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SWR 2 Musikstunde mit Ulla Zierau, 4. Januar 2011
"Hören ist Lust und Pein"
Alfred Brendel zum 80. Geburtstag (2)
„Vergiss nie, dass du ohne den Komponisten nicht vorhanden wärst“, ein
entwaffnendes Argument, das den Interpreten immer wieder aufs Neue erdet.
„Belebe die Werke, ohne ihnen Gewalt anzutun“ – sagte Edwin Fischer und „Alles
soll so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher“. meinte Albert
Einstein.
Das ist kurz gefasst Alfred Brendels musikalisches Credo.
Musik 1
Franz Schubert: Ungarische Melodie
Alfred Brendel,
3‘24
M0027085 007
Alfred Brendel spielte die ungarische Melodie von Franz Schubert.
Die persönliche Note zu forcieren oder zu vermeiden. Beides ist für Brendel
bedenklich; wo sie sich nicht von selbst einstelle, sei jede Mühe vergeblich.
Unter diesem Aspekt versteht man auch seine Abneigung gegen Glenn Gould,
dessen Talent er bewunderte, dessen Interpretationen er jedoch ablehnte. Er spricht
von Obsessionen und fragt, warum Gould die Komponisten so fürchterlich malträtiert
hat. Mozart oder Beethoven. Goulds Appassionata ist tatsächlich eine Zumutung.
Was ist der Hauptunterschied zwischen Gould und Brendel. Bei dem exzentrischen
Kanadier sagt man schon beim ersten Ton, egal was er spielt, Bach, Beethoven,
Brahms oder Scarlatti, das ist Gould, bei Brendel sagt man zuerst, das ist Mozart
oder Beethoven:
Musik 2
Ludwig van Beethoven, Bagatelle Nr. 4: h-Moll op. 126, 4
M0017983 020
3‘58
Alfred Brendel spielte die Bagatelle h-moll op. 126, 4 von Beethoven.
2
Brendel hegt eine gewisse Abneigung gegen das Wort „Werktreue“, das ist auf den
ersten Blick erstaunlich, weil er sich doch dem Werk und dem Komponisten stets
sehr verpflichtet fühlte. Er attestiert dem Begriff „Werktreue“ eine pedantische Aura.
Musik kann nicht für sich selbst sprechen, sie braucht den Interpreten und der sollte
sich um Texttreue bemühen. Musik genau lesen, wahrnehmen, was
niedergeschrieben ist auch in Autographen und Erstdrucken. Die Quintessenz:
Fehlschlüsse am Fundament gefährden die Stabilität des ganzen Gebäudes.
Das ganze Gebäude entsteht durch ein Maß an Empfindsamkeit und innerer Freiheit.
Der Interpret, der dem Fluss der Musik so natürlich wie möglich folgt, wird dem
psychologischen Hörer stets das Gefühl geben, im Tempo zu sein.“ So beschreibt es
Brendel.
Dieses Bewusstsein kennzeichnet sein Spiel. Als dienstbarer Geist fühle er sich den
Werken verpflichtet, wenn auch eher im Sinne eines Geburtshelfers.
Er liest die Musik und reflektiert die Möglichkeiten, ohne Extreme auszureizen oder
Grenzen zu überschreiten. Er spielt ruhig und präzise. Seine Fortissimi sind nie zu
laut, seine Pianissimi nie unhörbar leise, seine Tempi angemessen. Joachim Kaiser,
der an dem jungen Brendel in seinem Buch „Große Pianisten unserer Zeit“ von 1972
auch einiges auszusetzen hatte, schwärmte indes von ihm als einem sensiblen
Pianissimo-Philosophen.
Alles geschieht im Geiste der Musik und im Einvernehmen mit dem Verständnis des
Interpreten.
Ist das zu einfach – nein Brendels Überraschungen liegen in den Nuancen wenn er
eine Pause auskostet, der Stille nachhängt, im Scherzo von Schubert zum Tanz bittet
oder wenn er Joseph Haydn spielt, der für ihn die überzeugendste komische Musik
geschrieben hat – wenn er mal von Ligetis „Aventures et nouvelles Aventures“
absieht. Bei Haydn blitzt der Schalk zwischen den Noten. Im Finale der C-dur Sonate
Nr. 50: Hüpfende Staccato und ein Wutausbruch in d-moll, ein H-dur Akkord platzt
dazwischen wie ein faux pas. Hat sich der Pianist verspielt, doch dann kommt er
nochmal, der musikalisch Fremdkörper – Haydn verstößt gegen die harmonische
Ordnung, er spielt damit, verwirrt ganz bewusst, wird übermütig und lacht uns am
Ende leise aus, so empfindet es Alfred Brendel und so spielt er es….
