Halbmodalverben und Modalitätsverben im System

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1
Einleitung
1.1
Gegenstandsbereich und Problemstellung
Im Deutschen gibt es drei infinite Verbformen, für die Gunnar Bech in seinen Studien
über das deutsche verbum infinitum (1955 und 1957) die Bezeichnung „verbale
Status“ geprägt hat. Der 1. Status entspricht dem reinen Infinitiv (1a), der 2. Status
dem Infinitiv mit zu (1b) und der 3. Status dem Partizip II (1c).
(1)
a.
1. Status: Er muss einen Brief schreiben.
b. 2. Status: Er scheint einen Brief zu schreiben.
c.
3. Status: Er hat einen Brief geschrieben.
Zwischen dem finiten Verb und der infiniten Verbalphrase in (1a-c) besteht eine
Kopf-Komplement-Beziehung: Das finite Verb regiert den Status des infiniten Komplements. Statusrektion ist eine spezielle Art der Formrektion, sie ist in vielerlei
Hinsicht vergleichbar mit der Kasusrektion.
Statusregierende Verben werden in der Grammatikschreibung in zahlreiche verschiedene Klassen eingeteilt, wobei die Klassifikation oft sehr unterschiedlich ausfällt und
selten vollständig ist. Zur Klassifikation werden, je nach Ansatz und Ziel, formale
oder funktionale Eigenschaften herangezogen, gegebenenfalls auch in Kombination.
Beispiele für relativ klar abgrenzbare Klassen, die auch außerhalb der Forschung gut
bekannt sind, sind Auxiliarverben (sein, haben, werden, …), Modalverben (müssen,
dürfen, können, …) und Verben, die mit einem Accusativum cum Infinitivum (AcI)
auftreten (sehen, hören, fühlen, …). Bei diesen Klassen handelt es sich um mehr oder
minder grammatikalisierte, geschlossene Verbklassen.
Den grammatikalisierten Verbklassen stehen offene lexikalische Verbklassen gegenüber. In der Regel werden die Verben dieser Klassen als Vollverben bezeichnet. In
Bezug auf statusregierende Verben ergibt sich hier das Problem, dass Vollverben
vielerorts als Verben definiert werden, die als einziges Verb im Satz auftreten können.
Damit wären statusregierende Verben per definitionem keine Vollverben, und zwar
selbst dann nicht, wenn sie einer offenen, lexikalischen Klasse angehören, die keine
Merkmale einer Grammatikalisierung aufweist. Der hieraus entstehende Widerspruch
8
Kapitel 1: Einleitung
lässt sich durch eine weniger restriktive Definition des Begriffs „Vollverb“ auflösen,
wie sie sich in der IDS-Grammatik findet:
Verben im Sinne von Vollverben haben eine eigenständige Bedeutung, sie ist
syntaktisch fassbar durch einen eigenen Valenzrahmen und Selektionsbeschränkungen bezüglich der einzelnen Argumente des Valenzrahmens.
(IDS-Grammatik 1997: 1248)
Unter diese Definition fallen dann auch „Vollverben mit abhängigen (selegierten)
Infinitivkonstruktionen“ (IDS-Grammatik 1997: 1248).
Jedes statusregierende Verb ist entweder ein Kontroll- oder ein Anhebungsverb. Die
meisten statusregierenden Vollverben sind Kontrollverben. Die Unterscheidung zwischen Anhebung und Kontrolle findet sich noch nicht bei Bech (1955), sondern geht
auf Arbeiten der generativen Grammatik zurück. Sie findet sich bei Chomsky (1965)
und wird von Rosenbaum (1967) ausgearbeitet. Kontrollverben weisen jedem ihrer
syntaktischen Komplemente eine semantische Rolle zu. Anhebungsverben tun das
nicht: Sie haben (mindestens) ein syntaktisches Argument, zu dem sie keine semantische Beziehung eingehen. Dieses Argument steht semantisch nur in Beziehung zum
statusregierten Verb. Auch wenn die meisten statusregierenden Vollverben Kontrollverben sind und umgekehrt Kontrollverben in der Regel Vollverben sind: Einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Kontrolle und Vollverben gibt es nicht. Zum einen
werden einige Anhebungsverben zu den Vollverben gerechnet, etwa die AcI-Verben.
Für einige weitere Anhebungsverben ist unklar, ob sie eher dem Bereich der Vollverben zugerechnet werden sollen oder eher grammatische Funktionen übernehmen.
Zum anderen finden sich unter den Kontrollverben auch einige Modalverben, die
nicht zu den Vollverben gerechnet werden.
