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Jahrbuch 2015/2016 | Singer, W olf; Lazar, Andreea | Die Großhirnrinde, ein hochdimensionales, dynamisches
System
Die Großhirnrinde, ein hochdimensionales, dynamisches System
The cerebral cortex, a high dimensional, dynamic system
Singer, W olf; Lazar, Andreea
Assoziierte Einrichtung - Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience, Frankfurt am Main
Korrespondierender Autor
E-Mail: w [email protected]
Zusammenfassung
Theoretische Überlegungen und experimentelle Befunde legen nahe, dass in der Großhirnrinde ein Prinzip der
Informationskodierung und Verarbeitung verw irklicht ist, das bisher w enig erforscht w urde. Es basiert auf der
hohen Dimensionalität dynamischer Zustände von rekurrierend gekoppelten Netzw erken.
Summary
Theoretical considerations and experimental findings suggest that the cerebral cortex uses a principle for the
encoding and processing of information that is still little explored. It is based on the high dimensionality of
dynamic states of recurrent netw orks.
Wahrnehmen beruht auf Rekonstruktion
Damit Sinnessignale Wahrnehmungen w erden können, müssen sie unter Hinzuziehung von Vorw issen, das im
Gehirn gespeichert ist, geordnet und interpretiert w erden. Ein erheblicher Anteil dieser Rekonstruktionen w ird
von der Großhirnrinde erbracht. W ie einzigartig diese Leistung ist, w ird deutlich, w enn man bedenkt, dass zum
Beispiel auf der Netzhaut des Auges durch den optischen Apparat lediglich eine zw eidimensionale,
kontinuierliche
Verteilung elektromagnetischer Wellen erzeugt w ird, die
sich in ihrer Intensität und
Wellenlänge unterscheiden. Aus dieser Information, die über die Nervenzellen in der Netzhaut in neuronale
Erregungen verw andelt und an die Hirnrinde w eitergeleitet w ird, erzeugt das Gehirn dann das, w as w ir
w ahrnehmen: dreidimensionale Objekte, die voneinander und dem Hintergrund deutlich abgegrenzt und damit
identifizierbar sind. Es ist dies eine Leistung, die selbst von den besten derzeit verfügbaren technischen
Mustererkennungssystemen nur unter eingeschränkten und relativ stereotypen Bedingungen erbracht w erden
kann. Unser Gehirn löst diese Aufgabe mühelos und in Bruchteilen einer Sekunde.
Eine notw endige Voraussetzung für diesen Verarbeitungsschritt, der als Szenen- oder Bildsegmentierung
benannt w ird, ist der Vergleich der einlaufenden Sinnessignale mit gespeicherten Modellen über die Struktur
der Sehw elt. Das Gehirn w eiß bereits, w ie Objekte beschaffen sind und nutzt dieses Vorw issen, um die
verfügbaren Sinnessignale zu ordnen und miteinander so zu verbinden, dass voneinander abgegrenzte
Gestalten
erkennbar
w erden.
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Schon
in
den
Dreißigerjahren
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des
letzten
Jahrhunderts
haben
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Gestaltpsychologen w ie Wertheimer, Koffka und Köhler, die unter anderem in Frankfurt tätig w aren, diejenigen
Gestaltprinzipien herausgearbeitet, nach denen unsere Gehirne Objekte voneinander abgrenzen. So zeichnet
sich ein Objekt dadurch aus, dass es eine kontinuierliche, geschlossene Umrandung aufw eist, dass sich alle
seine Konturen mit der gleichen Geschw indigkeit in die gleiche Richtung bew egen, w enn sich das Objekt
bew egt, dass seine Bestandteile gew isse Merkmale gemein haben, beispielsw eise miteinander verbunden zu
sein, oder die gleiche Farbe oder Textur zu haben. Viele psychophysische Experimente verw eisen darauf, dass
diese Regeln im Gehirn abgespeichert sind und über alle Spezies hinw eg große Ähnlichkeiten aufw eisen.
Letzteres
ist
nicht
verw underlich,
da
w ir
alle
in
der
gleichen
Welt
leben,
mit
den
gleichen
Wahrnehmungsproblemen konfrontiert sind und sich im Laufe der Evolution der Arten eine optimale Strategie
herausgebildet hat. Das W issen über Gestaltprinzipien ist zum großen Teil angeboren und in der Verschaltung
der Großhirnrindenareale niedergelegt, die sich mit der Verarbeitung von Sinnessignalen befassen. Uns ist
nicht bew usst, dass w ir über diese Regeln verfügen, da sie über evolutionäre Ausleseprozesse optimiert, in
den Genen gespeichert und in der Architektur unseres Nervensystems niedergelegt w urden. Ein Teil der
Gestaltkriterien w ird jedoch im Laufe der frühen Hirnentw icklung durch Erfahrung erlernt und ebenfalls durch
strukturelle Veränderungen in den entsprechenden Neuronennetzen gespeichert und steht dann genauso w ie
das angeborene Vorw issen für die Interpretation von Sinnessignalen zur Verfügung.
