Bindung - Die Onleihe

Werbung
Verschiedene Bindungsmuster
19
Abbildung 2 zeigt den Bewegungsspielraum der sicher, unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent gebundenen Kinder in der Fremden
Situation in Anlehnung an Ainsworth und Kollegen (1978).
Abbildung 2: Bewegungsspielraum der Kinder mit den unterschiedlichen Bindungsmustern in der Fremden Situation (adaptiert nach Ainsworth et al. 1978; Schölmerich / Lengning 2008, 204; S = Fremde Person und M = Mutter)
Wie bereits oben kurz angerissen werden Unterschiede in der Bindungssicherheit häufig auf das Verhalten der Bezugsperson, insbesondere deren Feinfühligkeit (vgl. hierzu in diesem Kapitel den Abschnitt
„Einflussfaktoren auf die Bindungsqualität – Feinfühligkeit“) zurückgeführt. Das Verhalten der Bezugsperson wirkt sich auf die Bindungsrepräsentation der Kinder aus, d. h. beispielsweise darauf, wie verlässlich die Kinder das Verhalten ihrer Bezugsperson abgespeichert haben
(siehe in diesem Kapitel den Abschnitt „Internale Arbeitsmodelle“). Bei
unsicher-vermeidender Bindung verhält sich die Bezugsperson zurückweisend und ablehnend, wenn Kinder z. B. Unterstützung suchen oder
20
Was ist die Bindungstheorie?
negative Emotionen zeigen. Folglich haben die Kinder die Bezugsperson als zurückweisend repräsentiert. Die Bezugsperson von Kindern
mit einer sicheren Bindung ist in Situationen, in denen sich das Kind
ängstigt oder unsicher fühlt, verfügbar und hilft dem Kind. Sie ist zuverlässig, liebevoll und sensitiv bzw. feinfühlig. Dementsprechend wird sie
vom Kind auch als sensitiv / feinfühlig, liebevoll, helfend und verfügbar
wahrgenommen und repräsentiert. Bezugspersonen bei unsicher-ambivalenter Bindung verhalten sich in manchen Situationen unterstützend
und bieten ihrem Kind Schutz, während sie es in anderen bedeutenden
Situationen nicht tun. Das Kind erlebt die Person von daher als unberechenbar und hat sie auch so repräsentiert (vgl. Bowlby 1988; FremmerBombik 2011).
Aber nicht nur Unterschiede im Verhalten der Bezugsperson werden
mit den unterschiedlichen Bindungsmustern in Zusammenhang gebracht, sondern auch Besonderheiten der Personen mit verschiedenen
Bindungsmustern in Bezug auf Beziehungsstrategien, Selbstkonzept,
Umgang mit Emotionen und Umgang mit Körperkontakt. Welche Besonderheiten mit welchem Bindungsmuster assoziiert werden, ist Tabelle 3 zu entnehmen (vgl. Lengning 2004).
In den 1980er Jahren wurde als Bindungsmuster bzw. als Zusatzkategorie die Desorganisation / Desorientierung (D) mit aufgenommen, da
es bei einigen Kindern schwierig war, sie anhand der drei organisierten
Bindungsmuster eindeutig zu klassifizieren.