Die bisher genannten Klassen decken den Raum der statusregierenden Verben nicht
vollständig ab. Weitere Verbklassen, wie Infinitivverben, Partizipverben, Phasenverben, Modalitätsverben oder Halbmodalverben sind weniger gut bekannt. Es handelt
sich durchweg um kleine Klassen mit zum Teil ungewöhnlichen Eigenschaften, die
bislang kaum systematisch erforscht und von angrenzenden Klassen unterschieden
wurden. Als besonders problematisch erweisen sich hier die Modalitätsverben und
die Halbmodalverben. Sowohl Modalitätsverben (2) als auch Halbmodalverben (3)
verdanken ihren Namen dem Umstand, dass sie den Modalverben (4) ähneln.
(2)
a.
Das Angebot braucht nicht groß zu sein.
b. Er weiß zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.
1.1 Gegenstandsbereich und Problemstellung
(3)
a.
9
Das Angebot droht gering auszufallen.
b. Er scheint sich jetzt zu entscheiden.
(4)
a.
Das Angebot muss großzügig sein.
b. Er darf sich heute noch nicht entscheiden.
Die Ähnlichkeit wird insbesondere in der Semantik der Verben gesehen: Modalitätsverben und Halbmodalverben drücken verschiedene modale Aspekte im weitesten
Sinne aus. Darüber hinaus ähneln sie den Modalverben auch in einigen syntaktischen
Eigenschaften. Im Unterschied zu den Modalverben regieren sie jedoch nicht den 1.,
sondern den 2. Status.
Die Klasse der Modalitätsverben umfasst nach Engel (2004: 251-256) genau die
dreißig Verben unter (5). Engel (2004) zufolge zeichnen sich diese Verben durch eine
modale Semantik aus, sind subjektorientiert, regieren den 2. Status und lassen sowohl
kohärente als auch inkohärente Konstruktionen zu. Eine ähnliche Definition findet
sich auch in Bußmann (2002: 439).
(5)
Modalitätsverben nach Engel (2004)
anheben, es darauf anlegen, sich anschicken, nicht anstehen, sich
anstrengen, belieben, bleiben, brauchen, drohen, sich erbieten, sich
erfrechen, es fertig bringen, gedenken, geruhen, sich (ge)trauen, haben,
pflegen, scheinen, sein, (zu hoffen) stehen, suchen, (nicht) umhin können,
sich unterstehen, sich vermessen, vermögen, versprechen, verstehen,
wähnen, sich weigern, wissen
Entgegen Engels Definition enthält die Aufzählung nicht nur fakultativ kohärent konstruierende Verben, sondern auch eine stattliche Anzahl obligatorisch kohärent konstruierender Verben (beispielsweise haben, bleiben und vermögen). Außerdem finden
sich Verben mit obligatorischem Korrelativum, deren verbales Komplement extraponiert werden muss und die nur bedingt zu den statusregierenden Verben gezählt
werden können (es fertig bringen, es darauf anlegen). Dazu kommt mindestens ein
bevorzugt inkohärent konstruierendes Verb: Zum Verb sich anstrengen merkt Engel
an, dass eine kohärente Konstruktion („Mittelfeldstellung der Infinitivkonstruktion“)
„kaum möglich“ sei (Engel 2004: 252). Einige der Verben sind passivbildend, so
beispielsweise bleiben und sein. Auch die explizite Beschränkung auf die genannten
dreißig Verben bleibt unklar: Weshalb sind beispielsweise gedenken, sich trauen und
sich erbieten Modalitätsverben, nicht aber beabsichtigen, wagen oder anbieten?
Ausschlaggebend für den Ausschluss dieser Verben könnte sein, dass diese Verben
bevorzugt inkohärent konstruieren. Die Übergänge sind jedoch unscharf, klare Krite-
10
Kapitel 1: Einleitung
rien werden nicht genannt. Zudem wurde weiter oben bereits festgestellt, dass die
Klasse ohnehin nicht über einheitliche Kohärenzeigenschaften verfügt. Es ist daher
sinnvoll, nach einer einheitlicheren, stimmigeren Klassifikation dieses Bereichs der
statusregierenden Verben zu suchen.
Vier der von Engel (2004) zu den Modalitätsverben gerechneten Verben finden sich
bei Eisenberg (1999: 352-353) unter der Bezeichnung „Halbmodalverben“ wieder:1
(6)
Halbmodalverben nach Eisenberg (1999)
scheinen, drohen, versprechen, pflegen
Als Modalitäts- bzw. Halbmodalverben gelten diese vier Verben jeweils nur in ihrer
modalen Lesart, von Eisenberg illustriert durch die folgenden Beispiele (1999: 352):
(7)
a.
