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Jahrbuch 2003/2004 | Herrmann, Bernhard G. | Regulatorische Netzw erke bei der Embryonalentw icklung der
Säuger
Regulatorische Netzwerke bei der Embryonalentwicklung der
Säuger
Regulatory networks during embryogenesis of vertebrates
Herrmann, Bernhard G.
Max-Planck-Institut für molekulare Genetik, Berlin
Korrespondierender Autor
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Die Entw icklung der Körperanlage mit ihren Organen w ird durch eine Vielzahl komplexer Regelmechanismen
gesteuert, die
einem streng
kontrollierten
Ablauf folgen. Am Anfang
dieser Ereigneisse
steht
die
Mesenchymbildung, ein Vorgang, der Ähnlichkeiten zur Metastasierung von Tumoren aufw eist. Mithilfe neuer
Verfahren
sollen
regulatorische
Netzw erke
aufgedeckt
w erden,
die
Mesenchymbildung
und
Gew ebedifferenzierung kontrollieren.
Summary
The development of the body anlage w ith its organs is controlled by a multitude of complex regulatory
mechanisms w hich follow a strict order. On top of these processes is the formation of mesenchyme, an event
w ith similarities to metastasis formation of tumors. Novel methods are utilized to unravel regulatory netw orks
controlling mesenchyme formation and tissue differentiation.
Die Entw icklung eines Embryos beginnt mit der Verschmelzung von Eizelle und Spermium. Der einzellige
Embryo fängt an, sich zu teilen und bildet einen Zellhaufen. Damit jedoch ein überlebensfähiger Organismus
heranw achsen kann, müssen sich die neuen Zellen in unterschiedlicher Weise entw ickeln und innerhalb des
entstehenden Körpers organisieren. Dies basiert auf einer Vielzahl komplexer Prozesse, die einem räumlich
und zeitlich streng kontrollierten Ablauf folgen.
Ein w ichtiger Schritt bei der Entstehung des neuen Organismus ist die Bildung der embryonalen Rumpfanlage.
Sie entsteht aus einem mehrschichtigen primitiven Epithel aus pluripotenten, sich teilenden Stammzellen.
Unter dem Einfluss verschiedener Signalmoleküle (W nt/β-Catenin, FGF oder TGFβ1/BMP) w ird ein Teil der Zellen
angeregt (induziert), sich aus dem Zellverband zu lösen und mesenchymale Eigenschaften anzunehmen, d.h.,
sie verlieren ihre abgerundete, epitheliale Form, w erden bew eglich und in die Lage versetzt, sich zu
unterschiedlichen Zelltypen zu entw ickeln (differenzieren).
Auch die Differenzierung der mesenchymalen Zellen w ird durch die Art der Signalmoleküle bestimmt, die auf sie
einw irken. Einige entw ickeln sich zu paraxialen Zellen, die später u.a. W irbelsäule und Muskulatur von Skelett
und Extremitäten bilden. Aus anderen entstehen z. B. Nieren und Gonaden, w ieder andere bilden Bauchdecke,
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Bauchfell und Bauchmuskulatur. Aus den im ursprünglichen Epithelverband zurückbleibenden Zellen entstehen
die Oberhaut und das Rückenmark.
Epithe lia l-m e se nchym a le Tra nsition (EMT) be i de r Bildung de r
Körpe ra nla ge . Unte r de m Einfluss von Signa lm ole k üle n
we rde n prolife rie re nde e pithe lia le Sta m m ze lle n a nge re gt,
Me se nchym zu bilde n, na ch fe stge le gte n Muste rn zu
diffe re nzie re n und Ge we be und O rga ne zu bilde n. Tum ore
e ntste he n hä ufig durch unk ontrollie rte s W a chstum e inze lne r
Epithe lze lle n, in de ne n die gle iche n Signa lwe ge k onstitutiv
a k tivie rt wurde n. Aus solche n e pithe lia le n Tum ore n k önne n
sich e inze lne Ze lle n durch EMT löse n und a n a nde re r Ste lle im
Körpe r Me ta sta se n bilde n. Da be i sind hä ufig wie de rum die
gle iche n Ge nproduk te be te ilt, wie be i de r EMT im Em bryo.
