68 9 Obstipation 9.2 Diagnostik Die große subjektive Bandbreite dessen, was Patienten als Obstipation erleben, macht eine detaillierte Anamneseerhebung erforderlich. Hier sind vor allem die früheren Stuhlgewohnheiten herauszuarbeiten und die Dynamik des aktuellen Geschehens. Komorbiditäten und Medikation sind ebenfalls wichtig. Bei der körperlichen Untersuchung ist eine fäkale Impaktierung auszuschließen. Gerade bei somnolenten oder verwirrten Patienten muss bei dokumentiertem Fehlen des Stuhlgangs über drei Tage sowie Völlegefühl, abdominalen Schmerzen, Tenesmen, Übelkeit und Erbrechen an Obstipation gedacht werden; aber auch bei unspezifischen Unwohlseinsäußerungen und Verwirrtheit sowie bei plötzlicher Stuhlinkontinenz oder Diarrhöen, die als paradoxe Diarrhöen durch Stuhlverhalt verursacht sein können. Einerseits kann eine zu starke Fixierung auf den Stuhlgang Ausdruck einer Problemverschiebung sein, mit der ein anderes Leiden verdrängt werden soll, andererseits kann es zu einer Bagatellisierung kommen. Der häufig geäußerte Hinweis, ohne Nahrungsaufnahme könne man auch keine Verdauung haben, ist falsch. Die physiologische Darmabschilferung lässt Stuhl entstehen, so dass auch in diesem Fall auf regelmäßigen Stuhlgang zu achten ist. Von der Obstipation ist die maligne intestinale Obstruktion abzugrenzen (s. Kapitel 11, S. 79). Zur Objektivierung gibt es verschiedene Instrumentarien, die für wissenschaftliche Untersuchungen unabdingbar sind, die im klinischen Alltag jedoch manchmal ebenfalls hilfreich sein können. Im Angelsächsischen gibt es hier die visuelle Analogskala der Obstipation, die Bristol Stuhlform Skala (s. Abb. 9-1), die Obstipations Assess- Typ 1 einzelne, feste Kügelchen, schwer auszuscheiden Typ 2 wurstartig, klumpig Typ 3 wurstartig mit rissiger Oberfläche Typ 4 wurstartig mit glatter Oberfläche Typ 5 einzelne weiche, glattrandige Klümpchen, leicht auszuscheiden Typ 6 einzelne weiche Klümpchen mit unregelmäßigem Rand Typ 7 flüssig, ohne feste Bestandteile Abb. 9-1 Bristol Stuhlform Skala 9.3 Therapie 69 ment Skala und die Eton Skala zur Risikoabschätzung der Obstipation (Übersicht bei Goodman et al. 2005). Wichtig ist die regelmäßige Erfassung des Stuhlganges, um Veränderungen rechtzeitig bemerken zu können. Es sollte versucht werden, dem Entstehen von Obstipation durch folgende Maßnahmen vorzubeugen: ● ausreichende Zufuhr von Flüssigkeit und Ballaststoffen ● ausreichende Bewegung entsprechend den Möglichkeiten des Patienten ● ausreichende Intimität und Bequemlichkeit beim Stuhlgang ● Beachtung obstipierender Nebenwirkungen von Medikamenten, insbesondere Opioiden, und frühzeitiger Einsatz von Laxanzien Diese Maßnahmen haben ihre Grenzen. Bei der Zufuhr von Flüssigkeit und Ballaststoffen sind die eingeschränkten Möglichkeiten des palliativmedizinischen Patienten zu berücksichtigen. Viele Patienten haben eine Anorexie, eine Flüssigkeitszufuhr von 1,5–2 l/Tag ist daher häufig nicht möglich. 