Karl scheint zu schlafen.
b. Renate pflegt mit dem Taxi zur Schule zu fahren.
c.
Diese Wand droht einzustürzen.
d. Der nächste Sommer verspricht schön zu werden.
Nach Eisenberg haben alle vier Halbmodalverben eine modale Semantik, sind subjektorientierte Anhebungsverben und konstruieren obligatorisch kohärent. Eine ähnliche
Definition findet sich in der IDS-Grammatik (1997: 1282-1285).
Die Klasse der Halbmodalverben ist damit sehr viel klarer definiert als die der Modalitätsverben. Dennoch ist auch die Definition dieser Klasse nicht ohne Probleme. Einige
betreffen die Abgrenzung der Klasse von anderen Verben, andere ihre Homogenität.
Erstens umfasst die Definition nicht nur die vier Halbmodalverben, sondern weitere
modale Verben wie sein, haben und brauchen. Letztere werden in der IDS-Grammatik der „Modalverbperipherie“ zugerechnet, aber von den Halbmodalverben unterschieden. Zweitens weisen die Halbmodalverben erhebliche semantische Unterschiede
auf – in der Semantik von drohen und versprechen spielen aspektuelle Anteile eine
wesentliche Rolle, und auch pflegen wird für gewöhnlich als habituelles oder aspektuelles (iteratives) Verb beschrieben. Aspektuelle Verben sind jedoch nicht im eigentlichen Sinne modal.2
1
2
In einigen Arbeiten werden beide Bezeichnungen synonym verwendet, beispielsweise in Schumacher u. a.
(Hrsg.) (2004) oder in Kiss (2005).
Als aspektuell fasse ich in dieser Arbeit solche Bedeutungsbestandteile auf, durch die die Situation, die das
eingebettete Verb denotiert, zeitlich zu der Situation in Relation gesetzt wird, auf die das statusregierende
Verb referiert. Letztere bezeichne ich auch als Referenzsituation. Temporale Bedeutungen liegen dagegen
dann vor, wenn die Referenzsituation zeitlich zur Äußerungssituation in Relation gesetzt wird.
1.2 Zielsetzung und Ergebnisse
11
Der dritte Problembereich betrifft syntaktische Unterschiede zwischen den Halbmodalverben. Sie unterscheiden sich sowohl in ihren Anhebungseigenschaften als auch darin,
welche weiteren, fakultativen Komplemente sie zulassen. Zudem lässt jedes der Verben
neben der Konstruktionsvariante als statusregierendes Anhebungsverb noch andere
Realisationsformen zu. Die verfügbaren Konstruktionsformen sind von Verb zu Verb
verschieden, vgl. (8).
(8)
a.
Es scheint, dass Karl schläft.
b. Gefahr droht (aus dieser Richtung nicht).
c.
Ihr Auftritt verspricht einiges für das Rennen am Samstag.
d. Er pflegt einen lockeren Umgang mit ihm.
Wenn die grundlegende semantische Konfiguration bei allen Halbmodalverben dieselbe ist, stellt sich die Frage, wie die genannten syntaktischen Unterschiede erklärt
werden können.
Das letzte Problem besteht schließlich darin, dass die in (8) genannten Konstruktionsformen der Verben derselben halbmodalen Lesart zuzurechnen sind. Obwohl die
infinitivlosen Konstruktionsformen weitgehend denselben semantischen Restriktionen unterliegen wie ihre Konstruktionsvarianten mit infinitem Komplement, sind sie
per definitionem aus der Klasse der Halbmodalverben ausgeschlossen.
Für ein besseres Verständnis der Halbmodalverben ist also nicht nur zu klären, welche
semantischen Gemeinsamkeiten dazu führen, dass diese Verben als Anhebungsverben
realisiert werden können, sondern auch, ob und wie die Unterschiede in der syntaktischen Realisation auf semantische Unterschiede zurückgeführt werden können. In
Bezug auf die Realisation mit nominalen Argumenten sieht man sich zudem vor das
Problem gestellt, dass drei der Verben in verschiedenen Konstruktionsformen über
nominale Argumente verfügen, deren semantische Funktion im Rahmen der modalen
Theorie nur unzureichend beschrieben werden kann.
