Veröffentlichungsreihe der Abteilung Institutionen und sozialer Wandel des Forschungsschwerpunktes Sozialer Wandel, Institutionen und Vermittlungsprozesse des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung FS HI 93-202 Eine Metatheorie des demokratischen Prozesses Dieter Fuchs Berlin, Mai 1993 Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D-1000 Berlin 30, Telefon: (030) 25 491-0 Zitierweise: Fuchs, Dieter, 1993: Eine Metatheorie des demokratischen Prozesses. Discussion Paper FS HI 93-202. Wissenschaftszentrum Berlin. Gliederung 1. Problemkontext 2. Der Begriff der Metatheorie und metatheoretische Grund annahmen 13 3. Systemtheorie und Handlungstheorie 20 4 Ein Modell des demokratischen Prozesses 4.1 27 Abfolge von Handlungsprodukten 27 4.2 Binnendifferenzierung des politischen Systems 40 4.2.1 Differenzierung in drei Subsysteme 40 4.2.2 Die kollektiven Akteure der drei Subsysteme 47 4.2.2.1 Die kollektiven Akteure des Regierungssystems 47 4.2.2.2 Die kollektiven Akteure des intermediären Systems 50 4.2.2.3 Die kollektiven Akteure des Publikumssystems 53 4.2.2.3.1 Die Staatsbürger , 53 4.2.2.3.2 Die Massenmedien 60 4.2.2.3.3 Die Interessengruppen 67 4.3 Generalisierte Handlungsorientierungen 74 4.3.1 Generalisierte Handlungsorientierungen des politischen Systems insgesamt Generalisierte Handlungsorientierungen in den drei Subsystemen Variationen des Prozeßmodells 4.4 6. ... Der demokratische Prozeß als eine 4.3.2 5. 1 Ein Begriff politischer Strukturen 74 79 82 .. • 87 5.1 Der Strukturbegriff von David Easton 87 5.2 Strukturen als generalisierte und komplementäre Verhaltenserwartungen 92 Politische Strukturen und politische Performanz 100 Literatur 109 Zusammenfasstang Die Metatheorie des demokratischen Prozesses ist ein begrifflicher Bezugsrah­ men zur empirischen Analyse der demokratischen Prozesse in den liberalen Demokratien. Ausgehend von bestimmten metatheoretischen Grundannahmen wird ein Modell des demokratischen Prozesses entwickelt. Dieses enthält u.a. eine Abgrenzung von drei Subsystemen des politischen Systems und eine Bestimmung der relevanten kollektiven Akteure dieser drei Subsysteme. Zur theoretischen Vorbereitung der empirischen Erklärung unterschiedlicher Pro­ zeßphänomene durch unterschiedliche strukturelle Arrangements liberaler Demokratien wird zudem ein Konzept politischer Strukturen und politischer Perform anz vorgeschlagen. Abstract The metatheory on the democratic process poses a conceptual framework for the empirical analysis of democratic processes in liberal democracies. A model of democratic processes is being developed which proceeds from certain metatheoretical presuppositions. It, inter alia, distinguishes between three subsy­ stems of the political system and defines their relevant collective actors. Moreover, a concept of political structures and political performance is being suggested to theoretically provide for an empirical explanation of diverse pro­ cess phenomena by different structural arrangements in liberal democracies. 1 1. Problemkontext 1 Die allgemeine Fragestellung der Abteilung "Institutionen und sozialer Wandel" des WZB bezieht sich auf die Fähigkeit der politischen Institutionen der modernen Gesellschaften, die Probleme, die durch den Wandel dieser Gesellschaften erzeugt worden sind, angemessen aufzunehmen und zu verar­ beiten. Diese Fähigkeit ist in einer ganzen Reihe von theoretischen Diagnosen bezweifelt worden. In dem Maße, in dem diese Zweifel auch empirisch haltbar sind, stellt sich die Frage nach funktionalen Äquivalenten einzelner Institutio­ nen oder institutioneller Arrangements, die eine höhere Problemlösungskapa­ zität aufweisen. Wir wollen im folgenden in einem ersten Schritt die konkrete und aktuelle Bedeutung dieser allgemeinen Fragestellung durch eine kurze Darstellung der wichtigsten theoretischen Diagnosen deutlich machen. Vor die­ sem Hintergrund soll dann in einem zweiten Schritt die Notwendigkeit einer Metatheorie des demokratischen Prozesses als eine Bedingung der Analyse der in diesen theoretischen Diagnosen aufgeworfenen Frage begründet werden. Die angezielte Metatheorie ist also eine Voraussetzung solcher Analysen und noch nicht diese selbst. Bei den theoretischen Diagnosen dominierte seit etwa Mitte der siebziger Jahre die Hypothese einer strukturbedingten Schließung der politischen Entscheidungsprozesse gegenüber neuen Ansprüchen der Staatsbürger, die sich als 2 Folge der weitergehenden Modernisierung ergeben haben . Unter diesen Ansprüchen wurden - zumindest innerhalb der empirischen Sozialforschung vor allem solche verstanden, die sich im Rahmen der Entstehung postmateriali1 Für eine konstruktive Kritik einer 1. Fassung des Papiers und für hilfreiche Hinweise danke ich den Kollegen des Schwerpunktes "Sozialer Wandel, Institutionen und Vermittlungsprozesse" des WZB und Klaus von Beyme, der im Jahre 1 9 9 2 / 9 3 Gastprofessor dieses Schwer­ punktes war. 2 Eine vergleichbare Diskussion gab es bereits in den sechziger Jahren, die allerdings aus einer ganz anderen theoretischen Perspektive erfolgte. Der Bezugspunkt der Hypothese einer strukturbedingten Schließung des politischen Systems gegenüber Ansprüchen aus der Gesellschaft waren hier weniger bestimmte Interessen, sondern Interessen bestimmter sozialer Gruppen. Siehe dazu unter anderem Bachrach und Baratz (1962,1963) und Offe (1969). 2 stischer Wertorientierungen (Inglehart 1977, 1990) konstituiert haben. Die Schließung gegenüber diesen neuen Ansprüchen wurde im wesentlichen auf zwei Strukturfaktoren zurückgeführt, die einen unterschiedlichen Grad struk­ tureller Verfestigung haben: Erstens auf die Trägheit historisch gewachsener Parteiensysteme, die sich auf der Grundlage ganz anderer Interessen (materia­ listischer Grupperunteressen) herausgebildet haben und zweitens auf die Logik des Parteienwettbewerbs in repräsentativen Demokratien als solcher. Die Ori­ entierung der konkurrierenden Parteien an der Maximierung ihrer Wähler­ stimmen impliziert eine Orientierung an Wählermehrheiten und das wiederum bedeutet eine strukturelle Schließungstendenz gegenüber Minderheitsinteres­ sen. Letzteres läßt sich auf eine Schließungstendenz gegenüber den neuen Ansprüchen natürlich nur anwenden, solange diese Minderheitsansprüche dar­ stellen. Es ist inzwischen schon fast eine Selbstverständlichkeit der wis­ senschaftlichen Diskussion geworden, die Anwendung nichtinstituüonalisierter Handlungsformen und die Herausbildung neuer sozialer Bewegungen als Folge dieser strukturbedingten Schließung gegenüber den neuen Ansprüchen zu begreifen. Etwa Mitte der achtziger Jahre veränderte und radikalisierte sich die Perspek­ tive etwas. Autoren wie Offe (1985) und Beck (1986) gehen von dem Sachver­ halt aus, daß die Anwendung nichtinstitutionalisierter Handlungsformen und die Konsolidierung der neuen sozialen Bewegungen als kollektive Akteure der 3 Politik eine feste und wichtige Größe des politischen Prozesses geworden sind . Im Hinblick auf den demokraüschen Prozeß ist darunter zu verstehen, daß die politischen Entscheidungsträger permanent mit einem neuen Typus von 4 Ansprüchen (postmaterialistischen oder lebensweltlichen) konfrontiert werden 3 Bezogen auf das Kollektiv der Staatsbürger wird diese Annahme empirisch durch Ergebnisse repräsentativer Bevölkerungsumfragen in mehreren westeuropäischen Ländern bestätigt. Die Akzeptanz neuer sozialer Bewegungen und der von diesen verwendeten nichtinstitutionalisierten Handlungsformen ist in diesen Ländern sehr ausgeprägt und nimmt im Zeitverlauf eher zu (Fuchs 1991b, Fuchs und Rucht 1993). 4 Die bei Inglehart als postmaterialistisch bezeichneten Ansprüche werden in anderen theore­ tischen Kontexten als lebensweltliche Ansprüche bezeichnet (siehe Habermas 1981; Offe 1985; Raschke 1985). Der Bedeutungsgehalt beider Begriffe ist zwar nicht identisch, weist aber starke Überschneidungen auf. 3 und das vor allem durch direkte Beeinflussungsversuche unter Umgehung der politischen Parteien. Beck (1986) bezeichnet diese Entwicklung als eine Wahr­ nehmung und Durchsetzung demokratischer Handlungsspielräume innerhalb des Regelsystems der repräsentativen Demokratie. Praktisch bedeutet das aber ein Unterlaufen der traditionellen Funktion des Parteiensystems, so wie es im Modell der liberalen Demokratie vorgesehen ist und zwar der Filterung (und das heißt Limitierung) von Ansprüchen der Bürger gegenüber den politischen Entscheidungsträgern und der Entlastung der Entscheidungstätigkeit von Zwängen der Legitimationsbeschaffung. Von daher diagnostizieren Offe und Beck eine Entgrenzung der Politik. Selbst wenn die Parteiensysteme immer noch die beschriebenen Schließungstendenzen haben würden, hätte sich insge­ samt durch diese Wahrnehmung und Durchsetzung demokratischer Hand­ lungsspielräume eine Offenheit des polirischen Entscheidungssystems gegen­ über gesellschaftlichen Ansprüchen ergeben, die dann selbst wieder zum Pro­ blem wird. Man kann dieses Problem als eine Entmachtung der Politik kenn­ zeichnen oder als einen Verlust an Entscheidungs- und Gestaltungsfähigkeit, die durch diese Entgrenzung bewirkt wird. In den Argumentationen von Offe und Beck sind bereits Aspekte enthalten, die in der aktuellen Diskussion über die Postmodernisierung aufgegriffen und ver­ schärft wurden. Offe und vor allem Beck gehen von einem Zerfall der Sozial­ struktur der industriellen Moderne aus und folgern von daher eine Individuali­ sierung von Lebenslagen (siehe dazu auch Zapf 1987). Diese Individualisierung ist eine der Ursachen für die Entgrenzung der Politik, da sie neben anderen Faktoren zur Artikulation von neuen und mehr Ansprüchen an die Politik führt. Da diese Anspruchsvielfalt aber letztlich durch einen gemeinsamen sub­ stantiellen Kern gekennzeichnet ist, den man durch das Postmateria­ lismuskonzept oder durch das Lebenswelt-Paradigma genauer bestimmen kann, ist mit ihr eine begrenzte Entgrenzung der Politik verbunden, die als Ausdruck einer Differenzierung begriffen werden kann. Eine derartige Differen­ zierung erschwert die Aggregations- und Entscheidungsfähigkeit des politi­ schen Systems sicherlich, paralysiert sie aber nicht notwendigerweise. Auf inhaltlich bestimmte und stabile Ansprüche kann man sich auf die Dauer ein- 4 stellen. Anders ist die Sachlage, wenn man von einer Fragmentierung von Ansprüchen ausgeht, wie das vor allem theoretische Diagnosen im Rahmen der Postmodernisierungsdiskussion tun (zu dieser Diskussion siehe: Gibbins 1989; Crook, Pakulski und Waters 1992; Fuchs und Klingemann 1993). Danach lösen sich feste Muster politischer Orientierung zunehmend auf und an ihre Stelle treten entweder eine Vielfalt vereinzelter Ansprüche, die massenmedialen Thematisierungslogiken folgen oder aber transitorische Anspruchspakete, die eher amorphe Muster verschiedenster ideologischer Elemente darstellen. Auch wenn man diese Beschreibung als eine theoretische Überzeichnung betrachtet, so deckt sie sich grundsätzlich mit aktuellen Diagnosen über partikulare und anomische Tendenzen in den westlichen Gesellschaften, die vor allem aus jour­ nalistischer Perspektive oder der Perspektive von Politikern vorgenommen wurden (z.B. Kleinert 1992). Wenn wir von der Prämisse einer Partikularisierung oder Fragmentierung der Ansprüche der Staatsbürger ausgehen (für die einiges spricht), was würde das für die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit der Politik bedeuten? Der effizi­ enteste und legitime Bezugspunkt der Handlungsorientierung der kollektiven Akteure des politischen Systems (Parteien, Regierung) im Interesse des Macht­ erwerbs und der Machterhaltung ist die Orientierung an Bevölkerungsmehr­ heiten. Die Mehrheitsregel ist aber dann kein wirksamer Mechanismus zur Herstellung von Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit, wenn sich die Mehr­ heiten ständig ändern und wenn die jeweiligen Minderheiten wenig Bereit­ schaft zeigen, die in der Orientierung an Mehrheiten getroffenen Entscheidun­ gen zu akzeptieren. Beide Faktoren würden bedeuten, daß gerade die Offenheit der Entscheidungsträger gegenüber den Staatsbürgern ihre Entscheidungsfä­ higkeit begrenzen würde. Das in der Demokratietheorie bekannte Problem des prekären Verhältnisses zwischen Responsivität und Effektivität des politischen Systems wäre dann in relativ drastischer Form wieder auf der Tagesordnung. Es könnte sich insgesamt eine paradoxe Situation entwickelt haben. Die Frag­ mentierung der Interessen und Ansprüche der Staatsbürger ist nur ein Sym­ ptom eines grundlegenderen gesellschaftlichen Desintegrationsprozesses. Diese gesellschaftsinterne Entwicklung wird forciert durch den Wegfall des Ost-West- 5 Konfliktes als einen Integrationsmechanismus, der von außen auf die westli­ chen Gesellschaften wirkt. Eine solche Desintegration erzeugt Verunsicherung bei den Staatsbürgern, die die allgemeine Erwartung an die Politik zur Folge hat, diese Verunsicherung durch entschiedenes Handeln zu reduzieren (siehe dazu auch Kleiner! 1992). Das Paradox liegt darin, daß die fragmentierten Staatsbürger selbst als eine der Ursachen der geringen Handlungsfähigkeit der Akteure des politischen Systems angesehen werden können. Es gibt nach dieser Argumentation also eine Diskrepanz bei den Staatsbürgern zwischen einer all­ gemeinen Handlungserwartung und ganz unterschiedlichen Vorstellungen wo und wie gehandelt werden soll. Diese Diskrepanz wird in der gegenwärtigen Kritik an der "politischen Klasse" überdeckt. Bei dieser Kritik wird die Fiktion eines Kollektives der Staatsbürger errichtet, deren Interesse durch die "politische Klasse" nicht mehr aufgegriffen wird. An diesem Wunsch nach einer gestaltenderen Politik setzen auch aktuelle Dia­ gnosen aus dem Bereich der Politik selber an. Biedenkopf (1989) und vor allem von Weizäcker (Hofmann und Perger 1992) sind die prominentesten Beispiele. Ihre Kritik entzündet sich vor allem an der Vernachlässigung von Langfristin­ teressen der Gesellschaft gegenüber Kurzfristinteressen der Staatsbürger. Als Beispiele für solche vernachlässigten Langfristinteressen werden verschiedene Formen der Umweltzerstörung genannt, Probleme also, die von Inglehart dem Bereich der postmaterialistischen Orientierungen zugerechnet werden. Das Problem der relativ hohen Responsivität gegenüber faktischen gegenwärtigen Ansprüchen und relativ geringer Responsivität gegenüber -potentiellen zukünfti­ gen Ansprüchen lösen sie im Grunde aber nur moralisierend, indem sie die Responsivität des politischen Entscheidungssystems gegenüber bestimmten aktuellen Ansprüchen der Staatsbürger als Demoskopiedemokratie (alternative, aber inhaltlich vergleichbare Formulierungen der gegenwärtigen Debatte sind Stimmungsdemokratie, Mediendemokratie oder auch populistische Anpas­ sung) kritisieren. Hier stellt sich allerdings die demokratietheoretisch nicht ein­ fach zu lösende Frage, wie man langfristige Interessen der Staatsbürger notfalls auch gegen deren Kurzfristinteressen (und das heißt aktuellen Interessen) gel­ tend macht und durchsetzt. Zudem wären noch institutionelle Alternativen zu 6 den Mechanismen der kompetitiven Parteiensysteme vorzuschlagen, die eine systematische Berücksichtigung solcher Langfristinteressen strukturell über­ haupt möglich machen. Wir wollen die skizzierten theoretischen Diagnosen noch einmal unter dem Aspekt der strukturbedingten Schließung gegenüber gesellschaftlichen Ansprüchen zusammenziehen und verallgemeinern. Die Hypothese einer srrukturbedingten Schließung kann grundsätzlich nach drei Dimensionen unterschieden werden: 1. In der Sachdimension bezieht sie sich auf die systematische Ausgrenzung bestimmter Arten von Interessen (z.B. postmaterialistischer). 