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Das Interesse der Abteilung Entw icklungsgenetik am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik gilt der
Regulation der frühen Ereignisse bei der Rumpfbildung. Zurzeit ist noch ungeklärt, w ie das Umschalten der
epithelialen Stammzellen vom Zellteilungs- in ein Differenzierungsprogramm kontrolliert w ird. Auch die
Gestaltänderung vom epithelialen zum mesenchymalen, motilen Zelltyp ist molekular nur ansatzw eise
bekannt, ebenso sind die Grundlagen für die Steuerung unterschiedlicher Differenzierungsprogramme und der
Übertragung von Positionsinformation auf die Zellen zu klären. Alle diese Prozesse finden gleichzeitig statt und
w erden von ein paar w enigen Signalkaskaden gesteuert.
Epithelial-mesenchymale Transition im Embryo versus Tumor
W ie beschrieben, w ird der Übergang vom epithelialen in den mesenchymalen Zustand bei der Bildung der
Rumpfanlage durch verschiedene Signalmoleküle gesteuert. Diese aktivieren die W nt/β-Catenin, FGF- und
TGFβ1/BMP-Signalketten. Ein w ichtiges Zielgen dieser Signalw ege ist Brachyury, ein T-Box-Transkriptionsfaktor.
Außerdem ist
das
Produkt
des Snail-Gens beteiligt, w elches als Transkriptionsrepressor agiert. Snail
unterdrückt die Expression (Bildung) von E-Cadherin, einem Zelladhäsionsprotein, das w esentlich an der
Aufrechterhaltung der epithelialen Struktur vieler Zellverbände beteiligt ist. Die Unterdrückung von E-Cadherin
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durch Snail spielt daher eine w ichtige Rolle bei der Bildung von Mesenchym aus epithelialen Zellverbänden. Die
Rolle von Brachyury bei diesem Prozess ist nur zum Teil verstanden, eine Beteiligung an der Kontrolle von Snail
gilt als w ahrscheinlich. Die Identifizierung der Zielgene beider Regulatoren w ird w esentlich zum Verständnis
der epithelial-mesenchymalen Transition (EMT) beitragen.
Über das
Verständnis
der embryonalen Vorgänge
hinaus
erw arten die
W issenschaftler von diesen
Untersuchungen w ichtige Hinw eise über die Entstehung und Metastasierung von Tumoren epithelialen
Ursprungs. Tumore entstehen durch unkontrolliertes Wachstum, das bedeutet, Zellen gehen aus einem
differenzierten, ruhenden Zustand in einen w achsenden (proliferierenden) Zustand über. Die gleichen
Signalketten, w elche die Mesenchymbildung im Embryo regulieren, sind auch bei vielen Tumoren konstitutiv
aktiv. Es besteht also eine deutliche molekulare Verbindung zw ischen beiden Prozessen.
Die Verbreitung von Tumoren im Organismus (Metastasierung) w eist ebenfalls Gemeinsamkeiten mit den
Vorgängen w ährend der Embryonalentw icklung auf. Metastasen entstehen durch das Herauslösen w eniger
Zellen aus einem epithelialen Tumor. Die Zellen verbreiten sich über Blut- oder Lymphsystem im Körper, siedeln
sich an anderen Stellen neu an und bilden neue Tumore. Das Herauslösen von Zellen aus einem Tumor kann
von Genen gesteuert w erden, die auch bei der Mesenchymbildung im Embryo w esentliche Bedeutung haben,
w ie z.B. Snail. Da dieser Prozess im Patienten kaum untersucht w erden kann, soll der Mausembryo als In-vivoModell zur Untersuchung der Metastasierung dienen.
Die Segmentierung der Rumpfanlage, Voraussetzung für die Bildung der Wirbelsäule
W ie erw ähnt, legt bereits die Qualität der Signale bei der Induktion von Mesenchym w ährend der
Rumpfbildung den w eiteren Differenzierungsw eg der Zellen fest. Aus den Zellen, die beiderseits des
Neuralrohrs, des späteren Rückenmarks, zu liegen kommen, entstehen die Vorläufer der W irbelsäule. Dazu
müssen die zunächst in zw ei Strängen vorliegenden Zellen segmental unterteilt w erden. In regelmäßiger
periodischer Abfolge entlang der Längsachse des Körpers entstehen die Somiten, epitheliale, fast kugelförmige
Strukturen mit anterior-posteriorer und dorso-ventraler Polarität. Aus der hinteren Hälfte eines und der
vorderen Hälfte des dahinterliegenden Somitenpaares geht jew eils ein W irbel hervor. Dazu w ird nur der
ventrale Anteil der Somiten, das so genannte Sklerotom verw endet. Aus dem dorsalen Teil entstehen Muskeln
und Unterhaut.