1.2
Zielsetzung und Ergebnisse
Beginnend mit Bech (1955 und 1957) hat es zahlreiche umfangreiche Forschungsarbeiten zur infiniten Komplementation gegeben. Die Eigenschaften der Auxiliar-,
Modal- und Kontrollverben sind relativ gut bekannt. Weitgehend unstrittig ist zudem,
dass die Rektion des 1. und 3. Status relativ eng an grammatikalische Funktionen gebunden ist (Tempus, Passiv, Modalität). Im Bereich des 2. Status finden sich jedoch
eine Vielzahl konkurrierender Verbklassenbezeichnungen und -definitionen. Genannt
12
Kapitel 1: Einleitung
werden hier unter anderem Halbmodalverben, Phasenverben, Modalitätsverben und
Kontrollverben, Verben der Modalverbperipherie, Infinitivverben, Partizipverben und
Phasenverben. Die Klassen werden dabei intensional und extensional unterschiedlich
definiert. In der Regel wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, und die syntaktische und semantische Klassenbildung wird selten systematisch in Bezug zueinander
gesetzt.
Im Bereich der Kontrollverben gibt es zwar einige Untersuchungen, die sich auf semantische Aspekte konzentrieren, wie beispielsweise Pollard/Sag (1994) oder Jackendoff/
Culicover (2003) für das Englische oder Siebert-Ott (1983) und Eisenberg (1999) für
das Deutsche. Diese Untersuchungen haben jedoch vornehmlich das Ziel, zu zeigen,
dass Kontrolle keine strukturelle Eigenschaft komplexer sprachlicher Ausdrücke ist,
sondern eine semantische Eigenschaft statusregierender Verben. Daher beschränken
sie sich auf einige exemplarische Verben jeder Orientierung, ohne den gesamten
Bereich systematisch syntaktisch und semantisch zu klassifizieren.
Insgesamt ist also unser Verständnis der Verbklassifikation im Bereich der Rektion des
2. Status noch immer unzureichend. Dies gilt ganz besonders für Verben mit modalen
Bedeutungsbestandteilen, wie etwa die Modalitäts- und Halbmodalverben. Einen Teil
dieser Lücke soll diese Arbeit schließen.
Betrachtet man die Rektion des 2. Status genauer, so fällt auf, dass sich auch hier nur
eine begrenzte Anzahl semantischer Klassen findet. Da der Unterschied zwischen
Kontroll- und Anhebungsverben aus ihren semantischen Eigenschaften resultiert, ist es
sinnvoll, die semantische Analyse für Kontroll- und Anhebungsverben weitgehend
voneinander zu trennen (vgl. Kapitel 4). Aspektuelle und die meisten modalen Verben
werden als Anhebungsverben realisiert, wenn sie keine weiteren Bedeutungsbestandteile aufweisen. Bestimmte Arten der Modalität – nämlich Abilition und
Intentionalität – erzeugen dagegen Kontrollstrukturen. Um die übrigen Kontrollverben
semantisch einzuordnen, genügen drei semantische Klassen: Einstellungsverben,
Sprechaktverben und Verben der Instruktion oder Assistenz. Die folgende Grafik gibt
einen Überblick über die Ergebnisse der semantischen Klassifizierung (vgl. Kapitel 5):
(9)
2. Status
Kontrolle
Einstellungen
Sprechakte
Anhebung
Instruktion
Assistenz
Modalität
Modalität
Aspekt
1.2 Zielsetzung und Ergebnisse
13
Demnach ist nicht nur die Rektion des 1. oder 3. Status funktional eng eingeschränkt,
sondern auch die Rektion des 2. Status. Auch wenn sich die Rektion des 2. Status
damit insgesamt als etwas vielfältiger herausstellt als die der anderen beiden Status,
wird klar, dass formale und funktionale Eigenschaften in engem Bezug zueinander
stehen. Ordnet man die Ergebnisse der semantischen Klassifikation in ein syntaktisches Raster ein, wird das Zusammenspiel syntaktischer und semantischer Eigenschaften deutlich (vgl. Abschnitt 5.4, S. 208):
N:A
N:N
Anh.
N:D
Verteilung syntaktischer und semantischer Merkmale
Anh.
passivierend
Tabelle 1:
A:N
3. Status
Rezipientenpassiv
1. Status
aspektuell/
ereignismodal
2. Status
aspektuellereignismodal
temporal
temporal
aspektuell
modal
modal
perzeptiv
propos.modal mit
Sprechaktanteil
N:N
D:N
–:N
abilitiv
Kontrolle
A:N
aspektuell
Kommentar
abilitiv
intentional/volit.