3
Musik 3
Joseph Haydn: Klaviersonate C-dur Nr. 50 , 3. Satz
Alfred Brendel, Klavier
337 3682 004
2’19
+ Beifall
Live von den Salzburger Festspielen 1981, Finale aus der Klaviersonate Nr.50 D-dur
von Joseph Haydn, ein Paradestück seines feinen Humors, den Alfred Brendel gerne
aufgreift. Er, ein ausgewiesener Kenner und Freund des Humors, am liebsten die
komische Seite des Absurden. Auf die Frage nach seiner Lieblingsfarbe antwortete
er einmal : schwarz-weiß, ein Pianist eben…
In seinem Essay „Das Umgekehrt Erhabene“ – Gibt es eigentlich lustige Musik?“,
entlarvt Brendel auch Beethoven als humorigen Komponisten. Beethoven nicht nur
der Erhabene, er gibt mehrere Beispiele seines feinen Humors, seien es übertriebe
Kontraste in den Eroica Variationen, das Umstoßen von Blumentöpfen im letzten
Satz von Les Adieux. Von komischer Besessenheit spricht Brendel beim ersten Satz
der Sonate op.31 Nr.1. Siebenmal beginnt Beethoven mit demselben Anfangsthema
in der gleichen Tonlage und Grundtonart G-dur. Eine Frau soll bei einem Konzert
Brendels gesagt haben „Er spielt seine Hände nicht zusammen“
Musik 4
Beethoven, Klaviersonate G-dur op.31 Nr.1, 1. Satz
Alfred Brendel
M0014643 001
6‘00
Ludwig van Beethoven, Klaviersonate G-dur op.31 Nr.1, der 1. Satz daraus.
Beethoven war Brendels erste große Herausforderung:
Von 1958 bis 1964 hat er das gesamte Klavierwerk Beethovens erstmals eingespielt.
Da war er Ende zwanzig. Mehrfach ging er in den Jahren seines Konzertierens mit
dem gesamten Zyklus auf Tournee.
Wenn Sie Alfred Brendel schon einmal live erlebt haben, sind Ihnen sicher die
Pflaster an Daumen, Zeige- und Mittelfinger beider Hände aufgefallen. Absurd nicht
wahr, eine Horrorvorstellung für jeden Pianisten, nicht so für Brendel, vierzig Jahre
hat er immer mit diesen Pflastern gespielt. Ein Splen oder was sonst?
4
Gewisse Griffe spiele er mit den Fingernägeln und die splittern dann und das tue
weh. Da packt er ein kleines Kissen unter die Nagelspitze, drum herum eine Runde
Leukoplast, das schütze, federe ab und absorbiere auch das Geräusch.
Joachim Kaiser warf Brendel in seiner Abhandlung „Große Pianisten in unserer Zeit“
unsaubere Akkorde, ein nicht Beherrscht sein vor, eine Eigenschaft, die man vom nennen wir es - reifen Brendel kaum kennt.
Fehlerlosigkeit hingegen war für Brendel nie ein Maßstab für eine gute Interpretation.
„Ich war nie der perfekteste Interpret. Ich spielte schon frühzeitig genug falsche
Noten, um davon nicht als alternder Pianist schockiert zu sein. Aber ich hatte anhand
der Pianisten, die ich bewunderte, auch immer den Eindruck, dass man trotz einiger
falscher Noten Eindruck machen könne. Nicht die Makellosigkeit ist das erste
Kennzeichen einer großen Aufführung.“
Brendel blieb dabei jedoch immer selbstkritisch. Wenn er mit live Mitschnitten nicht
zufrieden war, wenn er geringste Einwände hatte, dann gab er sie kurzerhand nicht
frei. Ich erinnere mich an einen Mitschnitt vom ORF von der Schubertiade
Schwarzenberg, die wir in SWR 2 senden wollten und am Ende nicht mehr als die
Zugabe übrig geblieben war.