2. In der Sozialdimension bezieht sie sich auf die systematische Ausgrenzung der Interessen bestimmter sozialer Gruppen (z.B. sozial schwacher). 3. In der Zeitdimension bezieht sie sich auf die systematische Ausgrenzung zukünftiger Interessen gegenüber gegenwärtigen (z.B. Umweltfragen). In dem Maße, in dem solche systematischen Ausgrenzungen stattfinden, könnte man von einem Defizit des demokratischen Prozesses sprechen. Wenn solche systematischen Ausgrenzungen durch Strukturen des politischen Systems bewirkt werden, dann stellt sich aus einer demokratietheoretischen Perspektive die empirisch zu klärende Frage, welche konkreten Strukturen stärkere oder schwächere Ausgrenzungseffekte des demokratischen Prozesses bewirken. Die beabsichtigte Metatheorie des demokratischen Prozesses soll dazu beitragen, die theoretischen Voraussetzungen derartiger empirischer Analysen bereitzustellen. Bei der Skizzierung der theoretischen Diagnosen wurde bereits eine Problema­ tik angedeutet, die noch einmal aufgegriffen und auf eine abstraktere begriffli­ che Ebene gehoben werden soll. Wenn man von einer Differenzierung oder Fragmentierung der Ansprüche der Staatsbürger ausgeht, dann bedeutet beides eine größere Vielfalt und eine stärkere Variabilität der Ansprüche. Für die Akteure des politischen Entscheidungssystems wird es dementsprechend schwieriger, die Ansprüche zu identifizieren, die gegenwärtig (in der Wahl­ kampfphase) und mittelfristig (bezogen auf die gesamte anstehende Legislatur- 7 periode) am ehesten den "Willen" der Staatsbürger repräsentieren. Die gleichen allgemeinen Ursachen für diese Entwicklung der Ansprüche auf der Seite der Staatsbürger führen auf der Seite der Akteure des politischen Ent­ scheidungssystems (vor allem bei den politischen Parteien) zu einer Zunahme einer instrumenteilen Rationalität, die sich primär an der Funktionslogik des politischen Systems orientiert (Besetzung von Entscheidungspositionen durch 5 Gewinnung von Wahlen) . Politische Ziele gewinnen im Kontext dieser Ratio­ nalität den Charakter von Mitteln für diesen Zweck, das heißt, sie werden vor allem in opportunistischer Anpassung an die unterstellten Ansprüche der Wähler formuliert. Das wiederum bedeutet für die Wähler eine Unklarheit dar­ über, was die politischen Parteien letztlich wollen und tatsächlich tun werden. Im Verhältnis zwischen den Staatsbürgern und den politischen Parteien besteht somit das Problem der doppelten Kontingenz (Parsons 1951,1968): Jeder der bei­ den Akteure macht sein Verhalten von dem Verhalten des anderen abhängig, das jeweils nur mit großer Unsicherheit vorhersagbar ist. Eine prägnante Defi­ nition des Kontingenzbegriffs findet sich bei Luhmann (1984, 152): "Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist, noch unmöglich ist". Wenn die interagie6 renden Akteure kontingent handeln , dann stellt sich die Frage, wie die demo­ kratischen Prozesse unter dieser Bedingung zu beschreiben sind und wie die politischen Strukturen beschaffen sein müßten, um möglichst viel Kontingenz zu absorbieren. Willke (1992, 36) zieht aus dem Kontingenzproblem eine deutli­ che Schlußfolgerung für die Theoriebildung, wenn er feststellt, daß es für eine Theorie des politischen Systems in modernen Gesellschaften unerläßlich ist, die "Rolle von Kontingenz für die Operationsweise komplexer Sozialsysteme" einzubeziehen. Diese Schlußfolgerung Willkes stellt sich in verschärfter Form für Gesellschaften dar, die nach Theorien wie die des Postindustrialismus oder der Postmodernisierung eine Stufe der Modernität erreicht haben, die "ein 5 Als allgemeine Ursachen werden im Rahmen von systemtheoretisch gefaßten Modernisie­ rungstheorien weitergehende Prozesse der Säkularisierung der Kultur und der Differenzie­ rung der Struktur betrachtet (Almond und Powell 1978; Willke 1992). Konkretere Manifesta­ tionsformen dieser Prozesse werden bei Beck (1986), Zapf (1987) und Crook Pakulski und Waters (1992) diskutiert. 6 Jeder der Akteure könnte auch anders handeln und weiß, daß das der andere auch könnte und weiß, daß das der andere auch weiß (Luhmann 1984,165). 8 ungewöhnliches Maß an Kontingenz" (Luhmann 1992, 93) erzeugt. In der nach­ folgenden Metatheorie des demokratischen Prozesses wird auf dieses Kontin­ genzproblem immer wieder zurückgekommen, um auch in der modellhaften Erfassung des demokratischen Prozesses das Kontingenzproblem schon zu berücksichtigen. Dabei wird unterstellt, daß das Kontingenzproblem einerseits ein Grundproblem für die politischen Strukturen aller modernen Gesellschaften darstellt, das andererseits aber strukturelle Variationen die Fähigkeit der Absorption von Kontingenz wesentlich beeinflussen. Die kurze Darstellung der theoretischen Diagnosen sollten den Problemhori­ zont deutlich machen, auf den sich die allgemeine Fragestellung der Problemverarbeitungskapazität der politischen Institutionen moderner Gesell­ schaften bezieht. Das institutionelle Arrangement dieser Gesellschaften kann auf einer abstrakten Ebene mit dem Begriff der liberalen Demokratie bezeichnet werden (Barber 1984, Held 1987). Eine alternative Bezeichnung wäre die der repräsentativen Demokratie, die bereits einen Verweis auf einen zentralen Struk­ turaspekt dieser politischen Ordnungsform enthält. Die kritischen Diagnosen werden deshalb in der Regel auch als Diagnosen eines Defiziies des demo­ kratischen Prozesses formuliert, der durch die Strukturen dieses Typs von Demokratie gesteuert wird (liberale oder repräsentative Demokratie). Als empi­ risch identifizierbare Erscheinungsformen dieses Defizites wird häufig auf Phänomene wie des steigenden Anteils an Nichtwählern, einer zunehmenden Unzufriedenheit mit den etablierten politischen Parteien, der Entstehung neuer Rechts- und Regionalparteien, einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie insgesamt, einer Zunahme des politischen Pro­ testes und ähnlichem verwiesen. Das Problem dieser Belege besteht aber darin, daß sie fast durchweg eher illustrativ für eine theoretisch begründete Hypo­ these verwendet werden und vor allem darin, daß sie selektiv zitiert werden. Wie komparative Studien jedoch zeigen, treffen diese Phänomene nur in einem Teil der westlichen Länder zu und das in sehr unterschiedlichen Ausmaßen (siehe: Klingemann und Fuchs). Auch wenn man unterstellt, daß diese Phäno­ mene Erscheinungsformen eines Defizites des demokratischen Prozesses sind (was zum Teil durchaus bestreitbar ist), zeigen diese empirischen Diskrepanzen 9 doch, daß das Ausmaß des Defizites in den westlichen Ländern sehr unter­ schiedlich ist. Dieser Tatbestand verweist schon auf die Bedeutung von Unter­ schieden innnerhalb des generellen Typus der liberalen Demokratie. Dieser Aspekt wird später noch einmal aufgegriffen. Die allgemeine Frage nach der Fähigkeit der politischen Institutionen zur Ver­ arbeitung und Aufnahme von Problemen, die durch gesellschaftlichen Wandel entstehen, kann auf der Grundlage der diskutierten theoretischen Diagnosen in drei konkretere Fragen transformiert werden und zwar den Fragen nach: 1. dem Ausmaß der systematischen Ausgrenzung von Interessen (differenziert nach der Sach-, Sozial- und Zeitdimension); 2. der Kapazität zur Absorption von Kontingenz; 3. der Art und Stärke der Folgen von 1. und 2. für die Einstellungen und 7 Verhaltensweisen der Staatsbürger . Es ließen sich sicherlich noch weitere Konkretisierungen vornehmen, aber wir nehmen an, daß mit den drei genannten die wichtigsten Fragen der aktuellen Diskussion über die Qualität des demokratischen Prozesses in den liberalen Demokratien erfaßt sind. Die empirische Analyse solcher Fragen setzt zunächst einmal eine empirische Rekonstruktion des demokratischen Prozesses voraus. Dazu gehören zwei Arten von Deskription. Wenn wir vorgreifend von der all­ gemeinen Prämisse ausgehen, daß der demokratische Prozeß eine durch die Strukturen des politischen Systems festgelegte, geordnete Abfolge von klar unterscheidbaren Stufen ist, dann gilt es erstens die einzelnen Stufen als solche empirisch zu beschreiben und zweitens den Zusammenhang zwischen diesen Stufen zu ermitteln. Zur ersten Art von Deskription gehört beispielsweise die empirische Erfassung der konkreten Ansprüche, die von den Staatsbürgern an das politische System gerichtet werden, oder die empirische Erfassung der konkreten Entscheidungen, die durch das politische System getroffen werden. 7 Diese Frage als zusätzliche Frage zu postulieren, macht natürlich nur dann einen Sinn, wenn man von einem nicht-deterministischen Verhältnis von 1. und 2. in bezug auf 3. ausgeht. 10 Die zweite Art von Deskription ist in paradigmatischer Weise durch ein For­ schungsprojekt realisiert worden, das für zehn westliche Länder empirisch analysiert, inwieweit die Programme der politischen Parteien das Regierungs­ verhandeln vorhersagen (Klingemann, Hofferbert und Budge, 1993). In ver­ gleichbarer Form könnten und müßten andere Prozeßabschnitte analysiert werden, wie zum Beispiel das Ausmaß der Determination der Parteipro­ gramme durch die Ansprüche der Bürger. Wenn in dieser Weise der demokratische Prozeß in verschiedenen Ländern beschrieben und rekonstruiert worden ist, kann die Frage nach einer Erklärung der empirisch aufgefundenen Variationen in diesen Ländern gestellt werden. Es ist eine alte sozialwissenschaftliche Kontroverse, welche Faktoren letztlich die relevanten Ursachen für politische Phänomene sind: sind diese eher auf gesell­ schaftliche Faktoren zurückzuführen oder eher auf endogene Faktoren des politischen Systems selbst (siehe dazu Sartori 1969; Easton 1990)? Wir schließen uns Sartoris und Eastons Auffassung an, daß endogene Faktoren des politi­ schen Systems einen eigenständigen Effekt auf politische Phänomene haben. Im Kontext unserer Problemstellung bedeutet das eine Erklärung von empirischen Variationen auf der Prozeßebene durch empirische Variationen auf der Struk­ turebene. Ein konkretes Beispiel für eine derartige Erklärungsstrategie ist, die unterschiedliche Transformation von Wähleransprüchen in Regierungshandeln in verschiedenen Demokratien auf unterschiedliche Strukturen der Partei­ ensysteme dieser Demokratien zurückzuführen. Derartige Analysen sind nur dann durchzuführen, wenn entsprechende Daten für eine Mehrzahl von Län­ dern zur Verfügung stehen, die zudem so ähnlich sind, daß eine vergleichende Analyse überhaupt sinnvoll ist Diese beiden Kriterien sind im Falle der OECDLänder ausreichend erfüllt. Die OECD wurde 1961 gegründet und umfaßt seit 1973 24 Vollmitglieder. Eine der für unsere Forschungszwecke bedeutsame Konsequenz dieser Mitgliedschaft ist, daß für alle dieser Länder eine Vielzahl ökonomischer und politischer Makrodaten zur Verfügung stehen. Darüber hin­ aus weisen diese Länder zwei Homogenitätsmerkmale auf "die sie eindeutig als einer Kategorie von Ländern zugehörig identifizieren: Ihre Ökonomien sind 11 kapitalistisch und relativ entwickelt (mit der Folge eines relativ hohen Lebens­ standards ihrer Bevölkerungen), ihre politischen Systeme sind liberal-pluralistisch bzw. kompetitiv" (Nohlen 1983, 13). Das bedeutet im Rahmen des hier ausgeführten Problemkontextes, daß die Frage nach funktionalen Äquivalenten politischer Strukturen auf funktionale Äquivalente innerhalb des Systems der liberalen oder repräsentativen Demokratie beschränkt wird. Wir gehen zwar nicht soweit wie Fukuyama (1992), daß mit dem Zusammenbruch der soziali­ stischen Regimes in Osteuropa auch das Ende der Geschichte gekommen sei, aber dieser Zusammenbruch bedeutet doch das Ende einer existierenden und somit grundsätzlich realisierbaren Alternative zu den liberalen Demokratien. Eine Verengung der Perspektive auf funktionale Äquivalente von Strukturen innerhalb von liberalen Demokratien und nicht zu liberalen Demokratien liegt von daher gesehen nahe. Auf ihre Weise gehen auch so kritische Analysen wie die von Rödel, Frankenberg und Dubiel (1989) von den liberalen Demokratien als Bezugspunkt aus, indem sie die demokratische Frage zwar wieder stellen, das aber, indem sie die liberale Demokratie als institutionellen Rahmen begrei­ fen, in dem diese sinnvollerweise erst gestellt werden kann. Gerade durch den Zusammenbruch der sozialistischen Regimes ist es nicht mehr möglich, jede Form der liberalen Demokratie durch den Verweis auf diese schlechtere Systemalternative zu legitimieren. Die Blickrichtung verschiebt sich auf den Vergleich unterschiedlicher struktureller Arrangements der liberalen Demo­ kratien als einer allgemeinen Kategorie politischer Systeme. Der Aufweis des Problemkontextes, auf den sich die Metatheorie des demokra­ tischen Prozesses letztlich beziehen soll, besagt noch nichts über den Charakter und den Status dieser Metatheorie selbst. Eine empirische Rekonstruktion des demokratischen Prozesses in den OECD-Ländern und die Erklärung empirisch ermittelter Unterschiede auf der Prozeßebene durch empirisch identifizierte Unterschiede auf der Strukturebene erfordert eine solche Metatheorie. Die Metatheorie ist also lediglich eine (nicht die einzige) theoretische Voraussetzung zur Durchführung solcher empirischer Analysen. Sie hat zwei grundlegende 12 8 Komponenten. Erstens ein Modell des demokratischen Prozesses , das für alle OECD-Länder gültig ist und allererst eine empirische Rekonstruktion der Pro­ zesse in den einzelnen Ländern erlaubt. Zweitens ein Begriff politischer Strukturen, auf dessen Grundlage konkrete Strukturen und Strukturunter­ schiede empirisch bestimmt werden können. Die intendierte Metatheorie mit diesen beiden Komponenten hat durch die Begrenzung des Geltungsbereiches auf die OECD-Länder und das heißt, auf liberale Demokratien, lediglich eine mittlere Reichweite. Sie unterscheidet sich somit von universell angelegten Metatheorien des politischen Prozesses, wie sie beispielsweise von Easton (1965) entwickelt wurde. S Die Rede von einem demokratischen Prozeß ist natürlich nur sinnvoll im Hinblick auf dieses allgemeine Modell. Auf der empirischen Ebene dürfte sich eine Mehrzahl demokratischer Prozesse identifizieren lassen, die ihrerseits wiederum strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen können. 