(teilw. aspektuell)
Sprechakt
intentional
intentionaldirektional
(teilw. Sprechakt)
Sprechakt
themenbezogen/
direktional
(teilw. intentional)
assert. Sprechakt
Einstellungen
?:N
[+ obligatorisch kohärent]
[- oblig. kohärent]
Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt im Bereich modaler Verben, die den
2. Status regieren. Hier gibt es verschiedene, sich überlappende Klassenbezeichnungen:
Modalitätsverben, Halbmodalverben, Modalverbperipherie. In Abschnitt 1.1 wurde
bereits erläutert, welche Schwierigkeiten sich hinsichtlich der Definitionen dieser
Klassen ergeben: Modalitätsverben bilden weder semantisch noch syntaktisch eine
homogene, abgeschlossene Klasse. Die Halbmodalverben sind zwar syntaktisch weitgehend homogen, semantisch jedoch nicht klar definiert. Auch der Übergang zwischen
Halbmodalverben und Modalverbperipherie ist nicht eindeutig bestimmt. In Abschnitt
4.6 wird die in Abschnitt 1.1 vorgebrachte Kritik an den Modalitätsverben weiter
14
Kapitel 1: Einleitung
ausgebaut sowie eine semantische Klassifikation der modalen Kontrollverben vorgeschlagen, die diese Probleme überwindet. Kapitel 6 untersucht die Klasse der Halbmodalverben (scheinen, drohen, versprechen und pflegen) eingehend unter Bezugnahme auf zahlreiche Korpusbelege. Vor dem Hintergrund des in Kapitel 5 vorgestellten Klassifikationsschemas wird gezeigt, dass es sich um eine syntaktisch und
semantisch homogene Klasse handelt, die sich von angrenzenden Verbklassen hinlänglich abgrenzen lässt. Ihre semantische Funktion wird als monofunktional propositionsmodal bestimmt. Dabei führt die jeweilige semantische Ausprägung der Verben zu
kleineren Abweichungen in der syntaktischen Realisierung. Einige weitere Unterschiede in der Verwendung der Halbmodalverben lassen sich – unter anderem anhand
von Korpusdaten – auf Interferenzen zurückführen, die sich aus der großen semantischen Nähe zwischen den Halbmodalverben drohen und versprechen und den homonymen Sprechaktverben ergeben.
1.3
Aufbau
Die vorliegende Arbeit umfasst – einschließlich dieser Einleitung – sieben Kapitel. In
Kapitel 2 gebe ich zunächst einen Überblick über wichtige syntaktische Eigenschaften
statusregierender Verben. Behandelt werden die Statusrektion selbst, die Orientierung
der Verben, Anhebung und Kontrolle sowie die Kohärenzeigenschaften verbaler
Konstruktionen. Der Unterschied zwischen Anhebung und Kontrolle ist zwar, wie in
Kapitel 4 gezeigt wird, primär semantisch, hat jedoch Einfluss auf die Argumentstruktur und damit auch auf die syntaktische Realisation der Verben. Die formale
Analyse statusregierender Verben im Rahmen der nicht-transformationellen HeadDriven Phrase Structure Grammar (HPSG) (Pollard/Sag 1994) wird eingeführt und
mit transformationellen Analysen verglichen.
Modalität spielt eine wichtige Rolle in der Semantik vieler statusregierender Verben;
die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Modalität ist relevant für die
natürliche Klassenbildung in diesem Bereich. Modalverben, d. h. modale Verben, die
den 1. Status regieren, sind relativ gut untersucht. Weniger gut untersucht sind dagegen modale Verben, die den 2. Status regieren, wie die Modalitäts- und Halbmodalverben. Die Analyse ihrer Semantik (Kapitel 4 bzw. 6) setzt voraus, dass zuvor zentrale
Fragen im Zusammenhang mit modalen Subkategorien und ihrer formalen Behandlung
geklärt werden. Im 3. Kapitel gebe ich deshalb zunächst einen Überblick über verschiedene Arten der Modalität und stelle dann den prominentesten Vorschlag zur
Behandlung von Modalität in der formalen Semantik vor: den Ansatz von Kratzer
(1991). Nach diesem Ansatz ist die Semantik modaler Verben unabhängig von der Art
1.3 Aufbau
15
der ausgedrückten Modalität. Modale Verben operieren auf propositionalen Argumenten und quantifizieren über mögliche Welten. Unterschiede zwischen verschiedenen Arten der Modalität entstehen durch kontextuell festgelegte Redehintergründe:
die Modalbasis, die die zugänglichen Welten einschränkt, und die Ordnungsquelle,
die diese Welten zueinander ordnet. Kratzers Analyse wird anschließend in die HPSG
integriert. Die HPSG verfügt zwar grundsätzlich über die Mittel, Kratzers Analyse der
Modalausdrücke einzubinden, dazu sind jedoch einige Erweiterungen und Anpassungen der in Pollard/Sag (1994) eingeführten Sorten und Merkmale notwendig.
