Jahrbuch 2008/2009 | Knösche, Thomas Reiner | Das Hirn als Netzw erk Das Hirn als Netzwerk The Brain as a Network Knösche, Thomas Reiner Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurow issenschaften, Leipzig Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Die Leistungen des Gehirns beruhen auf einem Wechselspiel funktioneller Segregation und funktioneller Integration von Nervenzellverbänden in komplexen Netzw erken. Die anatomische Basis dieser Netzw erke kann mit Hilfe diffusionsgew ichteter Magnetresonanztomographie rekonstruiert w erden. Die dynamische Interaktion zw ischen Nervenzellverbänden w ird mit Modellen neuronaler Massen untersucht. Die Verbindung dieser Techniken mit funktionellen Messverfahren sow ie neuropsychologischen Experimentaltechniken eröffnet neue Perspektiven für die Erforschung der Mechanismen kognitiver Fähigkeiten. Summary The capabilities of the brain are based on an interplay betw een functional segregation and functional integration of neuronal populations w ithin complex netw orks. The anatomical basis of these netw orks can be reconstructed using diffusion w eighted magnetic resonance imaging. The dynamic interaction betw een the neuronal populations is described by models of neural masses and fields. The integration of these techniques w ith functional measurements and neuropsychological experiments opens up new perspectives for the investigation of the mechanisms of the human mind. W ie können die erstaunlichen Leistungen des Gehirns auf der Grundlage seiner Anatomie und Physiologie erklärt w erden? Schon früh entw ickelte sich der Gedanke, dass verschiedene Hirnfunktionen in unterschiedlichen Bereichen und Strukturen des Hirns verankert sind. Dieses Prinzip der funktionellen Segregation ist durch zahlreiche Studien belegt. Beispielsw eise w eiß man, dass bestimmte Bereiche der Großhirnrinde für die Wahrnehmung von Gesichtern, Häusern und anderen Objekten zuständig sind. Allerdings ist das Prinzip der Segregation von Hirnregionen allein nicht in der Lage, die funktionelle Komplexität von Hirnfunktionen zu erklären. Die psychologischen Funktionen des Menschen sind in hohem Maße voneinander abhängig und miteinander vernetzt. So hängen etw a Handlungen von Wahrnehmungen, Aufmerksamkeit und emotionalem Status in komplexer Weise voneinander ab. Man kann also davon ausgehen, dass funktionelle Integration – die Vernetzung von funktionellen Prozessen – das zw eite w ichtige Prinzip für die Funktionsw eise des Gehirns ist. Die Anatomie des Gehirns bestätigt diese These: Die Nervenzellen und Nervenzellverbände sind in vielschichtiger Art und Weise durch Nervenfasern miteinander verschaltet. Um herauszufinden, w ie das Gehirn seine Leistungen vollbringt, ist es also notw endig, die anatomischen Verbindungsmuster zu untersuchen, Modellvorstellungen für die Interaktion zw ischen vernetzten Zellverbänden zu entw ickeln und © 2009 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/4 Jahrbuch 2008/2009 | Knösche, Thomas Reiner | Das Hirn als Netzw erk untersuchen, Modellvorstellungen für die Interaktion zw ischen vernetzten Zellverbänden zu entw ickeln und diese Modellvorstellungen mit Hilfe von Beobachtungen und Messungen zu überprüfen und zu konkretisieren. W ie können diese Untersuchungen vor allem auf nichtinvasive Weise, das heißt, ohne in den Körper einzudringen, am gesunden Menschen durchgeführt w erden? Traktographie – die Rekonstruktion des Netzwerkes von Nervenfasern Um den Verlauf der Nervenfasern und damit das Schaltschema des Gehirns zu ergründen, stehen verschiedene klassische Methoden zur Verfügung. So kann die Ausbreitung von bestimmten Substanzen (sogenannten Tracern) entlang der