Daraus lässt sich jetzt allerdings nicht ableiten, dass Brendel ein Verfechter von
Studioaufnahmen war und live Mitschnitte kategorisch ablehnte. Er schätzt Nachteile
und Vorzüge beider Spielarten. Und ich muss Ihnen nicht verraten, dass für ihn vor
allem das hustende Publikum eines der großen Handicaps bei live-Aufnahmen
gewesen ist. Dennoch hält er ein flammendes Plädoyer für Konzerte.
„wer komplette Makellosigkeit und Störungsfreiheit für die notwendige Voraussetzung
eines bewegenden musikalischen Eindrucks ansieht, hat verlernt, Musik zu hören“.
Das aus dem Munde Brendels. Seine erste live Platte von 1976 waren die Diabelli
Variationen von Beethoven. Für Brendel der Höhepunkt der Klaviermusik geblieben ein unvergleichlicher humoristischer Kosmos, ein Werk, das keineswegs über den
Wolken schwebe, sondern inmitten kühner Virtuosität, Durchblicke ins Erhabene
gestatte.“
5
Gerade in den größten und riskantesten Werken zeige sich die Souveränität des
Spielers, die das Studio manchmal nur vortäusche.
Musik 5
Beethoven: Diabelli Variationen Thema u. 1. Var.,
Alfred Brendel
M0008179
2‘25
live von den Ludwigsburger Schlossfestspielen 1988
Thema und erste Variation aus den Diabelli-Variationen von Beethoven, gespielt von
Alfred Brendel.
In den letzten Jahren hat er sich vermehrt für die Veröffentlichung seiner Konzerte
entschieden. Gerade jetzt zu seinem 80. Geburtstag ist eine Doppel-CD mit live
Aufnahmen erschienen, die Brendel bewusst ausgewählt hat. Darunter auch zwei
Orchesteraufnahmen, Brahms erstes Klavierkonzert mit dem Symphonieorchester
des Bayerischen Rundfunks unter Colin Davis und Mozarts C-Dur Klavierkonzert KV
503 mit dem SWR Sinfonierochester Baden-Baden und Freiburg. Dirigent ist Hans
Zender.
In seinem Vorwort dankt Brendel den Orchestern, den Dirigenten und Tonmeistern
und gesteht, dass diese beiden Aufnahmen seiner Vorstellung dieser Werke am
nächsten kommen, er spricht bei Mozart von einer Frische, die in einem guten
Konzert leichter zu erreichen sei als im Studio.
Musik 6
Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzert C-dur KV 503
Alfred Brendel / SWR SO Baden-Baden und Freiburg / Hans Zender
M0007169 003
9‘14
Finale aus dem C-dur Konzert KV 503 von Mozart mit Alfred Brendel und dem SWR
Sinfonierochester Baden-Baden und Freiburg. Dirigent: Hans Zender. Eine langjährige Verbindung besteht zwischen dem Solisten und unserem SWR-Orchester.
Mozart gehört zu den Komponisten, die Brendel von Beginn bis zum Ende seiner
Karriere gespielt hat. Mit dem Jenamy Konzert, dem ehemals Jeunehomme von
Mozart hat er sich von der Bühne verabschiedet. Als Weltwunder, als Mozarts erstes
6
Meisterwerk hat Brendel es bezeichnet. Dass Mozart „jung wie ein Jüngling ist“ und
weise wie ein Greis“ wie Busoni behauptete bestätige sich in diesem Werk zum
ersten Mal.
Wenn Beethoven Brendels erste große Herausforderung war, dann war Mozart, die
fürs ganze Leben. Er bezeichnet beide Komponisten als Architekten, doch während
Beethoven von Beginn des Stücks Stein auf Stein setze und sein Gebäude nach den
Gesetzen der Statik baue, füge Mozart mit Vorliebe die wundervollsten melodischen
Einfälle als Fertigteile aneinander.“
In seinen Ermahnungen eines Mozartspielers an sich selbst warnt Brendel: „wer
Mozart zu poetisch spiele, sitze allzu leicht in einem Glashaus, in das keine frische
Luft dringe, man möchte kommen und die Fenster öffnen“. Poesie sei die Würze und
nicht das Hauptgericht. Kantabilität und sinnliche Schönheit machten bei Mozart nicht
allein selig, man müsse Mannigfaltiges mitteilen und wiedersprechendes verbinden.
Nehmen Sie mir es nicht übel, wenn wir in den langsamen Satz der F-dur Sonate KV
533 in der Reprise einsteigen, der ganze Satz dauert über 13 Minuten....