Die Entstehung der Somiten w ird durch das Zusammenspiel eines Oszillators (oder Segmentationsuhr) und
eines Gradienten kontrolliert. Der Oszillator besteht aus zw ei miteinander gekoppelten Signalkaskaden (W ntund Notch-Signalketten). Sie w erden durch negative Rückkopplungsmechanismen und schnellen Zerfall
zentraler Steuerungskomponenten einmal pro Segmentationszyklus (alle 90 - 120 Minuten) aktiviert und
inaktiviert. Da die Zielgene der Signalw ege dem Aktivierungs- / Inaktivierungsrhythmus entsprechend "an- und
ausgeschaltet" w erden, entsteht in regelmäßigen Abständen eine Grenzfläche zw ischen den Zellen, in denen
der Oszillator aktiv ist, und denen, in denen der Oszillator bereits abgeschaltet ist. An dieser Stelle w ird eine
Segmentgrenze induziert.
Die Aktivität des Oszillators ist von einem Signalmolekül (W nt3a) abhängig. Dieses w ird am kaudalen Ende des
Embryo gebildet und schw indet mit der Zeit in den präsomitischen Zellen, w ährend sich gleichzeitig die
Signalquelle
durch
kaudales
Wachstum
von
den
gebildeten
Zellen
entfernt.
Der
entstehende
Konzentrationsabfall im "Gew ebefeld" w ird als Gradient bezeichnet. W ährend eines Segmentationszyklus
"w andert" der Schw ellenw ert des W nt3a-Signals in Richtung des kaudalen Embryoendes. Der Abstand
zw ischen
Segmentgrenzen
w ird
also
durch
die
Dauer
eines
Segmentationszyklus
und
die
Zerfallsgeschw indigkeit des W nt3a-Signals bestimmt.
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9,5 Ta ge a lte r Ma use m bryo: Kopf und R um pf sind be re its
a nge le gt, de r Schwa nz wird a us de r Schwa nzk nospe (SK) durch
k a uda le Ve rlä nge rung (P fe il) ge bilde t. Die Se gm e nta tion ist
a nha nd de r Som ite n e rk e nnba r (P fe ile ); da s prä som itische
Me sode rm (P SM) a m k a uda le n Ende de s Em bryo ze igt a n,
da ss de r lum bo-sa k ra le Be re ich de s R um pfe s noch nicht
vollstä ndig se gm e ntie rt ist.
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Werkzeuge zur Erforschung regulatorischer Netzwerke der Embryonalentwicklung
1) Die Sichtbarmachung der Genaktivität im Embryo
Gene, die maßgeblich an regulatorischen Netzw erken beteiligt sind und w ichtige Vorgänge bei der
Embryonalentw icklung steuern, können durch verschiedene Ansätze identifiziert w erden. Als Hauptansatz der
Abteilung Entw icklungsgenetik w urde die Genexpressionsanalyse gew ählt. Regulatorische Gene sind sehr oft
gew ebespezifisch exprimiert, w erden also nur in bestimmten Zellgruppen oder Organanlagen aktiv. Die
restriktive Expression ergibt ein spezifisches Muster, das durch so genannte In-situ-Hybridisierung dargestellt
w erden kann. Dabei w ird die Boten-RNA, die von einem aktivierten Gen abgeschrieben w ird, im Embryo
sichtbar gemacht. Durch Expressionsanalyse tausender, idealerw eise aller Gene im Genom lässt sich die
Anatomie des Embryos auf molekularer Ebene w iderspiegeln. So kann die Beteiligung der meisten Gene, die
maßgeblich an der Kontrolle der Embryonalentw icklung beteiligt sind, dargestellt w erden. Aus den Daten
können Gengruppen erstellt w erden, die an Teilprozessen w ie Musterbildung, Gew ebedifferenzierung oder
Organbildung
beteiligt
sind
und
in
regulatorische
Netzw erke
eingeflochten
w erden.
Durch
Hochdurchsatzverfahren, die im Labor der Abteilung entw ickelt w urden, konnten etw a 10.000 Mausgene auf
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Aktivität im Embryo geprüft w erden. Sie stehen jetzt unmittelbar für eine Vielzahl funktioneller Untersuchungen
zur Verfügung (siehe unten).