Eine zentrale und noch w eitestgehend ungelöste Frage ist nun, w ie die Verrechnung der eingehenden
Sinnessignale mit dem gespeicherten Vorw issen erfolgt. Einige Randbedingungen, die im Folgenden erläutert
w erden, lassen erahnen, dass es sich hier um einen ganz außergew öhnlichen Vorgang handeln muss, für den
es keine triviale Erklärung geben kann.
Ein geheimnisvolles Speichermedium
Zur Veranschaulichung des Problems muss in Erinnerung gerufen w erden, dass Menschen, aber das gilt auch
für die meisten anderen Tierarten mit hoch differenzierten Sehsystemen, etw a viermal in der Sekunde die
Blickrichtung w echseln, um die Sehw elt zu erkunden oder Bilder auf ihren Gehalt hin abzutasten. Dies
bedeutet, dass die Vergleichsoperationen zw ischen einlaufenden Sinnessignalen und dem gespeicherten
Vorw issen in etw a 200 Millisekunden erfolgen muss. Wenn der Segmentierungsprozess ein vertrautes Objekt
isoliert, ist auch der Erkennungsprozess innerhalb von w enigen hundert Millisekunden abgeschlossen. Dies
bedeutet, dass auch das gesamte im Gehirn gespeicherte W issen über Objekte, denen man im Laufe des
Lebens begegnet ist, in einem Speicher abgelegt sein muss, der es erlaubt, auf beliebige Inhalte innerhalb
von Bruchteilen einer Sekunde zuzugreifen.
In den heute für die Musterverarbeitung verw endeten Computersystemen ist für jeden gespeicherten Inhalt
ein adressierbarer Speicherplatz reserviert und die Suche nach dem gew ünschten, für den Abgleich
erforderlichen Speicherinhalt erfolgt im Wesentlichen seriell. Diese einfache Strategie ist hoch effizient, w eil
Elektronenrechner mit sehr hoher Taktfrequenz arbeiten können und deshalb die Suchzeiten erträglich sind.
Im Gehirn kann eine solche Strategie keinesfalls realisiert sein, da die Zeitkonstanten, mit denen Neuronen
arbeiten, um viele Größenordnungen länger sind als die von Transistoren. Es muss also ein anderes Prinzip
verw irklicht sein. Es muss ein Speicherplatz konfiguriert w erden, in dem eine unvorstellbare Zahl von Inhalten
so gestapelt w erden kann, dass auf sie ein parallel strukturierter Suchprozess angew andt w erden kann,
sodass die Zugriffszeit nur unw esentlich von der Lage des zu suchenden Inhaltes abhängt. Bei einer seriellen
Anordnung w ie in den Speichern von Elektronenrechnern dauert die Suche nach Inhalten am Ende der Liste
naturgemäß länger als für solche, die am Anfang stehen. Dies scheint bei dem im Gehirn realisierten
Speicherprozess nicht der Fall zu sein. Es muss also ein Raum geschaffen w erden, der die Überlagerung einer
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sehr großen Zahl von Inhalten erlaubt und es ist leicht zu sehen, dass ein solcher Raum eine sehr hohe
Dimensionalität aufw eisen muss. Der dreidimensionale kartesianische Raum, in diesem Fall also eine
anatomisch segregierte Anordnung von Inhalten, scheidet aus. Hochdimensionale Räume können jedoch
erschlossen w erden, w enn die Zeit als Kodierungsdimension hinzugezogen w ird und der Raum durch distinkte
Zustände eines dynamischen Systems definiert w ird. In diesem Fall muss dafür gesorgt w erden, ein
dynamisches System zu erzeugen, dass eine sehr, sehr große Zahl unterschiedlicher Zustände annehmen
kann. Jedem dieser Zustände könnte dann ein ganz bestimmter Inhalt zugeordnet w erden. Es muss dann
lediglich eine Möglichkeit gefunden w erden, dass dieses System beim Eintreffen der Suchsignale, in unserem
Fall der Signale von Sinnesorganen, sehr schnell in den Zustand einschw ingt, der einem gespeicherten Inhalt
entspricht.