Musik 7
Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate 533, 2. Satz
Alfred Brendel, Klavier
M0101823 003
3‘06
„Wo Mozart die Sprachmittel seiner Epoche bis zum Zerbrechen gespannt und ihrem
Ende nahegebracht hat“. Hans Werner Henze über die Klaviersonate F-dur KV 533,
Alfrend Brendel spielte das Ende des 2. Satzes.
Noch einige Worte zu Alfred Brendels Repertoire – Die Granden der Wiener Klassik
hat er sich intensiv erarbeitet, Haydn – Beethoven – Mozart, Schubert, den
Schlafwandler – wie er ihn selbst nannte – hat er aus dem Biedermeierkorsett befreit,
dazu morgen in der Musikstunde mehr.
Auf die Frage nach seinen Lieblingskomponisten, antwortete Brendel im Proustschen
Fragebogen:
Weder Rachmaninow, noch Reger noch Respighi.
7
Okay, Brendel als Mister cis-moll, das kann man sich auch nicht so recht vorstellen,
aber da gibt es noch einige mehr, die er nicht gespielt hat, alle Russen, mit
Ausnahme von Prokofjew, Mussorgskys Bilder einer Ausstellung oder das c-moll
Konzert von Rachmaninow, ganz am Beginn seiner Karriere. Wenigstens in die
Promenade aus den Bildern einer Ausstellung wollen wir mal reinhören.
Musik 8
Modest Mussorgskij: Bilder einer Ausstellung, Promenade + Der Gnom
Alfred Brendel, Klavier
M0027085 001
1’34 oder 3‘50
Promenade aus den Bildern einer Ausstellung von Modest Mussorgskij, Alfred
Brendel spielte die gesamten Bilder einmal Mitte der 50er Jahre.
An den Franzosen ging er auch vorbei, auch wenn er Ravels „Gaspard de la nuit“ für
eines der großartigsten Klavierwerke des 20. Jahrhunderts hält.
Ach ja, da wäre noch Chopin, welcher Pianist könnte ihn meiden? Alfred Brendel. Die
Platte mit den 24 Préludes mit Alfrèd Cortot gehört zu seinen liebsten Aufnahmen,
aber selbst gespielt hat er ihn so gut wie nie, nur einige Polonaisen aus den 60er
Jahren.
Zu Beginn seiner Karriere habe es einige Chopin Spezialisten gegeben, die
ausschließlich seine Musik gespielt haben. Chopin war damals in der Wahrnehmung
vieler Interpreten ein Paradiesvogel, ein Ausnahmekomponist. Heute hat sich das
geändert, wenn er – Brendel - heute jung wäre, würde er wahrscheinlich viel mehr
Chopin spielen.
Die Liste der nicht gespielten Werke ist bei Alfred Brendel lang, zu vielem hat er sich
zumindest verbal geäußert, das war er gespielt habe, hätte ihn ein Leben lang
beschäftigt. Wie er es mit der neuen Musik hält, davon morgen in der SWR2
Musikstunde mehr.
Zuletzt spielt Alfred Brendel Johannes Brahms, auch keine ganz einfache Beziehung.
Die Balladen op.10 hat er eingespielt und sich wie er selbst sagt an der vierten
8
verfehlt. Die beiden Klavierkonzerte, vor allem das d-moll begeistere ihn, und er liebe
Brahms späte Stücke, aber irgendwie habe er sie noch nicht erreicht.
Stattdessen ist das d-moll Konzert auf seiner Birthday Tribute CD.
Vor dem Finale des Konzertes hier noch ein Brahms Gedicht von und mit Alfred
Brendel...
O-Ton Alfred Brendel: „Brahms 1“
Radiomax
CD MDG 801 1526-2
1‘07
Musik
LC 06768 / ISBN 978-3-939873-90-7
Johannes Brahms: Klavierkonzert d-moll
Alfred Brendel / Symphonieorchester des BR / Colin Davis
Radiomax DECCa 2894782604 LC 00171
Musik Ende 6‘16
7‘10
Finale aus dem Klavierkonzert d-moll von Johannes Brahms mit Alfred Brendel und
dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Colin
Davis, eine live Aufnahme aus dem Jahr 1985.
Das war in SWR 2 die Musikstunde mit Ulla Zierau zum 80. Geburtstag von Alfred
Brendel. Morgen geht es weiter.-...
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