Abschlussbericht des Forschungsprojektes Erneuerung von Innen Denkmalpflege & Energie Gefördert von der Stiftung zur Förderung der Denkmalpflege, der Fachstelle für nachhaltiges Bauen, Amt für Hochbauten Zürich und der Hochschule Luzern – Technik & Architektur 0 Summary 2 1 Einleitung 2 Ausgangslage 3 Thesen 4 Werkzeuge 5 Katalog 6 Fallbeispiele 7 Fazit 3 4 8 14 29 41 47 8 Methodenkontrolle 49 9 Mittelverwertung 49 HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 1 0 Zusammenfassung Der Wunsch nach baulichen Veränderungen aufgrund der heute geforderten energetischen Massnahmen verursachen oft denkmalpflegerische Einschränkungen, da sie die historischen Oberflächen beeinträchtigen, bzw. nicht kompatible, gestalterische Elemente addieren wollen. Eine Alternative bietet möglicherweise die Erneuerung von Innen, mit der konstruktiven Entschichtung der Fassade. Hohe Anforderungen werden dabei auf mehrere, niedertechnische Schichten aufgeteilt. Die bestehende Fassade bleibt möglichst unangetastet oder/und wird lediglich wieder hergestellt. Nach innen wird eine zweite Hülle angeordnet, welche die heutigen energetischen, akustischen und brandschutztechnischen Anforderungen gewährleistet. Der Raum zwischen der Fassade und der neu aufgebrachten Schicht kann unterschiedlich tief sein. So können die alte und die neue Schicht direkt aneinander gefügt werden (ein Futteral) oder einen Zwischenraum zur Führung von technischen Installationen und zur Dämmung generieren (eine Schichtenfolge). Bilden hingegen die alte Hülle und die innere neue Schicht einen nutzbaren Zwischen-Raum aus, wird von dem Haus-im-Haus-Typus gesprochen. Jede dieser drei Strategien eignet sich für unterschiedliche Ausgangslagen – die immer den Bestand, die vorgesehen Nutzung und das energetische Konzept berücksichtigen. Mit den Ergebnissen aus dem Projekt können mögliche Probleme bei energetisch motivierten Erneuerungen von Innen aufgezeigt und Lösungsansätze präsentiert werden. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt im Wechsel der Sichtweisen. Aus jeder Fachrichtung wurden die spezifischen Anliegen zu diesem Thema formuliert und auch Zielkonflikte evaluiert. Da in jedem Fall beim Bauen – und im Umgang mit Bestand noch viel mehr – objektund situationsspezifische Lösungen gefragt sind, werden weniger Handlungsanweisungen sondern vielmehr Fallbeispiele und Werkzeuge zur Optimierung der Prozesse vorgestellt. Neben den drei Strategien zur konstruktiven Entschichtung von Fassaden, die mit einem Beispielkatalog illustriert werden, umfassen die Werkzeuge auch Parameter zu einer sehr frühen Einschätzung bestehender Bauten sowie ein Raster möglicher Nutzungsformen und daraus abgeleiteter Anspruche an die Räume. Beteiligte seitens der HSLU – T&A Dr. Peter Omachen Kantonaler Denkmalpfleger Kanton Obwalden Nebenamtlicher Dozent an der Abteilung Architektur Prof. Urs-Peter Menti Leiter ZIG, Zentrum für integrale Gebäudetechnik Dr. Davide Bionda Wissenschaftlicher Mitarbeiter Senior ZIG Dipl. Ing. Uli Herres Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachgruppe Material, Struktur, Energie in Architektur Prof. Christan Hönger giuliani.hönger architekten Zürich, z.Zt. auch Gastdozent EPFL Prof. Tina Unruh Projektleitung sowie Hilfsassistierende Noemi Schumacher, Rahel Niffeler Beirat, extern Yvonne Züger Fachstelle für Nachhaltiges Bauen, AHB Zürich Publikationen Band 4 der Schriftenreihe Laboratorium erscheint im Herbst 2014 im Quart Verlag, Luzern. Der Arbeitstitel lautet ‚Erneuerung von Innen – Energie und Baudenkmal’. Die Herausgeberin ist Tina Unruh, die Autoren sind das Forschungsteam der Hochschule Luzern. Zur Buchvernissage am 10. Oktober 2014 ist an der Hochschule Luzern – Technik & Architektur eine interdisziplinäre Tagung geplant, an der das Projekt und die Publikation zur Diskussion gestellt werden. So kann der initiierte Diskurs weiter geführt und die Ergebnisse zur Anwendung gebracht werden. Das Projekt wurde bereits bzw. wird an folgenden Veranstaltungen präsentiert und zur Diskussion gestellt: Am 21.3.14 an der Tagung ‚Bauen wir die 2000-Watt-Gesellschaft der Stadt Zürich!’ in Zürich Am 23.4.14 an der GV des SIA, Fachgruppe Erhalt von Bauwerken, in Horw Am 4./5.9.14 am brenet Status Seminar an der ETH in Zürich Am 27.11.14 in der Vortragsreihe ‚Fachstellen Studien’ des Amt für Hochbauten Zürich, zu der Energie- und Nachhaltigkeitsspezialisten und Denkmalpfleger einladen werden. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 2 1 Einleitung Motivation Forschungsprojekt Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis eines interdisziplinäres Forschungsprojekts, das sich mit dem Spannungsfeld Architektur, Behaglichkeit und Denkmalpflege auseinandersetzt. Ziel des Projektteams aus Fachleuten der Denkmalpflege, der Architektur und der Gebäudetechnik an der Hochschule Luzern war weniger der akademische Diskurs; vielmehr stand der direkte Praxisbezug von Anfang an im Zentrum des Interesses. Was trennt und was verbindet die Themen und die Disziplinen? Die Arbeit soll helfen die Kriterien Bestand – Nutzung – Energie zu gewichten und aufzeigen, wie angemessene Reaktionen im Einzelfall möglich sind. Es geht also auch um eine Sensibilisierung der Besteller und Ersteller ebenso wie der politischen Entscheidungsträger für diese Themen. Dafür wird in der Ausgangslage das aktuelle, meist gebräuchliche Vorgehen kritisch beleuchtet. Mit den darauf folgenden Thesen werden Ansätze zu möglichen Verbesserungen formuliert. Der anwendungsorientierte zweite Teil des Buches bietet drei Werkzeuge, einen Katalog und eine Auswahl von Fallbeispielen zur Erneuerung von Innen. Es werden die Möglichkeiten und Interdependenzen der Massnahmen aufgezeigt: Was passiert mit den anderen Parametern, wenn ‚an einzelnen Reglern gedreht’ wird, und welche Folgen haben bestimmte Entscheidungen während des Prozesses? Erneuerung von Innen Der Titel des Forschungspojektes ist doppeldeutig: Aufgrund von denkmalpflegerischen Motiven beschäftigen wir uns mit der konkreten energetischen Ertüchtigung des Bestandes von innen her. Mit dem Begriff der Erneuerung verstehen wir diese Ertüchtigung allerdings nicht nur technisch, sondern darüber hinaus auch räumlich-architektonisch. Und weiter beleuchten wir die heute üblichen Prozesse beim Umbau und plädieren auch hier für eine selbstmotivierte Erneuerung der Vorgehensweisen. Das fokussierte Betrachten der Sanierungen von Innen ist eine sinnvolle Einschränkung. Zwar setzt sich die Denkmalpflege entgegen der landläufigen Meinung nicht nur für das äussere Erscheinungsbild, sondern für die gesamte historische Substanz der Baudenkmäler ein. Dennoch gibt es in Stellungnahmen der Denkmalpflege immer wieder die Aussage ‚Wenn gedämmt werden muss, dann sollte dies grundsätzlich von Innen erfolgen.1 Dabei werden die tatsächlichen Auswirkungen von Innendämmung allgemein wenig reflektiert, die physikalischen Themen werden nicht immer früh erörtert. Mit unserem Projekt reagieren wir und zeigen auf, was eine tatsächliche Umsetzung dieser Empfehlung bewirken und ermöglichen kann. Räumliches Schichten Baudenkmäler haben einen materiellen und einen symbolischen Wert. Veränderungen aufgrund der heute geforderten energetischen Massnahmen generieren mehrheitlich starke Beeinträchtigungen, da sie die historischen Oberflächen tangieren, bzw. nicht kompatible, gestalterische Elemente addieren. Eine Möglichkeit zur Erneuerung und Optimierung stellt die konstruktive Entschichtung der Fassade dar. Nach innen wird eine zweite Hülle angeordnet, welche die heutigen energetischen, akustischen und brandschutztechnischen Anforderungen gewährleistet. Der Raum zwischen der Fassade und der neu aufgebrachten Schicht kann unterschiedlich tief sein. Im Zentrum des Interesses steht der eigentliche Innenraum; seine Oberflächen sind es, die dem Raum und dem Gebäude als Ganzes Identität verleihen. Ob und wie weit die neue Schicht von der alten Hülle räumlich entfernt eingesetzt wird, beschreiben die drei Strategien unter dem Kapitel Werkzeug. Neben den räumlichen, hat die Einführung eines Zwischenraumes zwischen alter und neuer Hülle vor allem bauphysikalische Konsequenzen. Anmerkungen zu einer rein technischen Lösung Ein möglicher Ansatz liegt in der totalen Entlastung der Architektur durch gebäudetechnische Interventionen. Die Ertüchtigung des Baudenkmals kann ohne räumliche Transformationen erfolgen, was im Sinne des Schutzgedankens sehr erfolgsversprechend ist. Diese Lösung wird z.Bsp. dann angestrebt, wenn die energetische Ertüchtigung nur zeitweise notwendig ist, beispielsweise die Erwärmung einer Kirche zum Gottesdienst über eine Heizung.2 Diesen Ansatz haben wir als ‚Strategie 0’ bezeichnet, er wurde im Rahmen 1 In einem Interview mit der Denkmalpflegerin und Architektin Tatiana Lori am 17.10.2013 wies diese auf eine häufige Verwendung des Satzes hin. Der vollständige Wortlaut des Dispositivs aus der Vernehmlassung heisst wie folgt: ‚Zusätzliche Gebäudeisolationen sind grundsätzlich innerhalb der bestehenden Wand-, Dach- und Lukarnenkonstruktion anzubringen und jedenfalls so, dass das äussere Erscheinungsbild nicht verändert wird.’ 2 Anders wird es bei der 0-Emission-Theorie verstanden, diese vertritt die Meinung, dass alles nur technisch gelöst werden soll, also auch permanente Nutzungen. Auch dieser Ansatz wurde in unserem Forschungsprojekt HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 3 dieser Arbeit jedoch nicht weiter untersucht, da der Fokus auf besonders raumwirksamen, konstruktiven Strategien lag. Die Diskussion um Möglichkeiten des ‚Technik im Boden Versenkens’ schliesst sich hier an. Inwieweit das Baudenkmal angetastet wird, wenn unter den Räumen Eingriffe stattfinden, ist bei aller Entlastung der Architektur kritisch zu bedenken. Die Authentizität eines Bauwerkes umfasst immer auch den historischen Grund, auf dem es steht. Daher ist es wichtig, durch Eingriffe die Nutzer und späteren Betrachter nicht zu täuschen, sondern die Erneuerung ggf. auch sichtbar zu machen. 2 Ausgangslage Substanzerhalt Im Umgang mit bestehender Bausubstanz sind neben ökonomischen Betrachtungen auch weitere Aspekte von Bedeutung, welche monetär nicht oder nur schwer quantifizierbar sind. Diesen kann je nach Objekt eine mehr oder weniger hohe Gewichtung beigemessen werden. Eine erste Entscheidung liegt in der Wahl zwischen Substanzerhalt und Ersatzneubau. Zur Beantwortung der Frage können keine allgemeingültigen Regeln aufgestellt werden. Eine tiefgründige objektspezifische Beurteilung der Substanz und der Bauaufgabe sind immer notwendig. Hinter der denkmalpflegerischen Forderung nach möglichst integralem Substanzerhalt steht der Wert der kollektiven Erinnerung durch das identitätsstiftende, zeitgeschichtliche Zeugnis. Dazu gibt es zwei unterschiedliche Sichtweisen der Denkmalpflege: Einerseits die primär am Substanzerhalt interessierte, in Kontinentaleuropa verortete, und andererseits die an der Idee und der Wiedererkennbarkeit orientierte, im angelsächsischen Raum beheimatete Haltung. Grundsätzlich ist hier die Rede von Bausubstanz, welche nicht integral geschützt ist beziehungsweise bei der eine rein konservatorische Denkmalpflege nicht möglich ist, sondern wo aufgrund einer Güterabwägung eine energetische Sanierung zulässig ist und (neue) Nutzungen das Überleben des Objektes grundsätzlich sichern können. Daher sind unter anderem die vorgesehene Nutzung und die Lage des Objektes entscheidende Faktoren3. Die Weiterverwendung von Bausubstanz kann aber – neben dem Erhalt von nicht ersetzbaren kulturellen, historischen, architektonischen und ästhetischen Werten – auch eine Reduktion der Grauenergieaufwendungen4 mit sich bringen, und somit ökologische und weltanschauliche Vorteile haben5. Im Umgang mit Bestandsgebäuden ist deshalb bei der Bewertung, Entscheidungsfindung und Planung eine fachübergreifende und ganzheitliche Betrachtung des Bauvorhabens, unter Einbeziehung von allen relevanten Disziplinen, unverzichtbar. Planungsprozess Die wesentlichen Weichen für das Gelingen eines Projektes werden in der Regel zu dessen Beginn gelegt. Dies gilt generell in jedem Bauprozess, ist aber beim Bauen im Bestand aufgrund der erhöhten Komplexität von besonderer Bedeutung. Bereits bei der Definition des Bauvorhabens sind relevante Entscheidungen zu treffen. Unter anderem werden der Standort und das Raumprogramm der vorgesehenen Nutzung bestimmt. Oft werden diese Grundsatzentscheide jedoch auf Basis einer ungenügenden Faktenlage gefällt, weil noch gar nicht sämtliche Fachbereiche am Entscheidungsprozess beteiligt sind und eine umfassende, fachübergreifende Analyse des Baubestands fehlt. Bei kleinen Objekten – beispielsweise bei einer Stallumnutzung – wird überhaupt erst durch die Auslösung eines Baubewilligungsverfahrens eine Fachbehörde involviert. Nicht immer handelt es sich dabei um eine nicht fokussiert. Siehe LowEx Building Design für eine ZeroEmission Architecture, Prof. Dr. Hansjürg Leibundgut 3 W. Ott, B. Seiler, Y. Kaufmann, A. Binz, A. Moosmann (2002). Neubauen statt Sanieren? Schlussbericht Forschungsprogramm Energiewirtschaftliche Grundlagen EWG, Bundesamt für Energie BFE 4 Graue Energie: „Gesamte Menge nicht erneuerbarer Primärenergie, die für alle vorgelagerten Prozesse, vom Rohstoffabbau über Herstellungs- und Verarbeitungsprozesse und für die Entsorgung, inkl. der dazu notwendigen Transporte und Hilfsmittel, erforderlich ist. Sie wird als kumulierter, nicht erneuerbarer Energieaufwand bezeichnet.“ (SIA Merkblatt 2032, Graue Energie von Gebäuden (2010), S.8) 5 Siehe dazu: „Plädoyer für eine Kultur der Reparatur“, in: M. Heckl Wolfgang, Die Kultur der Reparatur, Carl Hanser Verlag München 2013, S.9-25 HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 4 fachkundige Stelle wie die kantonale Fachstelle für Denkmalpflege und Ortsbildschutz. Häufig werden solche Bauaufgaben "nur" durch die örtliche Baukommission beurteilt. Bei grösseren Projekten werden in der Anfangsphase oft auch politische Überlegungen oder ökonomische Vorgaben hoch gewichtet. So wird etwa eine Label-Zertifizierung aus strategischen (Image) oder wirtschaftlichen Gründen (Fördergelder) angestrebt. Labels sind jedoch selten auf den respektvollen Umgang mit einer schützenswerten Bausubstanz ausgelegt, sondern fokussieren vielmehr auf energetische Vorgaben. Auch umgekehrt kann die Situation entstehen, dass nur der maximale Erhalt angestrebt wird, ohne auf Nutzungen und energetisches Optimierungspotential einzugehen. Ausweichstrategie und Zielkonflikte Im Vorfeld eines Umbaus fehlt meist eine vollständige Übersicht über alle Anforderungen und Massnahmen. Es werden manchmal auch bewusst Kontaktnahmen – bespielweise mit der Denkmalpflege oder Energiefachstelle – ausgeklammert oder hinausgeschoben, da man Vorgaben und unerwünschten Aufwand fürchtet. Der Besteller und selbst der Architekt betrachten nicht selten die Denkmalpflege als ‚Projektverhinderer’. Auch Gebäudetechnikplaner und Bauphysiker werden häufig zu spät ins Team berufen, so dass sie nicht in die Konzeptphase integriert sind und lediglich auf Probleme reagieren können. Eine ideale Gebäudetechnik- und Bauphysikplanung müsste zu einer Vermeidung oder Minimierung anstelle einer Lösung der Probleme führen. Oft wird zur Problemlösung dann nur noch der technologische Ansatz verfolgt. Neben der gewohnheitsmässigen Chronologie des Einbezugs von Spezialisten ergibt sich eine zusätzliche Hauptschwierigkeit: Oft widersprechen sich die einzelnen Fachbereiche innerhalb des Bauwesens. Wenn alle Ansprüche vorliegen, weisen sie teils widersprüchliche Anforderungen auf,6 die im Sinne eines konsensfähigen Kompromisses ausgehandelt und abgestimmt sein müssten. Zudem ist eine beachtliche Anzahl von Baudenkmälern durchaus energetisch günstig gebaut, stammen sie doch noch aus einer Zeit, in der die Erzeugung von Heizwärme eine aufwändige Angelegenheit war. Oft bedingen erst neue Nutzungen und heutige Komfortansprüche eine energetische Optimierung. So entstehen Zielkonflikte, die zwar formuliert, doch keinesfalls schnell gelöst sind: Sowohl der sorgsame Umgang mit Baudenkmälern als auch die Reduktion des Energieverbrauchs haben beide ihre verfassungsgemässe Berechtigung und verfolgen im Grunde das selbe Ziel – die Unterstützung einer nachhaltigen Entwicklung. In einer Stellungnahme zu diesem Thema7 fordern Bundesamt für Energie und die Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege dazu auf, die beiden wichtigen, öffentlichen Interessen im Einzelfall gegeneinander abzuwägen und einer konstruktiven Lösung zuzuführen. Rollenverständnis8 Der Architekt ist unter den Planenden in der Regel der erste Auftragnehmer des Investors. Er wird damit als Urheber und Initiator eines Werkes angesehen. Zusätzlich sollte er die Rolle des Generalisten aktiv einnehmen und das Projekt lenken. Bereits bei der Auftragserteilung ist es seine Pflicht, das Projekt an sich kritisch zu hinterfragen. Zudem trägt er die Verantwortung, sämtliche notwendigen Fachleute frühzeitig in die Planung und Lösungsfindung zu integrieren. Architekten können diesen Aufgaben jedoch nicht immer gerecht werden. Der Besteller erkennt häufig die Notwendigkeit eines übergeordneten Dirigenten nicht und vergibt lediglich ein Mandat zur Planung, was zur Folge hat, dass die ‚Generalistenrolle’ unbesetzt bleibt. Die erste Entscheidung eines Projektes, das Zusammenstellen von Planungskompetenzen zu einem Team, fällt der Bauherr oder die Bauherrin. Je nach Hintergrund dürfte dem Bestellenden diese grosse Bedeutung seiner Rolle und das Gewicht der Teamentscheidung kaum bewusst sein. Im Gegensatz zum Architekten wird der Denkmalpfleger oder die Energiefachstelle in der Regel von Amtes wegen einem Projekt zugeteilt. Sie vertreten gegenüber dem Auftraggeber die behördliche Seite und werden 6 Beispielsweise widersprechen sich im Umbaubereich die Forderungen von Denkmalpflege, gefordertem Schallund Brandschutz vehement. 7 Energie und Baudenkmal, Empfehlungen für die energetische Verbesserung von Baudenkmälern. Bern, 16. Juli 2009 vom Bundesamt für Energie und der Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege. Der Arbeitsgruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Bernhard Furrer (EKD) gehörten an: Ernst Baumann (EKD), Thomas Jud (BFE), Michael Kaufmann (BFE), Stefan Wiederkehr (BFE), Urs Wolfer (BFE), Dr. Bernard Zumthor (EKD) sowie Dr. Nina Mekacher, Beatrice Stadelmann und Vanessa Achermann für das Sekretariat der EKD. 8 Es wäre in diesem Falle äusserst vielversprechend, zu erforschen, welche Geisteshaltungen, Gesinnungen, Vorschriften, Standards, eingeschliffene Vorgehensweisen etc. und welcher Berufshabitus die Disziplinen Baudenkmalpflege, Architektur und Behaglichkeit im weitesten Sinne aus der Geschichte und heute trennt und verbindet. Dieses Anliegen übersteigt aber die vorliegende Forschungsarbeit. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 5 daher nicht unbedingt als Teil des Teams zur Umsetzung eines gemeinsamen Projektes verstanden. Sie müssen weniger Lösungsvorschläge und Entwürfe einbringen als vielmehr dafür besorgt sein, dass die denkmalpflegerischen oder energetischen Auflagen und Bedingungen erfüllt werden. Aufgrund der verbreiteten Sparmassnahmen kann eine fortlaufende Begleitung vielerorts kaum mehr angeboten werden. Nachhaltigkeit und Umweltschutz sind zwar ebenso wie der Erhalt kultureller Werte politisch gewollt, der Staat regelt jedoch nicht den resultierenden Zielkonflikt. Dies ist Aufgabe des Projektteams. Die beteiligten Spezialisten (Gebäudetechnik, Statik, Brandschutz, Bauphysik etc.) reagieren eher auf Projektvorgaben, als dass sie eigenständig aktiv agieren. In diesen Disziplinen versteht man sich mehrheitlich als Dienstleister, welcher die Vorgaben des Bauherrn zielgerichtet umsetzt: Dabei wird oft befürchtet, dass einmal auf die neuste Errungenschaft zu verzichten schon vermittelt, dass man nicht auf dem Stand der Technik sei. Die Einstellung einer kreativen Lösungssuche gerade beim Umbau ist wenig verbreitet. Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass es für Umbauten kaum Wettbewerbe gibt und damit das kreative Potenzial seitens der Bauherren und Planer, aber auch der behördlichen Stellen unterschätzt wird. Auch besteht im allgemeinen wenig Motivation, einmal gefällte Entscheide aufgrund neuer Erkenntnisse nochmals zu hinterfragen, zu verändern und umzuplanen. Um mögliche Differenzen in den Sichtweisen auf die Projekte aufzuzeigen, haben an dieser Stelle die Autoren der Studie ihre spezifischen, disziplinären Absichten formuliert. Selbstverständlich haben auch alle weiteren Beteiligten eigene Vorstellungen, die in die Planungen einfliessen, hier jedoch nicht alle berücksichtigt werden können. Aus der Sicht der Gebäudetechnik (ZIG) Grundsätzlich wird eine lösungsoffene Herangehensweise an die jeweilige Problemstellung erwartet. Eine gesamtheitlich überzeugende Lösung verlangt Kompromissbereitschaft von allen Beteiligten und auch ein Denken in Grautönen anstelle eines Schwarz-Weiss-Denkens. Wichtig ist die Ausarbeitung, Bewertung und Optimierung von Varianten, so dass schlussendlich eine zwar nicht in allen Aspekten maximierte dafür aber im Gesamten optimierte Lösung resultiert. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass die Beteiligten sämtlicher Disziplinen ein gewisses Verständnis für Gebäudetechnik, Bauphysik sowie allgemeine Energiefragen aufbringen. Energie- und Gebäudetechnikfachleute sollten in der Regel viel früher, das heisst bereits bei der Definition der Projektanforderungen, ins Planungsteam miteinbezogen werden. In dieser Phase können sie kreativ und proaktiv bei der Verhinderung von Problemen beitragen, die später allzu oft nur mit einem erhöhten technologischen Aufwand wieder wettgemacht werden müssen. Werden beispielsweise im Rahmen des Projektes zu Beginn sinnvolle Anforderungen oder Nutzungen festgelegt, kann das allenfalls zu einer markanten Vereinfachung, bzw. Reduktion der notwendigen haustechnischen Elemente und Anlagen führen. Gute Gebäudetechniker zeichnen sich aus durch Verständnis für die bestehende Bausubstanz und ihre Bedeutung, sowie für die Anliegen der anderen Projektbeteiligten bzw. Disziplinen. Sie zeigen Offenheit gegenüber unkonventionellen Lösungen und sind bereit neue Wege zu beschreiten, um massgeschneiderte, ganzheitlich optimierte Lösungen zu finden. Sie bringen sich auch schon in frühen Projektphasen kreativ und lösungsorientiert in den Prozess mit ein. Die Absichten des Denkmalpflegers Der verantwortliche Denkmalpfleger ist der Staatsanwalt, der sich aufgrund seines Verfassungsauftrags für das Baudenkmal einzusetzen hat. Er muss daran erinnern, dass nicht nur die Energieeffizienz ein öffentliches Interesse darstellt, sondern ebenso der möglichst ungeschmälerte Erhalt des Baudenkmals. Diese unpopuläre Rolle des ungefragt zum Planerteam stossenden Staatsangestellten ist in einer Art und Weise zu spielen, dass nicht über behördlichen Zwang, sondern mit überzeugenden Argumenten und konstruktiven Inputs agiert werden kann. Der Ehrgeiz des erfolgreichen Denkmalpflegers ist es, dass die Beteiligten spätestens bei der Fertigstellung von der Richtigkeit der Berücksichtigung denkmalpflegerischer Interessen im Projekt überzeugt sind. Absichten der Architekten Zunächst einmal sollte man sich in der Architektur die Differenz zwischen Neubau und Umbau vor Augen führen: Der Architekt eines Neubaus ist der Erfinder eines Gefässes für einen bestimmten Inhalt. Für einen Umbau braucht es keine Erfindung, sondern eine Findung9. Dabei steht die Architektur in einer mehrfachen 9 Der Begriff der Findung ist dabei zweideutig: Findung kann interpretiert werden als die beste Nutzung und deren Formulierung für ein bestehendes Gefäss. Gleichzeitig impliziert der Begriff den kollektiven und interdisziplinären Annährungsprozess der Beteiligten: „Als Findung wird ein Vorgang bezeichnet, bei dem ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen einen Erkenntnisprozess durchschreitet und in gemeinsamer HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 6 Verantwortung: Sie hat die Ansprüche des Bestellers und der Nutzung soweit wie möglich umzusetzen. Darüber hinaus muss sie das umzubauende Gebäude als nichtwiederherstellbare Ressource schätzen und als physischen Speicher des kollektiven Gedächtnisses wahrnehmen. Ein bestehendes Gebäude kann als kulturelles Gedächtnis nach Sigmund Freud interpretiert werden, welches sich parallel durch Aufnahmefähigkeit für Neues und das Erhalten von Spuren auszeichnet. Um einen Eingriff nachhaltig tätigen zu können, fällt dem Architekten die Rolle eines Übersetzers zu: Er muss den vorhandenen Autor und den Text sehr gut verstehen und in die heutige Zeit übertragen können. Eine gute Übersetzung kommt dabei nicht ohne Interpretationen aus. Sie muss die Aussagen verstehen wollen, ohne die eigene, in der eigenen Zeit stehende Persönlichkeit verleugnen zu müssen, damit eine gleichberechtigte und reife Beziehung – und damit eine gute Erneuerung von Innen – entstehen kann. Eine wichtige Rolle spielen bei der energetischen Erneuerung von Innen die Energiefachstellen. Auch 10 sie verfolgen spezifische Ziele, die hier von Yvonne Züger aus Sicht der Fachstelle für nachhaltiges Bauen, AHB Zürich formuliert werden: Einschub extern Absichten der Fachstelle Nachhaltigkeit Einerseits sind behördliche Vollzugsstellen dafür verantwortlich, dass die energetischen Vorschriften eingehalten werden. Andererseits stehen Fachspezialisten bauherrenseitig dafür ein, dass darüber hinausreichende Anforderungen wie z.B. die 2000-Watt-Gesellschaft oder die Minergie-ECOStandards erreicht und auch Themen wie Materialökologie, Lebenszykluskosten oder Suffizienz in den Bauprojekten berücksichtigt werden. Projektteams werden dazu angehalten, die Partikularinteressen zu berücksichtigen und damit optimierte Lösungen zu erarbeiten, sowie vorhandene Zielkonflikte zwischen den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Interessen zu lösen. Damit wird der Prozess zu einer umfassenden Nachhaltigkeit gesteuert. Nutzung Bei intensiv genutzten Bauten ist eine rein konservierende Denkmalpflege meist nicht möglich, da damit die Nutzungsansprüche nicht eingelöst werden können. Eine energetische Sanierung setzt aber die grundsätzliche Benutzbarkeit des entsprechenden Baudenkmals voraus. Die Sichtbarmachung des historischen Baus bleibt wichtig, um nicht die Identität des Bauwerks zu verlieren, Nutzen und Erhalt bilden dementsprechend einen komplexen Zusammenhang. Es ist eine Frage der Angemessenheit und der grundsätzlichen Haltung, ob aus denkmalpflegerischer Sicht ‚erhaltend’ oder ‚erlebbar’ reagiert wird. In der Praxis spiegelt sich dies häufig bei der Wahl zwischen Substanzerhalt und Interpretation. Kosten- und Zeitdruck, aber auch die Angst vor komplexen Abläufen, führen oft dazu, dass sich in der frühen Planungsphase eine reduzierte Gruppe von Spezialisten mit den Anforderungen eines Projektes und dessen Kompatibilität mit dem Baubestand befasst. Aufgrund mangelnden Wissens der Beteiligten in den anderen Fachgebieten können dadurch unrealistische Nutzungsvorstellungen entstehen, was nachträglich zu zeit- und kostenintensiven Korrekturen der Planung und im schlimmsten Fall zu Fehlplanungen führen kann.11 Leider ist Verantwortung bis zu einem alle befriedigenden Resultat oder einer einvernehmlichen Handlungsweise bringt. Bei Bestehen unterschiedlicher Meinungen geht die Findung weit über einen bloßen Kompromiss oder das Ergebnis einer akzeptablen Stimmenmehrheit hinaus. Im Gegensatz zur Suche als Prozess, der mit dem (Auf-) Finden als Ereignis abgeschlossen wird, bezeichnet die Findung den fortschreitenden Erkenntniszuwachs.“ Unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Findung 10 Yvonne Züger war in der Begleitgruppe des Forschungsprojektes ‚Denkmalpflege & Energie – Erneuerung von Innen’ und hat während der Projektphase die Sicht der Bauherrenvertreterin und der Fachstellen wertvollerweise eingebracht. 11 „Um ihre Aufgabe erfüllen zu können, muss aber die Denkmalpflege ihr Begriffssystem und damit auch das Feld ihrer Tätigkeit gewaltig erweitern. Diese Erweiterung betrifft sowohl den schützenden Bestand und die als wertvoll empfundenen „Baustile“, als auch die Art der Erhaltung, die Strategien: an die Stelle einer „Rettung des Bauwerks vor den Nutzern“ tritt die Erhaltung durch die Nutzung.“ Burckhardt Lucius, Der Baubestand – wichtigster Teil des Volksvermögens, in: Der kleinstmögliche Eingriff, Martin und Schmitz Verlag, Herausgeber: Ritter Martin und Schmitz Martin; Berlin 2013, S.59 HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 7 der wichtigste Entscheid einer Neunutzung aufgrund drängender Bedürfnisse meist schon gefällt, ohne geklärt und eruiert zu haben, ob die Paarung von (Neu-) Nutzung und Bestand passt. Oft wurde dabei kaum beachtet, dass eine Nutzung nach SIA mit Komfortansprüchen und energetischen und technischen Anforderungen hinterlegt ist.12 Dabei ist die geeignete Wahl der Nutzung die Grundvoraussetzung für den Erhalt eines Baus. Die Zufriedenheit aller Beteiligten und später der Nutzer hängt vom Erfüllen der anfänglich festgelegten Anforderungen an den Bau ab. Allzu oft werden diese falsch eingeschätzt, beispielsweise mit zu hohen energetischen Vorgaben. Diese können den Bestand überfordern und das Projekt von Anfang an zum Scheitern verurteilen. Eine passende neue Nutzung ermöglicht hingegen die Aufwertung und das Überleben stillgelegter Gebäude. Transparenz Wenn im Umbaubereich geplant wird, ergeben sich während des Prozesses Überraschungen, da beispielweise Konstruktionsaufbauten von aussen nicht einsehbar sind und ihr Zustand und vorhandenes Potential nur mit Messungen und Sondierungen geklärt werden können. Daher müssen im komplexen Planungs- und Bauprozess laufend Entscheidungen gefällt und ständig Weichen gestellt werden. Diese sind oft nicht nachvollziehbar und transparent für die Vertreter anderer Disziplinen, denn Entscheide werden nicht in allen Phasen kollektiv gefällt, sondern meist ad hoc auf der Baustelle lokal und individuell. Gebäudeimmanente Systeme Bestehende Gebäude verfügen in der Regel bereits über konstruktive und technische Systeme, welche die (ehemalige) Nutzungen und den gewünschten, ehemaligen Komfort ermöglicht haben. In manchen Fällen weisen diese bestehenden Systeme einen hohen Energieverbrauch und eine erhöhte Umweltbelastung, infolge gesteigerter Komfortansprüche, Transmissionsverlusten und fossiler Energieträger auf. Dennoch können auch diese konstruktiven Systeme als integraler Teil des schützens- oder erhaltenswerten Bestandes verstanden werden. Meist werden sie jedoch weder erfasst noch optimiert oder – falls gesamthaft notwendig – sinnvoll modifiziert. Werden diese immanenten Systeme des Bestands ignoriert, kann dies zu Massnahmen führen, deren Wirkungen sich gegenseitig aufheben.13 3 Thesen Es ist bekannt, dass jeder Umbau Überraschungen bereithält, welche nicht oder mindestens nicht alle im Vorfeld berücksichtigt werden können. Die schwierige Einschätzung des Bestandes und die potenzierte Komplexität der Anforderungen14 führt leider manchmal zu einem Vorgehen, bei dem die Einzelentscheidungen addiert und umgesetzt werden. Dieser vermeintlich ‚pragmatische’ Weg verzichtet auf ein Gesamtkonzept. Als Beispiel eines Gegenmodells kann dazu der Wiederaufbau des Neuen Museums Berlin von David Chipperfield und Julian Harrap erwähnt werden. Das Team hatte drei Dokumente für den Ablauf der Instandsetzung entwickelt: Einen Denkmalpflegerischen Leitfaden, eine Restaurierungsstrategie und das Restaurierungskonzept.15 In einem Interview gibt David Chipperfield zu, dass der Leitfaden ‚vielleicht in mancher Hinsicht etwas vage war’, aber eine Grundlage zur Haltung für den gesamten Prozess gelegt hat.16 12 Zweck des Merkblatts SIA 2024 ist die Vereinheitlichung von Annahmen über die Raumnutzungen, insbesondere über die Personenbelegung und die Gerätebenutzung. Diese Annahmen sollen bei den Berechnungen und Nachweisen nach den Normen der Energie- und Gebäudetechnik verwendet werden, wenn keine genaueren Angaben vorliegen. (...) Diese typischen Werte können im frühen Planungsstadium verwendet werden. Diese Angaben werden für 44 Raumnutzungen gemacht, welche einen grossen Teil der in der Praxis vorkommenden Geschossflächen abdecken. 13 Im Gespräch mit Theresia Gürtler Berger, heute Denkmalpflegerin der Stadt Luzern, wurde der Umgang mit gebäudeimmanenten Systemen diskutiert. Oft gehen Baumassnahmen tief in den Gebäudebestand hinein und können vorhandene Systeme zerstören, die – für sich betrachtet – leistungsfähig waren. Motiviert sind solche Eingriffe meist durch die aktuell sehr hohen Ansprüche. 14 Bei einer Baueingabe in der Stadt Zürich beispielsweise werden mehrheitlich die maximalen Anforderungen pro Amt definiert und kumulieren dadurch (z.B. Brandschutzanforderungen, Schallschutzanforderungen und Denkmalpflege etc.). Eine übergeordnete Einschätzung, welche die Widersprüche bereinigt oder die Sinnfälligkeit prüft, findet nicht statt oder es fühlt sich von Amtes wegen niemand für eine generalistische Sicht und Begleitung eines Projektes verantwortlich. 15 „Sie wurden spezifisch dafür entwickelt und festgeschrieben und basierten nicht auf den Regeln der üblichen Texte, die auf die Chartas von Venedig und Burra zurückgehen. Die Dokumente enthielten für jeden Raum HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 8 Wir begrüssen diese Formulierung eines Leitfadens für die Erneuerung von Innen, der unkoordiniertes Flickwerk und stückweise ad hoc ‚Bastelei’ an Bauwerken verhindert, welche langfristig meist Mehrkosten verursachen und nicht nachhaltig wirken. Der objektspezifisch verfasste Leitfaden ist dabei nicht das eigentliche Konzept des Umbaus, sondern bestimmt vielmehr die Haltung der Beteiligten gegenüber dem Bestand und bildet einen ‚roten Faden’ während des Projektes. Er erleichtert idealerweise Entscheidungen und sichert ab, wie mit neuen Erkenntnissen im Prozess umgegangen werden könnte.17 Dafür weist er die geforderte Flexibilität aus, um mit den, bei Umbauten üblichen Überraschungen umgehen zu können. So ein Leitfaden ist als Planungsinstrument zu verstehen, er umfasst Texte und Zeichnungen ebenso, wie möglicherweise Visualisierungen. Sie dienen unter Planern und Laien der Kommunikation des angestrebten Erscheinungsbildes. Hier werden die grundsätzlichen Ziele der Erneuerung von Innen festgehalten und Prioritäten definiert. Das aus dem Leitfaden entwickelte Konzept des Umbaus hingegen bietet konkrete handlungsorientierte Entscheidungslinien – allerdings mit Reaktionsräumen. Diese sind im Umbaubereich zwingend notwendig, soll nicht mit jeder Entdeckung das Konzept neu definiert werden. In unserem Verständnis ist Architektur keine Kunst und damit nicht das individuelle Werk eines einzelnen Genies.18 Aus diesem Grund ergeben Alleingänge in Planung und in der Abwicklung eines Baus keinen Sinn, umso weniger beim Umbau, da hier die Komplexität und Unvorhersehbarkeit noch gesteigert ist. Wir plädieren daher für folgende gemeinsame Schritte vor der eigentlichen Planung anhand von neun Thesen. These1: Wir müssen uns in den Bestand einfühlen! Grundsätzlich ist ein Gebäude nicht nur die Ansammlung von altem Material, sondern es ist der Speicher einer Lebens- und Denkweise, einer Funktions- und Gebrauchsweise. Es zeigt den Stand des konstruktiven Wissens und Könnens und des spezifischen Verhältnis’ zu Materialien. Ein Gebäude verfügt damit über einen Charakter und einen eigenen Ausdruck. Um den Bestand auch atmosphärisch erfassen zu können, muss er unvoreingenommen begangen und auf allen Ebenen kennen gelernt werden. Nur so kann eine Beziehung zu dem Bau eingegangen und der Dialog aufgenommen werden. Als ein ‚Gesprächspartner’ verstanden, kann der Bestand auf gewisse Fragen spezifische Antworten geben.19 ausführliche Dokumentationen, Studien und Überlegungen zu den Konstruktionselementen, Wänden und Deckenflächen und boten ein Rahmenwerk für den Entwurf des neuen Gebäudes. Das Ergebnis war eine allumfassende Methodik, mit deren Hilfe eine solide konzeptionelle Grundlage geschaffen werden sollte, an welcher der neue Entwurf und die Restaurierungsarbeiten zu messen wären. Sie legten das verträgliche Mass an Reparatur und Eingriffen in die vorhandene Substanz fest.“ Harrap Julian, Die Ruine einfrieren, in: Chipperfield David in Zusammenarbeit Harrap Julian, Neues Museum Berlin, Verlag der Buchhandlung König, Köln 2009, S.123 16 „Ich glaube, dass das Dokument, das wir zu Beginn des Projektes aufgesetzt haben, der sogenannte „Denkmalpflegerische Leitfaden“, vielleicht in mancher Hinsicht etwas vage war. Trotzdem war es philosophisch genug, um alle zufriedenzustellen. Zu diesem Zeitpunkt war es das richtige Instrument, schliesslich wäre es damals schwierig gewesen, konkreter zu werden.“ David Chipperfield im Gespräch mit Wolfgang Wolters, in: Chipperfield David in Zusammenarbeit Harrap Julian, Neues Museum Berlin, Verlag der Buchhandlung König, Köln 2009, S.232. 17 „Es war eine riesige Herausforderung für das Team, die Fachplaner, die normalerweise ein konsequentes Gesamtkonzept wollen, davon zu überzeugen, ihre Konzepte von Raum zu Raum anzupassen. Diese Arbeit wird wohl nie wahrgenommen und diskutiert werden – und vielleicht muss das auch so sein.“ David Chipperfield im Gespräch mit Wolfgang Wolters, in: Chipperfield David in Zusammenarbeit Harrap Julian, Neues Museum Berlin, Verlag der Buchhandlung König, Köln 2009, S. 235 18 Architektur hat per se nicht die Intention, eine kurzfristige Laune zu befriedigen, sondern den Willen des Kollektivs in ihrer Entstehungszeit zu verstehen, ihn langfristig auszudrücken und zu einer nachhaltigen architektonischen Sprache zu finden. 19 Rudolf Schwarz, (zum Wiederaufbau der Frankfurter Paulskirche): „Ich hielt die Erhaltung von Ruinen für möglich, die genaue Wiederherstellung auch, aber ich meinte, beides sollte die Ausnahme sein und Regel die Interpretation. Man solle das alte Werk ganz und gar ernst nehmen, aber nicht als ein Totes, sondern als ein Lebendiges, das unter uns lebt, und mit ihm eine Zwiesprache beginnen, lauschen was es zu sagen hat, und sagen, was wir als lebendige Menschen zu antworten haben, und ihm so als einem Lebendigen ein neues Lebendiges einzufügen. Man solle diese Zweisprache aber mit einem Partner beginnen, nicht wie er einmal war, sondern wie er jetzt, in dieser geschichtlichen Stunde, da ist und Geschichte erlitten hat.