Das sexuelle Elend existiert weiter

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THEMEN DER ZEIT
SEXUALWISSENSCHAFT
Das sexuelle Elend existiert weiter
Die Sexualwissenschaft ist zwar möglicherweise nicht mehr sozialreformerisch, sie muss aber
weiterhin die Vorstellungen von sexueller Gesundheit, von sexuellen Störungen, ihrer Therapie und
medizinischen Versorgung kritisch hinterfragen. Deshalb braucht die Medizin die Sexualwissenschaft.
Peer Briken, Arne Dekker
ie Sexualmedizinische Ambulanz am Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main
wurde im vergangenen Jahr geschlossen. Diese Entscheidung verschlechtert nicht nur die medizinische Versorgung von Patienten mit
zum Teil erheblichem Leidensdruck,
sie bildet auch den vorläufigen Endpunkt der ebenso langwierigen wie
unwürdigen Abwicklung des Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft, die im Jahr 2006 mit dem
altersbedingten Ausscheiden des
Direktors Volkmar Sigusch begann
und zwischenzeitlich für erheblichen öffentlichen Protest sorgte.
Aktuell ist die Sektion für Sexualmedizin am Universitätsklinikum
Schleswig-Holstein von der Schließung bedroht.
Das Frankfurter Institut war stets
mehr als eine rein medizinische Institution: In den entscheidenden
Momenten gingen von hier wichtige sexualpolitische Impulse aus,
zudem war es eine der beiden Forschungsstellen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, der
ältesten und größten interdisziplinären sexualwissenschaftlichen
Fachgesellschaft (1).
Die Schließung bietet uns den
Anlass, über die Frage nachzudenken, ob die Medizin auf Sexualwissenschaft künftig verzichten kann –
oder sie weiterhin braucht.
Medizin – ars medicina – ist als
Kunst des Heilens eine Erfahrungswissenschaft und keine Naturwissenschaft. Da sie sich naturwissenschaftlicher Grundlagen bedient,
vergisst sie das nur zu leicht. Natur-
Institut für Sexualforschung und Forensische
Psychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin
am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf:
Prof. Dr. med. Briken, Dekker
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 3 | März 2012
Derek Cracco, Winter Wonderland 2008, Mixed Media on Plane
149,8 cm × 110,5 cm
wissenschaften verwenden keinen
genuinen Krankheits- und Gesundheitsbegriff. Ursachen und Erscheinungen von Krankheit und Gesundheit betrachten sie als natürliche
Prozesse mit Begriffen der Norm
und Normabweichung beziehungsweise Anomalie. Medizin hingegen
ist – vielleicht in erster Linie – das,
was sich hinter dem Altgriechischen iatrik (téchnē) verbirgt:
ein mehr oder weniger kunstvoll zu
beherrschendes Handwerk. Sie
dient der individuellen Hilfe für
kranke Menschen und der Gesunderhaltung, Prävention und Früherkennung von Krankheiten. Der zentrale Begriff der Medizin ist demnach das Helfen. Medizin ist eine
Sexualität und
Geschlechtsleben
sind die Gegenstände der Sexualwissenschaft.
Foto: courtesy of the artist (www.DerekCracco.com), and beta pictoris gallery/Maus Contemporary (www.betapictorisgallery.com)
D
hermeneutische Wissenschaft, tut
aber gut daran, die Naturwissenschaften zu kennen und sie zu verwenden. Gute Mediziner begreifen,
dass sie sich anderer Wissenschaften bedienen, sich dieser aber nicht
bemächtigen sollen – und sich ihrerseits einer Bemächtigung nicht
unterwerfen dürfen. Ebenso wenig
dürfen sie sich ihrer Patienten bemächtigen. Eine ausschließlich naturwissenschaftliche Medizin verfehlt den Menschen und kann ihm
nicht helfen. Damit aber verfehlt sie
ihren Gegenstand.
Sexualwissenschaft ist
multidisziplinär angelegt
Gegenstände der Sexualwissenschaft sind die Sexualität und das
Geschlechtsleben im engeren wie
weiteren Sinne. Die Arbeitsschwerpunkte der Sexualwissenschaft
liegen in der theoretischen und empirischen Erforschung physiologischer, psychischer und soziokultureller Aspekte der Sexualität sowie
in der Entwicklung von pädagogischen, beraterischen, medizinischen
und therapeutischen Angeboten.