9.3 Therapie Das Ziel der Behandlung ist, wie bei anderen palliativmedizinischen Problemen, in erster Linie symptomorientiert, gemessen an der subjektiven Beeinträchtigung des Patienten. Ziele sollten sein: ● Wiederherstellung für den Patienten angenehmer Stuhlgewohnheiten ● Beseitigung von Schmerzen ● Wiederherstellung eines befriedigenden Grades der Unabhängigkeit von den Stuhlgewohnheiten ● Vermeidung von Komplikationen wie Übelkeit, Erbrechen, Aufgetriebenheit und Schmerzen Der Algorithmus aus Monitoring und Management der Obstipation ist in Abbildung 9-2 dargestellt. Die medikamentösen Möglichkeiten sind in Tabelle 9-2 zusammengefasst. Die Normalisierung des Stuhlgangs, auch durch medikamentöse Maßnahmen, kann mehrere Tage bis Wochen dauern. Grundsätzlich sollten Laxanzien großzügig eingesetzt werden, auch vorbeugend, insbesondere bei Opioidtherapie (s. Kasten S. 73) Die Folgen einer langfristigen Laxanzieneinnahme werden von fortgeschritten Kranken in der Regel nicht mehr erlebt. Bei impaktiertem Stuhl kann eine manuelle Ausräumung notwendig werden, gegebenenfalls unter Sedierung mit Midazolam 5–10 mg s.c. Schwerste Obstipationen führen in der Regel zu einer Ileussymptomatik. Die wichtigste Differenzialdiagnose ist hier die maligne intestinale Obstruktion (s. Kapitel 11, S. 79). Aus diesem Grund erfolgt in der Regel die stationäre Einweisung. 70 9 Obstipation Überwachung • subjektives Wohlbefinden • objektives Stuhlverhalten (Frequenz, Konsistenz, Schmerzen) • Risikofaktoren, insbesondere Opioide • Veränderungen nach Maßnahmen Beschwerden des Patienten oder Frequenz < 3 x/Woche Ausschluss maligne Obstruktion Ursachen? Behebung möglich? Behandlung Erstlinientherapie: Kombination aus osmotischem und stimulierendem Laxans Besserung? ja nein Zweitlinientherapie: Suppositorium oder Klysma Besserung? nein Drittlinientherapie: Suppositorium oder Klysma Opioide Opioid-Antagonisten? Besserung? nein Viertlinientherapie: manuelle Ausräumung? hohe Einläufe Gastrografin Rizinusöl Neostigmin und Dexpanthenol Abb. 9-2 Management der Obstipation ja ja 71 9.3 Therapie Tab. 9-2 Medikamente gegen Obstipation Wirkstoff Handelsname Dosierung (Beispiel) pro Tag Wirkungs- Nebenwirkungen/ eintritt Hinweise osmotische Laxanzien Lactulose Bifiteral® 10–30 ml, oral 8–10 h (bis 48 h) ● Blähungen/Völlegefühl, vor allem bei Patienten, die keine großen Mengen an Flüssigkeit zu sich nehmen können Macrogol Movicol® 1–3 Btl. 1 Btl. = 13 g in 125 ml Wasser, oral initial: 2–3 Tage, dann 8–24 h ● sehr gute Verträglichkeit keine Wasser- und ElektrolytVerschiebungen 1. Wahl bei Opioiden ● ● Natriumhydrogencarbonat Lecicarbon® 1–2 Supposi- 15–60 min torien ● Wirkung durch Freisetzung von CO2 Sorbitol Mikroklist® Yal® 1 Klistier ● kann oft nicht „angehalten“ werden ● Cave: gastrointestinale Obstruktion 15–60 min stimulierende Laxanzien Senna Liquidepur® Pursennid® 2–4 Dragees, 8–12 h 5–20 ml, oral Natriumpicosulfat Laxoberal® 10–40 Tropfen, oral Bisacodyl Dulcolax® 10 mg, oral; 8–12 h 1–2 Supposi- 15–60 h torien ● bei Subileus möglicherweise schmerzhaft Docusat Potsilo® 25–50 mg, oral Stunden bis Tage ● in Kombination mit Bisacodyl Paraffin Obstinol M® 10–30 ml, oral 8–12 h ● schlechter Geschmack Glycerol Glycilax® 1–2 Supposi- 15–60 min torien ● gute Verträglichkeit DocusatNatrium Norgalax® 1 Klistier 15–60 min ● kann oft nicht „gehalten“ werden 6–12 h Gleitmittel salinische Laxanzien Magnesiumsulfat Bittersalz 10–20 g in 150–200 ml Wasser, oral 2–4 h ● Cave: bei Niereninsuffizienz Mg-Intoxikation Natriumsulfat Glaubersalz 10–20 g in 150–200 ml Wasser, oral 2–4 h ● Cave: Herzinsuffizienz