13 In einem neueren Sammelband stellt Ritzer (1992, 7) eine Explosion des Interes­ ses an soziologischen Metatheorien in den letzten Jahren fest. Metatheorie wird bei Ritzer (1992, 7) allgemein definiert "as the systematic study of the under­ lying structure of sociological theory". Das kann sehr Verschiedenes bedeuten, wie auch die Beiträge des Sammelbandes von Ritzer zeigen. Wir beziehen uns auf die Weise, in der Lehmann (1988) Metatheorie in die Politologie zur Ent­ wicklung eines Modells der Polity eingeführt hat (wir beziehen uns nicht auf dieses Modell der Polity selbst). Lehmann stützt sich dabei auf Alexanders (1982) "scientific continuum and its components". Der Grundgedanke dabei ist, daß man empirische Tatbestände überhaupt erst erzeugen und dann interpre­ tieren kann, wenn man einen Bezugsrahmen hat, der eben Meta-Theorie genannt werden kann. Der Begriff Meta ist vor allem dann sinnvoll, wenn Theorien im Sinne Poppers verstanden werden, das heißt aus Hypothesen in der Form von Wenn-Dann-Aussagen bestehen, die empirisch getestet werden können. Die Spezifikation solcher Hypothesen beruht nach Alexander aber auf Voraussetzungen, die ihrerseits nicht oder nur eingeschränkt empirisch über­ prüfbar sind. Diese Voraussetzungen begleiten implizit jede empirische For­ schung und sollten explizit gemacht werden, um die Implikationen der wissen­ schaftlichen Arbeit, die man tut, auch einschätzen zu können. Alexander (1982, 3) bietet dazu gewissermaßen als Meta-Meta-Theorie das erwähnte Kontinuum an, dessen beide Pole das "metaphysical environment" und das "empirical envi­ ronment" der wissenschaftlichen Arbeit sind (siehe Schaubild 1). Alexanders Konzeptualisierung der wissenschaftlichen Arbeit durch dieses 9 Kontinuum zwischen den beiden Polen hat neben seiner intellektuellen Ele­ ganz mindestens zwei wichtige Vorzüge: erstens wird die polare Kontrastie­ rung zwischen Theorie und Empirie aufgebrochen und zweitens werden die Bedeutung und der Stellenwert der einzelnen Komponenten des Kontinuums 9 Im Grunde handelt es sich um kein Kontinuum, sondern um eine Abfolge bestimmter Komponenten zwischen den beiden Polen. eindeutig 14 Empirical environment Metaphysical environment Î0 to „ c Ü) g c ** 0 w Q. CD TD O ¿2 to Q. 0) i o c o Ü c c 'S Q CA e g t JE Q) to 13 « CO C •a g g w » E 8. r GL Ü ë o Ü o S ES? 1 w O £ o Ü Source: Alexander (1982, S.3) eben dadurch klarer, daß sie auf einer Dimension liegen und sich somit wechselseitig explizieren können. An dieser Stelle soll aber nicht das gesamte Kontinuum betrachtet werden, sondern vor allem die Komponenten, die zweifelsfrei als Metatheorie bezeichnet werden können und zwar "presuppositions" und "models" (Lehmann 1988, 809). Die Metatheorie des demokratischen Prozesses bezieht sich hauptsächlich auf diese beiden Komponenten, wenn auch an einigen Stellen Sprünge auf Komponenten vorgenommen werden, die näher am "empirical environment" liegen wie z.B. "complex and simple propositions" und "observations". Wie die Bezeichnung "general presuppositions" schon andeutet, beziehen sich diese auf allgemeine und unvermeidliche Grundentscheidungen, die die weitere Theoriebildung steuern. "Models" bestehen demgegenüber aus "a logically ordered set of concepts that highlights the key features of the subject matter of a scientific discipline" (Lehmann 1988, 809). Aus dieser kurzen Bestimmung der beiden metatheoretischen Komponenten wird schon deutlich, daß Metatheorie im Verständnis von Alexander und Lehmann weder eine Theorie über Theorien noch eine allgemeine Reflexion über Theoriebildung ist (zu letzteren siehe Coleman 1990, 1-23). Das "Meta" bezieht sich lediglich auf 15 ein Überschreiten von Theorien im Sinne Foppers, die auf Alexanders Kontinuum den "laws" zugeordnet werden müßten. 10 Nach dieser Klärung des Verständnisses von Metatheorie kann die Frage gestellt werden, was die Kriterien einer guten Metatheorie sind und wie man diese für bestimmte Gegenstandsbereiche gewinnt. Alexander gibt zwei grundlegende Kriterien für eine adäquate Metatheorie an: Sparsamkeit (parsimony) und Multidimensionalität (multidimensionality) (siehe dazu auch Lehmann 1988, 809f). Während das Kriterium der Sparsamkeit ein allgemein akzeptiertes Kriterium der Wissenschaftstheorie für Theoriebildung ist, ist das Kriterium der Multidimensionalität nicht unmittelbar einsichtig, zumal es im Widerspruch zur Sparsamkeit zu stehen scheint. Letztlich wird es bei Alexan­ der als eine Restriktion des Einfachheitskriteriums begriffen: die Metatheorie sollte zwar möglichst sparsam formuliert sein, aber ohne daß damit im Hinblick auf die empirische Wirklichkeit einseitige apriorische Festlegungen getroffen werden. Diese Offenheit der einfachen Grundannahmen (presuppositions) gegenüber einer komplexen empirischen Wirklichkeit kann eben als (potentielle) Multidimensionalität bezeichnet werden. Das Kriterium der Mul­ tidimensionalität impliziert bei Alexander zudem eine Bewegung der wissen­ schaftlichen Arbeit in beide Richtungen, das heißt von dem metaphysischen Pol des Kontinuums zum empirischen Pol und umgekehrt. Das bedeutet, daß empirische Forschung auf der Grundlage metatheoretischer Überlegungen gemacht wird, die metatheoretischen Überlegungen aber wiederum im Lichte der Ergebnisse der empirischen Forschung reformuliert werden. Eine Voraus­ setzung dieses permanenten Rückkopplungsprozesses ist, daß die jeweils kon­ kreteren Ebenen (konkreter verstanden als näher zum "empirical environment" liegend) als Spezifikation der generelleren begriffen werden. Erst dadurch ist ein systematischer Rückbezug der konkreteren Ebenen auf die allgemeineren möglich. Das impliziert unter anderem, daß die Metatheorie schon unter der Perspektive erarbeitet werden sollte, daß sie empirische Forschung eini- 10 Die vorgeschlagene Metatheorie des demokratischen Prozesses wäre nach dem Theorieverständnis der Systemtheorie keine Metatheorie, sondern eine allgemeine Theorie des demo­ kratischen Prozesses in liberalen oder repräsentativen Demokratien. 16 germaßen stringent steuern kann oder wie Lehmann (1988, 810) formuliert: "Metatheory then consists of presuppositions and models. It constitutes a framework that permits the formulation and testing of "decisive" hypotheses. Presuppositions and models are more scientific when they successfully balance the needs of parsimony and multidimensionality." Neben dem Charakter der Allgemeinheit (generality) fordert Alexander (1982, 37) für akzeptable theoretische Grundannahmen noch den Charakter der "decisiveness". Grundannahmen sind dann "decisive", wenn sie nicht-trivial sind im Hinblick auf signifikante wissenschaftliche Probleme des interessieren­ den Gegenstandsbereiches. Bezüglich soziologischer Forschung geht Alexander (1982, 40) von zwei fundamentalen Fragen aus, die die Grundannahmen jeder wissenschaftlichen Arbeit in diesem Bereich berücksichtigen sollten: die Frage des Handems (action) und die Frage der Ordnung (order). Wir versuchen, diese beiden Probleme für unsere Fragestellung aufzugreifen und etwas zu konkreti­ sieren. Alexander begreift Handeln ganz im Sinne soziologischer Selbstver­ ständlichkeiten als die elementarste Form sozialen Verhaltens. Seine Definition knüpft an die klassische Definition von Parsons an, der Handeln als Realisie­ rung von Intentionen in Situationen bestimmt, und damit seinerseits ältere klassische Definitionen aufgreift. Wir reformulieren diese Definitionen etwas und bestimmen Handeln durch das Treffen (und Umsetzen) rationaler Ent­ scheidungen (choices) von Akteuren (individuellen und kollektiven) im Rah­ men von situativen und strukturellen Restriktionen (constraints). Diese Hand­ lungsdefinition stammt letztlich aus dem Rational-Choice-Paradigma und hat den Vorzug, daß sie einerseits in der Substanz sehr einfach ist, andererseits aber durch die wissenschaftliche Forschung in verschiedenen Handlungsbereichen erfolgreich adaptiert werden konnte. Eine der Konsequenzen dieser vielfältigen Adaption ist die zunehmend größere Realitätsnähe gegenüber dem ursprüng­ lich sehr restriktiven Begriff des "rational choice" aus der Ökonomie, ohne daß der Charakter der Sparsamkeit verlorengegangen ist. Die von uns vorgenom­ mene Definition erfüllt also die Kriterien der Einfachheit und der Multidimensionalität Die Restriktivität der klassischen Rational-Choice-Theorie aus der Ökonomie bezog sich vor allem auf die Annahmen, daß es keine kognitiven 17 und informationellen Grenzen der Akteure bei ihrer rationalen Kalkulation der Handlungsalternativen gibt und daß diese rationale Kalkulation durch das Prinzip der Nutzenoptimierung gesteuert wird. Beide Annahmen wurden von einer Reihe von Rational-Choice-Theorien inzwischen aufgegeben: Es wird nunmehr davon ausgegangen, daß die Suche und die Auswahl von Handlungsalternativen bei der Realisierung von Zielen auf begrenzter und unsicherer Informationsbasis beruht und daß eine Handlungsalternative gewählt wird, die für den Akteur einen befriedigenden Nutzen ("satisficing") hat und nicht not­ 11 wendigerweise eine optimalen Nutzen ("optimizing") . Diese Entwicklung war bereits bei Downs (1957) und Simon (1957) angelegt, die die Probleme der Informationsunsicherheit und Informationskosten sowie der "bounded rationa11 Hty diskutierten. Trotz der relativ größeren Realitätsnähe der neueren Rational-Choice-Theorien stellt sich die Frage, warum überhaupt Rational Choice als Handlungstheorie 2 verwendet werden solltel . Eine Antwort darauf kann nur relativ gegeben wer­ den. Unter den verfügbaren Alternativen hat die Rational-Choice-Theorie das relativ größte Potential für eine deduktive Erklärungsstrategie. Ein deduktives Vorgehen würde bedeuten, daß man von allgemeinen Annahmen über das Handeln von Akteuren ausgeht und in Verbindung mit Zusatzannahmen, die den Bereich betreffen, in dem gehandelt wird, genaue Prognosen für das tatsächliche Verhalten der Akteure formuliert. Diese können dann empirisch getestet werden. Ein solches Potential kann beispielsweise für sozialpsychologi­ sche Handlungstheorien kaum beansprucht werden. Diese sind in der Regel auf Ex-Post-Erklärungen des faktischen Handelns angewiesen, da dieses psycholo­ gisch überdeterminiert ist (Bennett und Salisbury 1987, 5f). Inwieweit dieses Potential einer deduktiven Erklärungsstrategie allerdings auch unter den 11 Zur aktuellen Diskussion über einen "realistischeren" Rationalitätsbegriff siehe: March (1978), Simon (1985), Elster (1989), Wiesenthal (1987), Monroe (1991), Coleman und Fararo (1992). Zum Rationalitätsbegriff im Bereich politischen Handelns siehe: Fiorina (1981), Bennett und Salisbury (1987), March und Olsen (1983, 1989), Tsebelis (1990), Popkin (1991), Fuchs und Kühnel (1993). 12 Diese Frage stellt sich zudem angesichts der Einwände, die auch dann noch bestehen, wenn man eine größere Realitätsnähe in Rechnung stellt. Siehe dazu die Beiträge in den Sammel­ bänden von Monroe (1991) und Coleman und Fararo (1992). 18 Bedingungen eines weniger restriktiven Rationalitätsbegriffs vorhanden ist, ist theoretisch und empirisch noch eine offene Frage. Dennoch gehen wir ange­ sichts der Alternativen (wie beispielsweise sozialpsychologischer Handlungs­ theorien oder Theorien des symbolischen Interaktionismus) davon aus, daß nur bei der Anwendung von Rational-Choice-Theorien die Chance der Verallgemei­ nerungsfähigkeit von Hypothesen und der Spezifikation empirisch fruchtbarer Prognosen besteht. Das gilt vor allem dann, wenn die relevanten Akteure auch oder vor allem kollektive Akteure sind, wie das im Falle der Metatheorie des demokratischen Prozesses der Fall ist. Für kollektive Akteure sind bei­ spielsweise psychologische Handlungserklärungen wenig plausibel. Zudem läßt sich über die theoretische Leitdifferenz der Rational-Choi ce-Theorie zwi­ schen "choices" und "constraints" ein systematischer Bezug zur Systemtheorie herstellen. Dies wiederum ist notwendig, um den Charakter von "constraints" genauer zu explizieren, als das innerhalb der Rational-Choice-Theorie möglich ist. Damit sind wir bei dem zweiten Problem, das die Grundannahmen jeder soziologischen Forschung nach Alexander berücksichtigen soll, dem Problem der Ordnung (order). Die Frage der Ordnung ist unseres Erachtens auf der Handlungsebene allein nicht aufzugreifen und zu beantworten. Sie wird im Rational-Choice-Paradigma durch den Begriff des "constraints" lediglich ange­ sprochen, aber auf der Handlungsebene ist nicht hinreichend bestimmbar, was "constraints" denn jeweilig sein können. Auf diese Frage nach der Bedeutung von "constraints" und dem Zusammenhang von "constraints" und "choices" wird in den nachfolgenden Kapiteln noch zurückgekommen. Zunächst soll noch einmal zusammengefaßt werden. Der uns interessierende Forschungsge­ genstand ist der demokratische Prozeß. Durch die von uns vorgenommene Handlungsdefinition ist eine Grundannahme festgelegt, die eine zweite präjudiziert, die sich auf den Forschungsgegenstand bezieht: Der demokratische Prozeß wird begriffen als Interaktionen von Akteuren, die innerhalb situativer und struktureller constraints rational handeln, um ihre Intentionen zu realisie­ ren. Der demokratische Prozeß und die mit ihm verbundenen strukturellen "constraints" werden in der vorgelegten Metatheorie unter Rückgriff auf 19 systemtheoretische Kategorien analysiert. Auf der Grundlage der erörterten Grundannahmen wird versucht, verschiedene Elemente einer Metatheorie des demokratischen politischen Prozesses zu umreißen. Diese besteht vor allem in einem systemtheoretischen Modell dieses Prozesses und der Entwicklung eines Strukturbegriffes, der eine genauere Bestimmung der Handlungsrestriktionen der Akteure, die diesen demokratischen politischen Prozeß tragen, ermöglicht. Da es bei der angezielten Metatheorie letztlich um eine möglichst systematische Verbindung von Handlungstheorie und Systemtheorie geht, wollen wir vorab die aktuelle Diskussion über die Auseinandersetzung beider Paradigmen zumindest andiskutieren. Im Rahmen dieser Diskussion werden zugleich wei­ tere metatheoretische Grundannahmen vorgenommen. 