Nervenfasern beobachtet oder der Verlauf von Nervenbahnen aus Serien von Polarisationslichtaufnahmen von Gew ebeschnitten rekonstruiert w erden. Alle diese Methoden lassen sich aber nur an totem Gew ebe oder im Tierversuch anw enden. Deshalb ist es nicht oder nur eingeschränkt möglich, die Netzw erke, die den spezifischen kognitiven Fähigkeiten des Menschen zugrunde liegen, zu untersuchen. Vor einigen Jahren w urde jedoch eine Technik entw ickelt, die es erlaubt, mithilfe von Magnetresonanztomographie die richtungsabhängige Diffusion von Wassermolekülen zu messen – die sogenannte diffusionsgew ichtete Magnetresonanztomographie. Da die thermische Bew egung von Teilchen im biologischen Gew ebe durch Barrieren, w ie etw a Zellmembranen und Myelinscheiden, behindert w ird, erlaubt eine solche Messung Rückschlüsse über die Orientierung der Nervenfasern in einem bestimmten Bereich. Mit einer mathematischer Modellierungstechnik, der „Traktographie“, lässt sich der Verlauf von Nervenbahnen rekonstruieren [1, 2, 3]. Abbildung 1 zeigt die rekonstruierten Verläufe mehrerer Faserbündel, die verschiedene Hirnareale miteinander verbinden. Fa se rba hne n im m e nschliche n Ge hirn, re k onstruie rt m it Tra k togra phie a us diffusionsge wichte te r Ma gne tre sona nztom ogra phie . Bla u: cortico-spina le r Tra k t, ge lb: Fa sciculus uncina tus, rot: Fa sciculus a rcua tus, grün: Fa sciculus longitudina lis infe rior. © Ma x -P la nck -Institut für Kognitions- und Ne urowisse nscha fte n/Knösche Diese Methode erlaubt es also, im lebenden menschlichen Gehirn die anatomische Vernetzung der Hirnareale abzubilden. So konnten beispielsw eise © 2009 Max-Planck-Gesellschaft separate Hirnnetzw erke w w w .mpg.de für die Verarbeitung verschiedener 2/4 Jahrbuch 2008/2009 | Knösche, Thomas Reiner | Das Hirn als Netzw erk Grammatikformen rekonstruiert w erden [4]. Es lassen sich auch Zusammenhänge zw ischen der Ausprägung der Faserbahnen und bestimmten Krankheiten beziehungsw eise bestimmten besonderen Fähigkeiten quantifizieren. Schließlich bietet die Kenntnis des Faserverlaufs die Möglichkeit, für jeden Abschnitt der Hirnrinde ein spezifisches Verbindungsmuster zu berechnen. Vorausgesetzt, dass die Verbindungen eines bestimmten Hirnabschnitts zu anderen Teilen des Gehirns entscheidend für die Funktion dieses Abschnitts sind, kann man aus dem Vergleich dieser Verbindungsmuster Rückschlüsse auf die Einteilung der Hirnrinde in funktionelle Einheiten ziehen. Man spricht dann von funktio-anatomischer Parzellierung [1]. Abbildung 2 zeigt eine Einteilung des linken inferioren frontalen Gyrus (Gehirnw indung) in drei Gebiete. Diese Region w ird auch als Broca-Areal bezeichnet und spielt eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung und bei der Produktion von Sprache. Funk tio-a na tom ische P a rze llie rung de s Broca -Ge bie te s a uf de r Ba sis von Ve rbindungsm uste rn. O be n sind die typische n Ve rbindungsm uste r de r dre i Unte rge bie te da rge ste llt. Link s sind die Ge bie te in dre i horizonta le n Hirnschnitte n a bge bilde t, um vor a lle m die Tie fe na usde hnung zu ve rde utliche n. © Ma x -P la nck -Institut für Kognitions- und Ne urowisse nscha fte n/Knösche Mit der Traktographie können W issenschaftler die anatomischen Aspekte sow ohl von Segregation (durch Erstellen von funktio-anatomischen Parzellierungen) als auch von Integration (durch Berechnung der Verbindungsstärke) darstellen. Von entscheidender Bedeutung ist, dass dieses Verfahren am lebenden Menschen auf nichtinvasive Weise praktiziert w erden kann. Somit sind die Forscher in der Lage, diese Information mit spezifisch menschlichen Hirnleistungen in Verbindung zu