Darüber hinaus werden drei Probleme des Ansatzes von Kratzer (1991) behandelt:
Zum einen wird gezeigt, dass die Konstruktion epistemischer Modalbasen nicht vom
Sprecher abhängt, sondern von einer kontextuell verschiebbaren Origo. Zweitens
behandelt Kratzer Evidentialität als eine epistemische Subkategorie und vertritt damit
eine Auffassung, die den Unterschieden zwischen beiden Arten der Modalität nicht
gerecht wird. Es wird gezeigt, dass evidentielle Redehintergründe keine Ordnungsquellen bilden, sondern Modalbasen. Drittens sagt der Ansatz die (eingeschränkte)
Kombinierbarkeit verschiedener Arten von Modalität nicht korrekt voraus. Es wird
eine Lösung skizziert, nach der unterschiedliche Arten der Modalität unterschiedliche
Argumente modalisieren, die als Informationen bzw. Sachverhalte bestimmt werden.
Vielleicht die wichtigste Unterscheidung im Bereich der statusregierenden Verben ist
die zwischen Anhebungs- und Kontrollverben (Abschnitt 2.4). Im vierten Kapitel
wird die Semantik der Kontrollverben untersucht. Anders als Anhebungsverben, die
vorwiegend grammatikalische Funktionen realisieren und selten sind, gehören
Kontrollverben verschiedenen offenen Klassen an und sind entsprechend zahlreich.
Dennoch lässt sich nur ein bestimmter semantischer Ausschnitt des verbalen Bereichs
als Kontrollverb realisieren: Neben abilitiven und intentionalen Verben finden sich
hier ausschließlich Verben, die Einstellungen, Sprechakte, Assistenzen oder Instruktionen bezeichnen. Ausgehend von dieser Beobachtung wird in Kapitel 4 die These
vertreten, dass Semantik und Kontrolle so eng miteinander verwoben sind, dass sich
die Kontrolleigenschaften unmittelbar aus der Semantik des jeweiligen Verbs vorhersagen lassen. Die dargestellte semantische Kontrolltheorie bezieht sich nur auf von
verbalen Köpfen regierte infinite Komplemente und ist angelehnt an die semantischen
Kontrolltheorien von Pollard und Sag (1994, vgl. auch Sag/Pollard 1991) und Jackendoff/Culicover (2003) bzw. Culicover/Jackendoff (2005: Kap. 12). Sie unterscheidet
sich von den genannten Ansätzen im Wesentlichen in zwei Punkten: Zum einen
werden alle relevanten Kontrollverbklassen nach eindeutigen semantischen Kriterien
bestimmt, aus denen sich auch ihre Kontrolleigenschaften ergeben. Das jeweils kon-
16
Kapitel 1: Einleitung
trollierende Argument kann aus der Semantik des jeweiligen Kontrollverbs abgeleitet
werden, wird aber zusätzlich von kontextuellen Faktoren beeinflusst. Zweitens wird
gezeigt, dass der Kontrolleur einiger Verbklassen (wie etwa der assertiven Verben)
ausschließlich auf Basis von kontextuellen Faktoren festgelegt wird, d. h. aus der
Verbsemantik folgt in diesen Fällen weder Agens- noch Adressatenkontrolle. In allen
Fällen – auch bei einer kontextuell bedingten Interpretation – muss das kontrollierte
Subjekt mit einem semantischen Argument des kontrollierenden Prädikats koindiziert
sein. Diese semantische Indizierungsbeschränkung ist die einzige nicht unmittelbar
aus der jeweiligen Semantik des Verbs ableitbare Beschränkung.