20 3. Systemtheorie und Handlungstheorie Die Auseinandersetzung zwischen den beiden großen Paradigmen sozialwis­ senschaftlicher TheoriebÜdung - der Systemtheorie und der Handlungstheorie (bzw. Akteurs-Theorie) - vollzieht sich offenbar in Wellen, wobei einmal das eine und dann das andere Paradigma dominiert (Schimank 1988a, 619). Im fol­ genden soll die Kritik an beiden Paradigmen kurz dargestellt werden. Als Bezugspunkt der Systemtheorie dient dabei die funktionalistische Systemtheo­ rie und als Bezugspunkt der Handlungstheorie die schon erörterte RationalChoice-Theorie. Die leitende Perspektive ist dabei die Annahme, daß eine Metatheorie des demokratischen Prozesses beide Paradigmen berücksichtigen muß. Die in dieser Perspektive relevante Kritik an der Systemtheorie kann als "mangelnder Akteursbezug" (Schimank 1985) bezeichnet werden, und die rele­ vante Kritik an der Handlungstheorie - in Abwandlung der Bezeichnung Schimanks - als "mangelnder Systembezug". Die funktionalistische Systemtheorie, deren prominenteste Version die Theorie Parsons ist, hat als Ausgangspunkt der Theoriebildung funktionale Erforder­ nisse zur Bestandserhaltung eines sozialen Systems. Unter der Perspektive die­ ser Funktionen werden dann soziale Interaktionen analysiert. Die ältere Kritik der furtktionalistischen Systemtheorie hat nun eingewendet, daß funktionale Erfordernisse weder apriori gegeben, noch wissenschaftlich beobachtbar sind (Nagel 1956; Hempel 1959; siehe dazu auch Wiswede/Kutsch 1978). Die genannten Autoren und später auch Giddens (1976) haben dann die Schlußfol­ gerung gezogen, funktionale Erfordernisse in den Bereich der Metaphysik zu verweisen und aus dem soziälwissenschafliichen Diskurs auszuschließen. Wenn man im Rahmen des empirieorientierten Wissenschaftsbegriffs bleibt, der die­ ser Schlußfolgerung zugrundeliegt, dann bietet unseres Erachtens ein Vor­ schlag von Mayntz (1988) eine Möglichkeit, an dem Funktionsbegriff festzu­ halten und ihn zugleich empiriefähig zu machen. Sie schlägt vor, den Funkti­ onsbegriff ohne Rekurs auf apriorische und/oder universelle funktionale Erfordernisse zu bestimmen. Eine funktionale Ausdifferenzierung eines Teilsy­ stems aus dem gesamtgesellschaftlichen Handlungszusammenhang kann erst dann gelingen, wenn sowohl die Akteure innerhalb dieses Teilsystems als auch 21 die seiner relevanten Umwelt die funktionale Spezifität dieses Teilsystems wahrnehmen und anerkennen. Dieser Funktionsbegriff ist unmittelbar kompa­ tibel mit Alexanders "scientific continuum". Als Begriff ist er der Metatheorie zuzuordnen, er ist aber so gefaßt, daß er empirische Forschung steuern, und durch die Ergebnisse der empirischen Forschung in seinem konkreten Inhalt modifiziert werden kann. Die neuere Kritik an dem mangelnden Akteursbezug ist von einer Vielzahl von Wissenschaftlern formuliert worden, unter anderem natürlich durch die Ver­ treter des handlungstheoretischen Paradigmas. Wir wollen uns hier aber vor allem auf solche Wissenschaftler stützen, die sich selbst entweder dem system­ theoretischen Paradigma zurechnen oder aber in ihrer eigenen Forschungsar­ beit Überlegungen aus diesem Paradigma verwenden (Mouzelis 1974; Rueschemeyer 1977; Crozier und Friedberg 1980; Schimank 1985,1988a; Mayntz 1988; Easton 1990). Immanente Kritiken eines Theorieparadigmas sind häufig konstruktiver für dessen Weiterentwicklung als Kritiken aus der Perspektive alternativer Theorieparadigmen. Die Kritik des mangelnden Akteursbezuges der Systemtheorie entfaltet sich auf zwei aufeinander aufbauenden Ebenen. Zunächst einmal auf der Ebene des Erklärungsdefizits dieser Theorie. Schimank (1985, 425) wendet gegenüber Parsons Aussagen zur sozialen Differenzierung ein, daß man sich jedesmal die Frage stellt, "warum geschieht das?". Parsons (1971) rekurriert bei der Erklä­ rung evolutionärer Prozesse zwar auf solche hochabstrakten Mechanismen, wie inclusion, value generalization, differentiation and adaptive upgrading. Der Erklärungscharakter dieser Mechanismen bleibt allerdings recht unklar. Sie scheinen eher Teil des Phänomens zu sein als eine Erklärung. Die zweite Ebene richtet sich auf den Stellenwert von Akteuren, wenn sie im Rahmen systemtheo­ retischer Analysen auftauchen. Mouzelis (1974, 426f) kritisiert beispielsweise an Smelser (1959), daß kollektive Akteure zwar erwähnt werden, aber keine eigen­ ständige Bedeutung haben (das heißt nicht wirklich handeln), weil ihre Handlungen von dem System vollständig determiniert werden und somit bloße Produkte dieses Systems sind. Schimank (1985, 427) greift diese Kritik auf und führt die Unterscheidung handlungsprägender und handlungsfähiger Sozial- 22 Systeme ein, wobei die handlungsfähigen Sozialsysteme offenbar dann weitge­ hend synonym gesetzt werden mit handelnden kollektiven Akteuren, die den Status von Subsystemen innerhalb umfassenderer Systeme bekommen. Erst dann wird die Unterscheidung Schimanks unseres Erachtens plausibel. Diesem Problem von "actors and Systems" haben Crozier und Friedberg (1980) eine Monographie gewidmet. Sie gehen von einem bestimmten Begriff des Ver­ hältnisses von Systemen und Akteuren aus und entwickeln auf dieser Grund­ lage eine Theorie kollektiven Handelns in Organisationen als einer spezifischen Form von Sozialsystemen. Auf die Theorie wollen wir hier nicht näher einge­ hen, da sie eine andere Richtung verfolgt als die von uns eingeschlagene. Von Interesse ist für unsere Zwecke allerdings die Bestimmung des Verhältnisses von Systemen und Akteuren. Nach Crozier und Friedberg (1980,45) ist die Vor­ stellung einer Determination des Handelns durch Systeme unangemessen: "A given organizational Situation never completely constrains an actor. He always retains a margin of liberty and negotiation." Jeder Akteur versucht bei der Ver­ folgung seiner eigenen Strategien diese Freiheitszonen zu erhalten und aus­ zudehnen, schon weil er damit seine Strategien effektiver realisieren kann. Die Ausweitung der Freiheitszonen bedeutet aber eine Reduktion der Abhängigkeit von anderen Akteuren. Sofern diese Ausweitung der Freiheitszonen von allen handelnden Akteuren versucht wird, stellt sich die Frage, wie das System - im Falle von Crozier und Friedberg die Organisation - Bestand haben kann. Crozier und Friedberg (1980, 52) versuchen dieses Problem zu lösen, indem sie rational handelnden Akteuren unterstellen, daß sie an der Aufrechterhaltung der Bedingungen interessiert sind, die aufeinander bezogene Interaktionen überhaupt erst ermöglichen. Diese Bedingungen bestehen in einer mehr oder weniger großen Menge von "rules of the game", die von den interagierenden Akteuren akzeptiert werden müssen und somit einerseits ihre "choices" limitie­ ren, sie andererseits aber auch nicht vollständig festlegen. In einem ganz ande­ ren systemtheoretischen Ansatz ist Easton (1965) zu einer vergleichbaren Schlußfolgerung gekommen. Er sieht als Bedingung eines funktionierenden politischen Prozesses die Existenz eines ausreichenden Ausmaßes an generali- 23 sierter Unterstützung des Regimes an, das bei ihm unter anderem auch durch diese "rules of the game" definiert ist. In seiner neuesten theoretischen Studie geht Easton explizit auf das Verhältnis von "actors and Systems" ein und bestimmt dieses Verhältnis ähnlich wie die Rational-Choice-Theorie über die Begriffe "constraints" und "choices": "... a constraint is a limit on the variety of choices open to an individual or collectivity. It is a condition that reduces choices from infinity to some finite number. The smaller the number of choices the greater the constraint" (Easton 1990, 25). Auch Easton greift also die Gedanken auf, daß das Handeln von individuellen und kollektiven Akteuren durch Systeme beschränkt werden, daß es aber trotz dieser "constraints" keine Determination des Handelns gibt, sondern eben auch "choices". Bei der Diskussion der systemischen "constraints" des Handelns der Akteure nimmt Easton dann eine einfache aber folgenreiche Spezifikation vor. Es sind weniger Systeme überhaupt, die das Handeln von Individuen und Kollektiven limitieren, sondern Strukturen dieser Systeme (Easton 1990, 55). Erst mit dieser Spezifikation kann theoretisch expliziert und empirisch eingelöst werden, wie sich constraints systematisch auf das Handeln von Akteuren auswirkt. Aus diesem Grunde muß die Diskussion eines Strukturbegriffes Ele­ ment der intendierten Metatheorie sein. Wenn Handeln in der beschriebenen Weise von systemischen Strukturen zwar beeinflußt und gesteuert wird, es aber gleichzeitig mehr oder weniger große "Freiheitszonen" im Sinne von Crozier und Friedberg sowie von Easton für die rational handelnden Akteure gibt, dann ist Handeln immer auch Reproduktion einer Struktur, sofern die "choices" dieses Handelns sich im Rahmen der gege­ benen Strukturen vollziehen. Es kann aber auch zu einer Veränderung dieser Strukturen fuhren erstens durch ein bewußtes Nicht-Akzeptieren der Spielre­ geln (das heißt die "choices" werden auf Strukturen ausgedehnt) und zweitens durch nicht-intendierte kumulative Effekte von Handeln, das grundsätzlich innerhalb der gegebenen Strukturen geschieht (z.B. aufgrund von Widersprü­ chen in Strukturvorgaben). In diesem Sinne ist Handeln auch strukturierend (Giddens 1984). Ein solcher Begriff des Verhältnisses von Systemen und Akteu­ ren erlaubt im Unterschied zur älteren "akteurslosen" Systemtheorie Analysen, 24 wie es zur Stabilisierung und Veränderung gegebener Systeme kommt, ohne daß auf wenig einsichtige Selbstregulierungsmechanismen zurückgegriffen werden muß. Bei der Systemtheorie kann mit gutem Gründen ein "mangelnder Akteursbezug" behauptet werden. Die komplementäre Kritik an der Handlungstheorie (in ihrer Gestalt als Rational-Choice-Theorie) wurde bereits mit dem Begriff des "mangelnden Systembezuges" bezeichnet. Ohne diese Bezeichnung zu verwen­ den, ist der Sache nach eine solche Kritik auch von Handlungstheoretikern sel­ ber formuliert worden. Heiner (1983, 1985) argumentiert, daß ein rationales Handeln von Akteuren nur dann möglich ist, wenn es eine begrenzte Menge von Handlungsalternativen gibt. Erst diese können unter bestimmten Gesichts­ punkten miteinander verglichen werden. Wiesenthal (1987,435) weist auf einen anderen Aspekt rationalen Handelns hin: Wenn rationales Handeln sich vor allem an den Konsequenzen von Handlungen orientiert, dann setzt es ein Minimum an Erwartbarkeit solcher Konsequenzen voraus. Die Bedingung ratio­ nalen Handelns ist demnach die Existenz von "constraints". Deshalb können die konkreten "constraints" bei der Erklärung und Prognose des Handelns von Akteuren auch nicht als theorieextern behandelt werden, wie das bei der Rational-Choice-Theorie der Fall ist. Zu ähnlichen Schlußfolgerungen sind auch 13 March und Olsen (1983, 1989) und Shepsle (1989) gekommen . Die Notwen­ digkeit einer systematischen Einbeziehung von "constraints" in die Erklärungs­ strategie wird auch an zwei beispielhaften Analysen im Rahmen des RationalChoice-Paradigmas deutlich und zwar an der klassischen Analyse von Downs (1957) und einer neueren Analyse von Strom (1990). Nur weil in diesen Analy­ sen die "constraints" genau expliziert werden, gewinnen diese Analysen ihre Überzeugungskraft. Sie kompensieren also den "mangelnden Systembezug" implizit durch die Einführung von systemischen constraints, ohne diese aber durch eine eigene Theorieanstrengung systematisch vorzunehmen. 13 Die genannten Autoren fordern aus diesem Grunde die Einbeziehung von Institutionen in den Rational-Choice-Ansatz. Wir glauben allerdings, daß dieses Postulat nicht nur im Theo­ riekontext des Rational-Choice-Ansatzes umzusetzen ist, sondern eine Berücksichtigung systemtheoretischer Kategorien erfordert. 25 Die Bedeutung des "mangelnden Systembezuges" wird bei Münch (1983) und Schimank (1985,1988a) genauer herausgearbeitet. Münch macht zunächst noch einmal deutlich, daß die Perspektive der Handlungstheorie von vornherein (aufgrund ihrer eigenen Prämissen) auf Situationen gerichtet ist, in denen sich verschiedene und begrenzte Handlungsalternativen für die Akteure zeigen. Dabei wird stillschweigend das vorausgesetzt, was bereits als Bedingung ratio­ nalen Handelns dargestellt wurde und was Münch (1983, 52) als stabile und gemeinsame Verhaltensregeln und Verhaltensnormen bezeichnet. Schimank (1988a, 622) verwendet den Begriff der "situationsübergreifenden, generali­ sierten Handlungsorientierungen". Vor allem diese generalisierten Handlungsori­ entierungen konstituieren Sozialsysteme und legen in einer zweifachen Weise Handlungsbeschränkungen für die Akteure fest. Erstens stellt sich die Frage, in welchem System überhaupt gehandelt wird. Dadurch wird bereits ein Raum möglicher Handlungen eingegrenzt und andere ausgegrenzt. Wenn ein Akteur beispielsweise Ziele im Wirtschaftssystem verwirklichen will, dann muß er 14 auch wirtschaftlich handeln und nicht etwa kulturell oder politisch" . Wenn die Frage geklärt ist, in welchem Sozialsystem gehandelt wird, dann stellt sich zweitens die Frage nach Handlungsalternativen innerhalb dieses Sozialsystems. Diese werden durch die Strukturen dieses Sozialsystems und seiner Subsy­ steme definiert. Es handelt sich also um eine generalisierte Handlungsorientie­ rung geringeren Generalisierungsgrades als die oben genannte. Als generali­ siert können beide Handlungsorientierungen bezeichnet werden, sofern sie für alle Akteure gelten und die Bedingung für ihre "choices" sind. Diese "choices" beziehen sich dann auf die Selektion einer dieser vorgegebenen Handlungs­ alternativen nach Maßgabe eigener Präferenzen des Akteurs. In diesem Sinne kann bei den "choices" von einer spezifischen Handlungsorientierung geredet wer­ 15 den . Der "mangelnde Systembezug" der Handlungstheorie bezieht sich 14 Wenn er keine wirtschaftlichen Handlungen wählt, dann erzeugt er auch keine Resonanz im Wirtschaftssystem und das wiederum bedeutet, daß er auch keine Ziele in diesem System verwirklichen kann. 15 Wenn man die Leitdifferenz der Handlungstheorie, nämlich die von "choices" und "constraints" als Differenz von spezifischem und generalisiertem Handiungssinn begreift, dann gewinnt man damit einen Anschluß an die Bestimmung von Systemen als Sinnsy- 26 demzufolge auf die Ausblendung der generalisierten Handlungsorientierung bei der Analyse der spezifischen Handlungsorientierung. Wir wollen diese Überlegungen mit einer abstrakten aber gleichwohl genauen Bestimmung von Schimank (1985, 428) abschließen: "Handeln konstituiert sich... aus der Intentionalität handlungsfähiger Sozialsysteme im Rahmen der Kondüionalität handlungsprägender Sozialsysteme". Handlungsprägende Sozialsysteme sind gesell­ schaftliche Teilsysteme wie das politische System, und handlungsfähige Sozial­ systeme sind kollektive Akteure, die im Rahmen dieses gesellschaftlichen Teil­ systems handeln. steme, wie sie beispielsweise von Luhmann vorgenommen wird. Auf diese Weise besteht zumindest die Möglichkeit einer systematischeren Integration von Handlungs- Systemtheorie als dies bislang der Fall ist. und 