Merksatz
Im Zuge der Bindungserfassung bei Kindern mithilfe der Fremden
Situation werden drei organisierte sowie ein desorganisiertes Bindungsmuster unterschieden:
A – unsicher-vermeidendes Bindungsmuster
B – sicheres Bindungsmuster
C – unsicher-ambivalentes Bindungsmuster
D – desorganisiertes / desorientiertes Bindungsmuster
Die Kinder mit einem desorganisierten Bindungsmuster weisen desorganisiertes bzw. desorientiertes Verhalten auf und zeigen kein deutlich
definierbares Verhaltensmuster (Bowlby 1988). In der Fremden Situation schreit ein solches Kind z. B. in der Trennungsphase nach der
Mutter und schaut zur Tür. Wenn die Mutter dann jedoch zum Kind
kommt, wendet es sich still ab. Hier findet sozusagen eine Unterbrechung des organisierten Verhaltens statt, was als „D“-Verhalten bezeich-
ƒƒZeigen vermehrt Bindungsverhalten
ƒƒStrategien im Bindungsverhalten sind unklar (vgl. hierzu
Verhalten in der Fremden
Situation)
ƒƒSuchen ständig Aufmerksamkeit der Bindungsperson
ƒƒSelbsteinschätzung ist negativ
ƒƒSelbstvertrauen ist gering
ƒƒDas Bild von sich selbst ist
negativ
ƒƒEmotionen werden schlecht
integriert
ƒƒNegative Emotionen werden
manchmal verleugnet
ƒƒKontakt wird gesucht, aber sie
widersetzen sich auch gleichzeitig
ƒƒZeigen ihren Wunsch nach
Bindung offen
ƒƒSind beziehungsorientiert
ƒƒSuchen bei Belastung Unterstützung der Bezugsperson
ƒƒSelbsteinschätzung ist offen
und flexibel
ƒƒSelbstwertgefühl ist positiv
ƒƒAchten sich selbst
ƒƒEmotionen können offen kommuniziert werden
ƒƒZugang zu eigenen Emotionen
ist gut
ƒƒKörperkontakt wird gesucht
ƒƒVermeiden Beziehungen
ƒƒBrechen Beziehungen ab
ƒƒSuchen keine oder kaum Unterstützung bei ihren Bezugspersonen
ƒƒSelbsteinschätzung ist vermeidend perfekt, d. h. eigene
Schwächen werden nicht erkannt oder nicht zugegeben
ƒƒUmgang mit Emotionen ist
nicht offen
ƒƒNegative Emotionen werden
verleugnet
ƒƒVermeidend
Beziehungs­
strategien
Selbstkonzept
Umgang mit
Emotionen
Haltung zu
­Körperkontakt
Unsicher-ambivalent
Gebundene (C)
Sicher Gebundene (B)
Unsicher-vermeidend
Gebundene (A)
Tabelle 3: Bindungsmuster und Besonderheiten in Bezug auf Beziehungsstrategien und Selbstkonzept sowie Umgang mit Emotionen und Körperkontakt
(vgl. Lengning 2004)
Verschiedene Bindungsmuster
21
22
Was ist die Bindungstheorie?
net wird (Main 2011). Einige der Kinder wirken darüber hinaus in der
Fremden Situation auch verwirrt bzw. als hätten sie Angst vor der Mutter (Spangler 1999).
Kinder, die dieses D-Verhalten zeigen, haben vermutlich häufig
Hauptbindungspersonen, deren eigenes Bindungssystem selbst noch
aktiviert ist. Dadurch ist es ihnen wahrscheinlich nicht möglich, den
Kindern die ausreichende Pflege bzw. Unterstützung zukommen zu lassen. Dies hat zur Folge, dass die Kinder keine eindeutige Bindungsstrategie entwickeln können (Fremmer-Bombik 2011) bzw. dass sie in bindungsrelevanten Stresssituationen keine oder nur mangelhaft adäquate
Strategien zur Bewältigung einsetzen können (Wartner et al. 1994).
Weiterhin besteht die Vermutung, dass diese Kinder eventuell misshandelt wurden (→ Misshandlung) bzw. dass die Mütter dieser Kinder
möglicherweise unter einer psychischen Störung leiden und aus diesem
Grund die Kinder nicht so behandeln können, dass diese das mütterliche Verhalten vorhersagen könnten (Bowlby 1988). Von daher haben sie keine klaren Erwartungen bezüglich des Verhaltens der Mutter
bzw. Bezugsperson, die in ein Arbeitsmodell integriert werden können
(Fremmer-Bombik 2011; vgl. in diesem Kapitel den Abschnitt „Internale Arbeitsmodelle“).
Weil das sogenannte desorganisierte Verhalten eine Unterbrechung
des organisierten Verhaltens (sicher, unsicher-vermeidend, unsicherambivalent) darstellt, wird heutzutage die D-Kategorie nicht getrennt,
sondern als Zusatzkategorie zu den drei traditionellen Bindungsmustern vergeben (Main 2011).