In Kapitel 5 werden die in Kapitel 2 bis 4 erarbeiteten Ergebnisse in ein Klassifikationsschema zusammengeführt. Dazu werden zunächst die syntaktischen Eigenschaften statusregierender Verben auf ein tabellarisches Schema abgebildet, in das
anschließend semantische Klassen eingeordnet werden. Daraus resultiert eine strukturierte Übersicht über die Syntax und Semantik statusregierender Verben, die eine
vollständige syntaktische und semantische Klassifikation des Bereichs ermöglicht
(vgl. Abschnitt 1.2). Aus dieser Darstellung lässt sich schnell ersehen, welche Generalisierungen sich im Bereich der statusregierenden Verben ergeben. Bei einer Einordnung der in der Grammatikschreibung üblichen Klassenbezeichnungen zeigt sich
unter anderem, dass die Klassifizierung im Bereich der modalen Verben, die den
2. Status regieren, Defizite aufweist. Zu den betreffenden Verbklassen gehören die
Modalitätsverben, die Halbmodalverben und die Modalverbperipherie. Die Klasse der
Modalitätsverben umfasst die beiden anderen Klassen, die sehr viel kleiner sind. Außer
den Halbmodalverben und den Verben der Modalverbperipherie gehören zu den
Modalitätsverben ausschließlich Kontrollverben. Sie können natürlichen Klassen
zugeordnet werden, die sich aus der semantischen Analyse in Kapitel 4 ergeben.
Den Halbmodalverben widmet sich Kapitel 6. Den Ausgangspunkt bildet Eisenbergs
Definition dieser Klasse: Halbmodalverben sind modale Anhebungsverben, die den
2. Status regieren und obligatorisch kohärent konstruieren (Eisenberg 1999: 352353). Es wird untersucht, inwieweit Halbmodalverben eine syntaktisch-semantisch
kohärente Klasse bilden und inwieweit diese Klasse von benachbarten Klassen –
insbesondere von den Verben der Modalverbperipherie, die ebenfalls modale Anhebungsverben sind – abgrenzbar ist. Es wird gezeigt, dass die Halbmodalverben monofunktionale, propositionsmodale Operatoren sind und eine natürliche Klasse bilden.
Die formale Repräsentation der Ergebnisse erfolgt auch hier im Rahmen der HPSG.
Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Halbmodalverben drohen und versprechen.
An ihnen wird deutlich, dass Halbmodalität ein semantisches Phänomen ist, das sich
1.4 Methodische Grundlagen
17
zwar in der spezifischen syntaktischen Form als Anhebungsverb realisieren kann, das
aber durchaus auch andere syntaktische Realisationsformen zulässt. Im Fall von
drohen und versprechen existieren neben den Varianten als Anhebungsverb die bereits
in Abschnitt 1.1 erwähnten Varianten mit nominalen Komplementen. In Abschnitt
6.6 werden die nominal komplementierten Varianten von drohen und versprechen
untersucht und zu den statusregierenden Varianten in Relation gesetzt. Dabei stellt
sich heraus, dass Eigenschaften wie Kohärenz und Anhebung nicht auf den Bereich
der infiniten Komplementation beschränkt sind.
Im abschließenden Kapitel 7 findet sich eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie
ein Ausblick auf verwandte Bereiche und ungelöste Fragen.
1.4
Methodische Grundlagen
Eine grundlegende Annahme dieser Arbeit ist die, dass sich unterschiedliche Bedeutungen in vielen Fällen aus einer gemeinsamen, einfach gehaltenen Grundbedeutung
ableiten lassen. Diese Auffassung gewinnt seit der Einführung einer formalen Pragmatik zunehmend an Einfluss, beginnend mit der Entwicklung der Implikaturentheorie
durch Grice in den 60er Jahren (Grice 1989, zuerst veröffentlicht in 1969).
Wie eine semantische Theorie auszusehen hat, die den Idealen der Einfachheit und
Allgemeingültigkeit verpflichtet ist, ist noch nicht geklärt. In den letzten Jahren
wurden verschiedene neue semantische Theorien auf den Weg gebracht, die auf der
Annahme beruhen, dass sich die in der konkreten Verwendung realisierte Bedeutung
eines sprachlichen Ausdrucks (die sogenannte aktualisierte Bedeutung) aus merkmalsarmen Lexikoneinträgen ableiten lässt. Die Ableitung erfolgt durch eine kontextuelle
Anreicherung, für die semantische und pragmatische Regeln zu formulieren sind. In
bestimmten Fällen sind auch kontextuelle Verarmungen oder Übertragungen möglich.
Beispiele für solche minimalistischen semantischen Theorien sind Jaszczolts Default
Semantics (2005), Borgs Minimal Semantics (2004), Veltmans Update Semantics
(1996, Groenendijk/Stokhof/Veltman 1996) oder Blutners Lexical Pragmatics (1998,
2009; Wilson 2003).