27 4. Ein Modell des demokratischen Prozesses 4.1 Der demokratische Prozeß als eine Abfolge von Handlungsprodukten Nach dem von uns errichteten metatheoretischen Bezugsrahmen ist die Vor­ aussetzung der empirischen Rekonstruktion des demokratischen Prozesses der liberalen Demokratien die Entwicklung eines Modells dieses Prozesses, das für alle Varianten dieses Typs von Demokratie gültig ist. Die unterschiedlichen Varianten ergeben sich erst auf der Grundlage unterschiedlicher struktureller Arrangements der Subsysteme der liberalen Demokratien in den einzelnen Ländern. Diese generieren dann auf der empirischen Ebene auch unterschiedli­ che demokratische Prozesse. Ein solches Modell ist so zu formulieren, daß es einerseits ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit in ihren wesentlichen Aspekten darstellt (das ist bereits im Begriff des Modells impliziert) und andererseits die Spezifizierung theoretisch bedeutungsvoller und empirisch testbarer Hypothesen erlaubt. Wenn nach Lehmann (1988, 809) ein Modell aus einem "logically ordered set of concepts" besteht, dann gilt es darzustellen, mit welchen Konzepten der demokratische Prozeß zu beschreiben ist und was die Logik der Ordnung dieser Konzepte darstellt. Bei der Erarbeitung dieses Modells wollen wir an Analysen anknüpfen, die im Rahmen von Systemtheo­ rien bereits vorgenommen wurden. Auch innerhalb von Systemtheorien werden politische Prozesse als eine Abfolge aufeinander bezogener Handlungen eines bestimmten Sinns begriffen. Dieser Sinn wird durch die Kennzeichnung als politische Handlung zunächst nur benannt. Vor dem Hintergrund der bisherigen metatheoretischen Festle­ gungen kann der inhaltliche Sinn des Politischen nicht nur aus einer theoreti­ schen Bestimmung von Funktionserfordernissen im Kontext der gesellschaftli­ chen Reproduktion bestimmt werden, sondern auch unter Rekurs auf die Wahrnehmung der Handelnden selbst. Ein ausdifferenziertes politisches System existiert einerseits in dem Maße, in dem die Handelnden in der Lage sind, es von seiner Umwelt zu unterscheiden und in seinen Grenzen zu erken­ nen (Luhmann 1970, 155; Mayntz 1988, 19). Die Möglichkeit der Identifikation 28 und Abgrenzbarkeit des politischen Systems durch die Handelnden wird ande­ rerseits von dem Grad der Ausdifferenzierung auf struktureller Ebene bestimmt. In letzterer Hinsicht lassen sich zumindest drei analytische Ebenen mit einem unterschiedlichen Grad an struktureller Verfestigung unterscheiden, die bei der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems aufeinander aufbauen (siehe dazu Mayntz 1988, 20f und Stichweh 1988, 261): erstens die unterste Ebene von einzelnen und situativen Handlungen; zweitens die Ebene der Her­ ausbildung spezieller politischer Funktionsrollen und drittens die Ebene komplexerer sozialer Gebilde, die durch Rollenverbindungen entstehen (sei es in Form informeller Netzwerke von Rollenhandeln, sei es in Form formaler Organisationen, die verschiedene Rollen nach Maßgabe eines übergeordneten Handlungszwecks kombinieren). Wenn alle drei Ebenen der Systembildung vollzogen sind - und das ist bei den uns interessierenden Demokratien der Fall dann beschränkt die jeweils höhere Ebene das, was auf der niedrigeren Ebene an Ereignissen und Handlungen möglich ist. Wir greifen diesen Gedanken bei der Diskussion des Strukturbegriffs in Kapitel 5 noch einmal auf. An dieser Stelle gilt es vor allem festzuhalten, daß der Grad der Ausdifferenzierung eines politischen Systems von einem komplementären Verhältnis der Wahrnehmung der Handelnden und der strukturellen Verfestigung dieses Systems bestimmt wird. Auf dieses komplementäre Verhältnis weist Luhmann (1970, 155) hin, wenn er betont, daß "nur auf der Rollenebene ... die Ausdifferenzierung ein­ deutig vollzogen werden [kann], so daß in hohem Maße erkennbar ist, ob eine Rolle (etwa die des Beamten, des Abgeordneten, des Parteisekretärs, des Wäh­ lers, des Gesuchstellers) dem politischen System zugeordnet wird oder nicht". Je eindeutiger also die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems auf der Rollenebene vollzogen ist, desto eher sind die Handelnden in der Lage, dieses System in seinen Grenzen zu erkennen und diesem bestimmte Handlungen zuzurechnen. Der politische Prozeß ist als eine Abfolge aufeinander bezogener Handlungen definiert worden. Damit stellt sich zuallererst die Frage, wie dieser Handlungs­ zusammenhang als ein politischer erkannt und gegen nicht-politische Hand­ lungen abgegrenzt werden kann. In Anknüpfung an die Begriffsverwendung 29 des vorangehenden Kapitels handelt es sich also um eine erste Bestimmung des generalisierten Handlungssinns des politischen Systems. Zur Bestimmung des besonderen Charakters politischer Handlungen greifen wir auf die Funktionsbe­ stimmung des politischen Systems zurück, wie sie in praktisch allen wichtigen Systemtheorien formuliert wurde: Die Funktion des politischen Systems ist die Formulierung kollektiver Ziele und ihre Umsetzung in Form kollektiv binden­ der Entscheidungen (siehe unter anderem Easton 1965; Parsons 1969; Luhmann 1970; Almond und Powell 1978). Auf die Realisierung dieser Funktion ist der Handlungszusammenhang bezogen, der als politischer Prozeß bezeichnet wird. Diese Furiktionsbestimmung des politischen Systems wurde in den genannten Theorien quasi objektiv vorgenommen. Wir gehen demgegenüber davon aus, daß diese auch als Kriterium in der Wahrnehmung der Subjekte fungiert, um Handlungen als politische zu identifizieren. Von dieser Annahme auszugehen, ist unseres Erachtens schon deshalb plausibel, weil es eine Ausdifferenzierung 16 des politischen Systems auf der Rollenebene gibt . Politisches Handeln ist infolge dieser Ausdifferenzierung vor allem Rollenhandeln, und mit jeder Rolle ist eine hohe Eindeutigkeit des Handlungssinns verbunden. Im Fokus dieser Rollen, die eine relativ problemlose Identifikation von Handlungen als politi­ sche ermöglichen, stehen die Rollen, deren Vernetzung die kollektiven Akteure "Regierung" und "Parlament" konstituieren. In dem Handeln dieser kollektiven Akteure wird unmittelbar deutlich, daß es um kollektiv bindende Entscheidun­ gen geht, die vor dem Hintergrund der Möglichkeit des Einsatzes von staatli­ chen Zwangsmitteln getroffen und implementiert werden (siehe dazu auch Parsons 1969, 206f). In ähnlicher Weise argumentiert Mayntz (1988,22f) - wenn auch bezogen auf die Ausdifferenzierung von Sozialsystemen überhaupt und nicht nur bezogen auf das politische System. Sie sieht es als ein wesentliches Kriterium der Ausdifferenzierung eines Sozialsystems an, "ob und inwieweit es Akteure gibt, die dafür Selbstregelungskompetenzen nach innen und Interes­ senvertretungsbefugnisse nach außen beanspruchen". Wenn diese Stufe der Ausdifferenzierung erreicht ist, dann werden solche Sozialsysteme "in aller 16 Letztlich ist es natürlich eine empirisch zu klärende Frage, inwieweit die Staatsbürger um dieses Kriterium wissen (wie diffus dieses Wissen auch nur sein mag) und es zur Kognition von Ereignissen in ihrer Umwelt auch anwenden. 30 Regel von den Gesellschaftsmitgliedern selbst als eigenständige und recht pro­ blemlos abgrenzbare Systeme wahrgenommen". Die nächste zu klärende Frage auf der Handlungsebene betrifft die Differenzie­ rung der politischen Handlungen im Rahmen dieses generalisierten Hand­ lungssinns: Wie kann die Handlungsabfolge oder der politische Prozeß in distinkte und theoretisch sinnvolle Stufen unterteilt werden? Wir wollen zur Klärung dieser Frage erst einmal auf Lösungen schon diskutierter Systemtheo­ rien eingehen. Almond und Powell (1978, 1988) versuchen eine solche Eintei­ 17 lung durch eine Abfolge von Prozeßfunktionen zweiter Ordnung vorzuneh­ men (zweiter Ordnung im Hinblick auf die schon genannte primäre Funktion des politischen Prozesses). Wir wollen uns aber stärker auf Eastons Unter­ scheidungen stützen, da sie unseres Erachtens das Prozeßkontinuum schärfer separieren und zudem eher einen systematischen Akteursbezug zulassen, was im Sinne unserer metatheoretischen Grund annahmen geboten ist. Easton (1965) spezifiziert sein Prozeßmodell auf eine zweifache Weise: erstens durch ein ein­ faches, dynamisches Rückkopplungsmodell, das lediglich die Phasen input, conversion, Output und feedback unterscheidet, und zweitens durch den Inhalt oder das Material dieses Prozesses. Hinsichtlich des Materials unterscheidet Easton vier Qualitäten - wants, demands, issues, und decisions - die zugleich die Abfolge der Stufen des politischen Prozesses kennzeichnen. Easton (1965, 72) bezeichnet diese Qualitäten auch als Produkte und bezieht sich damit implizit auf handelnde Akteure, die diese Produkte generieren. Die handelnden Akteure haben in der weiteren Ausarbeitung des politischen Prozesses, den er "a Systems analysis of political life" nennt, aber keinen systematischen Stellen­ wert, da die Metatheorie Eastons universell angelegt ist, das heißt für alle poli­ tischen Systeme Gültigkeit haben soll. Die Kategorien einer Metatheorie dieser Reichweite sind demzufolge invariant und können variable Größen wie bestimmte Typen kollektiver Akteure lediglich illustrativ integrieren. Nach 17 Diese Prozeßfunktionen (process functions) sind bei Almond und Powell folgende: interest articulation, interest aggregation, policy making, policy implementation, und policy adjudi­ cation. Dazu kommen noch die sogenannten policy functions, die sich auf den Output der Prozeßfunktionen beziehen, und in extraction, regulation und distribution unterteilt werden (Almond und Powell 1988, 9). 31 Easton (1990, ix) selbst kann eine solche Metatheorie deshalb keinen Bezugs­ rahmen zur Klärung solcher Fragen abgeben, was in den konkreten politischen Systemen die Erzeugung der einzelnen Produkte des politischen Prozesses determiniert und wie die Transformation dieser Kette von Produkten im ein­ zelnen zu begreifen ist Die uns interessierende Metatheorie des politischen Prozesses hat eine erheblich geringere Reichweite. Sie bezieht sich auf die libe­ ralen Demokratien der westlichen Gesellschaften, für die ausreichend viele (systemtheoretische) Analysen vorliegen, auf deren Grundlage das Eastonsche Prozeßmodell differenziert und konkretisiert werden kann. Einer der Vorzüge dieser Metatheorie geringerer Reichweite ist die Möglichkeit, die verschiedenen Qualitäten des politischen Prozesses auf bestimmte Akteure zu beziehen und sie als Produkte des Handelns dieser Akteure zu begreifen. Wir bezeichnen die Stufen des politischen Prozesses deshalb im folgenden als Handlungsprodukte. Auf diese Weise wird eine Akzentverschiebung vorgenom­ men: Der politische Prozeß wird nunmehr weniger durch eine Abfolge aufein­ ander bezogener Handlungen bestimmter Akteure bestimmt, sondern eher durch eine gerichtete Kette von Produkten der Handlungen dieser Akteure. Durch diese Akzentverschiebung wird erstens die empirische Messung der Stu­ fen des politischen Prozesses erleichtert, da sich Produkte in irgendeiner Form materialisieren müssen und zweitens entspricht diese Akzentverschiebung dem Tatbestand, daß es bei politischem Handeln letztlich um die Herstellung bestimmter Leistungen geht, die an die Umwelt des politischen Systems abge­ geben werden, und Leistungen sind Produkte des Handelns von Akteuren. Im Schaubild 2 ist die gerichtete Kette von Handlungsprodukten im einzelnen auf­ geführt. Die Pfeile kennzeichnen einerseits die Richtung der Abfolge und sollen andererseits symbolisieren, daß die jeweils spätere Stufe von der unmittelbar vorgelagerten beeinflußt wird. Auf den Charakter dieser Beeinflussung und auf die Abweichungen von dieser schrittweisen Beeinflussung kommen wir an späterer Stelle noch zurück. Zunächst einmal soll erläutert werden, was mit den einzelnen Jiandlungsprodukten gemeint ist. 32 Schaubtld 2: Ein Modell des demokratischen Prozesses Handlungs- Akteure Subsysteme Generalisierte Handlungs- orodukte y Orientierungen Akteure aus anderen gese.isohaMchen Funktionssystemen ^ , n t ™ in 11 • Ansprüche , 7 ' Staatsbürger l p ,-. „ u u™- . 1 1 Streitfragen Pressen- Massen- gruppen medien 1 Publikumstem - „ Politische Parteien _ . _ Response sys Intermediäres System • ,. . „^^ Unterstützung -0 3. W Programme -0 §• *s i Entscheidungen „ 1 l Implementationen —, I Abnahme Parlament Regierung Regierungssystem Effektivität *< i Verwaltung InteressenMassengruppen medien Publikumssystem Angemessenheit Staatsbürger 1 Resultate« Akteure aus anderen gesellschaftlichen Funktionssytemen Umwelt heteroaen (ie nach Funktionssystem) Nach der demokratischen Grundnorm beginnt der demokratische Prozeß bei den Ansprüchen der Staatsbürger. In dem Prozeßmodell sind diesen Ansprü­ chen aber noch Interessen vorgeschaltet. Mit dem Begriff des Interesses greifen wir das auf, was Easton "wants" nennt. Wants ist bei Easton (1965, 71f) aber ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Faktoren, die die Ansprüche beeinflussen. Mit dem Begriff des Interesses wollen wir demgegenüber eine engere und spe­ zifischere Bedeutung einführen. Interesse wird in verschiedenen Handbüchern als zu verwirklichende Absicht oder ein zu verwirklichender Nutzen einer Per­ son oder einer Gruppe definiert (siehe z.B. Fuchs et al. 1975, 312; Massing 1985, 384; siehe dazu auch von Alemann 1987,29). Wir knüpfen an diese Definitionen an, geben ihnen aber eine stärkere handlungstheoretische Wendung. Interessen können demnach als Handlungsziele von individuellen und kollektiven Akteu- 33 ren begriffen werden, die für diese Akteure einen Nutzen darstellen und die diese Akteure im Rahmen von situativen und strukturellen constraints von Sozialsystemen zu realisieren versuchen. Mit dem Begriff der Handlungspro­ dukte sind zwei unterschiedliche Stufen der Realisierung von Interessen durch die Handlungen der Akteure verbunden: Erstens die explizite Artikulation der Interessen als zu verwirklichende Handlungsabsichten und zweitens die fakti­ 18 sche Verwirklichung dieser artikulierten Interessen . Beide Stufen sind Resul­ tate der Inter-Aktionen zwischen relevanten Akteuren von Sozialsystemen und insofern als Handlungsprodukte bestimmbar. Ablesbar und meßbar wären Interessen im Stadium der expliziten Artikulation beispielsweise anhand von Äußerungen der Repräsentanten von kollektiven Akteuren oder von program­ matischen Dokumenten dieser Akteure. Bei individuellen Akteuren ist die Erfaßbarkeit sicherlich komplizierter; es wäre eine an anderer Stelle noch zu diskutierende Frage, ob die Anwendung elaborierter Umfragetechniken eine adäquate Methode zu ihrer Erfassung sein könnte. Wenn wir die Interessen auf den demokratischen Prozeß beziehen, dann sind sie Handlungsziele von Akteuren, die potentiell zu (politisierten) Ansprüchen werden können, aber es noch nicht geworden sind. Sie müssen demzufolge der Umwelt des politischen Systems zugerechnet werden. Sie gehören aber aus ver­ schiedenen Gründen zu dem Modell eines demokratischen Prozesses. Erstens ist es eine aus der Perspektive der normativen Demokratietheorie relevante Frage, ob es bestimmte Interessen gibt, die systematisch nicht zu Ansprüchen transformiert werden können, weil es z.B. strukturell bedingte Ausschlie­ ßungsmechanismen gibt. Zweitens setzen sich die Outputs des demokratischen Prozesses (implementierte Entscheidungen) nicht nur unmittelbar in neue Ansprüche um, sondern häufig erst vermittelt über komplexe Wirkungsketten, 18 Die explizite Artikulation von Interessen wird vor allem im Hinblick auf ihre Gestalt als Ansprüche als erste Stufe der Realisierung betrachtet. Bestimmte Akteure des demokrati­ schen Prozesses haben gar nicht die Möglichkeit, ihre Ansprüche selber zu verwirklichen. Die Staatsbürger beispielsweise benötigen dazu spezialisierte Akteure wie Parteien und Regierung, Infolge der Verkopplung des Entscheidungshandeins dieser Akteure mit den artikulierten Ansprüchen der Staatsbürger, die über den Wahlmechanismus erfolgt, kann aber auch schon die Anspruchsartikulation als intentionales Handeln im Sinne der Realisie­ rung von Zielen betrachtet werden. 