“ in: Peter Franz, HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 9 These II: Der Bestand muss gründlich dokumentiert werden! Die Lebensgeschichte eines Gebäudes – seine Erstellung und ihre Umstände, eventuelle Transformationen, Teilabbrüche etc. – muss über Archivarbeit, bestehende Quellen, Dokumentationen und Texte erfasst werden. Parallel sollte die physische Gestalt des Bestandes dokumentiert werden, wofür die angewandte Konstruktion und die vorhandene Materialisierung mit Plänen, Skizzen, Fotographien verzeichnet wird. Je nach Gebäude sollten auch bauphysikalische Simulationen und lokale Sondagen gemacht und festgehalten werden.20 Diese gründliche Dokumentation vor dem Eingriff in ein Baudenkmal hat sich als unverzichtbarer Teil der Interventionsplanung erwiesen. Dazu gehört auch der Versuch nachzuvollziehen, wie der Bestand in seiner ursprünglichen Ausformung funktioniert hat – eben welche energetischen Systeme ihm zugrunde liegen.21 Der Bestand hat Potentiale, welche ausgeschöpft werden wollen, er weist aber auch Grenzen auf, die erkannt, berücksichtigt und dokumentiert werden müssen. These III: Nehmt eine Haltung zum Bestand ein und interpretiert ihn! Jeder Eingriff drückt die Haltung dem Bestand gegenüber aus – eine wertschätzende und zurückhaltende Intervention wird auch als Achtung vor dem Bestehenden verstanden. Ein Autor ist nie neutral, der Planende muss daher eine würdigende Einstellung annehmen.22 Hier entsteht Ambivalenz, die Haltung soll von Selbstbewusstsein zeugen, darf dabei aber weder in Selbstgefälligkeit verfallen noch sich dem Bestehenden devot unterordnen. These IV: Die Bestellung testen! Bei einem Neubau wird das Volumen durch die Bestellung definiert. Bei einem Umbau ist das ‚Gefäss’ jedoch schon vorhanden und der gewünschte Inhalt muss darin Platz finden. Die Bestellung ist aus einem Bedürfnis der Bauherrschaft entwickelt und formuliert worden, oft ohne das zukünftige Gebäude zu kennen oder ohne das Wimmer Franz, Von den Spuren, interpretierender Wiederaufbau im Werk von Hans Döllgast, Verlag Anton Pustet, Salzburg 1998, S. 12 sowie Richard Sennett zum Begriff der „Dialogik“. Er beginnt dabei mit einem Zitat: “Menschen, die nicht beobachten, können auch kein Gespräch führen.“ In dieser klugen Bemerkung eines englischen Rechtsanwalts zeigt sich das Wesen der „Dialogik 2: Der technische Ausdruck meint Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit für andere Menschen (oder eben Gebäude, A.d.A.). Inbesondere lenkt das Bonmot des Anwalts die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Zuhörenes für das Gespräch. Wenn wir über Kommunikationsfähigkeit reden, legen wir das Schwergewicht meist auf die Fähigkeit, klar und verständlich vorzutragen, was wir denken und fühlen. Dazu bedarf es tatsächlich gewisser Fähigkeiten, doch die sind deklarativen Charakters. Zuhören erfordert eine Reihe anderer Fähigkeiten. Hier gilt es, darauf zu achten, was andere sagen, und es interpretieren, bevor man antwortet, und zwar die Gesten und Sprechpausen ebenso wie das explizit Gesagte. Obwohl wir uns möglicherweise zurückhalten müssen, um beobachten zu können, wird das Gespräch dadurch reicher, kooperativer, dialogischer“, in: Sennett Richard, Zusammenarbeit – Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Carl Hanser Verlag München 2012, S. 29 20 Mögliche Untersuchungen und Sondagen können sein: Statische Untersuchungen zur Nutzlasten, zum Zustand von Materialien und Feuchtehaushalt (z.B, eingemauerte Balkenköpfe), Messung eines Wärmedurchgangs, Erhebung von Konstruktionsaufbauten oder ursprünglicher Farbschichten, Berechnung Energiebedarf und Abgleich mit effektivem Verbrauch etc. 21 Das bedeutet nachzuvollziehen, wie die komplexen Systeme des Bestandes funktionierten, und diese auf ihre Potentiale und auf mögliche Fehlerquellen abzuklopfen. Diese Systeme sind oft komplex und schliessen z.B. Techniken der Erstellung und des Unterhalts, aber auch Benutzerverhalten oder Materialeigenschaften ein. Man denke z.B. an die Art der Heizung in manchen Bauernhäusern, wo Strahlungswärme, Speicherfähigkeit, Heuspeicher mit Dämmwert und das winterliche "zusammenrücken" der Bewohner zu einer Resultierenden zusammenwirken. 22 27. Lehrspruch: „Baukunst muss lebendige Geschichte sein und als solche erhalten werden.“ S.335. Und: „Wenn wirklich ein Nutzen in unser Kenntnis der Vergangenheit oder eine Freude in dem Gedanken liegt, ein Andenken zu hinterlassen, das uns Kraft zu gegenwärtigem Streben verleihen kann oder Geduld im Standhalten, so gibt es zwei Pflichten in Bezug auf nationale Architektur, deren Wichtigkeit nicht überschätzt werden kann. Die erste besteht darin, die Baukunst der Gegenwart als „historisch“ (nämlich „unsere Zeit“ ausdrückend) zu machen; die zweite, die der Vergangenheit als die kostbarste aller Erbschaften zu erhalten.“ in: Ruskin John, Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung, Die sieben Leuchter der Baukunst, aus dem Englischen von Wilhelm Schoelermann, Verleger Eugen Dietrichs, Leipzig 1900 S.334-335 HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 10 ausgewählte Gebäude bezüglich Platzangebot geprüft zu haben.23 Es empfiehlt sich daher, das bestellte Raumprogramm mit Nutzungssimulationen zu testen. Welcher Inhalt findet im vorgesehenen Gefäss gut und passend Platz? Anstatt wie beim Neubau ein Raumprogramm umzusetzen, ist beim Umbau der Raum fixiert und eine dazu passende Nutzung ist zu finden. Dies kann als Inversion einer Neubauplanung verstanden werden24 oder anders ausgedrückt – als ein ‚antimodernes Manifest’.25 These V: Die Nutzung selbst ist weich! Das Überleben des Bestandes ohne neue Nutzung ist gefährdet, Nutzen und Erhalt bilden daher einen komplexen Zusammenhang. Die bestellte Nutzung, die damit gekoppelten Anforderungen und der gewünschte Komfort können jedoch gut oder eben weniger gut zu einem Bestand passen: Der Kunde sucht sich das passende Kleid oder das Kleid ruft nach der richtigen Füllung! Entgegen der modernen Vorstellung von Nutzung und Funktion26 sind diese aber nicht wissenschaftlich definierbar. Dies bedeutet, dass vielleicht vorhandene, starre Vorstellungen einer Funktion hinterfragt und aufgebrochen werden müssen: sind die Räume vorhanden, muss die Nutzung sich anpassen. Oft zeigt sich, dass gerade aus diesem Spannungsfeld qualitätvolle Interpretationen entstehen können.27 These VI: Macht eine Auslegeordnung! Eine Beurteilung von Baubestand ist per se anspruchsvoll, der zusätzliche Aspekt der energetischen Sanierung verschärft den Prozess noch, indem er durch weitere Anforderungen – in Abhängigkeiten zu Nutzung und Bestand – die Entscheide komplexer macht. Hier eine Übersicht zu gewähren, ist herausfordernd, doch wichtig. Denn erst die Kenntnis der neuen Anforderungen ermöglicht eine Gewichtung und Priorisierung der Themen. Eine Auslegeordnung der bedeutenden Faktoren kann hierfür eine Grundlage bieten. Neben den energetischen Standards kommen auch anderen möglichen Einflussfaktoren28 hinzu, wie Schadstoffuntersuchungen, Erdbebenertüchtigung, Schall- und Akustikanforderungen, Nutzungsvereinbarung (Nutzlasten), Brandschutz, ökologische Vorgaben etc. These VII: Prüft die Angemessenheit des Eingriffs. 23 Raumprogramme werden oft als Nettobestellung formuliert, ohne dabei Erschliessungs- und Konstruktionsflächen und Nebennutzflächen eingerechnet bzw. abgezogen zu haben. 24 Zum grundsätzlichen Verhältnis von Bau und Nutzung hat Kilian Bühlmann, als ursprünglicher Leiter der Abteilung „Bau und Raum“ der Universität Bern erhellende Studien entwickelt. Siehe dazu: Bühlmann Kilian, Bauen für die Universität, in: Stadt – Universität Bern, 175 Jahre Bauten und Kunstwerke, Herausgeber: Minta A., Nicolai B., Thome M., Haupt Verlag Bern 2009, S.115 bis 127 25 Erstaunlicherweise führen für den Bestand gerade sehr fremde Neunutzungen zu ‚eigenartigen’ Begegnungen zwischen altem Gefäss und neuem Inhalt und zu gesteigertem Erleben (Bespiele: Hallen für neue Kunst in Schaffhausen Qualität der Neunutzung ‚eigenartige’ Begegnung (Hallen für neue Kunst in Schaffhausen, Tate Modern in London, Lokremise in St. Gallen etc.). Die Beispiele widerlegen die These, dass eine funktionale Architektur im Sinne eines Massanzuges die bessere Architektur sei. Aldo Rossi hat in seinem Buch Die Architektur der Stadt von 1966 bzw.1975 der Typologie eine viel höhere Permanenz als der Nutzung beschieden. 26 beispielsweise bei Ernst Neufert, dessen Buch Bauentwurfslehre ein Standardwerk ist, welches seit 1936 in Deutschland und heute in über 18 Ländern erscheint und Funktionen als präzise normierbar definiert. 27 Bei der ursprünglichen Weichenbauhalle im vonRoll-Areal in Bern wurde aufgrund der Nutzungsansprüche einer im Wettbewerbsbeitrag vorgesehenen Bibliothek auf diese verzichtet und das passendere Hörsaalzentrum eingebaut. Grundsätzlich kann konstatiert werden, dass Nutzung eben nicht starr, sondern flexibel ist: Aufgrund der bestellten Anzahl an Hörsälen und der vorgegebenen Proportion der Halle sind die Hörsäle sehr untief und ungewohnt breit. Dies bedingte eine unübliche, gewöhnungsbedürftige Doppelprojektion. Gleichzeitig hat aber der Redner durch seine Nähe einen sehr direkten Kontakt zu seinem Publikum und kann damit auch ohne Mikrophon sprechen, was wiederum als funktionaler Vorteil goutiert wird. 28 „Reparatur ist ein Kreislauf von Analyse, Strategie, Implementierung und Erfolgserlebnis. Dies ist eine Art Wertschöpfungskette. Das analytische Denken muss man üben. Wenn Kinder das Reparieren nicht mehr lernen, sind sie nicht mehr in der Lage, das durchzuführen, was Mediziner Anamnese nennen, die systematische Befunderhebung.“ In: M. Heckl Wolfgang: „Plädoyer für eine Kultur der Reparatur“; Wolfgang M. Heckl, in: Die Kultur der Reparatur, Carl Hanser Verlag München 2013, S.142. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 11 Der anvisierte Komfort29 und die daraus resultierenden Anforderungen müssen jederzeit kritisch hinterfragt werden. Jedes Bestandsgebäude ist anders, also sollten auch normierte Komfortansprüche auf den Prüfstand gestellt werden. Zwischen den Angeboten des Bestandes und den Erwartungen der neuen Nutzungen30 muss abgewogen werden. Heute findet aufgrund der bestellten Nutzung des Bauherrn und den daran gekoppelten Anforderungen der Vorschriften, Ämter, Fachplaner etc. oft eine Kumulation der disziplinären Ansprüche statt. VIII: Koordiniert Euch und kooperiert früh! Wir haben feststellen können, dass die Projekte, bei denen alle Fachbereiche intensiv zusammengearbeitet haben, vermehrt eine hohe Qualität erreichen. Entsprechend sollten sich die Projektbeteiligten aus den unterschiedlichen Disziplinen vermehrt als Mitstreiter an einem gemeinsamen Werk verstehen, denn als reiner Zulieferer. Solidarische Weichenstellung schützt auch vor aufwendigen und teuren Fehlentscheidungen. Dafür braucht es auch den Willen, Laien – was der Bauherr oder andere Fachplaner oft sind – die eigenen Sachverhalte verständlich und anschaulich vermitteln zu können. These IX: Bauhütte – ein unrealistischer Traum. Gerade im Umbaubereich würde man sich eine erfahrende Truppe an Planer und Handwerkern wünschen, welche die Komplexität kennen, die Freude am Bestand teilen, aber auch die Sorgfalt haben, eine Idee in Konstruktion und Material angemessen umzusetzen. Diese Zusammenarbeit existiert jedoch nur in kleinen Nischen, etwa in einzelnen Regionen, wo erfahrenen Projektpartner zusammenfinden – oft zum Vorteil von Eigentümer und Baudenkmal. Ist dies bei kleineren, privaten Projekten noch möglich, so können derartige Kooperationen bei Grossprojekten gerade aufgrund des öffentlichen Beschaffungswesens durch Wettbewerb und Ausschreibung nicht umgesetzt werden. Einschub externer Autor Auf unsere Bitte hin, hat ein Bauherr mit ein paar Gedanken aus der Sicht des langfristigen 31 Immobilieninvestors auf unsere Thesen reagiert: Wenn ein Gebäude unter Schutz gestellt wird, ist das die höchste Auszeichnung, die es aus gesellschaftlicher Sicht haben kann. Viele Investoren fürchten sich jedoch davor, da sie sich in Ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt fühlen. Doch auch mit geschützten Objekten in einem Portfolio kann man Geld verdienen, sofern die Einschränkungen eine vernünftige Nutzung nicht verunmöglichen. Es ist unerlässlich, dass man die Flächen zu einem marktkonformen Preis vermieten kann. Dafür ist das wichtigste, dass das Gebäude genutzt, im Kontext gut integriert und somit von den Nutzern akzeptiert wird. Interventionen in geschützten Bauten müssen also immer dahingehend entwickelt werden, dass eine sinnvolle – vielleicht auch völlig andere, als ursprünglich vorgesehene – Nutzung möglich ist. In einem bestehenden Haus müssen in der Regel Kompromisse in Bezug auf den Komfort (Schallschutz, Hindernisfreiheit, Energieverbrauch Behaglichkeit etc.) gemacht werden. Aktuell – und dies unterstützen die Bauvorschriften massiv – wird zu einem übertriebenen Perfektionismus tendiert, der einen hohen Anspruch auslöst. Die resultierenden Folgen, das Strapazieren der Bausubstanz, hohe Kosten, ein immenser Technikbedarf, zahlreiche Installationen etc. werden bei der Programmierung oft nicht beachtet. Dies gilt auch für die allseits geforderte grosse Nutzungsflexibilität, die gerade im Bestand kritisch zu hinterfragen ist. In diesem Sinne muss der Eigentümer und der Nutzer eine Güterabwägung der Interessen machen. Meist können nicht alle Ansprüche/Anforderungen perfekt erfüllt werden. Hier kann eine 29 „Ziel bei der Planung für das Neue Museum war es, bei einem derartig komplexen Gebäude zum frühst möglichen Zeitpunkt Planungssicherheit zu erlangen und eine Minimierung der Anlagetechnik zu erreichen.“ Zur dieser ‚Adaptivität’ von Komfortvorgaben siehe: Tiele Hans-Peter, Technische Gebäudeausrüstung, in: Das Neue Museum Berlin, Herausgeber: Staatliche Museen Berlin– Stiftung Preussischer Kulturbesitz (SMB), Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Landesdenkmalamt Berlin (LDA), Konservieren, Restaurieren, Weiterbauen im Welterbe, E.A. Seemann Verlag Leipzig 2009, S.106 bis 115 30 „Für Nutzungen und nicht für Nutzer zu bauen, hat sich als Methode bewährt.“ Sie dazu: Bühlmann Kilian, Bauen für die Universität, in: Stadt – Universität Bern, 175 Jahre Bauten und Kunstwerke, Herausgeber: Minta A., Nicolai B., Thome M., Haupt Verlag Bern 2009, S.124 31 Die Gedanken hat sich freundlicherweise Jörg Koch, CEO der Pensimo Management AG gemacht. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 12 Auslegeordnungen möglicher Nutzungen und Sanierungskonzepte gut unterstützen. Vielleicht hilft es auch, den Perimeter zu überdenken und Synergien mit der Umgebung einzugehen. Manchmal können historische Bauten so besser kontextualisiert werden. Oft gibt es einen «best owner» für ein Gebäude. Wenn der Eigentümer feststellt, dass er nicht der best owner ist, dann trennt er sich lieber vom Objekt. Bei Gebäuden aus der Gründerzeit ist eine Innensanierung meist ähnlich problematisch wie eine Aussensanierung. Entsprechend wird nichts oder nur wenig, und dies an nicht geschmückten, rückwärtigen Fassaden gemacht. Sinnvoll kann das Dämmen gegen Dach und Kellerdecke und das Ersetzen der Fenster sein. Dieser Ansatz ist pragmatisch und bauphysikalisch meistens unproblematisch. Intelligente Strategien im Umgang mit der Moderne sind eine grosse Herausforderung. Hier hat sich ein Forschungsfeld aufgetan, welches noch viele Anknüpfungspunkte bietet: Erneuerung von Innen (Le Lignon), Ergänzung mit einer Schicht (Lacaton Vassal), partieller Verzicht auf Dämmung, neue Materialien (Aerogel, Vakuumdämmungen, ..) oder beispielsweise die Nutzung freier Energien 32 anstelle des Einsatzes von Dämmung. Anhand der gebauten Masse aus dieser Zeit sowie des Alters der Gebäude ist in den nächsten Jahren hier ein sehr grosser Investitionsbedarf zu erwarten. Doch auch die Möglichkeit ein Gebäude zu ersetzen, sollte gegeben sein. Ist eine Bausubstanz am Ende ihres Lebensalters und die Strukturen erfüllen ihren Zwecks nicht mehr oder der finanzielle Aufwand für eine Transformation ist nicht zumutbar, muss auch diese Lösung in Betracht gezogen werden. Wenn das nicht der Fall ist, wird man faktisch (zumindest teilweise) als Eigentümer enteignet. Dafür können an einen Ersatzbau qualitative Anforderungen gestellt werden (zum Beispiel ein Konkurrenzverfahren zur Qualitätssicherung), wodurch möglicherweise ein fairer Ausgleich dafür entsteht, das man einen wertvollen Bau abbrechen muss. Generell kann man dafür plädieren, dass Häuser, solange sie funktionieren möglichst belassen werden. Das mag eine eher pragmatische Aussage sein, doch jedes Bauteil, das man bei einem Eingriff anrührt, muss man ersetzen, reparieren und dem Kontext anpassen. Ob das Neue wirklich immer besser wird, sollte vorgängig geprüft werden. Der einleitenden Forderung nach Gesamtkonzepten, die immer den ganzen Bau betrachten, steht der Reflex gegenüber «ja wenn wir schon dran sind, mache wir es gerade richtig». Aus diesem resultieren nicht selten unnötige Interventionen, die nicht wirklich eine Verbesserung im Ganzen bedeuten. Daher ist es wichtig, dass die oben geforderte konzeptionelle Betrachtung zwar umfassend ist – deshalb aber nicht zwingend alles erneuert werden muss. Der Ansatz kann auch bewusst den Mut zur Lücke beinhalten und solche Lücken dürfen Bekenntnisse zu den Spuren der Geschichte sein und übrigens auch eine Menge Geld sparen. Zu den letzten beiden Thesen könnte man auch eine Gegenposition einnehmen, ‚viele Köche verderben den Brei’ – zu viele Planer vielleicht auch eine Entwurfsidee. Hier wünscht man sich oft eine selbstbewusstere Architektin, die sich Entscheidungen zutraut und einen guten Handwerker anstelle eines Haustechnikplaners, der vielleicht gar nicht räumlich denken kann und mit seinem neuen Schacht eventuell einen grossen Kollateralschaden hinterlässt. Ihm ist das am Ende egal, denn er will kein Risiko eingehen, keine Abmahnung schreiben und er muss ja auch nicht im umgebauten Haus wohnen. These X: Der perfekt sanierte, denkmalgeschützte Bau hat oft seine Seele verloren. 32 Auch der innovative Umgang mit Anergie, Energie-Netzen, Saisonspeicher etc. sollte als möglicher Lösungsansatz in Betracht gezogen werden. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 13 4 Werkzeuge Instrumentarium Wenn in Planungsprozessen von ‚Werkzeugen’ die Rede ist, muss immer auch auf die Gefahr von Patentrezepten hingewiesen werden. Im Sinne eines Kleingedruckten möchten wir diese Nebenwirkung vermeiden. Die hier eingeführten Instrumente dienen einer Sensibilisierung für spezifische Themen der Erneuerung von Innen. Sie definieren ein methodisches Vorgehen, welches sich ganz auf die frühe Phase der Projektentwicklung konzentriert. Bei den drei angebotenen Werkzeugen handelt es sich um eine Zusammenstellung von Parameter, die einerseits zur Erfassung bestehender Bauten und anderseits für eine erste Einschätzung nutzungsspezifischer Ansprüche verwendet werden können. Als drittes Werkzeug werden unterschiedliche Strategien zur konstruktiven Umsetzung erläutert. Mit dem ersten Instrument, einer Auswahl von Parametern, können bestehende Bauten evaluiert werden. Dieselbe Auswahl an Parametern wurde holzschnittartig auch für eine Einschätzung der Ansprüche unterschiedlicher Nutzungen verwendet. Dies ist ein vielleicht wagemutiges Vorgehen, denn wenn es schon Mühe bereitet, real vorhandene Bauten sinnvoll zu erfassen, so ist es noch viel merkwürdiger, etwas Vages wie eine Nutzung in ihren reinen Ansprüchen definieren zu wollen. Diesem Wagnis haben wir uns gestellt, da die Untersuchung helfen könnte, die in den Thesen geforderte frühe Simulation von unterschiedlichen Nutzungen für ein bestehendes Gebäude durchzuführen. Natürlich sind die erfassten Parameter nur generell bewertet worden. Es war das Ziel eine grobe Einschätzung zu erlangen. Der nachfolgende Schritt, der Abgleich zwischen einer Bausubstanz und möglichen Nutzungen, kann erste Hinweise auf notwendige Eingriffe bringen. Wir nennen dies die ‚planerische Simulation’. Die hier vorgestellten drei Werkzeuge zur Erfassung der Bauten, der zweckgebundenen Anforderungen sowie zur konstruktiven Umsetzung, dienen also dem Ziel bestandsgerechte Nutzungen zu eruieren und anforderungsorientierte Massnahmen zu planen. Wir stellen sie als Handlungsorientierung zur Diskussion. Beurteilung Bestand Wie in den ersten Thesen gefordert, darf das Beurteilungsraster, anhand dessen Bausubstanz untersucht wird, kein rein analytisches Werkzeug darstellen, sondern es soll die genaue Beobachtung und Einfühlung in den Bestand unterstützen. Die hier vorgeschlagene Abklärung zu einem sehr frühen Zeitpunkt anhand der Parameter fördert die intensive Auseinandersetzung mit dem Bestand im Ganzen ebenso wie auf der Ebene einzelner Räume. Idealerweise findet dies vor Ort statt, reines Planstudium ist unbedingt zu vermeiden. Die Parameter können auch dazu genutzt werden, erste und rein intuitive Einschätzungen zu überprüfen und die diese ggf. besser zu kommunizieren.33 Sie wurden unterteilt in die drei Bereiche ‚Raumkonditionen, Baukulturelle Werte und Struktur & Typologie’ und können um weitere ergänzt werden. Der erste Bereich erfasst den Bestand hinsichtlich seiner Behaglichkeit. Es wird hier vorgeschlagen, weniger exakte Werte zu definieren, als vielmehr relativ den Grad der Erfüllung zu klären, also ob beispielsweise die visuelle Behaglichkeit im Punkt ‚Tageslicht’ sehr gut, gut, mittelmässig, eher schlecht oder schlecht zu definieren ist. Die Aspekte der Raumkonditionen orientieren sich an den gängigen Normen und Wegleitungen.34 Der zweite Bereich, der baukulturelle Wert, ist nicht einfach zu erfassen. Gerade hier bedarf es der Kenntnis des Bestandes in seiner Breite, also der Diversität und Lebenszeit ebenso wie der Tiefe. Historische Objekte sind als akkumulierte 33 die hier mehrfach genannte Problematik der Prozesse und interdisziplinären Zusammenarbeit kann mit einem gemeinsamen Vokabular begegnet werden. 34 Relevante Normen: SIA 180, Wärmeschutz, Feuchteschutz und Raumklima in Gebäuden (voraussichtlich 2014). SIA 382/1, Lüftungs- und Klimaanlagen - Allgemeine Grundlagen und Anforderungen (2007). SN EN ISO 7730, Ergonomie der thermischen Umgebung - Analytische Bestimmung und Interpretation der thermischen Behaglichkeit durch Berechnung des PMV- und des PPD- Indexes und Kriterien der lokalen thermischen Behaglichkeit (2005). SN EN 15251, Eingangsparameter für das Raumklima zur Auslegung und Bewertung der Energieeffizienz von Gebäuden - Raumluftqualität, Temperatur, Licht und Akustik (2007). SIA 380/4, Elektrische Energie im Hochbau (2006). SIA 342, Sonnen- und Wetterschutzanlagen (2009). SIA 181, Schallschutz im Hochbau (2006). DIN 18041, Hörsamkeit in kleinen bis mittelgroßen Räumen (2004-05). SIA Merkblatt 2024, Standard-Nutzungsbedingungen für die Energie und Gebäudetechnik (2006) HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 14 Geschichte zu verstehen und entsprechend auch darzustellen.35 Dies unterstreicht die Frage nach der Würde einer Bausubstanz. Umbauten, die diese Würde beeinträchtigen oder schmälern sind problematisch und überlasten das Bauwerk. Daher wurde in diesem Zusammenhang die ‚Bedeutung des Baus’ auf unterschiedlichen Ebenen eingeführt. Weiteres Kriterium zur Beurteilung von Kulturgütern sind auch dessen Einzigartigkeit und seine Authentizität im Sinne einer historischen Echtheit.36 Als Schlüsselindikatoren für die Authentizität gelten das Material und der Zustand der Substanz. Der dritte Bereich, Struktur & Typologie, dient dazu die Form des Bestehenden in seinen Dimensionen und seiner Konstruktion zu erfassen. Auch Unterpunkte wie die Zugänglichkeit und der Brandschutz müssen frühzeitig geklärt werden. Für diese erste Erfassung werden die Kriterien idealerweise als Frage an das Bestehende formuliert, also ‚wie weit ein einzelner Parameter erfüllt ist’. Auch Ergänzungen sind möglich, wie die Fragen nach Erdbebenschutz oder spezifischen klimatischen Details. Die hier eingeführte Auswahl an Parametern zur Erfassung von Bauwerken ist als Anregung zu verstehen. Ihre Darstellung als Baum soll aufzeigen, dass auch eine weitere, feinere Differenzierung und Erweiterung sinnvoll und jederzeit möglich sein kann. Im Laufe der vertieften Planung werden immer weitere Kriterien37 dazukommen. Entsprechend ist das hier eingeführte Instrument eine phasengerechte Einschätzung, die als erster Schritt zu verstehen ist. Für kleine Projekte – wie beispielsweise den privaten Umbau eines Stallgebäudes – mag diese Übersicht eine gute Basis bilden. Je nach Dimension des Objekts und Umfang des Eingriffs wird die Bestandsaufnahme dann während der Projektentwicklung erweitert. 35 In ihrem Kapitel „3. Kritik des neubauorientierten Vorgehens und der typologischen Ansätze“ formulieren die Autoren Uta Hassler und Nikolaus Kohler diese Problematik: „Die Überlegungen fußen auf sehr groben Vereinfachungen und ungenügender Kenntnis des Bestandes in seiner Breite (der Gebäudebestand in seiner Diversität und Lebenszeit) und Tiefe (historische Objekte als akkumulierte Geschichte).“ Aus dem Artikel ‚Energieeinsparung und Werterhaltung des Gebäudebestandes – eine Kritik politischer Vorgaben’ in: Die Denkmalpflege, Thema Denkmalschutz – Klimaschutz, Deutscher Kunstverlag 10. Jg. 2012, Heft 2, S. 137 36 Siehe auch die übergreifenden Kriterien der UNESCO zur Erfassung von Kulturdenkmälern, die Einzigartigkeit, die Authentizität (historische Echtheit) und die Integrität (Unversehrtheit) hinsichtlich der 10 geforderten Einzelkriterien. Welterbe-Konventionen von 1972 37 wie die beispielsweise ’Lage’ und ‚Bauqualität’: Statik etc., aber auch ‚Umweltauswirkungen im bisherigen Betrieb’ wie Heizenergiebedarf, erneuerbare Energien, Stromverbrauch, Schadstoffe / Innenraumbelastung u.v.m. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 15 xxx XXX xxx Thermische Behaglichkeit Hygrische Behaglichkeit Luftqualität CO2-Konzentration Schadstoffkonzentration Raumkonditionen Visuelle Behaglichkeit Tageslicht Kontrollierbarkeit Einstrahlung Bauschalldämmmass Zustand der Bausubstanz Akustische Behaglichkeit Bedeutung des Gebäudes Sprachverständlichkeit Seltenheits-/Funktionswert Bau Bedeutung des Raumes Baukultureller Wert Authentizität Dimensionen Höhen (Annahme 3m) Belastbarkeit in kN/m2 Konstruktion Struktur & Typologie Spannweite / Stützenfreiheit Luftdichtigkeit der Hülle visuelle Öffnung Aussenbezug physische Zugänglichkeit Brandschutz XXX xxx Hohe Anforderungen xxx Abbildung 1, Tabelle Parameter zur frühzeitigen Einschätzung von Bauwerken HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 16 Beurteilung Nutzung Eine unvoreingenommene Prüfung verschiedener Nutzungen kann helfen, die Überforderung bestehender Bauten zu vermeiden. Die in den Thesen vorgeschlagene planerische Simulation möglicher Szenarien sollte direkt im Anschluss oder in zeitlicher Nähe zu der Aufnahme des Baus erfolgen. Um bereits in diesem sehr frühen Planungsstadium eine Auswahl an Nutzungen in Betracht zu ziehen, bedarf es einer Übersicht möglicherweise entstehender Ansprüche. Der anvisierte Komfort und die nutzungsbedingten Anforderungen bilden schliesslich die Bestellung, mit der der Bestand konfrontieren wird. In wie weit die Bausubstanz nun zu den unterschiedlichen Aspekte passt und wo sie ‚passend gemacht werden muss’, kann erste Hinweise zur Tiefe und dem Umfang notwendiger Massnahmen geben. Daher wurde hier eine einfache und allgemeine Übersicht der Anforderungen zusammengestellt, die Nutzungen generieren könnten. Es handelt sich um eine kleine und selektive Auswahl wie Wohnen oder Nutzung durch Institutionen, Ausstellungsräume oder Einzelhandel. Sie wurden bezüglich ihrer Erwartungen an das Gebäude und das räumliche Angebot eingeschätzt. Diese selbstverständlich sehr grobe Einstufung erfolgt relativ, indem angegeben wird, welchen Grad der Wichtigkeit der jeweilige Aspekt für die untersuchte Nutzung hat. Auch hier wird von Fragestellungen ausgegangen: Wir wichtig ist der einzelne Parameter für eine jeweilige Nutzung. Nachgefragt wurde beispielsweise ob Spannweite und Stützenfreiheit sehr wichtig, wichtig, etwas wichtig oder unwichtig für eine vorgesehene Nutzung sind. Da hier keine absoluten Werte sinnvoll wären, geben die Schattierungen allein die Einschätzung ab, je dunkler die Farbe, desto relevanter der jeweilige Aspekt.38 Beurteilung potentieller Nutzungen, konsolidierte Version Es wird von 'üblichen Nutzungsformen' ausgegangen, im Hinblick auf den evetuellen Einbau in bestehende Bauten. Institution Büro Heim Schule Bildung Hochschule Ausstellung Kunst* Wohnen privat Einzelhandel Hotel Struktur & Typologie Versammlung Sport (Halle) Dimensionen Struktur & Typologie Dimensionen Einzelflächen Einzelflächen Höhen (Annahme 3m) Höhen (Annahme 3m) Konstruktion Konstruktion Belastbarkeit in kN/m2 Spannweite / Stützenfreiheit Belastbarkeit in kN/m2 Spannweite / Stützenfreiheit Luftdichtigkeit der Hülle Luftdichtigkeit der Hülle Aussenbezug Aussenbezug Visuelle Öffnung Visuelle Öffnung Physische Zugänglichkeit Physische Zugänglichkeit Brandschutz Brandschutz Hohe Anforderungen Hohe Anforderungen Büro Heim Schule Hochschule Kunst* privat Hotel Einzelhandel Sport Raumkonditionen Raumkonditionen Thermische Behaglichkeit Thermische Behaglichkeit Luftqualität Luftqualität Hygrische Behaglichkeit Hygrische Behaglichkeit CO2-Konzentration CO2-Konzentration Schadstoffkonzentration Schadstoffkonzentration Visuelle Behaglichkeit Visuelle Behaglichkeit Tageslicht Tageslicht Kontrollierbarkeit Einstrahlung Kontrollierbarkeit Einstrahlung Akustische Behaglichkeit Akustische Behaglichkeit Bauschalldämmmass Bauschalldämmmass Sprachverständlichkeit Sprachverständlichkeit Büro Heim Schule Hochschule Kunst* privat Hotel Einzelhandel Baukulturelle Beurteilung Sport Baukulturelle Beurteilung Bedeutung der Oberflächen Bedeutung der Oberflächen Bedeutung des Raumes Bedeutung des Raumes Bedeutung des Gebäudes Bedeutung des Gebäudes (wobei auch spezifische Nutzungen Wert oder Würde darstellen können) Legende Grad der Relevanz kaum Relevanz wenig Relevanz etwas relevant relevant sehr relevant *Kunst diese Beurteilung erfolgt aus Sicht der Kunstwerke, nicht der Nutzung. Es geht um den Wirkungsraum der Objekte. **Sprachverständlichkeit resultierende aus der Nachhallzeit Abbildung 2, Raster zur Beurteilung von Nutzungen 140205_Raster_Darst.xlsx 38 Dementsprechend stellt man sich bei der Beurteilung der Nutzung folgende Fragen: Wie wichtig ist es …möglichst grosse Einzelflachen zu haben? (bei den Einzelflächen) …möglichst hohe Räume zu haben? (Höhen) …eine möglichst grosse Belastbarkeit der Bodenflächen zu haben? …möglichst grosse Spannweiten zu haben? …eine möglichst luftdichte Gebäudehülle zu haben? …eine möglichst grosse „Öffnung“ zu haben? etc. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 17 Vorgehen Um diese ersten beiden Werkzeuge in der frühen Phase eines Projekts nutzen zu können, empfiehlt sich folgendes Vorgehen in vier Schritten 1 Einfühlung in den Bestand Das für eine Erneuerung von Innen vorgesehene Objekt wird in seinem ‚Ist-Zustand’ mittels der aufgeführten Parametern erfasst. Eventuell notwendige Ergänzungen (Erdbebensicherheit, spezifische historische Merkmale etc.) werden ebenfalls formuliert. 2 Analyse der Anforderungen In Erwägung gezogene (neue) Nutzungen werden hinsichtlich der zu erwartenden Ansprüche beurteilt, dies kann auf Basis des Rasters erfolgen. Entsteht eine Auslegeordnung der in Betracht gezogenen Nutzungen und der mit ihnen verbundenen Ansprüche. 3 Abgleich von Bestand und Nutzung Die Differenz zwischen dem ‚ist’- und dem ‚soll- Zustand’ wird in den jeweiligen Parametern ermittelt. Dazu kann auf ein Spinnendiagramm zurückgegriffen werden, welches Übereinstimmungen und Abweichungen schnell darstellt. 4 Die planerische Simulationen Die Auswertung der Differenzen hilft, bestimmte Nutzungen zu priorisieren bzw. in der Planung auf besonders differierende Bereiche aufmerksam zu werden. Die planerische Simulation dient der Sondierung der Möglichkeiten und mündet idealerweise in der Bildung eines Leitfadens für das konkrete weitere Vorgehen. Der hier vorgeschlagene Ablauf ermöglicht kein schlichtes Auswerten, aus dem heraus sich klare Handlungsanweisungen generieren liessen. Es bietet vielmehr eine Orientierung zur Erfassung der spezifischen Notwendigkeiten, die sich aus der Kombination ‚Bestand zu Nutzung’ ergeben. Wie diese baulich in Form von Erneuerungs-Massnahmen umgesetzt werden, kann mit den ersten beiden Werkzeugen nicht definiert werden. Dies wird weiter hinten mit dem dritten Werkzeug, den räumlichen Strategien umschrieben sowie im anschliessenden Katalog beispielhaft dargestellt. Um das Vorgehen zu veranschaulichen werden hier mehrere Beispiele aufgezeigt, für die Bestandsbauten mit unterschiedlichen Nutzungen abgeglichen wurden. Dabei geht es gar keinesfalls um eine klassische Prüfung möglicher Nutzungen hinsichtlich Lage und Umfeld oder den wirtschaftlichen Faktoren – also die Entwicklung von Projekten – sondern um eine allererste Annäherung mit dem Fokus rein auf dem bestehenden Gebäude. Beispiel 1, Verwaltungsbau39 und Verwaltungsnutzung Entsprechend dem vorgeschlagene Ablauf wurde das Gebäude einer ehemaligen Druckerei mit Verwaltungsräumen in den oberen Geschossen analysiert und mit Hilfe der Parameter aus dem Werkzeug ‚Beurteilung der Substanz’ erfasst. Charakter und Ausdruck des Baus von 1924 wurden durch Besichtigungen und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Umbau beurteilt.40 Nachfolgend wurden die einzelnen Parameter in einem Raster hinsichtlich ihres relativen Erfüllungsgrads bewertet. Dabei wurde geprüft ob der Bestand die einzelnen Faktoren von ‚sehr gut’, ‚gut’ über ‚mittel’, ‚eher schlecht’ bis ‚schlecht’ erfüllt. Anschliessend wurde ebenfalls mit fünf Werten die vorgesehene Nutzung eingeschätzt, siehe das Beurteilungsraster Nutzung, weiter oben.41 39 Alle hier untersuchten Bauten und (Neu-)Nutzungen werden im Katalog beschrieben. 40 Hier im Forschungsprojekt natürlich nur retrospektiv, die Planung und Umsetzung waren abgeschlossen, als die Untersuchungen durchgeführt wurde. Daher wurden bei allen Beispielen immer auch Nutzungsalternativen untersucht. Diese boten sich auch als Kontrollgruppe für die Tauglichkeit unserer Werkzeuge an. Manche Nutzungen kollidieren offensichtlich mit dem Bestand, diese wurden aus testhalber dennoch planerisch simuliert und ausgewertet. Siehe auch die Fallbeispiele im Anschluss an den Katalog. 41 Methodisch war es nicht möglich, alle Parameter aus der Erfassung Bestand mit denen der Erfassung Nutzung abzugleichen. Gerade die, für die Einfühlung in den Bestand wichtigen Parameter zum baukulturellen Wert sind nicht umfassend beurteilbar in den Nutzungen, beispielsweise der Seltenheitswert eines Baus oder die HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 18 Abschliessend wurden die vergleichbaren Parameter in einem Spinnendiagramm eingetragen, die Skala umfasst neben den fünf Werten auch einen inneren Kreis, der das Mass der Übereinstimmung zwischen Bestand und Nutzung aufzeigt. Dieser gibt an, wieweit die Ansprüche aus einer Nutzung erfüllt werden. Ist der graue Kreis ausgefüllt, werden die Anforderungen voll erfüllt. Reicht die graue Fläche über den inneren Kreis hinaus, verfügt das Gebäude in den betreffenden Punkten über mehr Potenzial, als erwartet wird. So kann anhand der grauen Fläche schnell erfasst werden, in welchen Punkten der Bestand die Ansprüche einer Nutzung erfüllt bzw. wo Diskrepanzen entstehen. Auf diese Weise wird auch klar, welche Ansprüche durch die Nutzung ggf. einer Revision bedürfen, da der Aufwand der Umsetzung gross werden könnte. In dem hier untersuchten typischen Jahrhundertwende-Bauwerk ist der Bestand mit einer durchgehenden Line eingetragen. Bei einer Erneuerung von Innen wurde wieder eine Verwaltungs-nutzung vorgeschlagen, im Beispiel eine Bank. Die grob evaluierten Ansprüche dieser Nutzung sind gepunktet eingezeichnet. Auswertung Beispiel 1 Betrachtet man die beiden Linien, lässt sich eine relativ grosse Übereinstimmung feststellen, die in grau markiert ist. Teils bietet der Bestand mehr als die Verwaltungs-Nutzung es erfordern würde, beispielsweise bei der Bedeutung des Baus, dem Einfall von Tageslicht, aber auch hinsichtlich seiner Struktur. An anderen Stellen wird erkennbar dass die neue Nutzung höhere Ansprüche stellt, als der Bestand sie leisten kann, dies bei der Luftqualität, aber auch der Kontrollierbarkeit der Tages-Lichteinstrahlung. Auch im Bereich der Konstruktion galt es die Luftdichtigkeit und Öffnungen den neuen Bedürfnissen anzupassen. Grundsätzlich erscheinen aber keine sehr grossen Differenzen aufzutreten.42 Empfindlichkeit der Oberflächen. Dennoch spielen diese Parameter eine grosse und bedeutende Rolle und müssen daher vom Planer immer berücksichtigt werden! Weiter muss darauf hingewiesen werden, dass die Einschätzungen rein relativ sind, also nicht faktische Gültigkeit haben können. Die Werkzeuge dienen wie beschrieben der Sensibilisierung und einer Annäherung an die Planung, nicht absolut gültiger Bewertung. 42 In diesem Beispiel wurde mit der Strategie 1, einem Futteral erneuert. Die Strategien sind hier anschliessend im Kapitel ‚Räumliche Entschichtung’ aufgeführt. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 19 Beispiel 1, alternative Nutzung Hier sichtbar ist ein Vergleich des selben Gebäudes mit einer vollkommen anderen Nutzung. Um die Werkzeuge einem ‚Stresstest’ auszusetzen und einen provokanten Ansatz zu überlegen, wurde in dem ehemaligen Verwaltungsbau eine Sportnutzung angedacht, also Ansprüche eingetragen, denen eine Sporthalle gerecht würde. Die Übereinstimmungen sind wieder in grau gekennzeichnet. Auswertung Beispiel 1, alternative Nutzung Ganz entsprechend einer intuitiven Einschätzung, entstehen grosse Diskrepanzen im Bereich Typologie und Struktur. Das Mass der zusammenhängenden Fläche (Einzelfläche) und die Höhe genügen den Anforderungen an eine Sportnutzung ebenso wenig, wie die Spannweite (Stützenfreiheit). In den meisten anderen Bereichen hingegen bietet das Bauwerk mehr, als durch die Nutzung gefordert wäre. Damit kann einerseits gefolgert werden, dass die energetische Erneuerung vor allem konstruktive Eingriffe in der Struktur bedingen würde, anderseits das Gebäude in seinem Charakter und Ausdruck nicht ganz angemessen weiterverwendet wird (siehe die baukulturelle Einschätzung oben links). Verändert man nun die Ansprüche und statt einer Halle würde eine Sportnutzung im Sinne einer medizinischen Sporttherapie mit der Nutzung separater Räume vorgesehen werden, würde dieser Abgleich anders aussehen und andere Schlussfolgerungen zulassen. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 20 Beispiel 2, Stallgebäude und Wohnnutzung Während der Untersuchungen sind uns mehrfach Bauwerke begegnet, die weniger denkmalpflegerisch schützenswerte Objekte darstellten, doch zum Erhalt des Ortsbildes beitrugen. Sie zu bewahren und wieder zu nutzen scheint eine wichtige Aufgabe. In diesem Beispiel hier wurde ein einfaches Stallgebäude erfasst, die Beurteilung des Baus ist mit der durchgehenden Linie dargestellt. Dazu wurde eine Wohnnutzung gewählt, deren rein generisch evaluierten Ansprüche gepunktet eingezeichnet sind. Auswertung Beispiel 2 Es wird schnell ersichtlich, dass es eher wenig Übereinstimmungen gibt. Bei den meisten Parametern bezüglich der Raumkonditionen erfüllt der Bestand die Anforderungen nicht, in den beiden anderen Bereichen hingegen wechseln die Linien sich rasch ab. Entsprechend unregelmässig wird die Fläche, die die Differenz angibt, fast sternförmig. Damit wird frühzeitig klar, dass ein tiefgreifender Umbau nötig wird und das Konzept auf diese unerfüllten Ansprüche reagieren muss.43 43 In diesem Beispiel wurde mit der Strategie 3, dem Haus- im Haus reagiert, die hier anschliessend im Kapitel ‚Räumliche Entschichtung’ erläutert wird. Dies ermöglicht vor allem die neuen Komfortansprüche und die Luftdichtigkeit zu erreichen, ohne den ortsbildprägenden Charakter der äusseren Hülle stark zu modifizieren. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 21 Beispiel 2, alternative Nutzung Zur Prüfung des Beispiels mit einer anderen Nutzung, hier der Einzelhandel, getestet. Dafür konnte die Linie ‚Bestand’ im Diagramm stehen bleiben und die Ansprüche aus der Beurteilung des Einzelhandels wurden übertragen sowie die Differenzen der beiden Linien44 in grau markiert. Auswertung Beispiel 2, alternative Nutzung Bereits auf den ersten Blick fällt die einseitige Erfüllung, bzw. Übererfüllung auf – der Bau kann im Spinnendiagramm linksseitig deutlich mehr leisten, als die Nutzung benötigen würde. Dafür gibt es auf der anderen Seite – bei der Typologie und Struktur ebenso wie bei der thermischen Behaglichkeit und Teilen der Luftqualität – komplett unerfüllte Aspekte. Auch hier müssten also entweder die Ansprüche mehr an die Begebenheiten angepasst werden oder tiefgreifende strukturelle und konstruktive Massnahmen ergriffen werden. 44 Wobei darauf hingewiesen werden muss, dass die Linien nur der Anschaulichkeit dienen, es gibt keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Parametern, der linear dargestellt werden müsste. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 22 Beispiel 2, weitere alternative Nutzung Abschliessen wird nochmals eine weitere Nutzung geprüft, als Bau wurde wieder der alte Stall eingetragen. In das Diagramm wurden eine Büronutzung und die Differenz aus Bestand und Anspruch eingezeichnet. Auswertung Fallbeispiel 2, weitere alternative Nutzung Für die hier zugeordnete Büro-Nutzung werden sehr grosse Mängel bei der Luftdichtigkeit, der thermischen und hygrischen Behaglichkeit sowie dem Brandschutz deutlich, es gibt aber auch Übereinstimmungen und Übererfüllung der Anforderungen. Damit wird klar, dass ein Umbau nicht zwingend bis in die Bereiche der Struktur greifen muss, sondern eine Ertüchtigung der Hülle eventuell möglich wäre. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 23 Räumliche Entschichtung Als drittes Werkzeug wird die konstruktive Entschichtung der Aussenwand eingeführt, bei der die aktuellen Anforderungen auf mehrere, niedertechnische Schichten aufgeteilt werden.45 Grundsätzlich verstehen wir unter einer Schicht eine Fläche, die eine begrenzende Wirkung auf einen Raum hat, sie ist also raumwirksam. Die Dimensionen von Schichten können sehr unterschiedlich sein, sie reichen von einer dünnen Beschichtung bis hin zu tiefen Raumschichten. Die einzelnen Schichten können über ihre Lage, Materialqualität und Beschaffenheit differenziert und benannt werden.46 Zudem sind sie durch Fugen unterschiedlicher Dimensionen voneinander getrennt.47 Schichten können homogen oder inhomogen sein, also durchgehend oder unterbrochen, beispielsweise wo punktuelle Wärmebrücken in Kauf genommen werden.48 Auf der praktischen Ebene bietet eine Entschichtung den Erhalt der Hülle und die Erfüllung von aktuellen Anforderungen im Inneren. Es bleibt die bestehende Fassade möglichst unangetastet oder/und wird lediglich wieder hergestellt. Dem Prinzip der Addition folgend, werden nach innen weitere Schichten angeordnet, welche die heutigen energetischen, bauphysikalischen, gebäudetechnischen, akustischen und brandschutztechnischen Anforderungen gewährleisten. Der Raum zwischen der alten Fassade und den neu aufgebrachten Schichten ist – je nach Strategie – unterschiedlich tief. So wirken alle Eingriffe dieser Art räumlich. Das Prinzip der Schichtung folgt im Grundsatz der Systemtrennung für langfristig hohe Gebrauchswerte von Gebäuden.49 50 Auf der Ebene der Bedeutungen können mit einer Viel- oder Mehrschichtigkeit aber auch Themen gleichzeitig wirksam werden, d.h. formale oder memorative Inhalte parallel erkannt werden. Schutzschichten können beispielsweise dem Erhalt von Substanz dienen, ohne diese komplett zu verbergen. Der Einsatz von Schichten erlaubt die Ablesbarkeit der Biographie eines Gebäudes, indem jüngere Schichten als solche erkennbar sind. So bleiben Alters- und Zeugniswert des Bestandes lesbar.51 Im Folgenden werden drei Strategien beschrieben, wobei sich in der praktischen Umsetzung oft Mischformen anbieten. Abschliessend werde sie miteinander verglichen und kommentiert. Diese Einschätzung soll es ermöglichen, bereits vor einer eigentlichen Planung simulativ unterschiedliche Ansätze für eine Erneuerung von Innen durchzugehen und dabei mögliche Potenziale ebenso zu erfassen wie eventuelle Probleme. 45 Eine Umsetzung der aktuellen Anforderungen ohne räumliche Wirkung wäre eine rein technische Lösung, die – wie in der Einführung beschrieben – fallspezifisch in Betracht zu ziehen ist. Sie wird in dieser Studie nicht weiter untersucht, kann aber gerade bezüglich des Erhalts wertvoller Substanz Vorteile bringen. 46 siehe auch: Anne-Catrin Schultz, ‚Der Schichtungsprozeß im Werk von Carlo Scarpa’ Dissertation an der Universität Stuttgart 1999 47 Eine Schicht kann auch aus mehreren Komponenten bestehen, in diesem Fall umschreibt die Schicht den Zusammenhalt zwischen diversen Teilen, die gemeinsam als ein übergeordnetes Element wahrgenommen werden. Dafür befinden sich die einzelnen Bestandteile meist in einer Ebene. 48 Es kann auch die ‚Inversion’ des Schichtenrisses berücksichtigt werden; Tragwerke sind meist aus energetischen Gründen innen – im Denkmal hingegen oft aussen. Diese energetisch / kulturellen Widersprüche in der Schichtenfolge gilt es zu beachten und sie aufzuzeigen. 49 Siehe auch Amt für Grundstücke und Gebäude (AGG) http://www.bve.be.ch/bve/de/index/direktion/organisation/agg/mandate/systemtrennung.html 50 Problematisch ist allerdings die Reversibilität wenn mehrere Funktionen zusammengefasst werden, und beispielsweise Schichten mit thermoaktiven Elementen auch das Speichern übernehmen sollen. Das auch aus denkmalpflegerischer Sicht sinnvolle, additive Vorgehen wird in so einem Fall ausgesetzt. Unterschieden werden könnte vielleicht zwischen einer Durchdringung und einer Überlagerung von Funktionen in einer Schicht. Die Durchdringung, wie beispielsweise bei der Einlagerung von Heizelementen in Wänden, verunmöglicht eine spätere Trennung. Überlagern sich Funktionen hingegen, beispielsweise wenn bestehende Wände die Schalung neuer Schichten bilden, ist eine spätere Trennung (theoretisch) noch möglich. 51 siehe auch die Leitsätze für Denkmalpflege Schweiz, wo im Absatz 4.4 (Kleinstmöglicher Eingriff) und 4.6 (Alterswert), in denen direkt auf den Einsatz von Schichten hingewiesen wird. Version vom 22.3.2006 der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 24 Strategie1, das Futteral Direkt an der Innenseite der bestehenden Gebäudehülle wird eine zusätzliche Schicht aufgebracht, welche die energetischen und bauphysikalischen Anforderungen erfüllt. Je nach Materialität und konstruktivem Aufbau ist dieses Futteral primär von innen sichtbar und verändert die Dimensionen des Raumes nur geringfügig. Die neue Schicht wird dicht an die bestehende Hülle gefügt und es wird explizit Homogenität gesucht. Damit entspricht diese Strategie am ehesten einer ergänzenden Massnahme, die sich dem Bestand in ihrer Gestalt unterordnen. Dennoch wird die neue Schicht auf angemessene Weise für Fachpersonal kenntlich gemacht. Dies bedeutet, dass der Eingriff eventuell nicht sichtbar, doch spürbar (zum Beispiel durch das Klopfen auf die Oberfläche oder die spürbar höhere Oberflächentemperatur) ist. Kennzeichen des Futterals: - die neue Schicht liegt dicht an der alten Schicht - es gibt keinen Zwischenraum, die Gebäudehülle wird vielmehr verstärkt und alt und neu konzeptionell als eine Schicht verstanden - die neue Schicht ordnet sich in ihrer Gestalt dem Bestand unter - die Gestalt des Innenraumes wird wenig modifiziert, die Raumstimmung kann sich ändern Beispiel: Innendämmung mit dünner Verkleidung (Gips, Putz), aufgesetzte Fenster etc. Potenziale des Futterals: + die ursprüngliche Nutzung kann gut erhalten werden + nur ein minimaler Raumverlust + die Proportionen des Raumes bleiben erhalten + evtl. ist neue Schicht als Fragment lesbar (Flankendämmung) Handicaps des Futterals: - die Innenseite der Hülle ist nicht mehr authentisch sichtbar/spürbar oder wird sogar zerstört - die neue Innenseite ist als (atektonische) Verkleidung lesbar - Umnutzungen, die bauliche Massnahmen verlangen sind nur bedingt möglich, da das Futteral nur Ergänzungen vorsieht - neue ‚energetische’ Funktionen werden im Ausdruck eher unterdrückt - die Materialität verändert evtl. Raumstimmung - Technik (ausser Elektro und Wandheizung) ist im Futteral nicht führbar - der Rückbau ohne Beschädigungen ist schwierig - Wärmebrücken bleiben meist bestehen (Massivdecken/Zwischenwände mit Aussenwand verbunden) HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 25 Strategie 2, die Schichtenfolge Mit einem leichten Abstand zur bestehenden Gebäudehülle wird eine neue Innenschicht eingeführt. Innerhalb dieser Schichtenfolge befindet sich ein Zwischenraum, der das Dämmen, Entlüften und Führen technischer Installationen ermöglicht. Bei dieser Strategie wird der Innenraum in seinen Dimensionen und Proportionen leicht modifiziert. Der Eingriff wird als eine Zufügung verstanden und spürbar belassen, wobei die neu aufgebrachten Schichten nicht zwingend dialektisch als neue Elemente gezeigt werden müssen. Je nach entwerferischer Situation kann die innere Schicht mit dem Bestand architektonisch verschmelzen. Der neu entstehende Zwischenraum ist nicht direkt nutzbar, sondern dient rein der funktionalen oder technischen Entlastung des Bestandes. Konzeptionell wird die Schichtung bewusst formuliert und die neue Innenschicht erhält möglicherweise eine eigene Tektonik. Kennzeichen der Schichtenfolge: - die neue Schicht liegt nah, aber nicht direkt an der alten Schicht - es entsteht ein Zwischenraum der gesamträumlich wenig wirksam ist (i.d.R. nicht begehbar). - die neue Schicht soll sich selbstverständlich in den Bestand einfügen und als heutiges Element mit hoher gestalterischer Qualität erkennbar sein. - Sie ist materiell vom Bestand unabhängig, wobei sie ihrer Bedeutung entsprechend gestaltet wird. - die Form des Innenraumes wird modifiziert, seine Dimensionen bleiben aber weitestgehend erhalten Beispiel: Selbsttragende Schicht aus Holz oder Beton, dazwischen Dämmung. Integrierte Heizung ist möglich. Potenziale der Schichtenfolge: + die ursprüngliche Nutzung kann erhalten werden + Umnutzungen sind gut möglich + die Innenseite als Zufügung bleibt dank eigener Tektonik und Materialität erkennbar + die Schichtenfolge ist evtl. selbsttragend, die Eliminierung von Wärmebrücken wird möglich + die Raumstimmung und Materialität können transformiert werden + durch System- und Materialtrennung meist gut rückbaubar + Technik (Elektro) ist in der Schichtenfolge gut führbar; Lüftung evtl. möglich (Einschränkung: ist die innere Schicht die Dämmebene, würden die Leitungen im Zwischenraum im Kaltbereich liegen.) + der Zwischenraum ist zugänglich und steht für Revisionen und Nachrüstungen zur Verfügung Handicaps der Schichtenfolge: - die Proportion und Dimensionen des Raumes werden leicht verändert - die Innenseite der Hülle ist nicht mehr authentisch sichtbar/spürbar - die neue Materialität verändert die Raumstimmung - grösserer Platzverlust als bei der Strategie 1, Futteral HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 26 Strategie 3, das Haus im Haus Bei dieser Strategie bleibt die bestehende Gebäudehülle nahezu unangetastet erhalten. Nutzungen mit einem höheren Anspruch an die Gebäudetechnik erhalten eine neue Hülle im Inneren, wodurch ein Haus im Haus formuliert wird. Der sich ergebende Raum zwischen alter Fassade und neuer Hülle bietet klimatische Pufferzonen, die dank dem Schutz vor Witterung die Anforderungen an die neuen Einbauten reduzieren. Der bestehende Innenraum wird in seinen Eigenschaften stark modifiziert. Die neu generierten Zwischenräume stehen für Nutzungen zur Verfügung. Dabei soll aus alten und neuen Elementen eine neue Gesamtheit entstehen. Kennzeichen Haus im Haus: - die neue Schicht liegt grösstenteils in räumlicher Distanz zu der bestehenden Hülle - es entsteht nutzbarer Raum zwischen der bestehenden Hülle und der neuen Schicht. Die bestehende Hülle kann innen und aussen integral erhalten und sichtbar bleiben. - die Gestalt der entstehenden Innenräume entspricht nicht mehr dem ursprünglichen Volumen - das Haus im Haus basiert auf einer sorgfältigen Analyse des Bestands und ist angemessen und qualitätsvoll zu gestalten, so dass die Massnahme einem ‚Weiterbauen’ entspricht52 Beispiel: Neue Innenwände und Decken als Systemwände/-decken oder vorfabrizierter Holzbau/Stahlbau erfüllen die heutigen Anforderungen und entlasten die bestehenden Bauteile. Potenziale Haus-im-Haus: + über die Entschichtung entstehen neue Räume und ermöglichen ein verändertes Raumprogramm + Alt und Neu werden von innen und aussen über das Material und die Gliederung gut lesbar + die alte Hülle bleibt authentisch + neue ‚energetische’ Funktionen werden als eigene Wand sichtbar + die Technik ist gut in der neuen Konstruktion führbar, eine grosse Entlastung des Bestehenden + hohe Anforderungen an die Raumkonditionen können im neugebauten Volumen erfüllt werden + es entsteht ein klimatischer Pufferraum + je nach Umsetzung ist die Reversibilität vollumfänglich gegeben + unterschiedliche Klimazonen sind möglich Handicaps beim Haus-im-Haus: - die Proportionen und Dimensionen des ursprünglichen Raumes werden stark verändert - ehemalige Nutzung wird tendenziell verändert - die Integrität eines Gesamtraumes kann (muss aber nicht) gefährdet sein - die Raumkonditionen im klimatischen Pufferraum können evtl. eher mässig sein Bauphysik Ein wichtiges Thema stellt bei der energetischen Sanierung die Bauphysik dar. Daher wurden die drei Sanierungsstrategien zur Erneuerung von Innen diesbezüglich nochmals genauer betrachtet. Durch die Massnahmen im Inneren können kürzere Aufheizzeiten möglich werden (was z.B. bei gelegentlicher Nutzung wie in Ferienhäuser wichtig ist) – dies natürlich in Abhängigkeit der Materialisierung. Eine partielle Dämmung von Wänden wird möglich, z.B. die raumweise Dämmung, wenn nur einzelne Räume die energetischen Anforderungen erfüllen müssen. Weiter ist eine witterungsunabhängige Ausführung möglich. 52 Alle drei Strategien wurden den Massnahmen aus den Leitsätzen zur Denkmalpflege in der Schweiz, 22.3.2006 der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege angepasst (Absatz 5.1 – 5.3, Definition zu einigen besonderen Massnahmen) HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 27 Allerdings können sich bei Anwendungen der Strategie 1 und 2 bauphysikalische Nachteile bzw. Gefahren beim Einsatz von Innendämmung ergeben, wie beispielsweise: die Verschiebung der Taupunktebene in das Bauteil, an der Schnittstelle Aussenwand und Innendämmung die Ansammlung von Feuchte durch Dampfdiffusion oder Schlagregen oder aufsteigende Feuchtigkeit im System ein Schimmelpilzwachstum im System Hinterströmung von feuchter Innenluft bei Hohlstellen/-räumen Ablösung des Klebemörtels bzw. Wärmedämmschicht, die abhängig von der Materialisierung und Ausführung sind fehlende direkte Kontrolle der feuchtebedingten Schadenentwicklung auf der Taupunktebene keine optimale bzw. erschwerte Minimierung der Wärmebrücken, oder sogar Verstärkung der Wärmebrücken die Reduktion der Wärmespeicherfähigkeit der Innenoberflächen (z.B. negative Auswirkung auf den sommerlichen Wärmeschutz) Technik Neben der Bauphysik ist auch die Technikführung in den drei Strategien sehr verschieden und bildet einen wichtige Entscheidungshilfe für die Strategien: Bei Anwendung der Strategie 1, dem Futteral, ist eine Technikführung kaum sinnvoll möglich, da sie tendenziell die Innendämmschicht reduzieren würde. Die Technikführung muss aber generell in neuen Leitungsschächten bewerkstelligt werden. In der Strategie II, der Schichtenfolge, ist eine Führung von Elektroleitungen in einer vorgesehenen Installationsschicht gut möglich, wobei die Frage der Systemtrennung und Zugänglichkeit zu beachten sind. Die Kanal- und Leitungsführung von Heizung, Lüftung und Klima muss ebenfalls in neuen Leitungsschächten im Innern geführt werden.53 In der Strategie III, dem Haus im Haus, ist eine offene Leitungsführung für Elektro an der bestehenden Aussenwand natürlich möglich, ebenso in den neuen Zwischenwänden, sofern eine Installationsschicht vorgesehen ist. Die heutigen Anforderungen und Standards wie CO2-gehalt, WRG, Feuchteschutz, Lüftungskonzept usw., erfordern mehrheitlich einen steuerbaren Luftwechsel. Je nach Personenbelegung ergeben sich dabei grosse Querschnitte, welche bestehende Raumsituationen überfordern. Diese müssen damit in zugänglichen Installationsschächten untergebracht werden. Die Lage der Technikzentralen, die horizontalen und vertikalen Ver- und Entsorgung müssen als Konzept sorgfältig geprüft und disponiert werden, um die bestehenden Räumlichkeiten in ihrer Proportion, Wirkung und Atmosphäre nicht zu gefährden. Ausdruck Grundsätzlich besteht bei allen drei Schichtungskonzepten das Ziel der Integrität von Raum, Konstruktion, Material und Atmosphäre, wobei diese Prinzipien je nach Strategie verschieden interpretiert beziehungsweise gewichtet sind. In der Strategie 1, dem Futteral, zeigt die innere Schicht eine Materialität, drückt aber aus, dass sie für sich selber nicht stehen kann und somit eine atektonische Verkleidung bildet. Bei der Strategie II, der Schichtenfolge, weist die innere selbsttragende Wand eine eigene Materialität auf, welche auch eine völlig neue Raumwirkung erzeugen kann. Diese kann als warmer, beherbergender Strickbau (wie im Beispiel Hospiz Gotthard) oder als archaischer Rohbau (siehe Stall Soglio) völlig andere Raumwirkungen und Atmosphären erzeugen, wobei die ursprüngliche Wirkung bewusst verlassen oder interpretiert werden kann. In der Strategie III, Haus im Haus, lassen neu eingestellte Wand und Decken eine völlig neue Räumlichkeit entstehen, wobei die ursprüngliche Raumwirkung verloren gehen kann. Gleichzeitig vermag die Aussenwand ihre Materialität nach innen behalten und die ursprüngliche Atmosphäre in die Zukunft tragen, der Kontrast aus Alt und Neu kann hier besonders wirkungsvoll inszeniert werden. Vor allem die Strategien II und III bedingen eine qualitätsvolle Interpretation des Bestandes, da Schichten mit autonomer Tektonik und eigener Charakteristik eingebaut werden. 53 Ausnahme bildet im Katalog hinten der ehemalige Stall in Soglio, wo die Heizleitungen in die massive Innenschale eingelegt sind. Siehe Katalog und Fallbeispiel weiter hinten. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 28 5 Katalog Mit dem Fortgang des Projektes hat sich immer mehr herausgestellt, dass ein repetitives Vorgehen bei der energetischen Erneuerung von Baudenkmälern nicht möglich ist, da immer der Einzelfall angeschaut werden muss. Auch gute Architektur muss ein Kompromiss einander ausschliessender Anforderungen sein – entsprechend hat der vorliegende Katalog an Fallbeispielen nicht den Anspruch, Leuchtturmprojekte anzubieten. Vielmehr soll hier eine breite, möglichst anwendungsrelevante Auswahl an Beispielen angeboten werden. Die Bandbreite reicht dabei von Wohnhaus über Hörsaalzentrum bis zum Altersheim, eine Vergleichbarkeit ist dabei naturgemäss kaum möglich und wird auch nicht angestrebt. Der Katalog ist eine reine Beschreibung, auf eine Bewertung der Objekte wird ebenso bewusst verzichtet, wie auf eine komplette Darstellung der Bauten. Vielmehr sollten die Erneuerungen von Innen in ihrer Diversität erfasst und die jeweilige Strategie erläutert werden. Einzelne Projekte aus dem Katalog werden im anschliessenden Kapitel als Fallbeispiele zu spezifischen Themen untersucht. Das grundlegende Kriterium bei allen Projekten war das Vorhandensein schützenswerter Bausubstanz, wobei es sich nicht zwingend um inventarisierte Bauten handelt. Die Auswahl der Objekte stellt zudem eine gute Verteilung hinsichtlich Baujahr und Dimensionen, Typologien und Ursprungsnutzungen dar. Die Eingriffe weisen eine hohe architektonische Qualität auf und waren energetisch motiviert. Es sind Projekte, die in ihrer Summe repräsentativ für aktuelle Bauaufgaben verstanden werden können, und so als Handlungsorientierung für den planerischen Alltag zu verstehen sind. Bewusst sind auch Bauten der Hochkonjunktur in dem Katalog vertreten, die grösstenteils noch nicht als schützenswerte Bauten verstanden werden. Hier sind neue Wege der Denkmalpflege wichtig. Das ‚sich einfühlen’ in diese Bauten fällt uns heute schwerer als in solche mit grösserem zeitlichem Abstand, der Denkmalwert des Bestandes liegt nicht so plakativ auf der Hand wie der von historischer, alter Bausubstanz.54 Es werden neue Strategien benötigt, wie auf die Materialien und jeweiligen Situationen dieser Bauten zu reagieren ist. Der Erhaltungszustand der Originalsubstanz war bei den Projekten jeweils sehr verschieden, entsprechend different sind die Eingriffe. Die Auswahl der Fallbeispiele ist auf die Schweiz beschränkt. Schon hier konnten urbane und ländliche, grosse und kleinere Gebäude, solche mit niedrigeren und solche mit hohen klimatischen Anforderungen gefunden werden. Die räumliche Nähe erleichtert den Besuch vor Ort, der für eine architektonische Beurteilung unersetzlich ist. Die angewendeten Massnahmen wurden gemäss den drei räumlichen Strategie zur Erneuerung von innen katalogisiert. 54 In einem Gespräch im Oktober 2013 betont die Denkmalpflegerin und Architektin Tatiana Lori zu den Bauten der Hochkonjunktur, dass hier neue Wege der Denkmalpflege wichtig sind. Das ‚sich einfühlen’ in Bauten grösserer zeitlicher Nähe fällt uns leichter, zudem ist der Substanzerhalt oft nicht so vordergründig. Es werden vielmehr neue Strategien benötigt, wie auf die Materialien und jeweiligen Situationen dieser Bauten zu reagieren ist. Als Beispiel führt Frau Lori ein Bauwerk von Neuenschwander an, welches am Seeufer Zürich mit einer markanten Spiegelglasfassade steht. Die Fassade wird, als das prägendste Element für das Bauwerk, komplett rekonstruiert und die notwendigen klimatischen und energetischen Massnahmen werden innenseitig verlegt. Ein Vorgehen, welches für ein mittelalterliches Bauwerk wohl weniger infrage käme. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 29 Strategie 1: Gebäude Diagonal des Maag-Areals, Zürich FALLBEISPIEL55 mehrgeschossige Industriehalle è Kunstgalerien, Restaurant Baujahr: 1940 Umbau: 2007-2011 Standard: – Volumen: 18'000m3 Denkmalpflegerischer Status: Schutzvertrag, welcher Fassade und Struktur umfasst Die ehemalige Fabrikhalle der Maag Zahnräder AG wurde 1906 erstellt. Da das Gebäude als Teil des Gebäudekonglomerats um den Prime Tower einer neuen Nutzung zugeführt werden sollte, waren energetische Sanierungsmassnahmen erforderlich. Die Gebäudestruktur und die äussere Erscheinung sind durch einen Vertrag zwischen der Bauherrschaft und der Denkmalpflege der Stadt Zürich geschützt; der Perimeter um die beheizten Flächen sollte neu gedämmt werden. Dies geschah durch die Innendämmung der Fassaden, wobei bei den Stützen und Trägern der Stahlstruktur der innere Flansch nach wie vor sichtbar geblieben ist. Die Stahlstruktur sollte erhalten und sichtbar bleiben, vor allem auch im Inneren. Mittels einer thermischen Brandschutzsimulation konnte nachgewiesen werden, dass das Gebäude auch mit einem Sprinkler zuverlässig brandgeschützt werden kann. Aufgrund der denkmalpflegerisch wichtigen äusseren Erscheinung wurden innen neue Fenster mit gedämmten Profilen und Isolierverglasungen mit von aussen natürlich belüftetem Zwischenraum montiert, um die originalen Fenster weitgehend erhalten zu können. Damit konnte auch eine höhere Luftdichtigkeit erreicht werden. Jedoch war ein Erhalt der originalen Gläser wegen Asbest im Kitt nicht möglich, auch mussten die Profile rostschutzbehandelt werden. Die beiden polygonalen Erschliessungsköpfe können aufgrund der feuerpolizeilich vorgegebenen Durchgangsbreiten nicht gedämmt werden und weisen somit ein Zwischenklima auf. Photographien sind noch nicht zur Publikation freigegeben. 55 Bauherrschaft: Swiss Prime Site AG, Olten Architektur: Annette Gigon, Mike Guyer, Zürich, Bauleitung/Totalunternehmung: ARGE Prime Tower, Losinger Construction AG und Karl Steiner AG / Bauingenieure Wettbewerb: Dr. Schwartz Consulting AG, Zug, Submission: Dr. Schwartz Consulting AG, Zug und Dr. Lüchinger + Meyer Bauingenieure AG, Zürich, Ausführung: Walt + Galmarini AG, Zürich mit Dr. Lüchinger + Meyer AG, Zürich / Denkmalpflege: Tatjana Lori Gebäudetechnik: IBG Graf AG, St. Gallen, Hefti Hess Martingnoni, Zürich, PB P. Berchtold, Sarnen, Waldhauser Haustechnik AG, Münchenstein, Hans Abicht AG, Zürich, GRP Ingenieure, Rotkreuz / Bauphysik: Bakus, Zürich Fotografien: Thies Wachter HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 30 Strategie 1: Schulhaus Ilgen, Zürich FALLBEISPIEL56 Schulhaus è Schulhaus Baujahr: 1877 (Ilgen A und Turnhalle), Architekt Otto Wolf, 1889 (Ilgen B), Architekt Ernst Diener Umbau: April 2011-August 2012, Standard: Minergie Volumen: ca. 30'000 m3 Erstellungskosten (BKP 1-9): 28 Mio. Denkmalpflegerischer Status: Objekt im Inventar Die auf einer künstlichen Geländeterrasse gelegene Anlage besteht aus den beiden Schulgebäuden Ilgen A und B, sowie einer zentral gelegenen Turnhalle, die sich um den terrassierten Schulhof anordnen. Ilgen A und die Turnhalle wurden 1877 vom Architekten Otto Wolff erbaut, Ilgen B dann im Jahre1889 von E. Diener. In den 1940er Jahren wurden die drei Gebäude hinten durch eine hölzerne Pausenhalle im Landistil verbunden. Die Schulhäuser weisen spätklassizistische Fassaden mit Neurenaissance-Elementen auf, die Turnhalle wurde später purifiziert. Im Innern hatten verschiedene Umbauten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts die ursprüngliche Ausstattung verändert. Die Sanierungsmassnahmen fanden Frühjahr 2011 bis Sommer 2012 bei laufendem Betrieb statt, wobei die Schüler zeitweise in temporären Gebäuden auf dem Schulareal untergebracht waren. Neben der Reparatur beschädigter historischer Bauteile, der Fassaden, war die energetische Erneuerung und die Auffrischung der inneren Oberflächen und die Anpassung für die Nutzungen und Behindertengerecht ein wichtiges Ziel der Massnahmen. Der Minergie-Standard wurde angestrebt und auch zertifiziert. Die für dieses Projekt relevanteste Massnahme war das Aufbringen einer 10 cm starken mineralischen Innendämmung aus Porenbeton. Repräsentative Teile wie die Treppenhäuser wurden an den Originalzustand angepasst; jedoch wurde auf 1:1 Rekonstruktionen zugunsten von Neuinterpretationen weitgehend verzichtet. 56 Bauherrschaft: Amt für Hochbauten, René Lütolf, Stadt Zürich / Architektur: Wolfgang Rossbauer, Zürich/ Bauleitung: Caretta & Gitz AG, Zürich / Denkmalpflege: Theresia Gürtler, Martina Jenzer, Stadt Zürich / Bauingenieur: Basler & Hofmann, Zürich, timbatec gmbh, Zürich / Gebäudetechnik: Basler & Hofmann, Zürich, Hunziker & Urban, Zürich, Schmidiger & Rosasco, Zürich / Bauphysik: Amstein Walthert AG, Zürich / Landschaftsarchitektur: vi.vo. architecture. landscape. gmbh Zürich Fotografien: Hannes Henz HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 31 Strategie 1: Alternative Bank Schweiz, Olten57 Verwaltungsbau è Bankgebäude Baujahr: 1924 / 1931 Umbau: 2007-2010 Standard: Minergie-P, Kriterien der 2000-Watt-Gesellschaft, GI "Gutes Innenraumklima" Volumen: (GV nach SIA 416): 10'612 m3 Erstellungskosten (BKP 1-5): 11,9 Mio. Denkmalpflegerischer Status: nicht inventarisiert oder geschützt Mit dem Umbau der Liegenschaft am Amtshausquai 21 hat die Alternative Bank Schweiz ihren neuen Hauptsitz nach den Kriterien der 2000-Watt-Gesellschaft realisiert und nach Minergie-P zertifiziert. Mit einer neu entwickelten Fassadenkonstruktion gelang es zudem, die neoklassizistischen Fassaden des Hauses integral zu erhalten. Dieses wurde 1924 an städtebaulich wichtiger Lage am Stadthausquai errichtet und diente früher dem geschichtsträchtigen Walter-Verlag als Hauptsitz. Bauphysikalisch wenig risikoreiche Bereiche, wie das Dach oder die Kellerdecken, wurden maximal gedämmt, auch alle Fenster wurden um den Anforderungen genügen ersetzt und wärmetechnisch optimiert. Die Innendämmung besteht aus einer Holzständerkonstruktion mit Zellulose-Ausflockung, nach innen abgeschlossen durch eine feuchteadaptive Dampfbremse und einen 6 cm starken Lehmaufbau auf einer Gipsfaserplatte. Die Decken erhielten unterseitig eine Flankendämmung und oberseitig eine Trittschalldämmung. 57 Bauherrschaft: Alternative Bank Schweiz / Architektur: Metron Architektur AG, Brugg / Bauingenieur: Heyer Kaufmann Partner, Zürich/ Baden / Denkmalpflege: Stadtbildkommission Olten / Gebäudetechnik: Zurfluh Lottenbach GmbH, Luzern / Bauphysik: Amstein Walthert AG, Zürich Fotografien: Hannes Henz HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 32 Strategie 1: Dorflinde, Zürich-Oerlikon58 multifunktionales Zentrum /Altersheim è multifunktionales Zentrum /Altersheim Baujahr: 1973-77 Umbau: Oktober 2009 - Oktober 2011 Standard: Minergie (Neubauten) Volumen: 33'300 m3 Spezifische Kosten: (BKP 1-9) 25.8 Mio. Denkmalpflegerischer Status: nicht im Inventar oder geschützt Das Zentrum Dorflinde ist ein typisches Beispiel eines Hochkonjunkturbaus der 70er Jahre. Die Rezeption von Bauten dieser Epoche ist momentan in einem Umbruchprozess; sie werden mit zunehmender zeitlicher Distanz auch für die Denkmalpflege relevant. Der multifunktionale Komplex umfasst neben einem Altersheim auch öffentliche Institutionen sowie Geschäfte und Gastronomie um einen öffentlichen Platz. Neben Reparaturen und der partiellen farblichen Neuinterpretation auf der Basis des ursprünglichen Konzepts fanden Massnahmen zur energetischen Erneuerung statt. Alle Dächer und Kellerdecken wurden gedämmt und die Fenster ersetzt. Beim Altersheim, einem Hochhaus mit elf Geschossen, konnte Minergie-Standard für Neubauten erreicht werden. Hier wurde die gesamte Fassade von Innen gedämmt. Um bauphysikalische Schäden zu vermeiden und das passende Material zu finden, wurden Testmessungen und Simulationen der Temperatur- und Feuchteverläufe durchgeführt. 58 Bauherrschaft: Amt für Hochbauten, Stadt Zürich / Architektur: Aussensanierung: GFA Gruppe für Architektur, Zürich. Innensanierung und energetische Sanierung der Gebäudehülle: Neff Neumann, Zürich / Bauleitung: BGS Architekten, Rapperswil / Bauingenieure: Caprez Ingenieure, Zürich / Gebäudetechnik: RMB Engineering, Winterthur / Bauphysik: BWS Bauphysik AG, Winterthur Fotografien: Georg Aerni HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 33 Strategie 2: Stallscheune, Soglio FALLBEISPIEL59 Landwirtschaftliches Wirtschaftsgebäude è repräsentatives Wohnhaus Baujahr: unbekannt Umbau: 2007-2009 Standard: – Volumen: 1300 m3 Spezifische Kosten: 1'300'000 Denkmalpflegerischer Status: – Beim bestehenden Gebäude in Soglio handelte es sich um einen einfachen Stall, welcher besonders wegen seiner Lage im Ortsbild, wo er den hangseitigen nördlichen Dorfeingang markiert, schützenswert ist. Seine archaische Struktur ist gekennzeichnet durch die dreidimensionale Verzahnung von Stein- und Holzbau: Vier im Sockel verbundene Eckpfeiler, bilden die zeichenhafte Primärstruktur, auf der das Dach in Strickbauweise aufliegt. Im Zuge der Erneuerungsmassnahme wurde der Stall zu einem Wohnhaus in gehobenem Standard umgebaut. Im Grundriss wurde vorerst auf der Innenseite der bestehenden gemauerten Wände eine Dämmung aufgebracht und einhäuptig eine Stampfbetonwand vorbetoniert. Damit wurde die Primärstruktur mit den vier archaisch wirkenden Eckpfeilern als konstruktive Fortsetzung noch verdickt. An der bündigen Nahtstelle wurden als möglichst ungehinderter, moderner Übergang zwischen innen und aussen in Form einer strukturellen Öffnung Stahlrahmenfenster in die Dämmebene gesetzt. Mit der Schichtung der Wände und dem an der Oberfläche freigelegten Korn wird der Vorgang des Mauerns interpretiert, gleichzeitig wird aber auch ein moderner Kommentar zur Konstruktion aussen abgegeben. Die Stampfbetonwände finden aber auch nach aussen als massive Stützmauern des Hanges und als Umschliessung von Nebenräumen eine Fortsetzung. Im Innern bilden sie als Schalen auch raumhaltige Nischen für Waschtische, Schränke, Cheminée etc. 59 Bauherrschaft: privat / Architektur: Ruinelli Architetti, Soglio / Bauingenieur: Toscano, St. Moritz /Denkmalpflege: nicht involviert/ Gebäudetechnik: J.Bulach Champfèr / Bauphysik: Kuster & Partner, St.Moritz Fotografien: Ruinelli Architetti, Soglio HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 34 Strategie 2: Haus Matten, Ballenberg / Brienz60 Landwirtschaftliches Wohnhaus mit Wirtschaftsteil è Muster-Wohnhaus als Ausstellungshaus Baujahr: 16. Jahrhundert / 1977 Wiedererrichtung im Freilichtmuseum Ballenberg Umbau: 2007-2008 Standard: – Volumen: 860 m3 Spezifische Kosten: 550'000,- (Bkp2) Denkmalpflegerischer Status: schützenswert Das im 16. Jahrhundert erbaute, typische Berner Oberländer Bauernhaus aus der Gemeinde Matten bei Interlaken war bis in die 1950er Jahre bewohnt, bevor es nach längerem Leerstand in den 70er Jahren ins Freilichtmuseum Ballenberg transloziert wurde. 2007-08 wurde es im Rahmen des Pilotprojektes der Pro Helvetia, "echos - Volkskultur für morgen" für die Bedürfnisse der heutigen Zeit umgebaut. Das Projekt hatte modellhaften Charakter, da das Haus als Museumsobjekt jahrlich von tausenden von Besuchern besichtigt werden kann.. Der historische Strickbau wurde innen mit einer Fütterung aus Strickbau ausgekeidet. Die drei übereinaderliegenden Zimmereinheiten fügen sich als tragende, zweigeschossige Zellen mit Geschossdecken und geknicktem Dach in den Bestand, ohne die bestehende Konstruktion zu verletzen. Der Zwischenraum ist mit Zelluloseflocken gedämmt. Von entscheidender Bedeutung sind die Nahtstellen, wo Alt und Neu zusammenkommen. Besondere Beachtung fand die Art, wie die Kastenfenster das Licht in die Räume leiten und wie im Innern die originale Substand unberührt blieb. Das Haus wird mit dem neu konzipierten, historischen Sandsteinofen von 1846 beheizt. Dieser ermöglicht eine äusserst wirkungsvolle Beheizung mit sehr geringen jährlichen Heizkosten. Im ganzen Projekt wurden lokale Materialien von Handwerkern aus der Region verarbeitet. Photographien sind noch nicht zur Publikation freigegeben. 60 Bauherrschaft: Schweizerisches Freilichtmuseum Ballenberg, Brienz / Architektur: Patrick Thurston, Architekt BSA, Bern / Bauingenieur: Fritz Allenbach, Frutigen / Denkmalpflege: Kantonale Denkmalpflege Bern, Jürg Schweizer, Stefan Moser / Ofenheizung: Thomas Gürber, Küttigen, Sopra Solarpraxis, Omalingen / Bauphysik: Zeugin Bauberatung, Münsingen und Isofloc HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 35 Strategie 2: Altes Hospiz Gotthard, Gotthard-Pass / Airolo61 Herberge è Herberge Baujahr: 1623 Priesterhaus mit Kapelle als Keimzelle der späteren Anlage, Teilaufbau nach Brand 1905 Umbau und Aufstockung: 2009 Standard: – Umbauvolumen: 3300 m3 Spezifische Kosten: 5.0 Mio Denkmalpflegerischer Status: Kulturgut von nationaler Bedeutung, europäisches Kulturerbe Das Hospiz am St. Gotthard stellt in diesem Katalog eine Besonderheit dar. Als Ort auf dem Pass und als Monument, das vonder Geschichte und vom Mythos des Passübergangs erzählt, kommt ihm eine hohe kulturelle Bedeutung und ein grosser Denkmalwert zu. Abgesehen von der überbauten Kapelle und einigen Wänden jedoch war das Gebäude selbst nicht in gleichem Masse schützenswert, da es nach wiederholten Zerstörungen, darunter einem Brand, vergleichsweise wenig erhaltenswerte Bauteile aufwies. So konnte die Erneuerung auch mehr Freiheiten in Bezug auf den Umgang mit der Bausubstanz in Anspruch nehmen. Der alten Aussenhaut wurde im Prinzip ein neues, hölzernes Haus eingestellt, während sich zwischen neuen und alten Wänden die Dämmung befindet. Auch die Gesamtkubatur mit dem grossen, polygonalen Dach ist im Prinzip eine Neuerfindung, entstand sie doch als „spekulative Rekonstruktion“ nicht aus einem historisch gewachsenen Baubestand, sondern aus dem denkmalpflegerischen Willen, einer wichtigen historischen Bedeutung eine neue, einprägsame Form zu geben. Durch die besondere Ausgangssituation bot sich die Möglichkeit, eine "Vergangenheit wieder zu erfinden" (Michael Hanak); ein Haus zu entwerfen im Sinne eines Bestandes, den es in dieser Form nie gegeben hat. Wie kein anderes Objekt dieses Kataloges zeigt das Hospiz, dass Denkmalpflege sich nicht allein mit Konservierung und Rekonstruktion, sondern durchaus auch mit zeitgenössischem Weiterbauen zu beschäftigen hat. 61 Bauherrschaft: Fondazione Pro San Gottardo, Airolo / Architektur: Miller & Maranta, Basel / Bauleitung: CAS Architekten, Altdorf / Bauingenieur: Conzett Bronzini Gartmann AG, Chur / Denkmalpflege: Bundesamt für Kultur: Johann Mürner, Ufficio dei beni culturali del Cantone Ticino: Giuseppe Chiesi / Gebäudetechnik: Visani Rusconi Talleri SA, Lugano / Elektroplanung: Erisel SA, Bellinzona / Bauphysik: BWS Bauphysik AG, Winterthur Fotografien: Thies Wachter HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 36 Strategie 3 Stallscheune, Bergün62 Landwirtschaftliches Wirtschaftsgebäude è repräsentatives Wohnhaus Baujahr: unbekannt Umbau: 1994-95 Standard: – Volumen: 855 m3 Spezifische Kosten: 710'000,- (BKP2) Denkmalpflegerischer Status: – Die ursprüngliche Stallscheune in Bergün bestand – ähnlich derjenigen in Soglio – aus in massivem Bruchstein gemauerten Ecken, welche das Dach tragen und ursprünglich mit hölzernen Ausfachungen geschlossen waren. Auch die Giebel waren verbrettert. Diese zur Belüftung des in der Scheune gelagerten Heus dienenden Ausfachungen wurden für den Umbau entfernt; durch die entstehenden strukturellen Öffnungen werden die neu eingebauten inneren, gedämmten Schichten sichtbar, und Dachtragwerk und Bruchsteinteile mussten nicht angetastet werden. Die neu eingestellte Box hingegen ist ein hochgedämmter Leichtbau, welcher im Unterschied zu Soglio vom Bestand abrückt. Hierdurch wird dieser einerseits von aussen wie innen erfahrbar, andererseits wird der Zwischenraum für Loggien nutzbar. Das Ergebnis ist sicher eine Veränderung des Gesamtbildes, welche jedoch die stark veränderte Nutzung reflektiert, während die Geschichte bzw. Herkunft des Bestandes ablesbar bleibt. Genauso kann so die Bedeutung des Gebäudes für den Ort – vor allem die Kubatur und die Körnung der visuellen Details – erhalten werden. 