Die Arbeitshypothese, die w ir in Frankfurt seit geraumer Zeit verfolgen, geht davon aus, dass die
Großhirnrinde als ein dynamisches System verstanden w erden kann, das die geforderten Eigenschaften
aufw eist. Eines der dominierenden Verschaltungsprinzipien ist, dass Neuronengruppen in der Großhirnrinde
reziprok miteinander verbunden sind, sich also gegenseitig beeinflussen können. Wegen der riesigen Zahl von
Neuronen, die in einem bestimmten Hirnrindenareal miteinander w echselw irken können, entsteht eine
ungeheuer komplexe, hochdimensionale Dynamik, die den erforderlichen Kodierungsraum bereitstellen könnte.
Hinzukommt, und das ist eine Entdeckung, die w ir in Frankfurt vor mehr als zw anzig Jahren machten, dass
lokale Gruppen von Neuronen – die Knoten im Netzw erk – w ie Oszillatoren schw ingen können (Abb. 1). Dies
erhöht noch einmal mehr die Komplexität der möglichen Dynamik, da auch der Phasenraum zur Kodierung mit
genutzt w erden kann.
A bb. 1: (A ) Ein k la ssische s ne urona le s Ne tz, wie e s in vie le n
Muste re rk e nnungssyste m e n ve rwe nde t wird. Einga ngssigna le
we rde n a uf e ine Schicht von Ne urone n ve rte ilt und durch
dive rge nte Ve rscha ltunge n in Zie lne urone n re k om binie rt.
Da durch e ntste ht e in spe zifische s Ak tivitä tsm uste r, da s da nn
von Ausga ngsne urone n k la ssifizie rt wird. Die Ve rbindunge n
von de r Zwische nschicht a uf die Ausga ngsne urone we rde n
durch e ine n m a schine lle n Le rnvorga ng so ge wichte t, da ss a uf
e in ge ge be ne s Muste r in de r Zwische nschicht nur e in
be stim m te s Ne uron in de r Ausga ngsschicht e rre gt wird. (B) Die
Zwische nschicht wurde durch e in re k urrie re nd ge k oppe lte s
Ne tzwe rk e rse tzt. Die se s e ntwick e lt hoch k om ple x e ,
dyna m ische Zustä nde , die je doch na ch wie vor für die
Einga ngsm uste r spe zifisch sind. Die Ak tivitä t e inige r die se r
Ne tzwe rk k note n wird wie de rum a uf Ausga ngsne urone ve rte ilt,
die da nn e be nfa lls übe r e ine n Le rnvorga ng zu Kla ssifik a tore n
für die k om ple x e n Muste r a usge bilde t we rde n.
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Falls die Großhirnrinde tatsächlich hochdimensionale Dynamik nutzt, um den Abgleich von einlaufenden
Signalen mit gespeicherten Inhalten vorzunehmen, dann müssen eine Reihe von überprüfbaren Voraussagen
zutreffen. Bei der Formulierung dieser Voraussagen standen die Ergebnisse von theoretischen Arbeiten und
Simulationsstudien über künstliche neuronale Netzw erke Pate.
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Die Eigenschaften solcher Netzw erke w erden seit etw a einer Dekade untersucht, w eil sie w egen ihrer
hochdimensionalen
Dynamik
bestimmte
Vorteile
für
die
maschinelle
Klassifizierung
von
raumzeitlich
strukturierten Mustern aufw eisen. Diese informationsverarbeitende Strategie w urde unter dem Namen
reservoir computing bekannt. Wenn raumzeitlich strukturierte Eingangssignale an einige Knoten solcher
Netzw erke verteilt w erden, findet man, dass aufgrund der Wechselw irkungsdynamik die Information über den
verw endeten Reiz eine Weile gespeichert bleibt und dass sich die Aktivitätsmuster von sequenziell
dargebotenen Reizen überlagern, sodass zu einem bestimmten Zeitpunkt die Informationen über mehrere
Reize gleichzeitig verfügbar ist. Und schließlich erw eist sich, dass solche Systeme w egen der hohen
Dimensionalität ihres Zustandsraumes die Trennung und Klassifizierung von Eingangsmustern sehr erleichtern.
Bestätigte Voraussagen und Überraschungen
Ein Schw erpunkt unserer Arbeiten lag in den vergangenen Jahren darauf, die oben aufgeführten Voraussagen
zu testen. Hierzu ist es erforderlich, die Aktivität einer großen Zahl (>50) von Neuronen (Knoten) der
Großhirnrinde gleichzeitig zu erfassen, Sinnesreize darzubieten, die resultierende Netzw erkdynamik zu
analysieren und mit Hilfe von Methoden aus dem Bereich des maschinellen Lernens dahingehend zu prüfen, ob
reizspezifische Informationen in der raumzeitlichen Verteilung der neuronalen Aktivitätsmuster zu finden sind.