34 die dann erst neue Interessen erzeugen, die wiederum mögliche Inputs in dem demokratischen Prozeß darstellen. Dieser letztgenannte Aspekt der Rück­ kopplung sollte zumindest auf der Modellebene nicht ausgeschlossen bleiben. Mit der Definition der Interessen haben wir eine Folie auch für die anderen Handlungsprodukte errichtet, sofern auch diese als Produkte rational handeln­ der Akteure begriffen werden. Der Unterschied liegt vor allem in dem höheren Bestimmtheitsgrad, der sich durch die Logik des demokratischen Prozesses selbst ergibt. Ansprüche unterscheiden sich von Interessen vor allem durch zwei Kriterien: Erstens stellen sie lediglich eine Selektion aus der Menge der Interes­ sen dar und zweitens sind sie in dem Sinne politisiert, daß sie mit der Erwar­ tung (oder eben dem Anspruch) verbunden sind, durch den kollektiv binden­ den Entscheidungsprozeß berücksichtigt und verwirklicht zu werden (siehe dazu auch Easton 1965, 38ff). An die Ansprüche schließen sich in der Kette der Handlungsprodukte die Streitfragen (in der Terminologie von Easton sind das die "Issues") an. Diese sind Selektionen aus den Ansprüchen, die durch die politischen Parteien vor­ genommen werden. Easton (1965, 128ff) bezeichnet das als eine "demand reduction" mit der Funktion eines "intrasystem gate keeping" zur Verhinderung eines "demand overload". Streitfragen sind eine Teilmenge von Ansprüchen, die die politischen Parteien aufgreifen und zum Gegenstand ihrer Konkurrenz um Wählerstimmen machen. Die qualitative Differenz zu den Ansprüchen beruht in Vorschlägen der politischen Parteien zur Realisierung dieser Ansprü­ che, das heißt in Lösungsvorschlägen oder in Politikalternativen (siehe dazu auch Easton 1965, 14ff sowie Almond und Powell 1988, 9). Programme der Parteien nehmen Selektionen aus der Menge der Streitfragen vor und relationieren diese im Sinne der Bildung von Präferenzhierarchien und zeitlicher Abfolgen der Verwirklichungsabsicht. Diese Art von Relationierung kann auch als Aggregation bezeichnet werden. Innerhalb der Kategorie der Programme ist eine Differen­ zierung zwischen Partei-, Wahl- und Regierungsprogrammen sinnvoll, die jeweils unterschiedliche Zeithorizonte haben und in dem demokratischen Pro­ zeß entweder "näher" zu den Streitfragen oder zu den Entscheidungen liegen. 35 Das den Entscheidungen unmittelbar vorausliegende Handlungsprodukt sind die Programme in Form von Regierungsprogrammen. Die Entscheidungen, die in Parlamenten und Regierungen getroffen werden, sind Selektionen aus diesen Regierungsprogrammen, die schon deshalb vorgenommen werden müssen, weil nicht alles sofort und genauso in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann, wie es programmatisch formuliert ist. Die spezifische Qualität der Entschei­ dungen als Handlungsprodukte liegt zum einen in der Allokation von Ressour­ cen zu Politikalternativen, die eine grundlegende Bedingung der Realisierung programmatischer Ziele sind. Zum anderen liegt sie in dem Charakter der Ver­ bindlichkeit für das Kollektiv der Staatsbürger und für die Akteure aus den anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen. Wenn die primäre Funktion politischer Handlungen die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen ist, dann bildet dieses Handlungsprodukt den Kern des demokratischen Pro­ zesses. Der Charakter der Verbindlichkeit wirkt sich auf die nachfolgenden Hand­ lungsprodukte in unterschiedlicher Weise aus. Innerhalb des Regierungssy­ stems bedeuten die Entscheidungen der Regierung, daß diese von der Verwal­ tung als Prämisse ihrer Handlungen übernommen werden müssen. Bei der Herstellung der spezifischen Handlungsprodukte der Verwaltung, die Imple­ mentationen genannt werden, gibt es nicht die Alternative, bestimmte Entschei­ dungen aufzugreifen und andere nicht, und das heißt es gibt keine Selektion aus mehreren Möglichkeiten. Es wird lediglich eine qualitative Transformation durch die Spezifikation der Entscheidungsprämissen in Form von öko­ nomischen und rechtlichen Verfahrensregeln vorgenommen. Erst diese implemen­ tierte Entscheidung kann dann an das Publikumssystem und die Gesellschaft 19 als "Output" abgegeben werden . Das letzte Handlungsprodukt des Modells des demokratischen Prozesses ist die Abnahme der implementierten Entscheidungen durch die Akteure des Publikumssystems. Auch in diesem Falle erlaubt der bindende Charakter der 19 Almond und Powell (1978,15) bezeichnen diese Handlungsprodukte als "implemented poli­ cies". 36 implementierten Entscheidung keine Selektion, denn eine Nicht-Abnahme ist zumindest offiziell nicht zugelassen. Demgegenüber ist es legal und legitim, die implementierten Entscheidungen unterschiedlich zu bewerten und deren Bewertung (Akzeptanz) dann in die Formulierung neuer und anderer Ansprü­ che an der Input-Seite des demokratischen Prozesses wieder einfließen zu las­ sen. Abweichungen von dieser Art der Abnahme der bindenden Entscheidun­ gen werden im Sinne der offiziellen Machtstruktur als Störungen betrachtet, die dysfunktional für den demokratischen Prozeß sind. Auf diese Problematik werden wir noch einmal zurückkommen. Das letzte der in Schaubild 2 aufgeführten Handlungsprodukte sind die Resul­ tate des Entscheidungshandelns des Regierungssystems in der gesellschaftli­ chen Umwelt. Die implementierten Entscheidungen erzeugen zwar mehr oder weniger große Wirkungen in der gesellschaftlichen Umwelt, aber das letztliche Resultat konstituiert sich erst in der Interaktion mit Wirkungsfaktoren, die von der eigenen Funktionslogik der gesellschaftlichen Teilsysteme generiert wer­ den, auf die die implementierten Entscheidungen bezogen sind. Das, was in dem Prozeßmodell als Resultate bezeichnet wird, ist weitgehend mit den soge­ nannten "outcomes" von Easton (1965, 351) und Almond und Powell (1978,16, 322-357) identisch (eine Diskussion des Outcome-Konzeptes findet sich bei Roller 1992,18-22). Nach dieser Darstellung der einzelnen Handlungsprodukte soll noch einmal zusammengefaßt und verallgemeinert werden. Der demokratische Prozeß ist als eine gerichtete Abfolge von Handlungsprodukten bestimmter Akteure begriffen worden. Diese Abfolge kann nach zwei Dimensionen charakterisiert werden: der Weitergabe von Selektionen der Akteure und der Transformation dieser Selektionen durch die Akteure. Die Weitergabe der Selektionen ist vor allem quantitativer Art, da es sich um eine Reduktion von Möglichkeiten der jeweils früheren Stufe handelt (bei zwei der Handlungsprodukten ist die Wei­ tergabe allerdings alternativlos, das heißt die Selektionen der vorangehenden Stufe müssen ohne weitere Wahlmöglichkeiten übernommen werden). Demge­ genüber ist die Transformation der Selektionen qualitativer Art, weil das jeweils spätere Handlungsprodukt durch eine zusätzliche Spezifizierung seine Qualität 37 verändert. In dem Schaubild 3 werden die konkreten Bedeutungen der einzel­ nen Handlungsprodukte im Hinblick auf die beiden genannten Dimensionen noch einmal schematisch dargestellt. Schaubild 3: Schematische Darstellung der Bedeutung der Handlungsprodukte Selektion (Quantitativer Aspekt) Transformation (Qualitativer Aspekt) (Ausgangsprodukte) (Ausgangsprodukte) Selektion Politisierung ("Gerichtethetr') Selektion Lösungsvorschläge (Poiitikalternativen) Selektion Relationierung (Aggregation) Entscheidungen Selektion Ressourcenzuweisung Verbindlichkeit Implementationen (keine Selektion möglicn) + Abnahme (keine Selektion möglich) + Resultate andere analytische Ebene + Interessen Streitfragen Verfahrensregeln Akzeptanz Wirkung Im folgenden soll die Steuerung der gerichteten Abfolge von Handlungspro­ dukten auf einer allgemeinen Ebene etwas genauer erläutert werden. Allgemein bedeutet, daß es sich um eine Steuerung handelt, die für alle repräsentativen Demokratien gilt. Diese Steuerung wird erläutert, indem der demokratische Prozeß als Machtprozeß expliziert wird. Wir greifen dabei einige Überlegungen noch einmal auf, die schon bei der Darstellung der Handlungsprodukte ange­ stellt worden sind, das aber unter einer anderen Perspektive. Das im Schaubild 2 dargestellte Modell des demokratischen Prozesses bezieht sich auf den formalen Prozeß. Formal ist der Prozeß in dem Sinne, daß "die 38 dominante Kommunikationsrichtung ... von der offiziellen Machtstruktur gestützt wird" (Luhmann 1970, 165). Die offizielle Machtstruktur ist die durch die Verfassung definierte und wird nach der hier diskutierten Metatheorie als formale Struktur bezeichnet (siehe Kapitel 5), die den Ablauf des politischen Prozesses in bestimmter Weise steuert. Macht wird bei Luhmann (1970, 162) definiert als "die Möglichkeit, durch eigene Entscheidung für andere eine Alternative auszuwählen ... Macht ist immer dann gegeben, wenn aus einem Bereich von Möglichkeiten eine bestimmte durch Entscheidung gewählt wird und diese Selektion von anderen als Entscheidungsprämisse übernommen wird" (eine vergleichbare Bestimmung von Macht findet sich bei Parsons 1969, 352-404). Das Recht, für andere eine Alternative auszuwählen, die diese dann als Prämisse ihres Handelns übernehmen müssen, ist in den Verfassungen der repräsentativen Demokratien der westlichen Gesellschaften an den entschei­ denden Stellen des demokratischen Prozesses verbindlich festgelegt. Der for­ male demokratische Prozeß nimmt als Machtprozeß seinen Ausgangspunkt von dem Kollektiv der Staatsbürger. Dieses Kollektiv konstituiert sich aus einer Mehrzahl von Rollen, bei der die Wählerrolle die entscheidende zur Ingangset­ zung des Machtflusses ist. Die Spezifikation der Wählerrolle durch das Wahl­ recht ist in liberalen Demokratien so etwas wie die Operationalisierung der Volksherrschaft auf struktureller Ebene. Diese durch das Wahlrecht implemen­ tierte Strukturkomponente wirkt sich in zweifacher Weise als machterzeugend aus. Erstens durch die Antizipation des Wählens der Staatsbürger seitens der politischen Parteien. Wenn als ein handlungsleitendes Interesse der politischen Parteien die Besetzung von Regierungspositionen unterstellt werden kann (auf diese Frage kommen wir später noch einmal zurück), dann ist es für die kon­ kurrierenden Parteien auch rational, die Ansprüche der Staatsbürger in ihren Wahlprogrammen zu berücksichtigen. Insofern sind die Ansprüche der Staats­ bürger Prämissen des Handelns der politischen Parteien, und insofern erfolgt auch eine machtgesteuerte Weitergabe von Selektionsleistungen. Die machter­ zeugende Wirkung des Wahlrechts wirkt sich zweitens durch den Vollzug des Wählens der Staatsbürger aus. Durch diesen Vollzug werden eine oder mehrere Parteien als Regierungspartei bzw. als Regierungsparteien ausgewählt und damit auch das Programm dieser Partei bzw. dieser Parteien als Prämissen für 39 das Handeln der Regierung gesetzt. Dieser zweistufige Machtprozeß hat zwei grundsätzliche Unbestimmtheiten, die bedeuten, daß das Handeln der Macht­ unterworfenen nicht vollständig von dem Handeln der Machthabenden deter­ miniert wird. Zum einen entstehen die Unbestimmtheiten bei dem Versuch der 20 politischen Parteien, die Ansprüche der Wähler zu identifizieren . Wie die Einstellungsforschung zeigt, sind diese weder eindeutig, noch stabil, noch tran­ sitiv im Sinne einer Präferenzordnung. Daraus erwachsen für das Handeln der politischen Parteien Freiheitsspielräume oder Freiheitszwänge (je nach Gesichtspunkt). Zum anderen ergeben sich Unbestimmtheiten bei der Umset­ zung der Programme der gewählten Parteien im Regierungshandeln bzw. der Entscheidungstätigkeit. Das Regierungshandeln ist an komplexe und sich wan­ delnde Realitätsrestriktionen gebunden, die eine bruchlose Umsetzung pro­ grammatischer Vorhaben zumindest einschränken. Dieser gebrochenen Umset­ zung könnte strukturell durch die verfassungsmäßige Einführung eines impe­ rativen Mandats gegengesteuert werden. Die Anpassungsfähigkeit des Regie­ rungshandelns an komplexe und sich wandelnde Realitätsrestriktionen ist aber einer der Gründe, warum das imperative Mandat ausdrücklich kein Strukturele­ ment der liberalen Demokratien ist. Diese Art von Unbestimmtheiten können je nach demokratischer Norm natürlich unterschiedlich bewertet werden. Sie machen aber deutlich, daß eine empirisch ermittelte starke Determination der Programme der Parteien durch aktuelle Ansprüche der Staatsbürger oder der Entscheidungen der Regierung durch die Programme der Regierungsparteien nicht per se im Sinne der normativen Demokratietheorie eindeutig positiv zu 21 bewerten sind . Wahrend die machtgesteuerte Weitergabe von Selektionsleistungen bis hin zu den Entscheidungen Unbestimmtheiten und damit Handlungsspielräume 2 0 Um Mißverständnisse zu vermeiden: die Machtunterworfenen sind in diesem Falle die poli­ tischen Entscheidungsträger und die Machthabenden die Staatsbürger. 21 Eine solche empirische Ermittlung der Determination eines Handlungsprodukts durch ein anderes kann z.B. in Form der Vorhersage mittels einer linearen Regression vorgenommen werden. Diese Methode wird in den bereits erwähnten Analysen von Klingemann, Hoffer­ bert und Budge bei der Vorhersage des Regierungshandems durch Parteiprogramme ver­ wendet. 