TiBu_104_10_TiBu-Master-Lay 06.12.12 22:29 Seite 40 TIBET IN FLAMMEN Fast hundert Menschen haben sich seit 2009 in Tibet in Brand gesetzt, allein dreißig davon im November 2012. Vier Autoren sprechen über unterschiedliche Aspekte der Selbstverbrennungen – und darüber, warum der Dalai Lama schweigt. TiBu_104_10_TiBu-Master-Lay 06.12.12 22:29 Seite 41 TIBET IN FLAMMEN WENN DIE TIBETER SICH ANZÜNDEN Die Anthropologin Katia Buffetrille im Gespräch mit Déborah Corrèges Was bezwecken die Selbstverbrennungen in jüngster Zeit? Die Gründe unterscheiden sich nicht von denen der früheren Selbstverbrennungen. Alle, die ein Testament hinterlassen haben, rufen zur Einheit des tibetischen Volkes auf, dazu, sich nicht gegenseitig zu bekämpfen, die eigene Sprache zu pflegen und vor allem die tibetische Kultur zu bewahren. Die erste Selbstverbrennung geschah 1998 in New Delhi. Es war ein Flüchtling, der am Hungerstreik bis zum Tode teilnehmen wollte, den der Tibetische Jugendkongress organisiert hatte. Als die indische Polizei einschritt, um die Aktion abzubrechen, hat sich Thubten Ngodup selbst in Brand gesetzt. Danach gab es keine weitere Selbstverbrennung mehr bis zum Februar 2009, als ein Mönch des Klosters Kirti im Distrikt Ngaba, heute Provinz Sichuan, sich anzündete. Das Kloster Kirti und der Distrikt Ngaba sind die Orte, in denen es die größte Zahl von Selbstverbrennungen gab. Alle, ohne Ausnahme, die diese Tat dort begingen, sind in Tibet geboren und in der Volksrepublik China aufgewachsen. Warum wählen sie den Akt der Selbstverbrennung? Das ist keine traditionelle Aktionsform in Tibet. Im alten China dagegen und auch in Indien ist diese Praktik belegt, man wandte sie an, um auf Unrecht aufmerksam zu machen. Warum sie sich für diesen Weg entschieden haben? Dazu kann man nur Hypothesen aufstellen. Trotz der Globalisierung war es sicher nicht der arabische Frühling, der den Anstoß dazu gegeben hat, denn die ersten Selbstverbrennungen gab es schon vorher. Sicher ist dagegen, dass die Tibeter darüber informiert sind, was in den arabischen Ländern geschehen ist, wo eine einzige Selbstverbrennung eine Revolution ausgelöst hat. Eine Selbstverbrennung ist ja ein sehr spektakulärer Akt. Was in Tibet geschieht, wird jedoch von den Medien sehr selten aufgegriffen, zum einen aufgrund der zahlreichen Ereignisse, die die Welt erschüttern, zum anderen, weil die westlichen Länder außerordentlich zurückhaltend sind, wenn es darum geht, irgendetwas gegen China zu sagen. Sie haben Angst, dass ihnen vielleicht ein Geschäft entgehen könnte... Welchen religiösen Wert hat ein solches Opfer? Es gibt viele Diskussionen darüber, ob eine Selbstverbrennung ein Akt ist, der mit der tibetisch-buddhistischen Praxis vereinbar ist oder nicht. Im Grunde hängt alles davon ab, auf welche Texte man sich beruft und welcher buddhistischen Schulrichtung man folgt. Im Buddhismus heißt es, dass man nur, wenn man einen menschlichen Körper besitzt, die Möglichkeit hat, die buddhistische Lehre, den dharma, zu empfangen. Wer also seinen menschlichen Körper zerstört, kann den dharma nicht mehr empfangen. Aus diesem Grund gilt der Körper als so kostbar. Andererseits gibt es in den Darstellungen über das Leben des Buddha viele Geschichten, die vom Opfer des Bodhisattvas aus altruistischen Motiven erzählen. So hat der Buddha in einem seiner Leben seinen Körper einer Tigerin geopfert, die zu schwach war, um ihre Jungen zu ernähren. So werden also die einen der Ansicht sein, dass eine Selbstverbrennung zu einer sehr schlechten Reinkarnation führen wird, während die anderen diese Tat als einen altruistischen Akt sehen, der nur zu einer guter Reinkarnation führen kann. Die Tibeter, die sich selbst in Brand gesetzt haben, taten das in der Hoffnung, dass ihr Opfer etwas Gutes für ihre Landsleute bewirken möge. Und im Buddhismus ist ja die Motivation, die einem Akt zugrunde liegt, von entscheidender Bedeutung. Inwieweit kann man die Selbstaufopferung als Aktionsmittel betrachten? Die Tibeter haben immer auf gewaltfreie Aktionen gesetzt. Im Jahre 2008 gab es eine Vielzahl von Demonstrationen, aber die chinesischen Behörden haben nur diejenige vom 14. März 2008 hervorgehoben, die einzige, bei der es zu Gewalttätigkeiten kam. Dazu ist auch noch nicht alles bekannt geworden. Man könnte den Eindruck haben, die Armee hätte zulassen, dass sich die