Den semantischen Analysen dieser Arbeit liegt eine verarmte Merkmalsemantik zugrunde. Sie fühlt sich keinem der genannten Ansätze im Detail verpflichtet, teilt jedoch
die Auffassung, die ihnen allen gemein ist: Es gilt, Bedeutungsvariationen, die sich aus
kontextuellen Faktoren ergeben, aus der lexikalisch-semantischen Beschreibung auszuklammern und Variationen auf Basis von lexemunabhängigen, regelbezogenen Faktoren zu erklären. Aktualisierte Bedeutungen werden durch semantisch-pragmatische
18
Kapitel 1: Einleitung
Anreicherung aus minimalen, „verarmten“ lexikalischen Einträgen abgeleitet. Nur notwendige semantische Merkmale werden als Bestandteil der lexikalischen Bedeutung
eines Lexems angesehen. Mehrfach wird anhand von semantischen Tests überprüft,
ob es sich bei bestimmten Merkmalen um notwendige Bestandteile der lexikalischen
Bedeutung eines Ausdrucks handelt oder um Eigenschaften, die wir aufgrund unseres
Weltwissens mit einem Ausdruck assoziieren bzw. kontextuell, zum Beispiel durch
pragmatische Schlussfolgerungen, hinzufügen.3
Ein Kontext wird hier als eine Menge von Informationen über die sprachliche und
außersprachliche Äußerungssituation aufgefasst, die zur vollständigen Auflösung von
solchen Ambiguitäten und Vagheiten notwendig sind, die nach einer vollständigen
grammatikalischen und lexikalischen Analyse eines beliebigen Ausdrucks verbleiben
können. Dazu gehören beispielsweise solche Informationen, die für die Indizierung
deiktischer Ausdrücke und nicht grammatikalisch gebundener Anaphern relevant
sind, sowie auch Annahmen über die Beschaffenheit der aktuellen Welt. Zur Interpretation eines konkreten Ausdrucks wird in der Regel nur ein Bruchteil der Kontextinformationen herangezogen.
Semantische Analysen entlang der genannten Grundsätze finden sich an verschiedenen
Stellen dieser Arbeit. So hat es sich in der modalen Semantik schon seit längerem
etabliert, Bedeutungsunterschiede zwischen verschiedenen modalen Lesarten allein
durch die Zuweisung unterschiedlicher Redehintergründe zu erklären. Polyfunktionalität, d. h. die Fähigkeit, kontextuell bedingt zwischen verschiedenen Lesarten zu variieren, wird dabei als eines der definierenden Merkmale von Modalverben angesehen.
Diese Analyse wird in Kapitel 3 aufgegriffen und ausgebaut. In Kapitel 4 wird eine
semantische Kontrolltheorie entworfen, die ohne eine lexembezogene Verankerung
von Kontrolleigenschaften auskommt. In Kapitel 6 werden unter anderem verschiedene Varianten der Verben drohen und versprechen miteinander verglichen. Es wird
gezeigt, dass diese Varianten im Kern dieselbe Semantik aufweisen und dass dies
unabhängig ist von ihrer aktuellen Lesart als Halbmodal- oder Sprechaktverb.
Die formale Repräsentation der syntaktischen und semantischen Analysen erfolgt im
Rahmen der HPSG.
Die syntaktische und semantische Analyse der Halbmodalverben (Kapitel 6) erfolgt im
Wesentlichen anhand von empirischen Sprachdaten. Die Daten entstammen dem zu
3
Als besonders hilfreich erweist sich hier der “Ranking Test with ‘But’” von Bendix (1966), der auf S. 69
ausführlich erläutert wird und in dieser Arbeit mehrfach zur Anwendung kommt (vgl. S. 69, 140, 144 und
225).
1.4 Methodische Grundlagen
19
Forschungszwecken frei zugänglichen virtuellen Korpus „W-öffentlich“, einem Ausschnitt aus dem Deutschen Referenzkorpus DeReKo des Instituts für deutsche Sprache
Mannheim. Dieses Korpus umfasste zum Zeitpunkt der Untersuchung 116 schriftliche
Einzelkorpora mit einem Umfang von insgesamt mehr als 2,29 Mrd. Token. Neben
Zeitungstexten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz finden sich darunter
auch Sach- und Fachbücher sowie belletristische Werke. Abgedeckt ist der Zeitraum
von 1772 bis 2008, den größten Anteil stellen Zeitungstexte der letzten Jahre. Die
Recherche erfolgte über das Korpusrecherchesystem COSMAS II, die Kollokationsanalysen in Abschnitt 6.6 wurden mit Hilfe des in COSMAS II integrierten Kookkurrenzanalyseprogramms (Belica 1995) durchgeführt.
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