Um diese Messungen durchführen zu können, w erden Tieren in Vollnarkose haarfeine Elektroden in die
Großhirnrinde implantiert, über die später die Aktivität der Nervenzellen registriert w erden kann. Die hierbei
eingesetzten Verfahren ähneln im Detail jenen, die bei Patienten angew andt w erden, die aus diagnostischen
Gründen Elektroden implantiert bekommen oder um Hirnstrukturen zu reizen, w ie das bei der Therapie der
Parkinsonschen Erkrankung routinemäßig erfolgt. Die Messungen selbst sind schmerzfrei und bedeuten für die
Tiere keine w esentliche Einschränkung, da das Gehirn schmerzunempfindlich ist und die sehr feinen und
flexiblen
Elektroden
bei
sachgemäßer
Implantation
keine
Schäden
verursachen.
Mit
Hilfe
solcher
Untersuchungen konnten w ir im Laufe der letzten Jahre die oben aufgeführten Voraussagen bestätigen und
die eingangs formulierte Hypothese stützen (Abb. 2).
A bb. 2: Hie r wurde übe rprüft, ob sich a us de r Ak tivitä t von 60
zufä llig a usge wä hlte n Ne urone n de r Se hrinde e ine r Ka tze
rück schlie ße n lä sst, we lche r R e iz (A ode r D) zu Be ginn e ine r
Se rie von R e ize n (A/D, B, C ) da rge bote n wurde . R e chte
O rdina te : P roze ntsa tz de r richtige n Kla ssifizie runge n
(durchge zoge ne Linie ); Link e O rdina te : Ge m itte lte Ak tivitä t
de r Ne urone n (ge striche lte Linie ); Abszisse : Ze itve rla uf de r
R e izda rbie tung. Etwa 100 Millise k unde n na ch Da rbie tung de s
e rste n R e ize s lä sst sich m it fa st 100%ige r Siche rhe it a us de m
Erre gungsm uste r de r Ne urone n fe stste lle n, we lche s de r e rste
R e iz (A ode r D) wa r, und die se Inform a tion ist a uch na ch
Da rbie tung de s zwe ite n R e ize s (B) noch fa st vollstä ndig
e rha lte n. Erst na ch de m dritte n R e iz (C ) sink t die
Kla ssifizie rba rk e it a uf da s Zufa llsnive a u a b (gra ue s Ba nd).
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W ie so oft in der Grundlagenforschung zeigten die Daten aber auch vollkommen Unerw artetes. Es stellte sich
heraus, dass es im Verlauf der Untersuchungen zunehmend leichter w urde, die von den dargebotenen Reizen
erzeugten Aktivitätsmuster zu klassifizieren und den Reizen zuzuordnen (Abb. 3). Dies konnte nur bedeuten,
dass das kortikale Netzw erk bestimmte, reizspezifische Merkmalskombinationen gelernt und dem Fundus von
Vorw issen hinzugefügt hat. Offenbar bew irkte die w iederholte Darbietung der Reizmuster eine Veränderung
der Netzw erkeigenschaften, die ihrerseits dafür sorgten, dass die entstehenden hochdimensionalen Muster im
Netzw erk w eniger überlappten und deshalb besser voneinander unterscheidbar w urden. Diese Vermutung
erhält ihre direkte Bestätigung durch eine mathematische Analyse der respektiven Muster. Es zeigte sich
tatsächlich, dass sich die durch verschiedene Reize erzeugten Muster immer w eiter voneinander entfernten, je
öfter die Reize dargeboten w urden.
A bb. 3: Ve rgle ich de r Kla ssifizie rungsle istung zwische n frühe n
(dunk le Kurve ) und spä te n (he lle Kurve ) P ha se n de s
Ex pe rim e nte s. (#1-#3): Ve rschie de ne Tie re . Die
Kla ssifizie rungsle istung ve rbe sse rt sich, na chde m die R e ize
öfte r da rge bote n wurde n.