Demonstration so aufschaukelt, bis die Spannung auf dem Siedepunkt war, nicht ausgeschlossen, dass es auch Provokateure gab. In Folge dieser Demonstrationen kam es zu schrecklichen Repressalien, besonders im Kloster Kirti, wo 18 Mönche umgekommen sein sollen. Nach diesen Demonstrationen haben die Tibeter dann nach anderen friedlichen Aktionsweisen gesucht und die Bewegung „Weißer Mittwoch“ [tib. lhakar, Anm. der Red.] ins Leben gerufen: Jeden Mittwoch ziehen die Tibeter tibetische Kleidung an, essen tibetische Speisen, sprechen Tibetisch, ohne ein Wort in Chinesisch oder in Hindi – wenn sie in Indien wohnen – zu verwenden. Sie haben für den Erhalt ihrer Sprache friedlich demonstriert, haben Gedichte und andere Schlüsseltexte verfasst. Und die chinesischen Behörden reagieren ausschließlich mit weiteren Unterdrückungsmaßnahmen. Es kann also sein, dass die Selbstverbrennung als einziges Handlungsinstrument übrig zu bleiben scheint, um auszudrücken, was man sagen will, ohne andere, Tibeter oder Chinesen, zu verletzen. TIBET UND BUDDHISMUS 1|2013 41 TiBu_104_10_TiBu-Master-Lay 06.12.12 22:29 Seite 42 Die Selbstverbrennungen fanden überwiegend außerhalb der Autonomen Region Tibet statt. Haben Selbstverbrennungen von Mönchen eine andere Bedeutung als die von Laien? Traditionsgemäß haben die Mönche dem Leben dieser Welt entsagt. Sie haben keine familiären Verpflichtungen; ihr Tod hat also weniger Auswirkungen als der eines Vaters, der für seine Familie verantwortlich ist. Alle Tibeter haben eine ganz besondere Beziehung zum Dalai Lama, der irdischen Emanation des Bodhisattvas Avalokiteśvara, dem Schutzpatron von Tibet, für einen Ordinierten ist er darüber hinaus der Wurzellama. Die Tatsache, dass sich auch Laien selbst verbrannt haben, stellt einen weiteren Wendepunkt dar. Etwa zehn Laien haben sich selbst in Brand gesetzt, darunter zwei Mütter und eine junge Schülerin, die sich weigerte, nach chinesischsprachigen Lehrbüchern zu lernen. Auf diese Weise drücken sie ihren Unwillen gegenüber der chinesischen Politik in Tibet aus und ihren Wunsch, dass Tibet tibetisch bleiben möge. Wie nimmt die Bevölkerung die Selbstverbrennungen wahr? Um das genau zu erfahren, müsste man die Menschen fragen können, aber es ist absolut unmöglich, anzurufen oder sich danach zu erkundigen, denn dies würde für sie enorme Risiken mit sich bringen. Der erste Eindruck lässt vermuten, dass die Selbstverbrennungsopfer von vielen als Helden betrachtet werden: davon zeugen die Gedichte, die kursieren, und die Tatsache, dass die Trauerfeiern Tausende von Menschen anziehen. Wenn man sie als Terroristen, als Schwachsinnige oder Narren ansähe, als die sie von der chinesischen Regierung abgestempelt werden, dann glaube ich nicht, dass so viele Menschen zu den Bestattungen kämen. 42 TIBET UND BUDDHISMUS 1|2013 Und der Dalai Lama? Im Fall von Thubten Ngodrup während des Hungerstreiks 1998 hat der Dalai Lama seinen Unmut gegenüber solchen Praktiken ausgedrückt, die er als einen gegen sich selbst gerichteten Gewaltakt ansah. Andererseits zitiert der Dalai Lama häufig Mahatma Gandhi, für den der Hungerstreik ein gewaltloser Akt war. Er hat seine Bewunderung für den Mut dieser Menschen geäußert und an Gebeten teilgenommen. Aber er hat die Effizienz solcher Aktionen in Frage gestellt, die, wie er meint, nur noch stärkere Repressionen nach sich ziehen. Er will sich künftig nicht mehr zu diesem Thema äußern. Haben diese Selbstverbrennungen eine politische Wirkungskraft? Bevor die Chinesen kamen, war die jeweilige regionale Identität bei den Tibetern in Tibet sehr stark ausgeprägt. Aber je mehr Zeit vergeht, desto stärker bildet sich eine nationale Identität heraus. Außerdem kann man feststellen, dass der Graben zwischen den Tibetern im Exil und den Tibetern in Tibet, die ja eine völlig unterschiedliche Geschichte und eine ganz andere Erziehung hinter sich haben, schmaler wird. Die Selbstverbrennungen einen heute die Tibeter immer mehr, ganz gleich, ob in Tibet oder im Exil. Die chinesische Regierung ist dabei, etwas zu erschaffen, das es so noch niemals gegeben hat – und dass das Gegenteil von dem ist, was sie beabsichtigt: die Einheit aller Tibeter. “Quand les Tibétains s’immolent. Rencontre avec Katia Buffetrille“, scienceshumaines.com. KATIA BUFFETRILLE ist Anthropologin und Spezialistin für Tibet an der École des Hautes Études in Paris.