Ge na k tivitä t im 9,5 Ta ge a lte n Ma use m bryo: Die Bote n-R NA
e inze lne r Ge ne wurde durch da s In- situHybridisie rungsve rfa hre n sichtba r ge m a cht. Die
Ha upte x pre ssionsorte sind: A) Schwa nzk nospe und C horda
dorsa lis, B) prä som itische s Me sode rm und Ne ura lrohr
e inschlie ßlich Ge hirn, C ) die poste riore n Hä lfte n de r Som ite n,
D) de r sk e le ttbilde nde Ante il de r Som ite n und drüse nbilde nde
Te ile de s Vorde rda rm s, E) de r m usk e lbilde nde Ante il de r
Som ite n und da s He rz, F) da s He rz, G) Blutge fä ße , H)
Blutze lle n, I) Hinte rhirn und R um pf, K) Ne ura lle iste nze lle n, L)
Ze lle n de s ze ntra le n und pe riphe re n Ne rve nsyste m s, M) de r
dorsa le Ante il von Hinte rhirn und R ück e nm a rk , N) die Anla ge n
de r vorde re n Glie dm a ße n, O ) die Uroge nita lle iste n (Anla ge n
für Nie re n und Gona de n) und Se ptum tra nsve rsum (Epica rd),
P ) Me sothe lium (Vorlä ufe r von Ba uchfe ll, Zwe rchfe ll,
He rzbe ute l e tc.), Q ) Da rm und O hrblä sche n.
© Ne idha rdt e t a l (2000), Me ch De v 98(1-2):77-94
Unter anderem hat die Abteilung die Mausorthologen der Gene, die sich auf dem Chromosom 21 des Menschen
befinden, untersucht. Patienten, die das Chromosom 21 in dreifacher Form tragen (Trisomie 21), entw ickeln
das Dow n-Dyndrom. Es ist durch eine Vielzahl von Fehlbildungen und Prädispositionen für Krankheiten
gekennzeichnet. Durch Expressionsanalyse der Chromosom 21-Gene in der Maus (Kooperation mit Dr. Yaspo,
Abt. Lehrach) konnten eine Reihe von Genen identifiziert w erden, die möglicherw eise ursächlich mit der
Pathogenese des Dow n-Syndrom in Beziehung stehen. Diese Kandidatengene w erden nun gezielt w eiteren
Funktionsanalysen unterzogen.
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2) Promoteranalysen - in silico und in vivo
Die Ergründung regulatorischer Netzw erke bei Teilprozessen der Embryonalentw icklung setzt voraus, dass
zumindest ein w esentlicher Teil der daran beteiligten Gene bekannt ist. In dem hier beschriebenen Ansatz
dient
die
Expressionsanalyse
embryonal exprimierter Gene, aus
denen
an
Teilprozessen
beteiligte
Gengruppen erstellt w erden, als Grundlage für die Analysen. Mitglieder von Gengruppen stehen in einer
hierarchischen Beziehung zueinander. Sie können zunächst in regulatorische Gene und potenzielle Zielgene
eingeteilt w erden. Dies kann mithilfe von bereits bekannten biochemischen Eigenschaften vieler Genfamilien
geschehen. Regulator/Zielgen-Beziehungen können mit bioinformatischen Programmen (Kooperation mit Abt.
Vingron) untersucht w erden, mit denen Promotersequenzen, also regulatorische
Gensequenzen, auf
Bindungsstellen für regulatorische Proteine durchsucht w erden. Diese bioinformatischen Werkzeuge w erden
zurzeit noch erprobt. Durch In-silico-Verfahren vorhergesagte Netzw erke müssen durch funktionelle Analysen
in vivo verifiziert w erden. Dazu w erden sow ohl Reportergenkonstrukte auf Aktivität der regulatorischen
Gensequenzen - w ildtyp bzw . in einzelnen Bindestellen mutiert - im Embryo getestet, als auch Gensubgruppen
auf Abhängigkeit von bestimmten regulatorischen Proteinen untersucht. Für letztgenannte Untersuchungen ist
die Entfernung der betreffenden Regulatoren durch Mutagenese nötig.
3) Mutagenese durch RNA-Interferenz Technologie
Die Funktion einzelner Gene in biologischen Prozessen kann nur durch Mutagenese-Verfahren ergründet
w erden. Dabei w ird z.B. untersucht, w ie sich der Verlust eines Gens auf den gesamten Organismus ausw irkt.
Die Entfernung einzelner Genfunktionen aus dem Gesamtorganismus mittels so genannter "Knock-out"Mutagenese in der Maus ist aufw ändig und langw ierig. Vor kurzem w urden jedoch neue Verfahren entdeckt,
mit deren Hilfe die Boten-RNA, die von einem aktiven Gen abgeschrieben w ird, selektiv zerstört w erden kann.
Auf diese Art ist es möglich, die Gesamtzeit der Analyse einzelner Gene von mehreren Monaten auf w enige
Wochen zu verkürzen. Das Verfahren w ird gegenw ärtig für die Anw endung an Mäusen und Mausembryonen
etabliert und getestet.
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