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Als Mechanismus für diese lernbedingten Veränderungen vermuten w ir eine aktivitätsabhängige Veränderung
der Effizienz der reziproken Verbindungen zw ischen den Knoten. Hinw eise für solche erfahrungsabhängigen
Veränderungen der synaptischen Effizienz eben dieser Verbindungen hatten w ir bereits vor Jahren in
Experimenten erhalten, bei denen die Ausw irkung von Umw eltreizen auf die Ausreifung der Großhirnrinde
untersucht w urde. Einen direkten und komplementären Hinw eis für das Vorliegen eines solchen Mechanismus
lieferte schließlich die Beobachtung, dass die neuronalen Netzw erke auch spontan und ohne jede Reizung die
Aktivitätsmuster erzeugen, die von oft gesehenen Reizen hervorgerufen w erden. Obgleich w eder antizipiert
noch gezielt gesucht, bilden diese zusätzlichen Befunde eine starke Stütze für die Hypothese, dass die
hochdimensionale Dynamik kortikaler Netzw erke tatsächlich genutzt w ird, um sensorische Signale mit
gespeicherten Vorw issen zu vergleichen und im Falle der Stimmigkeit zu klassifizieren.
Plausibilitätskontrollen durch Simulationen
Jetzt
stand
es
an
zu
klären,
ob
reizspezifische
Veränderungen
in
der
Stärke
der
reziproken
Koppelungsverbindungen zw ischen den Knoten tatsächlich eine Verbesserung der Klassifizierungsleistungen
solcher Netzw erke mit sich bringen. Hierzu haben Andreea Lazar und Jochen Triesch auf konventionellen
Rechnern rekurrent gekoppelte Netzw erke simuliert und die Koppelverbindungen mit adaptiven Synapsen
ausgestattet, die ihre Effizienz in Abhängigkeit von der Struktur der auftretenden Aktivierungsmuster
verändern können (Abb. 4).
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A bb. 4: Sche m a tische Da rste llung de s Effe k te s wie de rholte r
R e izda rbie tung in e ine m sim ulie rte n Ne tzwe rk . Die
ursprünglich gle ich e ffizie nte n Ve rbindunge n zwische n de n
Ne urone n im Ne tzwe rk we rde n e ntspre che nd de r
ve rschie de ne n R e ize ve rstä rk t (dick e Ve rbindunge n) ode r
a bge schwä cht (dünne ode r fe hle nde Ve rbindunge n), wodurch
die von ve rschie de ne n R e ize n induzie rte n, dyna m ische n
Muste r sich zune hm e nd vone ina nde r unte rsche ide n und
be sse r k la ssifizie rba r we rde n.
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Diese Modifikationen erfolgten nach Regeln, die bereits bei Untersuchungen von Lernvorgängen an realen
neuronalen Strukturen erarbeitet w orden w aren. Die simulierten Netzw erke mit adaptiven Verbindungen
w urden daraufhin mit unterschiedlichen Reizsequenzen aktiviert und
es
zeigte
sich, dass
sich die
Klassifizierungsleistung dieser sich selbst adaptierenden Netzw erke mit w iederholter Reizdarbietung, man
könnte auch sagen mit zunehmender Erfahrung, deutlich verbesserte und w eit über das hinaus ging, w as
konventionelle rekurrierende Netzw erke zu leisten vermögen. Diese Kongruenz von experimentellen und
simulierten Daten macht es
in unseren Augen sehr w ahrscheinlich, dass
in der Großhirnrinde
ein
Kodierungsprinzip verw irklicht ist, das sich deutlich von allen bisher entw eder postulierten oder in künstlichen
Systemen
realisierten
Musterverarbeitungsprozessen
unterscheidet.
Sollte
sich
diese
Vermutung
in
zukünftigen Untersuchungen bestätigen, w ären w ir einen Schritt w eiter im Verständnis der nach w ie vor
rätselhaften Funktion der Großhirnrinde. Vielleicht, so die Hoffnung, w ird uns das helfen, die ebenfalls
rätselhaften Mechanismen besser zu verstehen, die jenen psychischen Erkrankungen zu Grunde liegen, die
auf Störungen von Großhirnrindenfunktionen beruhen. Mit Sicherheit w ird es möglich sein, die gew onnenen
Erkenntnisse für die Entw icklung völlig neuartiger informationsverarbeitender Systeme zu nutzen.
Literaturhinweise
[1] Lazar, A.; Pipa, G., Triesch, J.
SORN: a self-organizing recurrent neural network
Frontiers in Computational Neuroscience 3:23 (2009)
[2] Nikolic, D.; Häusler, S.; Singer, W.; Maass, W.
Distributed fading memory for stimulus properties in the primary visual cortex
PLOS Biology 7: e1000260 (2009)
[3] Singer, W.
Cortical dynamics revisited
Trends in Cognitive Sciences 17: 616-626 (2013)
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