40 erzeugt, ändert sich das im (formalen) demokratischen Prozeß ab der Stufe der Entscheidungen. Diese sind durch die Verfassungen als bindend festgelegt und das bezieht sich innerhalb des Regierungssystems auf die Implementationen der Verwaltung und außerhalb des Regierungssystems auf die Abnahme der implementierten Entscheidungen durch die Akteure des Publikumssystems. Das ist bereits bei der Darstellung der Handlungsprodukte diskutiert worden (siehe dazu auch Schaubild 3). In der Begrifflichkeit des demokratischen Pro­ zesses als Machtprozeß ist durch die Verbindlichkeit der Entscheidungen die Weitergabe der Selektionen des Machthabers an den Machtunterworfenen ein­ deutig: Der Machtunterworfene muß die Selektionsleistungen des Machtha­ benden alternativlos als Prämisse des eigenen Handelns übernehmen. Die bisherige Analyse des demokratischen Prozesses begriff diesen als eine gerichtete Kette von Handlungsprodukten bestimmter kollektiver Akteure. Diese Abfolge von Handlungsprodukten wurde unter den Gesichtspunkten der Selektion und Transformation beschrieben. Dabei wurde der Aspekt vernach­ lässigt, daß sich diese Selektion und Transformation im Rahmen einer Differen­ zierung des politischen Systems in Subsysteme vollzieht. Dieser Aspekt soll nunmehr aufgegriffen werden. Wir wenden uns also der Binnendifferenzierung des politischen Systems der liberalen Demokratien zu. 4.2 Binnendifferenzierung des politischen Systems 4.2.1 Differenzierung in drei Subsysteme Ein soziales System ist in dem Maße ausdifferenziert, in dem sich sowohl eine spezifische Struktur herausgebildet hat als auch eine generalisierte Handlungs­ orientierung der Akteure, deren Vernetzung die Struktur bildet. Diese Bestim­ mung muß auch auf die Binnendifferenzierung von Sozialsystemen angewen­ det werden, die grundsätzlich der gleichen Ausdifferenzierungslogik folgt wie die des übergeordneten Sozialsystems selbst. Die Diskussion der Binnendiffe­ renzierung des politischen Systems soll in drei Schritten vorgenommen werden: Erstens wird dargestellt, welche Subsysteme überhaupt differenziert werden, 41 zweitens werden diesen Subsystemen kollektive Akteure zugeordnet, und drittens werden die generalisierten Handlungsorientierungen der Akteure der jeweiligen Subsysteme beschrieben. Zur Darstellung der Binnendifferenzierung des politischen Systems greifen wir zunächst noch einmal auf die allgemeine Funktion oder die generalisierte Handlungsorientierung des politischen Systems insgesamt zurück, die in der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen liegt. Die Bedeutung oder der Bezug dieser allgemeinen Funktion unterliegt aber historischen Definitionspro­ zessen. Während der lang andauernden Phase der Entstehung und Konsolidie­ rung der europäischen Nationalstaaten konkretisierte sich diese Funktion vor allem in der permanenten nationalstaatlichen Herrschaftssicherung durch das politische Handeln der Herrschenden. Diese Reproduktion bestand im wesent­ lichen in der Erhaltung (oder Ausweitung) eines Territoriums durch die Stabili­ sierung einer Grenze nach außen und in der administrativen Durchdringung dieses Territoriums nach innen. Beide Reproduktionsweisen der nationalstaatli­ chen Herrschaft setzen die Existenz eines Machtzentrums mit einem Gewalt­ 22 monopol voraus . Diese Beschränkung in der Definition staatlichen Handelns auf das Interesse der Selbsterhaltung wird durch die Entwicklung der westeu­ ropäischen Wohlfahrtsstaaten aufgegeben. Diese Entwicklung ist an anderer Stelle detailliert beschrieben und analysiert worden (Flora, Alber und Kohl 1977; Luhmann 1981c; Alber 1982; Roller 1992). Zwar sind mit der Herrschafts­ reproduktion auch schon spezifische Leistungen der Herrschenden für die Gesellschaft verbunden (bzw. können verbunden sein), wie z.B. die Friedenssi­ cherung nach außen und die Ordnungsstiftung nach innen. Diese politischen Kerrifunktionen bilden im Verlauf der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates aber lediglich die Basis einer zunehmenden Aufgabenzuweisung bzw. Leistungserwartung an den Staat (Mayntz 1988, 39). Erst mit diesem wohl­ fahrtsstaatlichen Aufgabenkatalog hat sich ein klares Austauschverhältnis konstituiert: Die Herrschaftsausübenden geben die von der Gesellschaft erwarteten wohlfahrtsstaatlichen Leistungen an die Gesellschaft ab und bekommen dafür Steuerzahlungen und generalisierte Unterstützung. Dieses 22 Zur Entstehung und Konsolidierung der europäischen Nationalstaaten siehe Flora (1983). 42 Austauschverhältnis kennzeichnet das politische System als ein Leistungssy­ stem. Ein aktuelles Beispiel, daß die wohlfahrtsstaatliche Entwicklungsdynamik immer noch greift, ist die Diskussion in Deutschland über die Aufnahme von Staatszielen in die Verfassung (zu einer Diskussion der Logik der wohlfahrts­ staatlichen Entwicklung siehe Luhmann 1981c). Gleichgültig, ob im Endeffekt eine solche Aufnahme erfolgt, so spiegelt doch alleine diese Diskussion die Erwartungen relevanter sozialer Gruppen an das staatliche Handeln. Ob der Versuch eines Zurückschraubens dieser Erwartungen und der Relimitierung des staatlichen Handelns - wie er z.B. in Großbritannien in den achtziger Jahren erfolgte - langfristig erfolgreich sein kann, oder aber an tiefersitzenden struktu­ rellen Entwicklungstrends moderner Gesellschaften scheitern muß, soll hier als eine wichtige Fragstellung lediglich erwähnt, aber nicht weiter diskutiert werden. Eine leistungsbasierte Ausdifferenzierung eines Sozialsystems ist mit der Ausdifferenzierung "klar umrissener Produzenten- und Abnehmerrollen" (Mayntz 1988,19) von Leistungen verknüpft. Die spezifische Konfiguration der Produzentenrolien ist ein Strukturmerkmal des Regierungssystems und die spezifische Konfiguration der Abnehmerrollen ist ein Strukturmerkmal des Publikumssystems. Die Bezeichnung Publikumssystem ist von Luhmann (1970, 163) und Parsons (1969, 208) entlehnt und die des Regierungssystems lediglich 23 von Parsons (1969,207, 312) . Statt Regierungssystem gebraucht Luhmann den Begriff der "bürokratischen Verwaltung". Wenn aber schon einer der kollekti­ ven Akteure des "Entscheidungssystems" zur Kennzeichnung des Systems ins­ gesamt herangezogen wird, dann ist unseres Erachtens der Begriff Parsons plausibler, da letztlich Regierung und Parlament die verbindlichen Entschei­ dungen festlegen, während die bürokratische Verwaltung auf die Ausarbeitung der gesetzten Entscheidungsprämissen spezialisiert ist. Unabhängig von der konkreten Bezeichnung ist diese Differenzierung eines "Produktionssystems" von Leistungen (Regierungssystem) und eines "Abnehmersystems" von Lei- 23 Parsons exakte englische Begriffsverwendungen für beide Subsysteme lauten "public" und "government". 43 stungen (Publikumssystem) die grundlegende Differenzierung, die praktisch alle Systemtheorien der Politik vornehmen. Die Interaktion zwischen Produzenten und Abnehmern in Leistungssystemen sind Austauschprozesse von Leistung und Gegen-Leistung. In den meisten Sytemtheorien der Politik ist diese Austauschbeziehung sachlich und zeitlich auseinandergezogen. Das Regierungssystem liefert bindende Entscheidungen bestimmter Art an der Output-Seite des demokratischen Prozesses und erhält Unterstützung an der Input-Seite (siehe Parsons 1969, 209). Im negativen Falle erfolgt ein Unterstützungsentzug an der Input-Seite bei den nächsten Wahlen. Der Hintergrund dieses Auseinanderziehens liegt in der Annahme, daß sich ein politisches System in seinem Entscheidungshandeln nur dann "auf fluktuie­ rende gesellschaftliche Problemlagen einstellen" kann, wenn ein "nahezu motivloses, selbstverständliches Akzeptieren bindender Entscheidungen zustandekommt" (Luhmann 1970, 159). Wenn man von dieser Prämisse aus­ geht, dann ist es auch ausreichend, Modelle politischer Prozesse mit den implementierten Entscheidungen enden zu lassen, die an die Umwelt abgege­ ben werden, ohne diese Abgabe bzw. Abnahme weiter zu analysieren. Diese Abgabe an die Umwelt wird in der Regel mit dem unspezifischen Begriff des "Outputs" benannt. Wir wollen hier nicht erörtern, ob das motivlose Akzeptie­ ren der implementierten Entscheidungen durch die Abnehmer tatsächlich eine Funktionsbedingung des politischen Systems ist, sondern gehen von dem 24 unterstellbaren Tatbestand aus, daß das faktisch nicht mehr der Fall ist . In dem bereits dargestellten Modell des demokratischen Prozesses (siehe Schau­ bild 2) wird deshalb ein Gedanke Luhmanns aufgegriffen, der die Publikums­ rollen in Rollen differenziert, die der Input- bzw. der Output-Seite der Polity zuzuordnen sind (Luhmann 1970,164f). Im Unterschied zu Luhmann vermuten wir Austauschbeziehungen zwischen Polity und Publikum nicht nur an der Input-Seite des EntScheidungsprozesses, sondern auch an der Output-Seite. Die Abnahme der implementierten Entscheidungen ist nicht schon durch den Ver­ bindlichkeitscharakter eindeutig festgelegt, sondern eine in gewissen Grenzen 24 Auch diese Annahme ist natürlich als ein metatheoretischer "Vorgriff' zu verstehen, der als testbare Hypothese empirisch überprüft werden kann. 44 variable Größe, die auch von der Bewertung dieser implementierten Entschei­ dungen durch das Publikum beeinflußt wird. Ein Kernkraftwerk oder eine Autobahn durch ein Naturschutzgebiet beispielsweise wird nicht notwendi­ gerweise gebaut werden, nur weil das durch den legalen EntScheidungsprozeß der Polity so beschlossen wurde. Das Ausmaß der Abnahme der implemen­ tierten Entscheidungen durch das Publikum dürfte dann seinerseits einen Effekt auf die Resultate einer intendierten Politik haben, wie z.B. der Energie­ 25 politik oder der Verkehrspolitik . Der Sachverhalt der bedingten Abnahme der implementierten Entscheidungen der Polity durch das Publikum läßt sich mit Hilfe der Differenzierung Parsons (1969, 41Off; zu dieser Differenzierung siehe auch Gerhards 1993, 30ff) zwischen macht- und einflußbasierten Kommunika­ tionsprozessen auf einer allgemeineren Ebene darstellen und damit begrifflich genauer lokalisieren. Eine machtgestützte Weitergabe der Selektionsleistungen (implementierte Entscheidungen) würde eine fraglose Abnahme dieser Selek­ tionen durch das Publikum bedeuten. Das Annahmemotiv läge dann vor allem in der Möglichkeit des Einsatzes negativer Sanktionen bis hin zu Zwangsmit­ teln (die durch das staatliche Gewaltmonopol abgestützt sind). Das Annah­ memotiv bei einer einflußgestützten Weitergabe von Selektionsleistungen liegt demgegenüber in dem Ausmaß der Überzeugungskraft, die der Akteur x auf den Akteur y ausübt. Wenn unsere Hypothese einer bedingten Abnahme der implementierten Entscheidungen der Polity durch das Publikum zutrifft, dann ist es dem Publikum gelungen, die Kommunikation mit der Polity an der Output-Seite des demokratischen Prozesses weitgehend auf eine Einflußbasis zu stellen und die Polity dazu zu bewegen, auf Macht als Kommuni­ kationsmedium zu verzichten. Für die Akteure der Polity stellt sich damit aber das Problem, daß auch die Output-Seite des demokratischen Prozesses kontingent wird. Eine mögliche Form, auf diese Kontingenzzunahme strukturell zu reagieren, wäre eine Ausdifferenzierung von speziellen Funktionsrollen zur Mobilisierung von Unterstützung für bereits implementierte Entscheidungen. Die Einrichtung von Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit in den verschiedenen 25 Dieser Effekt ist in der Kette der Handlungsprodukte im Modell des demokratischen Pro­ zesses berücksichtigt (siehe Schaubild 2). 45 Verwaltungseinheiten kann als ein Kennzeichen dieser "Adaptionsweise" inter­ pretiert werden. Im Unterschied zur Output-Seite des politischen Prozesses hat sich an der Input-Seite ein spezialisiertes Subsystem ausdifferenziert, das zwischen dem 26 Publikumssystem und dem Regierungssystem vermittelt . Infolge dieses Ver­ mittlungscharakters nennen wir es auch intermediäres System. Der genauere Charakter bzw. die Logik dieser Vermittlung wird in den nachfolgenden Kapi­ teln zu verdeutlichen versucht. Das intermediäre System ist der Sache nach dasselbe wie das Subsystem "parteimäßige Politik" von Luhmann (1970, 163). Die Funktion dieses Subsystems ergibt sich für Luhmann aus der prinzipiellen Offenheit des politischen Systems für Themen und Probleme aus der Gesell­ schaft, über die kollektiv bindend entschieden werden soll. Das hat nach Luhmann zur Folge, daß die Mobilisierung politischer Unterstützung für das Handeln des Regierungssystems zu einer bestandswichtigen Daueraufgabe wird. Die Struktur, in der sich diese Mobilisierung vollzieht, ist die des gere­ gelten Parteienwettbewerbs um Wählerstimmen. Die Wählerstimmen selbst sind dann die manifeste Form der mobilisierten Unterstützung. Der Sinn dieser ausdifferenzierten Funktion des intermediären Systems ist nach Luhmann vor allem die Entlastung des Regierungssystems von der Aufgabe der Unterstüt­ zungsmobilisierung. Erst diese Entlastung ermöglicht die Konzentration des Regierungssystems auf die "Ausarbeitung und den Erlaß bindender Ent­ scheidungen" (Luhmann 1970, 164) nach Maßgabe von programmatischen Prämissen, für die eben durch das intermediäre System Unterstützung mobili­ siert wurde (siehe dazu auch Parsons 1969, 208ff). Mit der Funktionserfüllung des intermediären Systems ist zugleich auch eine Selektion und Transformation von Ansprüchen des Publikums verbunden (siehe dazu Schaubild 3), die eine 26 Hier könnte auch anders argumentiert werden, indem die Verwaltung in die Ministerialbürokratie und die lokalen Verwaltungen differenziert wird. Für letztere könnte dann die Funktion einer Vermittlung zwischen dem Regierungssystem und dem Publikumssystem an der Output-Seite beansprucht werden. Wir glauben aber, daß sich diese Differenzierung nicht so eindeutig vornehmen läßt, daß daraus zwei unterschiedliche Systeme postuliert werden können. Eine Alternative wäre, die Differenzierung von Ministerialbürokratie und lokalen Verwaltungen als Subsysteme des Verwaltungssystems zu begreifen. 