62 Bauherrschaft: Familie Ragonesi-Nestler / Architektur: Daniele Marques & Bruno Zurkirchen, Luzern, Bauleitung: René Leutzinger, Bergün / Bauingenieur: Jürg Buchli, Haldenstein / Denkmalpflege: Baukomission Gemeinde Bergün, H. Florinet, Hans-Uwe Winkler / Gebäudetechnik, Bauphysik: Ragonesi Strobel & Partner AG, Luzern Fotografien: Ignacio Martinez HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 37 Strategie 3 Chesa Andrea, Madulain / Engadin63 Repräsentatives landwirtschaftliches Wohnhaus mit Wirtschaftsteil è repräsentatives Wohnhaus Baujahr: 1510 und 1520 auf Teilen eines mittelalterlichen Wohnturms, Weitergebaut um 1640 und später. Umbau: 1997-98 Standard: – Volumen: 3000m3 Spezifische Kosten: – Denkmalpflegerischer Status: – Die repräsentative Chesa Andrea, ein sehr typisches Beispiel des Engadinerhauses ,wurde im Laufe seiner langen Geschichte immer weiter verändert und angepasst. Wie viele historische Wohnbauten besass es einen ausgedehnten Wirtschaftsteil mit einer Scheune. Im Zusammenhang mit der Erneuerung von Innen kann man bei diesem Haus am ehesten von einer Reparatur sprechen. Die Räume wurden restauriert, und die räumliche Integrität der ehemaligen Scheune als bestimmendes Element des Hauses konnte erhalten werden. Dies gelang auch dadurch, dass der Grossraum ungeheizt ist, wodurch die Anforderungen an die Gebäudehülle möglichst niedrig gehalten werden konnten. Der Architekt spricht bei diesem Zwischen-Raum von einer "Piazza". Ebenso nutzt der Architekt das Wort "Weiterbauen"64, um eine Vorgehensweise des selbstverständlichen, behutsamen Anpassens des Bestandes an neuere Anforderungen zu beschreiben. Natürlich erleichtert das relativ überschaubare Bauvolumen und der hohe Denkmalwert des Gebäudes diese Art des fast handwerklichen, minimalinvasiven Eingreifens. In das Aussenklima des Dachgeschosses wurde ein Schlafzimmereinbau als eigene, selbsttragende Box nach der "Haus im Haus"-Strategie eingesetzt. Ist bei diesem Beispiel vor allem der Innenraum des neuen Volumens im Fokus, so wurden in anderen Fällen auch die nun neu entstehenden "inneren Aussenräume" und die Aussenflächen der neuen Boxen im Hinblick auf ihre Gesamtwirkung materialisiert und dimensioniert. Der Gebrauch städtebaulicher Metaphern ("Piazza") reflektiert die architektonischen Potentiale von Kalträumen im Gebäudeinneren. In Verbindung mit Strategie 3 kann hiermit explizit umgegangen werden, indem Aussenhaut und Setzung neuer Volumen gezielt angewendet werden, um vorhandene räumliche Qualitäten zu verstärken oder neue zu Schaffen. 63 Bauherrschaft: privat / Architektur: Hansjörg Ruch, St. Moritz / Bauingenieur: Beat Birchler, Silvaplana / Denkmalpflege: Kantonale Denkmalpflege Graubünden, Dr. Mathias Seifert / Gebäudetechnik: Kalberer & Partner, Bad Ragaz (Heizung), Heinz Müller, Madulain (Sanitär) / Bauphysik: Stadlin Bautechnologie, Buchs Fotografien: Filippo Simonetti 64 Ruch, Hansjörg (2008). "Historische Häuser im Engadin. Architektonische Interventionen." Zürich: Scheidegger & Spiess. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 38 Strategie 3 Weichenbauhalle, Bern FALLBEISPIEL65 Industriehalle è Hörsaalzentrum / Auditorium Baujahr: 1915 Umbau: 2007-2010 Standard: Minergie-Eco mit Zwischenklima in Foyers Volumen: 26'000 m3 Spezifische Kosten: 28,8 mio (Total Baukosten 1-9) Denkmalpflegerischer Status: Erhaltenswert Die ursprüngliche Weichenbauhalle, erbaut 1914, ist eine Fachwerkkonstruktion aus Eisen mit Backstein-Ausfachung und grossflächigen, jedoch kleinteilig unterteilten Fenstern. Eiserne Fachwerkbinder überspannen die Halle stützenfrei. Die Konstruktion bestimmt die Erscheinung des Raumes durch eine starke Gliederung und durch eine ausgeprägte Filigranität. In der Längsachse befindet sich ein durchgehendes Oberlicht. Der riesige Raum weist durch Herstellungstechniken und Patina ein hohes Mass visueller Details auf. Der Umbau in ein Hörsaalzentrum der Universität Bern erfolgte 2007-2010 durch giuliani.hönger. Die inneren Oberflächen der Aussenwände konnten erhalten werden, indem im Hallenraum ein Zwischenklima (beheizt durch Abwärme) herrscht, während zwei eingestellte Einbauten in vom Bestand abgehobener Erscheinung als vollgedämmte Behälter der geforderten Funktionen (sieben Hörsäle mit 1500 Sitzplätzen) dienen. Nach dem Konzept eines "inneren Städtebaus" wurde durch Setzung und dreidimensionale Artikulation der Körper gleichsam nutzbare "Aussenräume" im Inneren der Halle geschaffen. Um eine erforderliche Zweigeschossigkeit im Inneren der Körper erreichen zu können sowie zur natürlichen Belichtung des Inneren, stossen diese Körper an die Dachhaut an, anstatt als "echte" Boxen mit eigenem oberem Abschluss den Blick auf die Gesamtheit der Dachkonstruktion zu erlauben. Deshalb durchdringen die eisernen Fachwerkträger die Wände der neuen Einbauten. In deren reduziertem Inneren sind sie prägende Raumelemente. 65 Bauherrschaft: Amt für Grundstücke und Gebäude des Kantons Bern / Architektur: giuliani hönger, Zürich / Bauingenieur: Dr. Schwarz Consulting AG, Zug / Denkmalpflege: Denkmalpflege der Stadt Bern, Jean-Daniel Gross / Gebäudetechnik: Amstein & Walthert, Bern / Bauphysik: Barkus Bauphysik, Zürich Fotografien: Karin Gauch, Fabien Schwartz HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 39 Strategie 3 Schiffbau, Zürich66 Industriehalle è Theater Baujahr: 1891 Umbau:1997-2000 Standard: – BGF: ca. 29'900 m2 Spezifische Kosten: ca. 60 mio. Denkmalpflegerischer Status: – Die ehemalige Schiffbauhalle der Escher-Wyss AG hatte das Potential, in ihrem riesigen Volumen mehrere Funktionen aufzunehmen, was gut zu den komplexen funktionalen und räumlichen Anforderungen des Schauspielhauses als neue Nutzung passte. Die Halle beinhaltet heute Foyer, Restaurant, Jazzclub und Hallentheater, während weitere Nutzungen in anderen, teils neuen Gebäuden untergebracht wurden. Wie bei der Weichenbauhalle wurde der Charakter des Bestandes besonders durch die Patina der jahrzehntelangen industriellen Nutzung geprägt, so dass deren Erhalt ein wichtiges Entwurfsziel wurde; die Hülle wurde so wenig wie möglich angetastet. Die Einbauten sind als autonome Boxen gestaltet, die sich durch homogene Gestaltung vom Bestand abheben. Wo die Nutzung dies zulässt, sind diese Körper sehr transparent gestaltet. 66 Bauherrschaft: Neue Schauspiel AG Zürich / Architektur: Ortner & Ortner, Wien / Bauingenieur: Gmeiner/Haferl, Wien / Gebäudetechnik: Studer & Partner, Zürich / Bauphysik: Johann Ertl, Wien, Wichser Bauphysik & Akustik, Zürich Fotografien: Margherita Spiluttini HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 40 6 Fallbeispiele Es wurden einige Objekte als Fallbeispiele vertieft untersucht. Neben der genaueren Betrachtung ging es uns dabei vor allem um eine Klärung der Prozesse und um die Auswirkungen der jeweils gewählten Strategien. Anhand von Interviews mit den Beteiligten, Planstudien und Untersuchung der Rezeption in der Fachwelt wurden die Gebäude und die Eingriffe intensiv studiert. Der persönliche Besuch vor Ort hat sich dabei als besonders wichtig herausgestellt; jenseits aller vorhandenen Bilder und Vorstellungen ist das Erleben des architektonischen Raumes unersetzbar für eine Einschätzung der räumlichen Qualitäten – dies zeigte sich auch im interdisziplinären Team. Die Untersuchung der Fallbeispiele dient keinesfalls dazu, eine Bewertung der Projekte vorzunehmen oder bestimmte Positionen zu unterstützen. Nachdem die Erneuerung von Baudenkmalen noch mehr als die Architektur ohnehin ein Abwägen verschiedener und divergierender Ansprüche an das Gebäude bedeutet, kann es perfekte Lösungen ohnehin nicht geben. Im Zuge der Bearbeitung stellte sich vielmehr heraus, dass einzelne Fallbeispiele exemplarisch für bestimmte Fragestellungen der Erneuerung von Innen stehen können. Erst die hohe Qualität dieser Projekte erlaubte es uns, die Fragen einzugrenzen und differenziert zu diskutieren. So kann im Umgang mit dem Gebäude Diagonal im Maag Areal beispielsweise das Thema Kontext und Charakteristik aufgezeigt oder in Soglio die Angemessenheit von Massnahmen untersucht werden. Im Schulhaus Ilgen wurde das Thema der Innendämmung diskutiert und beim Von-Roll Areal in Bern die Nutzung während der Planung gewechselt. Eine Frage des Wertes: Das Gebäude Diagonal im Maag-Areal, Zürich Strategie 1, das Futteral Das ehemalige Industriegebäude ‚Diagonal’ des Maag-Areals weist räumlich eine robuste und flexible Typologie auf: Sehr grosse und hohe, übereinander gestapelte Hallen werden jeweils an beiden Köpfen erschlossen. Diese Hallen weisen hohe Lichtpunkte und zweiseitiges Tageslicht auf. Die primären strukturellen Elemente der Stahlträger und Rippendecken sind auch nach der Sanierung denkmalpflegerisch erhalten und prägen den Raum weiterhin. Gleichzeitig wird der Dämmperimeter sinnvollerweise nur in den Hallen angebracht, die beiden ungedämmten Köpfe weisen ein Zwischenklima auf. Die Einlagerung von zwei Kunstgalerien als Erinnerung an die Zeit der Zwischennutzung wird von den Architekten als Glücksfall bezeichnet67. Es handelt sich um zwei renommierte Schweizer Galerien, die hier temporäre Kunstlager im Hochpreissegment unterhalten. Die Innenräume knüpfen an den internationalen Standard von Galerien in Neubauten, den sogenannten ‚White Cubes’ an, was aus Gründen der Flexibilität und möglichen Vielfalt für Kunstausstellungen gewünscht ist. Soll ein bestehender und spezifischer Raum sich an den Charakteristika generischer Neubauten annähern, muss jedoch bedacht werden, dass der Charme der ursprünglichen Nischennutzungen und die eigenständige Atmosphäre des Industriellen und Gebrauchten verloren gehen können.68 Mit der Exklusivität der Nutzung werden die Räume nur von wenigen Leuten besucht. Die Nutzungsanforderung zahlreicher Hängeflächen für Bilder sowie die häufig auftretende Lichtempfindlichkeit von Kunstwerken hat die Galerie veranlasst, hinter den erneuerten Kastenfenstern vor allem im Süden geschlossene Trockenbauwände aufzustellen. Diese Zwischenwände mit einem flexiblen Wandsystem (System Kunstmuseum Wolfsburg) unterteilen nun die grossen Hallen. Hier mag es irritieren, dass – im urbanen Kontext eher seltene – grosse Räume mit zweiseitigem Tageslicht für eine Nutzung verwendet werden, welche Tageslicht nur begrenzt brauchen kann. Die Fensterrahmen sind demontiert, sandgestrahlt und neu pulverbeschichtet worden. Die perfekte Ausführung vermittelt allerdings einen Eindruck von neuen, nachgebauten Industrieverglasungen. Somit ist trotz des materiellen Erhalts der Hülle die für deren Ausdruck wichtige Patina verschwunden; der äussere Eindruck ist ungebraucht und fast makellos. Beim gebäudetechnischen Konzept hingegen wurde eine Annäherung an den 67 „Im Erdgeschoss und in der eingezogenen Galerie war von Anfang an eine Gastronomienutzung vorgesehen. In den oberen Geschossen sollten Dienstleistungsflächen angeboten werden. Für die Vermietung wurde die Nutzu ng jedoch letztendlich bewusst offen gelassen. Es ist für den Ort und das Areal ein Glücksfall, dass sich dann auf den restlichen Gesch ossen zwei Kunstgalerien eingemietet haben.“ Gemäss schriftlichem Interview vom 20.März 2013 mit Stefan Thommen, Gigon/Guyer Architekten. 68 Der Verlust der Patina, der einen wichtigen Teil des Raumeindrucks von Industriebauten ausmacht, wird auch von der Denkmalpflege bedauert, wie im Interview mit Tatiana Lori deutlich wurde. Es bleibt die Frage nach den unterschiedlichen Anforderungen der neuen Funktion und welche Freiräume und Möglichkeiten damit noch für Massnahmen zum Erhalt der Patina bleiben. Jedoch wurde im Schutzvertrag offenbar besonders auf die äussere Erscheinung, und hier eher auf den grösseren Massstab, fokussiert. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 41 industriellen Charakter des Bestandes gesucht. Grundsätzlich ging man von vorneherein von einem minimalen Gebäudetechnikstandard aus. Um die Betonrippendecken sichtbar halten zu können, wurden die Elektroleitungen offen an der Decke geführt. Durch das vorhandene grosse Luftvolumen und die durchgängig öffenbare Nordfassade bleibt das Klima im Sommer trotz fehlender Komfortlüftung angenehm. Obwohl das Konzept der technischen Einbauten und einzelne, grundsätzliche Entscheidungen wie der Erhalt der Fenster und das teilweise sichtbar lassen der Stahlkonstruktion dahin zielt, den industriellen, unmittelbaren Geist der Ursprungsanlage zu bewahren, ist dieser trotz akribischer Detailarbeit, oder vielleicht gerade deswegen, in Teilen verloren gegangen. Ein Grund hierfür kann sicher in der Wertedifferenz zwischen Bestand und neuer Funktion gesucht werden. Es zeigt sich ein Unterschied zwischen den Anforderungen einer zeitgenössischen, anspruchsvollen Funktion und dem eigentlichen Potential des bestehenden Gebäudes. Grundsätzlich stellt sich bei Industriearealen die Frage nach einem Gleichgewicht zwischen den erhaltenden und den neuen Teilen im städtebaulichen Massstab. Die Dominanz der benachbarten, neuen Strukturen – in diesem Beispiel der Prime Tower als höchstes Haus der Schweiz und der dazugehörige Cubus – bergen die Gefahr, dass das in diesen Verhältnissen nun klein wirkende Gebäude des Diagonal zu einem Vintage-Accessoire reduziert wird. Bei dieser gigantischen ökonomischen Aufwertung eines Gebietes taucht die Frage von Wertedifferenzen zwischen Alt und Neu auf. 1m HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 42 Die Frage der Innendämmung: Das Schulhaus Ilgen Strategie 1, das Futteral Nach dem Abschluss der Erneuerungsmassnahmen am Schulhaus Ilgen sind die meisten sichtbaren Oberflächen im Schulhaus neu. Sie wurden überwiegend nicht im Detail rekonstruiert, sondern in Anlehnung an den historischen Bestand aktiv entworfen, das Alte wurde also interpretiert und im Wesentlichen der Raumeindruck rekonstruiert. Bei dieser Strategie können auch neue Bauteile oder Materialien eingesetzt werden, sofern diese gewisse Eigenschaften aufweisen (z.B. die mineralisch-feste Innendämmung). Auf diese Art und Weise wird es möglich, eine konsistente Raumwirkung zu erreichen, die der ursprünglichen des Gebäudes nahe kommt, und gleichzeitig die aktuellen Ansprüche an die technischen und ästhetischen Eigenschaften der Räume zu erfüllen. Insgesamt ist die angewandte Strategie der Ergänzung des Bestandes also eine Gratwanderung zwischen Rekonstruktion und neuem Entwurf. In mehreren Interviews mit den Beteiligten stellte sich heraus, dass im Prozess die Entscheidung für eine Innendämmung intensiv und durchaus kontrovers diskutiert wurde.69 Die mineralische Innendämmung aus Porenbeton wurde konzeptionell wie ein ‚dickerer Innenputz’70 behandelt; es sollte das Alte weitergebaut und der Kontrast alt-neu vermieden werden. Allerdings erwies es sich dadurch als nicht realisierbar, die zum Teil erhaltenen originalen Wandtäferungen wieder einzubauen, da diese gleichmässig geteilt sind. Die Innendämmung verändert die Wandproportionen und es hätten alle Felder einzeln in der Breite angepasst werden müssen, was nicht umsetzbar war. Zudem konnten erst relativ spät im Prozess gefundene Reste alter Farbgebungen und Wandmalereien durch die Vorarbeiten für die Innendämmung nicht erhalten werden. Es bleibt die Frage, ob bei der Entscheidung für Innendämmung überhaupt grundsätzlich alle Einflüsse (Denkmalwert, Komfort, Energie, Ökonomie) gleich gewertet werden können. Hier zeigen sich auch die Diskrepanzen in den Vorstellungen der Fachbereiche: Während für die Bauphysiker aus technischer Hinsicht keine Bedenken gegen die Innendämmung bestanden, waren für die Denkmalpflege – die an sehr lange Betrachtungszeiträume gewöhnt ist – die Massnahmen ‚zu experimentell’ und der Bestand in diesem Fall eigentlich zu wertvoll für ein solches Vorgehen. Entsprechend gehen auch die Bewertungen über den Erfolg der Massnahme bei den beteiligten Parteien auseinander. Der Versuch, den alten Raumeindruck des klassizistischen Gebäudes mit zeitgenössischen Interpretationen wieder herzustellen, ist nachvollziehbar und gilt als gelungenes Vorgehen, wenn die Originalsubstanz nicht mehr ausreicht, diesen Raumeindruck hervorzurufen. Hier konnte jedoch ein Teil dieser Originalsubstanz vor allem aufgrund der Entscheidung zur Innendämmung nicht erhalten werden. Die Verkettung an Folgen, die die Entscheidung mit sich brachte, zeigt die Reibungskräfte, die bei prominenten Bauten (der öffentlichen Hand) wirken können. Auf der einen Seite werden innovative Massnahmen bei einem Denkmal dieser Prominenz kritisch gewertet, auf der anderen steht der Wunsch, gerade an exponierten Bauwerk mit einem gut kontrollierten Vorgehen auch Neues zuzulassen und dieses zu präsentieren. 1m 69 Das wurde besonders in den Interviews mit den involvierten Denkmalpflegerinnen, Therese Gürtler Berger und Martina Jenzer, deutlich. Auch der beteiligte Bauphysiker, Herr Knapp (Amstein & Walthert), bestätigte dass die Innendämmung Konsequenzen hatte, betont aber die durch Messungen geprüfte Verträglichkeit der Massnahme. 70 W. Rossbauer, Architekt des Projektes, umschrieb so den konzeptionellen Umgang mit der Innendämmung. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 43 Eine Frage des Aufwands: Stallscheune in Soglio Strategie 2, die Schichtenfolge Die frühere Stallscheune wird heute als ein Ferienhaus mit erhöhtem Komfortanspruch genutzt. Die Aussenerscheinung sucht den Ausdruck zum ursprünglichen Stallgebäude, indem die Primärstruktur mit den vier Eckpfeilern erhalten bleibt und die Füllungen durch jetzt vertikale Holzlamellen neu interpretiert werden. Die ursprüngliche Luftdurchlässigkeit des Strickbaus wird mit der Durchlässigkeit für Licht zu einem Brise-Soleil oder zum Filter bzw. Intimitätsgarant interpretiert. Im Dach wurde lokal das Haus-im-Haus-Konzept eingesetzt, wodurch Dach und Estrich nach wie vor durchlüftet blieben und eine überdachte Loggia entstand. Entsprechend der Strategie 2, der Schichtenfolge, wurden Stampfbetonwände als zweite innere Wand an die alte Hülle gesetzt. Sie erfüllen das Prinzip der Homogenität der Räume und einer durchgängigen Materialisierung. Die Fortsetzung der Wände in den Aussenraum entspricht eher einer modernen Materialanwendung und Raumvorstellung. Innen bilden sie eine Schichtenfolge mit unerwartet massiver, archaischer und roher Wirkung. Durch die homogene Materialisierung aller Innenwände ist die Leere des ursprünglichen Innenraumes nicht mehr spür- und erfahrbar. In der Aussenwand verschmilzt sie mit den Eckpfeilern, innen verselbständigt sich die Schicht zur zweiseitigen Zwischenwand. Erstaunlicherweise liegen die Druckwände – welche sich so vehement mit dem Stampfbeton ausdrücken – nicht übereinander. Einige Wände im obersten Geschoss schweben auf Stahlträgern in der Holzdecke. Somit folgt das typologische Konzept nicht vollständig dem strukturellen: Es besteht eine Zunahme der Kammerung und der Anzahl Wände nach oben. Aus gebäudetechnischer Sicht stellt sich die Frage, ob ein träges System wie die schwere Innenschale für ein nur temporär (als Ferienhaus) genutztes Gebäude grundsätzlich die angemessene Entscheidung ist. Das vom Architekten als ‚Weiterbauen’ umschriebene Konzept führt zu der Frage der Wertedifferenz zwischen dem einfachen Stall und dem Wohnhaus für gehobene Ansprüche. Die hochwertigen, dabei sehr tiefgehenden und enorm aufwendigen Eingriffe stehen in einer gewissen Diskrepanz zur gewünschten Archaik des Ausdrucks und auch zur ursprünglichen Nutzung als gewöhnliche Stallscheune.71 Andererseits kann gut argumentiert werden, dass bei diesem Gebäude besonders die äussere Form im Ortsbild einen hohen Wert darstellt, während der Denkmalwert der Innenräume und des Bestandes im Innenraum weniger hoch eingestuft wird und somit die Hauptziele – Ortsbilderhalt und Schaffung hochwertiger Räume – übereinstimmend erreicht wurden. Der Bau besticht durch seine äusserst konzise, archaische Materialisierung. Der Umbau ist aber nur mit den Arbeitsbedingungen im seinem Kontext, dem Bergell, überhaupt möglich. Er ist somit eine wunderschöne Insellösung und prototypische Aussagen können vermutlich weniger abgeleitet werden. 