Sexualwissenschaft ist multidisziplinär angelegt. Mit ihr befassen sich
neben den Kultur- und Sozialwissenschaften die Psychologie, verschiedene Subspezialitäten der Medizin (zum Beispiel Andrologie,
Urologie, Gynäkologie), die Biologie, Anthropologie, Ethnologie,
Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft und in jüngerer Zeit
die Neurowissenschaften. Fragestellungen der Sexualwissenschaft
berühren unter anderem den sozialen Wandel der Sexualität, die individuelle sexuelle Entwicklung des
Menschen, sein Sexualverhalten,
die Sexualerziehung, sexuelle Ge-
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sundheit sowie Ursachen, Genese
und Therapie sexueller Störungen.
Die Sexualmedizin – wenn sie
sich begrifflich definieren will – beschäftigt sich als Teilgebiet der Medizin und der Sexualwissenschaft
mit allen Aspekten, die der Erhaltung und Förderung der sexuellen
Gesundheit dienen. Es gehören also
das Erkennen, Behandeln sowie die
Prävention und Rehabilitation von
Störungen und Erkrankungen mit
den Mitteln der Medizin dazu – und
damit auch die nicht körpermedizinischen Verfahren wie Beratung und
Psychotherapie. Um zu entscheiden,
wen oder was die Sexualmedizin
behandelt, müsste sich bestimmen
lassen, was unter sexueller Gesundheit zu verstehen ist. Die Definition
der Weltgesundheitsorganisation
lautet (2, eigene Übersetzung):
„Sexuelle Gesundheit ist ein Zustand physischen, seelischen und
sozialen Wohlbefindens in Bezug
auf Sexualität. Sie erfordert einen
positiven und respektvollen Umgang mit Sexualität und sexuellen
Beziehungen sowie die Möglichkeit,
lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, die frei von
Zwang, Diskriminierung und Gewalt sind.“
Sexuelle Störungen
unterliegen einem Wandel
Diese Definition ist von ihrem humanen Anspruch her eindeutig, von
ihrer eingrenzenden Kraft aber
weich und weit. Das hat Vor- und
Nachteile. Gehen wir von ihr aus,
so können wir sicher sein, dass die
Abwesenheit sexueller Gesundheit
zwar abhängig von Abweichungen,
sicher aber nicht unabhängig von
dem ist, was wir sexuelle Kultur
nennen können. Sexuelle Störungen
unterliegen folglich einem Wandel,
und eine weltweit gültige, hart
eingrenzende Definition sexueller
Gesundheit müsste die kulturellen
Unterschiede und den Wandel übersehen. Sie stünde damit im Widerspruch zur oben genannten Definition eines zwangsfreien, respektvollen, aber auch lustvollen Umgangs
des Individuums mit Sexualität.
Gleichzeitig öffnet eine so weite
Definition jenen Tür und Tor, die zu
wissen meinen, wie gesunde oder
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kranke Sexualität aussieht – hier
lauert eine Gefahr.
Die Validierung einer Abweichung mit naturwissenschaftlichen
Mitteln macht also längst keine
Krankheit. Die Diagnose einer Störung oder Erkrankung besteht aus
(unter anderem, aber nicht ausschließlich naturwissenschaftlich)
messbaren Fakten und ihrer Bewertung. Wenn sich Sexualität und ihre
Probleme wandeln, so muss sich
demnach auch der Umgang der
Helfer mit den Hilfe suchenden
wandeln. Hüten sollte sich die Sexualmedizin davor, die Bewertung
der empirisch dingfest gemachten
Sexualität anhand ihrer Häufigkeit
vorzunehmen und so die Tatsache
bloßen Vorkommens normativ zu
wenden: Die im Geiste eines empirischen Normalismus verkündeten
Pathologisierungen nichthegemonialer Sexualitäten (wie etwa der
Homosexualität) gehören zu den
Erbsünden der Sexualmedizin, die
sich diese konsequent in Erinnerung rufen sollte.
