hof und
nahm sie mit ins Bett. Sie wollte nicht glauben, dass ihre Tochter tot war. Wegen
der Hitze begann die Leiche anzuschwellen. Die Familie wusch sie und färbte das
Haar mit Henna. Und da sie die Tochter nicht beerdigen konnten, nahmen sie
alles Essen aus der Kühltruhe und legten sie hinein. Immer wieder versuchten
sie das Krankenhaus anzurufen, aber es kam niemand. Irgendwie erreichten sie
die Abgeordneten und baten um Hilfe. Sie zimmerten eine Sarg aus Holz, legten
den Leichnam der Tochter in eine Decke eingewickelt hinein und trugen den
Sarg auf die Hauptstraße, damit ein Krankenwagen ihn abholen konnte. Auch
dabei wurden sie beschossen. Aber irgendwie kam dann doch ein Krankenwagen
und brachte die Tochter ins Krankenhaus von Sirnak. Erst nach Beendigung des
Ausnahmezustandes konnten sie ihre Tochter begraben.
Nach diesem Berichten und dem Rundgang fuhr die Delegation nach Mardin,
traf sich zum gemeinsamen Abendessen mit den Bürgermeister*innen
(Februniye Akyol Akkay und Ahmet Türk) und Vertreter*innen der HDP und
DBP sowie des Mesopotamischen Juristenverbandes und einem Arzt des
städtischen Krankenhauses zusammen.
Nach der Übernachtung in Mardin ging es am 6. Oktober nach Silvan, wo nach
Beendigung des Ausnahmezustandes zwei Frauen beerdigt werden sollen. Dort
trafen wir auch die Bürgermeisterin von Diyarbakir, Gülten Kisanak.
Als wir ankommen, sind schon viele Menschen in der Stadt unterwegs. Die
Beerdigung gleicht einer Demonstration. Es werden zwei Frauen beerdigt, die
sich mit einer Gruppe alter Frauen in den Tagen des Ausnahmezustandes einem
Panzer entgegen gestellt und das Militär gebeten hatten, den Einsatz gegen die
Zivilbevölkerung zu beenden. Erschossen wurden sie von Scharfschützen von
einem weit entfernt gelegenen Haus. Die über 70jährige Frau, die nun beerdigt
werden soll, wurde ins Bein getroffen und verblutete, da kein Rettungswagen
fahren durfte und sie nicht behandelt werden konnte. Auf dem Weg zum Friedhof
kommen wir an ihrem Wohnhaus und dem Tatort vorbei und uns wird die
Geschichte erzählt.
Nachdem ein Auto den Sarg bis kurz vor den Friedhof gebracht hat, übernehmen
eine große Gruppe von Frauen, die dort gewartet hatten die Beerdigung mit
großem Stolz. Frauen tragen den Sarg und werden von einer großen Gruppe von
trauernden Frauen begleitet. Die Frauen aus unserer Delegation schließen sich
an. Die Männer warten bis das Grab von Frauen ausgehoben und der Sarg
begraben und die Frauen ihre Trauer gezeigt haben. Dabei ist es im Islam üblich,
dass Männer die Beerdigung auch von Frauen durchführen, den Sarg tragen, das
Grab ausheben usw. Die Frauen dürfen normalerweise nur am Rande stehen und
zuschauen. Hier haben die Frauen das Heft des Handels in die Hand genommen.
Es waren Frauen die ein Ende der Gewalt gefordert hatten und es sind Frauen,
die ihre Weggefährtinnen zur letzten Ruhe begleiten und ihre Trauer und ihren
Zorn zeigen. Das war für uns sehr beeindruckend.
Danach werden wir zusammen mit der Bürgermeisterin von Diyarbakir und
weiteren Vertreter*innen der HDP und DBP durch die Stadt zu den Orten der
Verwüstung durch Militär und Polizei geführt. Es zeigt sich ein ähnliches Bild
wie am Vortag in Cizre: zerstörte Häuser und Geschäfte, zerbrochene Scheiben,
überall Einschusslöcher.
Es zeigt sich an all diesen Orten in der Nähe der syrischen Grenze, die
vorwiegend von Kurden und Kurdinnen bewohnt sind, dass türkische Polizei und
türkisches Militär offensichtlich in diesen Regionen eine Art kollektiver
Bestrafung der Bevölkerung vorgenommen hat. In diesen Regionen hatte die
HDP bei den letzten Wahlen zwischen 70 und 90 Prozent der Stimmen
bekommen. Dies Wahlergebnis hat mit dazu beigetragen, dass die HDP die ZehnProzent-Hürde überwinden konnte und in die Nationalversammlung der Türkei
einziehen konnte. Dabei hatte sich die herrschende AKP von Erdogan bei den
Wahlen im Juni das Ziel gesetzt, eine Mehrheit von 60 % zu erringen, um die
Verfassung ändern und die Macht des Präsidenten Erdogan ausbauen zu
können. Aufgrund dieses Ergebnisses konnte und wollte die AKP keine
Regierung bilden und nun sind am 1. November erneut Wahlen. Diesmal will die
AKP ganz offensichtlich dafür sorgen, dass die Wählerinnen und Wähler der
HDP eingeschüchtert sind oder aufgrund des Ausnahmezustandes gar nicht
wählen gehen können.
Die Bundesregierung und auch die EU müssen aufgefordert werden, dafür zu
sorgen, dass in allen Teilen der Türkei freie und faire Wahlen durchgeführt
werden können und alle Menschen sich an den Wahlen beteiligen können.
Wir fordern die militärische, polizeiliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit
mit der Türkei unverzüglich zu beenden und alle Waffenexporte in die Türkei zu
stoppen.
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