1m 71 Die rohe Archaik im Ausdruck der Massnahme ist durch den enormen Arbeitsaufwand viel aufwendiger, als sie vermittelt. Gleichzeitig wird diese mit den Nischenbildungen, den äusseren Umrandungen, den Stahlfenstern und den in die urtümlichen Holzdecken eingelassenen Spots recht aufwendig und wirkt formalisiert. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 44 Die Frage der Umnutzung: Hörsaalzentrum Uni Bern Strategie 3, das Haus im Haus Eine Halle an sich ist räumlich weniger komplex als andere Typologien mit mehreren, artikulierten Räumen. Umso höher ist hier die relative Bedeutung der Hüllflächen für die Raumästhetik. Die Raumstimmung von Industriehallen wie der originalen Weichenbauhalle wird zu einem grossen Teil durch die hohe visuelle Komplexität der Oberflächen geprägt. Diese entsteht – neben der Bauweise – durch Patina, Nutzungsspuren und Verschleiss, vielleicht auch durch Spuren eines pragmatischen Umgangs mit dem Gebäude (Um- oder Einbauten, Flickstellen, Beschädigungen, Beschriftungen, Befestigungsspuren von Gerät etc.). Die direkte Erfahrbarkeit der Aussenflächen ist somit für die Raumwirkung einer Industriehalle wichtig und muss entsprechend hoch gewertet werden. Dieses zusätzliche Kriterium unterstützt bei der Weichenbauhalle die Anwendung der Strategie 3. Die beiden anderen Strategien, das Futteral oder die Schichtenfolge hätten die Innenansicht der alten Hülle verborgen und so zwar die Dimensionen der Hallen kaum modifiziert, sie aber hinsichtlich des Raumeindrucks massiv geschwächt. Der Hallenraum als solcher ist durch den Einbau der neuen Körper nicht mehr als Ganzes erfahrbar, da er von keiner Stelle aus im Gesamten überblickt werden kann. Doch das Erhalten der Patina der originalen Aussenflächen macht diese als zusammenhängende Struktur erkennbar. So wird es dem Betrachter ermöglicht, unterbewusst ein virtuelles räumliches Bild der alten Raumproportion zu rekonstruieren, indem sich der Bestand durch seine eigene Ästhetik vom Neuen unterscheidet. In diesem Falle ist eine Unterscheidbarkeit von Neu und Alt unerlässlich, um die ursprüngliche Raumwirkung gleichsam im Kopf rekonstruieren zu können.72 Eine naheliegende alternative Lösung, den Hallenraum als Ganzes erfahrbar zu belassen, wäre das Einstellen von komplett abgelösten Boxen gewesen, die unterhalb der Binderebene enden. Dies hätte aber eine starke Einschränkung des nutzbaren Raumes bedeutet und wahrscheinlich das Verhältnis Aufwand-Nutzen gesprengt. Um einen dosierten Kontrast zur filigranen Stahlskelettstruktur des Bestandes zu erreichen, ist es folgerichtig, dass die neuen Boxen beinahe massiv erscheinen und sich ihre Oberflächen vom Bestand abheben. So lebt denn der Raumeindruck der Halle auch von der Kontrastwirkung zwischen Alt und Neu. Für die ursprüngliche Nutzung der Weichenbauhalle war die Erfüllung von Komfortanforderungen nicht relevant; beim Umbau jedoch musste nach Vorgaben der Bauherrschaft der Baustandard Minergie-ECO erreicht und die Vorgaben der Systemtrennung eingehalten werden. Die Gebäudetechnik sollte überall zugänglich bleiben und ausgetauscht werden können. Um die Feinheit der Stahlstruktur des Daches nicht mit grossen Lüftungskanälen aufgrund der grossen Luftmengen zu gefährden, werden die Zu- und Abluftkanäle in den raumhaltigen neuen Zwischenwänden vertikal geführt (die horizontale Zuführung erfolgt im Untergeschoss). Die alte Stahlstruktur konnte integral erhalten bleiben und musste nur stellenweise (Dachverstärkung und Horizontalaussteifung aufgrund der Erdbebenertüchtigung) verstärkt werden. Die alten Fenster der bestehenden Gebäudehülle wurden mit isolierenden aussenliegenden Vorfenstern versehen; aus energetischen Gründen, aber auch, um die Korrosion der Industrieverglasung zu stoppen und diese zu schützen. Der durch die Strategie 3 ermöglichte Erhalt der Aussenwände und der Fenster inklusive Patina ist ein wichtiges Element, die industrielle Raumwirkung des Gebäudes zu erhalten und durch ihre Diversität zu einem gestaltenden Element der Raumwirkung zu machen. So diente in diesem Falle die Bauphysik als Inspiration für eine räumliche Lösung. Die differenzierten Innenklimaverhältnisse passen dabei gut zum Nutzungskonzept: Foyer mit einer tieferen Temperatur als Verkehrsfläche bzw. kurzzeitiger Begegnungsort; Hörsäle mit Raumtemperaturen für längere Aufenthaltszeiten. Ursprünglich war als neue Nutzung die Universitätsbibliothek vorgesehen. Die Entscheidung, dies zugunsten der Hörsaalnutzung aufzugeben, beruhte auf dem Abgleichen von geplanter Nutzung und dem Potential des Bestandes. Die Hörsaalnutzung passt zum Konzept des "inneren Städtebaus", da die Flächen ausserhalb der eigentlichen Hörsäle belebte Orte sind, die bei entsprechender Konzeption zu Begegnungsorten werden können. Die Hörsäle selbst brauchen kein Tageslicht, womit das Problem der tiefen Grundrisse, welches zur Natur der Haus-im-Haus-Strategie gehört, ausgeschaltet wird. Ein Zusammenführen der Ansprüche einer bestimmten neuen Funktion einerseits und der Möglichkeiten des Bestandes andererseits war hier also bereits wichtiger Baustein für die erfolgreiche Anwendung der Strategie 3. Das Foyer wirkt zudem als klimatische Pufferzone zwischen Hörsälen und Aussenklima und reduziert dadurch den Energieverbrauch, der für die Erhaltung eines behaglichen Klimas in den Unterrichtsräumen aufgewendet werden muss. Dies zeigt deutlich, dass gerade Umbaumassnahmen nicht nach Rezept gelöst werden können, sondern dass architektonische 72 Auch für die Denkmalpflege war dies ein Thema. Der zuständige Denkmalpfleger Jean-Daniel Gross betonte, dass es wichtig war, an einer Stelle einen Hallenbinder vollständig freigestellt ehrhalten zu können: "An dieser Stelle ist die Konstruktion der gesamten Halle pars pro Toto nachvollziehbar". Gross, Jean-Daniel (2013) "Fabrikstrasse 6" in Gross, Jeand-Daniel (Hrg.) (2013) "Denkmalpflege in der Stadt Bern, Vierjahresbericht 2009-2012" Zürich: Chronos HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 45 Entscheidungen eine Gratwanderung zum Erreichen einer bestimmten Raumwirkung bedeuten. In diesem Sinne erscheint Strategie 3 für diese Umbaumassnahme bei weitem am geeignetsten. Es zeigt sich aber auch, dass die Art und Weise, wie diese Strategie umgesetzt wurde, entscheidend für deren Erfolg ist. 1m HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 46 7 Fazit Werte Eine Erneuerung über das Einbringen von mehreren Schichten ist vielleicht aufwändiger als eine rein technische Ertüchtigung von Baudenkmälern, aber auch gestaltungsrelevanter. Das Einbringen von Schichten kann einen architektonischen und gestalterischen Mehrwert bringen, der einen wertvollen kulturellen Beitrag unserer Zeit darstellt, oder aber das Baudenkmal unleserlich machen und es als solches entwerten. Der erforderliche Aufwand kann finanziell, energetisch und auch konstruktiv definiert werden. Mit Aufwendungen können auch der Einsatz Grauer Energie gegenüber einer Steigerung der Energie-Effizienz angesprochen werden. Ein Abwägen dieser Art taucht im Zusammenhang mit Altbausubstanz und energetischer Erneuerung immer wieder auf, kann aber nicht eindeutig gewichtet werden. Auf ein systematisches Benennen und Vergleichen der Baukosten wurde im Rahmen dieser Forschungsarbeit bewusst verzichtet. Neben dem Problem, dass tatsächlich vergleichbare Zahlen schwer zu ermitteln sind, handelt es sich bei den gezeigten Beispielen um so unterschiedliche Nutzungen, Ausgangssituationen und Eingriffe, dass eine sinnvolle Einordnung nicht möglich ist. Das Forscherteam war sich aber der Gefahr bewusst, dass ein vollständiges Nichtbeachten der Kosten die Projektergebnisse ‚in den luftleeren Raum’ stellen würde, und auf manche Leser zu theoretisch und nicht anwendbar wirken könnte. Daher werden diejenigen Baukosten, die bereits bekannt sind, bei den Objekten im Katalog aufgeführt. Es muss jedoch an dieser Stelle betont werden, dass: - keine direkte Vergleichbarkeit der Werte möglich ist; - ohne den Abgleich der Betriebskosten die reinen Summen für die Massnahmen nicht zu bewerten sind; - keine Strategie grundsätzlich kostengünstiger ist als andere; - hier kein Schwerpunkt der vorliegenden Forschungsarbeit lag. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass eine Erörterung des Wertes denkmalpflegerischen Handelns notwendig ist. Während einzelne bauliche oder technische Massnahmen in ihren Erstellungskosten grundsätzlich benannt werden können, ist der kulturelle Wert, der durch den Erhalt der Geschichtlichkeit eines Bauwerks für die Gesellschaft erhalten bleibt, nicht in Franken messbar. Diese Erkennbarkeit und Lesbarkeit des Baudenkmals ist jedoch ein gesellschaftliches Bedürfnis, das sich in dem in der Bundesverfassung verankerten staatlichen Auftrag des Kulturguterhaltes widerspiegelt. Es ist eine gesellschaftliche und damit eine politische Frage, wie viel uns dieser Erhalt letztlich wert ist.73 Das Selbe gilt für die Nachhaltigkeit und den Umweltschutz, beide sind politisch gewollt und dienen dem Erhalt einer lebenswerten Umwelt für unsere Gesellschaft und ihre Erben. Kompetenzen Vieles, was zu einer erfolgreichen Erneuerung von Innen beiträgt, gleicht den Faktoren die für qualitätvolle Neubauten relevant sind. Hohe Kompetenzen bei Be- und Erstellern bilden eine ebenso wichtige Voraussetzung für Bauprojekte wie transparente Prozesse und eine gute Kommunikation. Sympathien und die Wertschätzung für die Arbeit anderer können überall Beteiligte zu hohen Leistungen beflügeln. In einigen Bereichen jedoch unterscheiden sich Planungs- und Bestellerkompetenzen bei Sanierungs- oder Erneuerungprojekten. Da wäre einmal die bereits eingangs beschriebene erste Entscheidung, mit der sich der Besteller für den Erhalt eines Gebäudes entscheidet. Die Gründe oder nicht selten auch Zwänge, die zu dieser Entscheidung führen können sehr unterschiedlich sein, die sich daraus ergebenden Folgerungen sind jedoch immer gleich: Ein deutlich komplexerer Prozess erwartet alle Beteiligten. Dies fordert von Anfang an auch einen kompetenten Auftraggeber mit einem hohen Bewusstsein für die Verkettung der Umstände, der entsprechend sein Team zusammenstellt und beauftragt. Denn im Gegensatz zu neu entwickelten Bauten verfügt in diesem Fall das Objekt bereits über seinen eigenen Charakter und eine eigene Historie. Nicht jede Nutzung, nicht jeder Komfortanspruch lassen sich aufzwängen, doch vielleicht offenbaren sich auch ungeahnte Potenziale. Allein die Tatsache, dass der Bau bereits vor dem Projekt da ist, bedingt dass viele Details erst im späteren Verlauf erkennen lassen. 73 Im konkreten Einzelfall ist es von Vorteil, wenn die Frage der Schutzwürdigkeit und der rechtliche Status des Baudenkmals zum vornherein geklärt sind. Die Legitimation von Mehrkosten infolge denkmalpflegerischer Massnahmen sollte nicht erst im Prozess geklärt werden. Auf diese Weise können die einzelnen Varianten durch die beteiligten Partner nach verschiedenen Kriterien – auch den finanziellen – miteinander verglichen und diskutiert werden. Eine ‚prototypische Verhaltensweise’ bezüglich der Frage nach denkmalpflegerischem Aufwand gibt es nicht. Vielmehr sind immer wieder aufs Neue pragmatisch objektspezifische Reaktionen verlangt. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 47 Acht abschliessende Punkte zur Erneuerung von Innen Folgende acht Punkte wurden hier als Fazit zusammengestellt. Sie basieren auf den Forderungen unserer Thesen und können zum Gelingen einer Erneuerung von Innen beitragen – wenn sie von allen Projektbeteiligten verstanden und beachtet werden. Der Prozess: Von Anfang an eine sollte Gesamtbetrachtung aller Anliegen und Ziele anvisiert werden. Darauf folgt dann eine fachübergreifende Umsetzung der definierten Absichten. Für das gegenseitige Verständnis ist eine frühe Formulierung und Kommunikation der projektspezifischen Ziele wichtig! Das Rollenverständnis: Hier wird ein übergeordnetes Interesse an dem Gesamtprojekt bei allen Beteiligten vorausgesetzt, nicht nur an dem jeweiligen eigenen Beitrag. Die Anerkennung: Einfühlung in den Bestand und Anerkennung der vorhandenen Situation. Wo eine gute Aufnahme des Bestands erfolgte, werden eher sinnvolle gemeinsam abgewogene Massnahmen ergriffen. Der Leitfaden: Im Planungsteam soll eine gemeinsame entwerferische Haltung eingenommen und diese mit der Denkmalpflege mindestens abgestimmt werden. Der Leitfaden für die Umsetzung soll einen langfristigen Umgang mit den Objekten beinhalten und kann Realisierungs-Etappen vorsehen. Die Wertung: Alle Massnahmen sollen im Hinblick auf den gesamten Lebenszyklus des Bestands abgewogen werden. Dazu gehört auch das Anerkennen der Werte von Bestehendem – auch jenseits rein finanzieller Natur. Die Simulation: Anforderungen durch die (Neu-) Nutzung sowie ihre Abstimmung mit dem Bestehenden sind hinsichtlich der Angemessenheit der Planung und Ausführung entscheidend.74 Daher sollen planerische Simulationen mit unterschiedlichen Nutzungen im Vorfeld durchgespielt werden. Die Flexibilität : Es gilt ein intelligenter Pragmatismus in Vorgehen und Umsetzung im Sinne von ‚Entscheidungslinien mit Reaktionsräumen’. Die konzeptionelle Richtlinie muss dabei ausreichend Raum für allfällige Änderungen lassen und Möglichkeiten bieten, auf Unvorhergesehenes zu reagieren. Die Angemessenheit: Alle geplanten Eingriffe sollen mit Augenmass abgewogen werden, wobei es nicht um die effiziente und optimierte Lösung pro Disziplin geht, sondern um einen insgesamt stimmigen suffizienten75 Gesamteingriff. 74 „Zur Sanierung bedarf es der Erfindungsgabe, das heisst, man muss wissen, welche Alternativen für eine Ersatz in Frage kommen und wie man diese Alternativen in das vorhandene Objekt einbaut. Diese Art der Reparatur erfordert ausserdem ein umsichtiges Urteil über die Anpassungsfähigkeit des Objektes im Blick auf die Zeit.“ Sennett Richard, Reparieren, in: Zusammenarbeit – Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Hans Berlin im Carl Hanser Verlag München 2012, S.287 75 Den Begriff Suffizienz hat Wolfgang Sachs 1993 erstmals angewandt und folgendermassen umschrieben: „Einer naturverträglichen Gesellschaft kann man in der Tat nur auf zwei Beinen näherkommen: durch eine intelligente Rationalisierung der Mittel wie durch eine kluge Beschränkung der Ziele. Mit anderen Worten: die „Effizienzrevolution“ bleibt richtungsblind, wenn sie nicht von einer „Suffizienzrevolution“ begleitet wird.“ Sachs Wolfgang, Die vier E's: Merkposten für einen maß-vollen Wirtschaftsstil. In: Politische Ökologie. Nr. 33, 1993, S. 69-72. HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 48 8 Metakontrolle Das Projekt wurde in der vorgesehenen Zeit abgeschlossen. Alle anvisierten Ziele aus dem Forschungsantrag sind erfüllt, teilweise konnten ergänzende Ergebnisse hinzugefügt werden. So hat sich beispielsweise der Planungsprozess als unerwartet relevanter Themenbereich herausgestellt. Dieses wurde Dank einer sehr praxisbezogenen Vorgehensweise herausgearbeitet. In Interviews und Begehungen mit den Beteiligten der Fallbeispielen hat sich dieser Fokus erst eröffnet. Die Ergänzung der erarbeiteten Werkzeuge um die Thesen zur Verbesserung der Planungsprozesse wurde im Team länger diskutiert und schlussendlich als positiver Zugewinn verstanden. Der Forschungsbericht reagiert auf diesen Umstand und wurde entsprechend umstrukturiert. Als unerwartet langsam hat sich die Anfangsphase des Projektes erwiesen. Es hat deutlich mehr Zeit in Anspruch genommen, das Team aus unterschiedlichen Fachrichtungen zusammen zu bringen und gemeinsam den Weg zur Bearbeitung der Themen einzuschlagen, als geplant. Die Erwartungen an das Projekt wurden lange Zeit von den Beteiligten eher vage formuliert und der Arbeitsrhythmus konnte sich nicht überall gleich durchsetzen. Die gemeinsame Besichtigung von Bauten, 16 Monate nach dem Start des Projektes, gab enorm viel Input und neue Diskussion. Als besonders wertvoll hat sich neben dem räumlichen Erlebnis die sehr fokussierte Diskussion zur Erneuerung von Innen herausgestellt. Zu einem früheren Zeitpunkt wäre diese vermutlich so nicht möglich gewesen und später wäre die Auswertung zu knapp geworden. Einige Interviews wurden noch vertieft oder ergänzt nach dem Besuch der Bauten. Die Exkursion kann damit als ein unverzichtbarer Teil des Projektes verstanden werden. Lessons learned - Die Erwartungen an das Projekt sind beim Start zu diffus und vage gewesen. Ein halbtägiger Workshop zum Kick off hätte anstelle der Startsitzung mehr Input gebracht und geholfen, die jeweiligen Anliegen konkreter zu formulieren und das Projekt schneller zu initiieren. - Der Rhythmus in dem die Workshops stattfanden war anfangs zu weitmaschig gesetzt. Es wäre sinnvoll gewesen, gerade zu Beginn einen dichteren Rhythmus anzusetzen, um dem Projekt zügig mehr Inhalt zu geben. Längere Zeit wurde ein eher abstrakter Diskurs geführt, ohne dass sich die Teilnehmer in dem Projekt intensiver engagiert haben. Erst mit der Verteilung konkreter Aufgaben wurde das Engagement klarer, auch dies hätte eher geschehen können. - Die Fixierung der Daten hat sich als enorm schwierig herausgestellt und Verschiebungen waren immer wieder gegeben. Kurzfristige Absagen der Teilnehmer haben mehrfach dafür gesorgt, dass thematische Schleifen gemacht wurden und es zu Wiederholungen kam. Entsprechend mussten die fehlenden Teilnehmer mehr in die Pflicht genommen werden, den verpassten Diskurs zügig aufzuarbeiten und nicht erst in der Folgesitzung das Protokoll zu lesen. - Für die Erarbeitung der Werkzeuge wurden anfangs individuelle Beurteilungen eingearbeitet. Dies brachte methodische Fehler in das Projekt, da der individuelle Beurteilungsansatz zu different war. Entsprechend wurde an dieser Stelle Zeit verloren und die Beurteilungsraster mussten wiederholt – gemeinsam – kommentiert werden. Dieses konsolidierte Vorgehen hat sich als zeit- und nervenaufreibend, jedoch auch als sinnvoll erwiesen und hätte von Begin an in einem gemeinsamen Workshop durchgeführt werden sollen. - Aufgrund der enorm positiven Beurteilung der Exkursion bleibt die Frage offen, ob eine zweite Exkursion sinnvoll gewesen wäre. Entweder um weitere Bauten zu besichtigen oder ein erneuter Besuch zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Diskurses. 9 Mittelverwertung Die von der Stiftung zur Förderung der Denkmalpflege eingebrachten Mittel von CHF 117'000 wurden gemäss Antrag ausschliesslich für Personalkosten der Mitarbeitenden verwendet. Es sind keine Gemeinkosten der Hochschule, keine Publikationskosten oder Spesen davon vergütet worden. Bis Ende März betrugen die reinen Personalkosten intern ohne Nebenkosten CHF 123'000. Weitere Mittel, die dem Projekt zugute kamen waren CHF 40'000 seitens der Fachstelle nachhaltiges Bauen, Amt für Hochbauten Zürich sowie CHF 48'000 Forschungsfinanzierung der Hochschule Luzern – Technik & Architektur. Das Gesamtbudget betrug damit CHF 205'000. Prof. Tina Unruh, Projektleitung April 2014 HSLU_D&E_Abschlussbericht.docx 49