„Sexualwissenschaft war von
Anfang an auch ein sozialreformerisches Projekt“, sagte der Sexualwissenschaftler und Sozialpsychologe Gunter Schmidt vor einiger
Zeit in einem Interview (3), und
weiter: „Spätestens in den 1960er
Jahren verlor die Sexualwissenschaft aber ihre sexualpolitische
Bedeutung. Neue, starke Bewegungen, die nicht aus der Sexualwissenschaft kamen, bestimmten nun
die sexualpolitischen Debatten –
Studentenbewegung, Schwulenbewegung, Frauenbewegung. Und sie
Allerdings erzeugte und erzeugt jede
der genannten Bewegungen auch
Gegenbewegungen. Im Spannungsfeld, das daraus für das Individuum
resultiert, entstehen gleichzeitig oft
Verunsicherung und Angst. Ein aktuelles Beispiel ist die aufgeheizte
Debatte um sexuellen Kindesmissbrauch und Pädophilie. Dort, wo sexuelle Gesundheit und Sexualmedizin in höchstem Maße politisch wirksam werden können, laufen sie auch
Gefahr, zum verlängerten Arm reaktionärer Bewegungen zu werden. So
wird jüngst über die Pädophilie
gesprochen, als handele es sich bei
ihr um eine eindeutig abgrenzbare
Krankheitsentität, die entweder vorliegt oder nicht. Tatsächlich erscheint
„
Neue, starke Bewegungen bestimmten in den 60er Jahren die
sexualpolitischen Debatten – Studentenbewegung, Schwulenbewegung, Frauenbewegung. Und sie waren überaus effizient.
Gunter Schmidt, Sexualwissenschaftler und Sozialpsychologe
waren überaus effizient. Sexualforscher lieferten hier und da noch einige wissenschaftliche Befunde
oder theoretische Überlegungen zur
Unterstützung, vor allem aber sortierten sie unter dem Einfluss dieser
Bewegungen ihre Gedanken neu.“
Aufs große Ganze betrachtet erscheint diese Aussage zuzutreffen.
“
die sexuelle Neigung auf Kinder hin
jedoch in sehr unterschiedlichen Formen und auch unterschiedlich starken Ausprägungen – wenngleich sie
in manchen Fällen natürlich auch so
ausschließlich ist, dass eine Erregung durch nichtkindliche Stimuli
nie entsteht. Was mit dieser Neigung
geschieht, ist in hohem Maße konDeutsches Ärzteblatt | PP | Heft 3 | März 2012
Foto: SZ Photo/Thomas Hesterberg
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textabhängig, und wir dürfen kaum
hoffen, dass Fernsehsendungen wie
„Tatort Internet“ dazu beitragen, den
Missbrauch von Kindern durch die
Abschreckung sogenannter Tatgeneigter oder durch die Aufklärung
der Bevölkerung zu verhindern.
Eine andere düstere Krone ist das
vor kurzem in einem Federstreich
entworfene Therapieunterbringungsgesetz. Es soll dazu dienen, als gefährlich geltende Menschen (unter
anderem Sexualstraftäter) zu psychiatrisieren, die zuvor hinsichtlich
der Schwere ihrer Störung nicht als
krank eingeordnet wurden. Verweist man in diesem Zusammenhang auf jene Zeit der jüngeren
deutschen Geschichte, in der die
Psychiatrie für eben solche Zwecke
missbraucht worden ist, so gilt dies
schnell als überzogen. Dass angesichts derartiger Entwicklungen
weder eine rechts- noch eine sexualpolitisch wehrhafte Gegenbewegung sichtbar wird, kann nur als
skandalös bezeichnet werden.
Nach dem Ende der sexuellen
Revolution der späten 1960er Jahre
ließen sich eine Entdramatisierung
und Entmystifizierung des Sexuellen und Ende der 1980er Jahre
schließlich die von Volkmar Sigusch
sogenannte neosexuelle Revolution
beobachten (4). Hypersexualisierung, Banalisierung, sexuelle LustDeutsches Ärzteblatt | PP | Heft 3 | März 2012
Das Private wird
politisch: Mitglieder
der Berliner Kommune 1 im Sommer
1967 nach den
Demonstrationen
wegen des Besuchs
des Schah von
Persien. Sie wollen
eine polizeiliche
Durchsuchungsaktion darstellen.
losigkeit, Viagra und die neuen
Medien tanzten einen langweiligen
Ringelreihen. Aktuell aber erleben
wir eine neue sexuelle Panik.