bringen. Modelle interagierender Nervenzellen Die Existenz anatomischer Verbindungen zw ischen Nervenzellverbänden sagt zunächst nur etw as über die Möglichkeit des direkten Austauschs von Informationen aus. Um herauszufinden, ob und auf w elche Weise diese Hirnareale tatsächlich miteinander interagieren, w erden mathematische Modelle herangezogen. Um diese Modelle handhabbar zu halten und gleichzeitig die w esentlichen dynamischen Eigenschaften des Nervengew ebes zu beschreiben, verw endet man sogenannte Neuronale Massenmodelle oder Neuronale Feldmodelle: Sie fassen jew eils viele gleichartige Neuronen zusammen und stellen diese in einem einfachen Modell dar, das die Relation zw ischen gemitteltem Input und gemitteltem Output beschreibt. Eine w esentliche Eigenschaft dieser Modelle ist, dass sie Messungen, zum Beispiel mit Hilfe der Elektroencephalographie, der Magnetencephalographie oder der funktionellen Magnetresonanztomographie voraussagen können. Es © 2009 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/4 Jahrbuch 2008/2009 | Knösche, Thomas Reiner | Das Hirn als Netzw erk handelt sich daher um generative Modelle. Umgekehrt ist es möglich, die freien Parameter der Modelle, w ie zum Beispiel Verbindungsstärken zw ischen Hirnarealen, aus gemessenen Daten zu schätzen. Auf dieser Grundlage gelingt es, stimulations- oder verhaltensabhängige Messw ertevariationen in neuropsychologischen Experimenten auf der Ebene neuronaler Mechanismen abzubilden. Diese Technik w ird als Dynamic Causal Modelling bezeichnet. Mit ihr ist es gelungen, Abw eichungen in einem gleichförmigen Strom von Reizen mit Hilfe selbstorganisierender Interaktionen innerhalb einer Hierarchie von kortikalen Nervenzellverbänden zu erklären [5]. Multimodale Modellierung Das Ziel der Forschung in der Arbeitsgruppe „Kortikale Netzw erke und kognitive Funktionen“ am Max-PlanckInstitut für Kognitions- und Neurow issenschaften ist es, die beschriebenen Modelle für die dynamische Interaktion von Nervenzellverbänden mit Informationen zur anatomischen Vernetzung des Gehirns und mit menschlicher Wahrnehmung und Verhalten zu verbinden. Auf diese Weise entsteht ein sehr mächtiges Instrument zur Erforschung der biologischen Mechanismen, die die Grundlage der kognitiven Funktionen des Menschen bilden. Originalveröffentlichungen Nach Erw eiterungen suchenBilderw eiterungChanneltickerDateilisteHTML- Erw eiterungJobtickerKalendererw eiterungLinkerw eiterungMPG.PuRe-ReferenzMitarbeiter (Employee Editor)Personenerw eiterungPublikationserw eiterungTeaser mit BildTextblockerw eiterungVeranstaltungstickererw eiterungVideoerw eiterungVideolistenerw eiterungYouTubeErw eiterung [1] A. Anwander, M. Tittgemeyer, A. D. Friederici, D. Y . von Cramon, T. R. Knösche: Connectivity-based Cortex Parcellation of Broca’s Area. Cerebral Cortex 17(4), 816–825 (2007). [2] E. Kaden, T. R. Knösche, A. Anwander: Parametric Spherical Deconvolution: Inferring Anatomical Connectivity Using Diffusion MR Imaging. NeuroImage 37(2), 474–488 (2007). [3] E. Kaden, A. Anwander, T. R. Knösche: Variational Inferences of the Fiber Orientation Density Using Diffusion MR Imaging. NeuroImage 42(4), 1366–1380 (2008). [4] A. D. Friederici, J. Bahlmann, S. Heim, R. I. Schubotz, A. Anwander: The Brain Differentiates Human and Non-human Grammars: Functional Localization and Structural Connectivity. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 103(7), 2458–2463 (2006). [5] M. I. Garrido, K. J. Friston, S. J. Kiebel, K. E. Stephan, T. Baldeweg, J. M. Kilner: The Functional Anatomy of the MMN: A DCM Study of the Roving Paradigm. NeuroImage 42(2), 936–944 (2008). © 2009 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/4