Die bisherigen Ausführungen lassen vermuten, dass die sichere Bindung die „beste“ Bindung sei bzw. mit den meisten positiven Aspekten
zusammenhängt. Dieser Rückschluss kann jedoch nicht so verallgemeinert gezogen werden. Denn es konnte z. B. gezeigt werden, dass das sichere
Bindungsmuster, das häufig in westlichen Kulturen als optimal angesehen wird, nicht in allen Kulturen mit dort positiv angesehenen Merkmalen / Eigenschaften / Verhaltensweisen in Zusammenhang steht. Das heißt,
dass in anderen (nicht westlichen) Kulturen bestimmte – mit unsicheren
Bindungsmustern assoziierte – Merkmale / Eigenschaften / Verhaltensweisen eher auf kulturelle Erwünschtheit treffen (vgl. z. B. Rothbaum et al.
2000). Als Beispiel kann hier zurückhaltendes Verhalten genannt werden.
Weiterhin muss festgehalten werden, dass jedes Bindungsmuster
das adaptivste für die jeweilige enge Bezugsperson-Kind-Interaktion
ist. So sollte z. B. ein Kind, das immer zurückgewiesen wird, auch seltener Kontakt suchen, da es sonst immer wieder zurückgewiesen werden
Geschlechtsunterschiede
23
würde, was erneute schmerzhafte Erfahrungen zur Folge hätte. Hier
sind somit Strategien einer unsicher-vermeidenden Bindung sehr sinnvoll (vgl. Kapitel 3).
Somit scheinen alle Bindungsqualitäten mit positiven Aspekten in
­Zusammenhang zu stehen. Lediglich die desorganisierte Bindung kann
als beginnendes → pathologisches Verhalten gesehen werden (vgl. Kapitel 4).
Prävalenz der Bindungsmuster
Zur → Prävalenz der unterschiedlichen Bindungsmuster liegt eine Meta­
analyse von van Ijzendoorn und Kroonenberg (1988) vor, in der 32 Studien daraufhin untersucht wurden, wie häufig die drei organisierten Bindungsmuster, gemessen mithilfe der Fremden Situation, durchschnittlich
vorkommen. Im Mittel wurden 65 % der Kinder als sicher klassifiziert,
21 % zeigten eine unsicher-vermeidende Bindung und 14 % waren unsicher-ambivalent gebunden. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang, dass die Verteilung der einzelnen Bindungsmuster in unterschiedlichen Kulturen schwankt. Für Deutschland fanden z. B. Gloger-Tippelt
und Kollegen (2000) bei der Überprüfung zahlreicher Studien eine Verteilung von 44,9 % sicher Gebundenen, 27,7 % unsicher-vermeidend
Gebundenen und 6,9 % unsicher-ambivalent Gebundenen sowie 19,9 %
Personen mit desorganisierter Bindung im Mittel, wenn das Kriterium
Desorganisation berücksichtigt wurde. Da nicht in allen Studien die DKlassifikation ausgewertet wurde, konnten von den anfänglich 15 berücksichtigten Studien nur elf mit in die Analyse aufgenommen werden
(N = 593) (Gloger-Tippelt et al. 2000).
Geschlechtsunterschiede
Im Rahmen der Bindungstheorie wird nicht davon ausgegangen, dass es
Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Bindungssicherheit oder deren
Auswirkungen auf die weitere Entwicklung beispielsweise im sozialen
und emotionalen Bereich gibt. Grossmann und Kollegen (2003) konnten
z. B. in der Bielefelder Längsschnittstudie ähnlich wie in vielen weiteren
Studien keine Geschlechtsdifferenzen (z. B. bezüglich der Bindungsqualität im Kleinkindalter oder auch in der Jugend) feststellen. Obwohl in vereinzelten Studien auch geschlechtsspezifische Befunde ermittelt wurden,
Herunterladen