Die reformerische Kraft, die Wissenschaft entfalten kann, geht in
dem Rückzug auf reine Naturwissenschaftlichkeit oder Empirie verloren. Die Sexualwissenschaft mag
nicht mehr sozialreformerisch sein,
und wir können heute über die
scheinbare Naivität früherer Zeiten
lachen oder uns über den Mut der
früheren Akteure nostalgisch freuen.
Sexualwissenschaft kann und muss
aber weiterhin die Vorstellungen
von sexueller Gesundheit, von sexuellen Störungen, ihrer Therapie und
medizinischen Versorgung kritisch
hinterfragen. Damit ist sie im Kern
nie frei von Politik, nie empirisch
oder theoretisch rein. Allerdings
reicht die Dekonstruktion von Störungsmodellen nicht aus, um in ärztlicher oder psychotherapeutischer
Tätigkeit zu helfen. Neue Modelle
sollten unser Denken strukturieren,
empirisch überprüft werden und
dann eine Konsequenz nach sich
ziehen. Dazu braucht die Medizin
die Sexualwissenschaft. Empirische
und theoretische Sexualforschung
können so zu Teilen dessen werden,
was als kritische Sexualwissenschaft
bezeichnet worden ist (5).
Naturwissenschaftliche Mittel
allein reichen nicht aus
Das sexuelle Elend existiert – ob
wir es erklären oder nicht, ob das
naturwissenschaftlich begründet
geschieht oder nicht. Es bleibt,
wenn wir uns nicht bemühen zu helfen. Zum Helfen gehört der Versuch
des Verstehens, und das gelingt auf
der Ebene des Individuums nicht
allein mit naturwissenschaftlichen
Mitteln. Wozu also braucht Medizin
die Sexualwissenschaft im Einzelnen? Wenn sich die Medizin als eine dem Individuum helfende Wissenschaft begreifen will, so braucht
sie die Sexualwissenschaft im Umgang mit Sexualität, um
● die vorschnelle Klassifikation
als Störung oder Krankheit kritisch
zu hinterfragen
● sexuelle Fantasien und sexuelles Verhalten jenseits der Norm
nicht vorschnell zu pathologisieren
● bestimmten sexuellen Vorlieben, Praktiken, Orientierungen, Varianten oder Besonderheiten der geschlechtlichen Identität gegenüber
anderen nicht automatisch durch
Gesundschreibung einen Vorrang
einzuräumen
● nicht jeden Fortschritt als Vorteil für den Einzelnen anzusehen
● nicht jeden Wandel der Sexualität pessimistisch zu interpretieren
● auf Sexualität wirklich interdisziplinär zu blicken und damit
auch das eigene Handeln immer
wieder zu hinterfragen.
Die sogenannte multifaktorielle
und biopsychosoziale Genese sexueller Störungen ist inzwischen zum
hülsenhaften Allgemeinplatz geworden. Ärzte brauchen mehr als medizinisches Wissen und ärztliche
Haltung im Umgang mit sexualmedizinischen Fragen. Darin unterscheidet sich der Umgang mit sexuell gestörten Patientinnen und Patienten
tatsächlich von dem in anderen Disziplinen der Medizin – nicht grundlegend qualitativ, aber sicher quantitativ. Genau das ist am Frankfurter
Institut für Sexualwissenschaft, in
dem über Jahrzehnte unter anderem
medizinisch-psychologisch, sozialwissenschaftlich und historisch auf
Fragen der Sexualität eingegangen
worden ist, in einem außerordentlichen Maß erfüllt gewesen.
█
Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2012; 109(7): A 311–3
LITERATUR
1. Sigusch V: Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt a. M., New York: Campus
2008.
2. www.who.int/topics/sexual_health/en/
3. Schmidt G, Briken P: Erinnerungen an die
frühen Jahre. 50 Jahre Sexualforschung
am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Z Sexualforsch 2010; 23: 155–64.
4. Sigusch V: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion.
Frankfurt a. M., New York: Campus 2005.
5. Sigusch V: Was heißt kritische Sexualwissenschaft. Z Sexualforsch 1988; 1: 1–29.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Peer Briken,
Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft
für Sexualforschung, Direktor des Instituts für
Sexualforschung und Forensische Psychiatrie,
Zentrum für Psychosoziale Medizin,
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf,
Martinistraße 52, 20246 Hamburg,
[email protected]
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