46 effektive Bearbeitbarkeit der Ansprüche des Publikums durch das Entschei­ dungshandeln des Regierungssystems allererst ermöglicht. Einen etwas anderen Ansatz der Konzeptualisierung eines intermediären Systems zwischen Publikumssystem und Regierungssystem verfolgt Gerhards. Er stellt die allgemeinere These auf, daß zwischen "Leistungsrollen und Publikumsrollen" bei allen ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsystemen teilsystemspezifische Öffentlichkeiten vermitteln. Im Falle des politischen Systems ist das eben die politische Öffentlichkeit (Gerhards 1993, 22). Politische Öffentlichkeit wird als ein "intermediäres Kommunikationssystem" begriffen, das "Themen und Problemstellungen der Gesamtgesellschaft .... an das politi­ sche Entscheidungssystem ..." vermittelt (Gerhards 1993, 23). Durch diese Bestimmung wird implizit eine folgenreiche Festlegung getroffen: Bei dem Gegenstand der Vermittlung handelt es sich um Themen und Probleme der Gesellschaft; wenn wir das auf die Differenzierung zwischen Leistungssystem und Publikumssystem beziehen, zwischen denen die teilsystemische Öffent­ lichkeit vermitteln soll, dann muß dieser Gegenstand dem Publikumssystem zugeordnet werden. Der Charakter der Vermittlung liegt dann vor allem in der kommunikativen Weitergabe dieser Themen und Probleme aus dem Publi­ kumssystem an das Leistungssystem. Dieser Charakter drückt sich auch in der Bezeichnung als "intermediäres Kommunikationssystem" aus. Diese Konzep­ tualisierung eines intermediären Systems ist in unserem Modell des demokrati­ schen Prozesses nicht aufgreifbar, da es eindeutiger lokalisiert sein muß. Es geht in diesem Modell weniger um die kommunikative Weitergabe von Infor­ mationen (Themen und Probleme), sondern die Erfüllung spezifischerer Funk­ tionen: Erstens der Abschirmung des Regierungssystems gegenüber Zwängen permanenter Unterstützungsmobilisierung für seine laufende Entschei­ dungstätigkeit und zweitens die Transformation der Ansprüche des Publikums, so daß diese durch das Regierungssystem in seinem Entscheidungshandeln auch bearbeitbar sind. Es geht also um die Herstellung ganz bestimmter Hand­ lungsprodukte (siehe Schaubilder 2, 3) durch bestimmte Akteure. Diese in verschiedenen Systemtheorien durchaus ähnlich spezifizierten Funktionen kann die politische Öffentlichkeit als ein Kommunikationssystem, das vor allem 47 Ansprüche an das Regierungssystem kommuniziert, gerade nicht erfüllen. Nach unserem Modell erzeugt die politische Öffentlichkeit eher die Probleme, aufgrund derer es ein intermediäres System geben muß. In der weiteren Argumentation von Gerhards werden einige Spezifikationen vorgenommen, die eine größere Annäherung an unser Modell des demokrati­ schen Prozesses implizieren. Die Bedeutung der politischen Öffentlichkeit wird von ihm auf die Erzeugung einer öffentlichen Meinung eingegrenzt und in ein Modell des Policy-Prozesses eingeordnet (Gerhards 1993, 27-29). Politische Öffentlichkeit wird bei dieser Lokalisation als ein "Meinungsbildungssystem" 27 bezeichnet, das an der Input-Seite des politischen Entscheidungsprozesses zu plazieren ist. Daraus lassen sich zwei Schlußfolgerungen ziehen. Die von uns aufgeworfene und bedeutsam gehaltene Frage, wer und wie diese öffentliche Meinung in das politische Entscheidungssystem vermittelt, bleibt offen. Ver­ mittlung reduziert sich dann wieder auf die Bedeutung einer (einflußreichen) Weitergabe der Ansprüche der Staatsbürger an die Akteure des Entscheidungs­ systems. Diese Ansprüche haben die Gestalt der Öffentlichen Meinung. Die öffentliche Meinung wird bei Gerhards (1993,26) als ein Ersatzindikator für die Ansprüche der Staatsbürger begriffen. Diese Bestimmung der öffentlichen Mei­ nung greifen wir später in der Metatheorie des demokratischen Prozesses selber auf. Aber auch als öffentliche Meinung handelt es sich immer noch um Ansprü­ che, die das Problem der Selektion und Transformation nach sich ziehen, so daß sie durch das Entscheidungssystem auch bearbeitbar werden. Unter anderem diese Funktion hat im Modell des demokratischen Prozesses das intermediäre System. 4.2.2 Die kollektiven Akteure der drei Subsysteme 4.2.2.1 Die kollektiven Akteure des Regierungssystems Ausdifferenzierte Sozialsysteme in komplexen Gesellschaften gewinnen ihre Struktur durch Interaktionsmuster kollektiver Akteure, die als kollektive Akteure Rollenverbindungen darstellen. Die Struktur dieser Systeme läßt sich 27 Genauer müßte man es als ein System der Bildung der öffentlichen Meinung bezeichnen. 48 also sowohl über die Verbindung einzelner Rollen bestimmen, als auch über die Verbindung von Rollenkomplexen. Eine Voraussetzung der konkreten Bestim­ mung solcher Strukturen ist die Identifikation der relevanten kollektiven Akteure des Systems. Dies soll im folgenden für die drei unterschiedenen Sub­ systeme des politischen Systems geschehen. Die relevanten Strukturelemente von Systemen werden als kollektive Akteure begriffen, um damit an das metatheoretische Postulat der Einführung eines Akteurbezuges in die Systemtheorie angeschlossen werden soll. Man kann diese kollektiven Akteure auch als Systeme eines geringeren Generalisierungsgrades betrachten. Rucht (1991, 7ff) beispielsweise bezeichnet Parteien, Ver­ bände und Bewegungen als Systeme der Interessenvermittlung und Massen­ medien als Systeme der Informationsvermittlung. Diese Sprachregelung würde in unserem Theoriekontext aber einen Verlust an notwendiger Spezifität nach sich ziehen. Schimank hat die Notwendigkeit einer Differenzierung innerhalb der Kategorie des Systems betont, als er zwischen handlungsprägenden und handlungsfähigen Systemen unterschied. Handlungsfähige Systeme lassen sich aber auch im Kontext der Argumentation von Schimank präziser als kollektive Akteure bezeichnen, weil man damit einen Referenzpunkt errichtet, der deut­ lich machen kann, was ein handlungsfähiges System denn ist. Der Begriff des kollektiven Akteurs impliziert auf der ersten Bedeutungsebene ein handelndes Kollektiv. Wenn Handeln als intentionales Handeln bestimmt ist, das heißt auf die bewußte Verwirklichung von Zielen gerichtet ist, dann setzt das voraus, daß auch Kollektive zu einem solchen intentionalen Handeln in der Lage sind. Diese Annahme ist um so plausibler, je expliziter und eindeu­ tiger eine Zwecksetzung des Kollektivs existiert und diese sich in bestimmten Rollen verfestigt, die zugunsten der Zwecksetzung Weisungsbefugnisse nach innen und Interessenvertretungsbefugnisse nach außen haben. Diese Bedin­ gung trifft am stärksten auf formale Organisationen zu. In dem Maße, wie ein "kollektiver Akteur" von diesen Merkmalen abweicht, ist es auch schwieriger, ihn als kollektiven Akteur zu bezeichnen und dementsprechend in die Analyse einzuführen. Darauf kommen wir vor allem bei der Diskussion der Staatsbür­ ger als kollektiven Akteur noch einmal zurück. An dieser Stelle steht noch eine 49 Erläuterung dessen aus, was mit Kollektiv gemeint ist. Wir stützen uns hier weitgehend auf Parsons (1969, 21), für den die "collectivity" eine strukturelle Einheit von Sozialsystemen ist und als primäre Funktion die des "goal-attain­ ment" hat. Kollektive setzen sich nicht aus Individuen zusammen, sondern sind ein bestimmtes Aggregat von Rollen. Individuen sind in dieser Perspektive lediglich notwendige Substrate von Rollenhandeln. Rollen werden von Parsons (1969, 21) deshalb auch als "boundary-structure" bezeichnet, sofern sie eine Relation zu den Individuen herstellen, die als Individuen aber der Umwelt des Kollektivs zugehören. Hinsichtlich der Rollen führt Parsons (1969, 31) noch zwei weitere Spezifikationen ein, die ein Kollektiv konstituieren: Es muß Rollen geben, die eine klare Differenzierung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern erlauben, und intern muß eine Rollendifferenzierung nach Statuspositio­ nen erfolgen. Dieser letztere Aspekt knüpft an das schon erläuterte Kriterium an, daß ein Kollektiv um so eindeutiger identifizierbar ist, je stärker sich die Zwecksetzung des Kollektivs (seiner "goals") in entsprechenden Rollen ausdif­ ferenziert und verfestigt. In dem Ausmaß der Eindeutigkeit, in dem die kollektiven Akteure den Subsy­ stemen des politischen Systems zugeordnet werden können, gibt es ein deutli­ ches Gefälle. Entsprechend unterschiedlich wird auch der jeweilige Begrün­ dungsaufwand ausfallen. Am einfachsten verhält es sich mit den kollektiven Akteuren des Regierungssystems. Das Regierungssystem stellt den Kern des politischen Systems dar, da es im Rahmen des gesamten demokratischen Pro­ zesses auf die faktische Herstellung und Durchsetzung bindender Entscheidun­ 28 gen spezialisiert ist . Der Tatbestand, daß das Regierungssystem Entschei­ dungen treffen kann, die für die gesamte Gesellschaft verbindlich sind und der Tatbestand, daß sich diese Entscheidungstätigkeit auf die Monopolisierung und Kontrolle physischer Gewalt stützt, verlangt eine detaillierte rechtliche Codifizierung der einzelnen Rollen und der Rollenkomplexe dieses Teilsystems der Politik (Luhmann 1987, 149). Die Struktur des Regierungssystems ist infolge dieser detaillierten rechtlichen Codifizierung durch die Verfassung hochgradig 28 Es handelt sich bei den Tätigkeiten der Akteure des Regierungssystems also nicht nur um Vorstufen der Entscheidungsbildung. 50 formalisiert. Das bedeutet zugleich auch, daß es eindeutig ist, welche kollekti­ ven Akteure diesem Teilsystem zugehören und was die Funktion dieser kollek­ tiven Akteure ist. Bei der Darstellung der Handlungsprodukte des demokrati­ schen Prozesses wurde innerhalb des Regierungssystems zwischen Entschei­ dungen und Implementationen unterschieden (siehe Schaubild 2). Entschei­ dungen beziehen sich genauer auf die Herstellung von Entscheidungs-Prämis­ sen und auf den Erlaß der implementierten Entscheidungen. Beides sind Pro­ 29 dukte des Handelns von Parlament und Regierung . Die Entscheidungsprä­ missen werden von der Verwaltung spezifiziert und das heißt, in detaillierte 30 ökonomische und rechtliche Verfahrensregeln übersetzt . Das Ergebnis dieser Spezifikation wird Implementation genannt, und es sind letztlich die imple­ mentierten Entscheidungen, die nach der Verabschiedung durch die Regierung und das Parlament als bindende Entscheidungen an die gesellschaftliche Umwelt abgegeben werden. 4.2.2.2 Die kollektiven Akteure des intermediären Systems Das intermediäre System als Subsystem des politischen Systems vermittelt zwi­ schen dem Regierungssystem und dem Publikumssystem, das heißt es vermit­ telt zwischen zwei Sozialsystemen. Es wurde bereits erläutert, daß Individuen zur Umwelt von Sozialsystemen und Kollektiven gehören. Sie gehören in ihrer Staatsbürgerrolle zum politischen System, und die Verbindungen der einzelnen Staatsbürgerrollen konstituieren das Kollektiv der Staatsbürger. Dieses ist eines der Akteure des Publikumssystems. Eine soziologische Analyse der Austausch­ beziehungen zwischen zwei Sozialsystemen kann deshalb nicht auf die Vermitt­ lung von Individuen und Regierungssystem abzielen. Dieses ist beispielsweise 29 Der Einfachheit halber wurden in dem Modell des demokratischen Prozesses nur Parlament und Regierung berücksichtigt. In Präsidialsystemen müßte der Präsident als Akteur natür­ lich miteinbezogen werden, 30 Eine weitere mögliche Untergliederung der Verwaltung wäre die in Ministerialbürokratie und in lokale Verwaltung (dieser Aspekt wurde bereits angesprochen). Vor allem die Mini­ sterialbürokratie hat bei dieser Unterscheidung die Funktion der Implementation der durch die Regierung getroffenen Entscheidungsprämissen, während die lokalen Verwaltungen die Funktion der Weitergabe dieser implementierten Entscheidungen an die gesellschaftliche Umwelt hat. Die lokalen Verwaltungen entscheiden,, in welchen konkreten Fällen die implementierten Entscheidungen angewendet werden sollen und dürfen. 51 die Analyseperspektive von Rucht (1991), aus der dann Interessengruppen, Massenmedien und politische Parteien gleichermaßen zu Systemen der 31 Vermittlung werden . Demgegenüber gehen wir davon aus, daß als kollektive Akteure des intermediären Systems lediglich die politischen Parteien veranschlagt werden können und Interessengruppen und Massenmedien dem 32 Publikumssystem zuzuordnen sind . Diese Einstufung der politischen Parteien als die dominanten Akteure des intermediären Systems drückt sich unter anderem auch in Luhmanns Bezeichnung dieses Systems als "parteimäßige Politik" aus und wird ganz deutlich bei Parsons herausgestellt. Nach Parsons (1969, 209) wird der Austauschprozeß zwischen dem Publikumssystem und dem Regierungssystem durch das Parteiensystem vollzogen. In ähnlicher Weise argumentieren auch Analysen, die nicht von vornherein systemtheoretischen Ansätzen verbunden sind (Sartori 1976, ix; von Beyme 1984, 22, 374). Es lassen sich also genügend prominente Referenzen für die Annahme beibringen, daß die politischen Parteien die kollektiven Akteure des intermediären Systems sind. Damit ist die Frage aber noch nicht beantwortet, warum das so sein soll. Da die Gleichsetzung von intermediären Systemen und Parteiensystemen und die damit verbundene Ausschließung von Interessengruppen aus dem inter­ mediären System nicht unkontrovers ist, wird versucht, diese Festlegung noch genauer zu begründen. In den liberalen Demokratien ist die Ausübung der Volksherrschaft durch die Wahlen an ein kompetitives Parteiensystem gebunden. Das institutionelle Arrangement des kompetitiven Parteiensystems konstituiert dieses als das intermediäre System. Die Parteien müssen vor den jeweiligen Wahlen den Staatsbürgern Angebote machen über die Politiker, die die Entscheidungsposi- 31 Dieser Analyseperspektive ist letztlich auch die bekannte Differenzierung von Mikro-MesoMaJkroebene verbunden. 32 Die Interessengruppen und Massenmedien "vermitteln" natürlich auch Interessen bzw. demands der Staatsbürger an die Akteure der Polity. Das ist schon im Begriff der Artikula­ tion von Interessen und demands enthalten. Aus diesem sehr weitgefaßten Vermittlungsbe­ griff kann aber nicht gefolgert werden, daß diese Akteure einem eigenen intermediären System zugehören bzw. dieses konstituieren, das im Rahmen des demokratischen Prozesses spezifische Funktionen erfüllt. Das ist im Kapitel 4.2.1 bereits begründet worden und wird im Kontext dieses Kapitels ergänzt. 52 tionen besetzen sollen und vor allern über die Programme, die verwirklicht werden sollen. Beides geschieht unter der Perspektive einer möglichen Beset­ zung der Entscheidungspositionen. Deshalb macht es auch keinen Sinn, die Parteien als Parteien bereits dem Regierungssystem zuzuordnen (nur eine Teilmenge der konkurrierenden Parteien kann zwangsläufig die Regierung stellen, und nur eine Teilmenge der konkurrierenden Politiker kommt in das Parlament). Es macht auch keinen Sinn, sie dem Publikumssystem zuzurech­ nen, da sie keine Ansprüche artikulieren, sondern artikulierte Ansprüche berücksichtigen müssen, um gewählt zu werden. Diese Berücksichtigung impliziert zweierlei: Erstens eine Auswahl aus der Menge der Ansprüche (nicht alle können durch das Regierungshandeln verwirklicht werden) und zweitens Vorschläge zur Realisierung der Ansprüche. Genau diese beiden Aspekte der Selektion und Transformation der Ansprüche 33 ermöglichen eine effektive Entscheidungstätigkeit des Regierungssystems nach den Wahlen. Insofern vermitteln die Parteien zwischen den Ansprüchen des Publikumssystems und den Entscheidungen des Regierungssystems. Der Charakter der Vermittlung zwischen diesen beiden Subsystemen durch die politischen Parteien kann auch unter einer anderen Perspektive verdeutlicht werden. Wenn man von der dominanten Handlungsrationalität der politischen Parteien ausgeht, Macht zu erwerben und Macht zu erhalten, dann ist durch diese Handlungsrationalität und dem Wahlmechanismus eine doppelte Per­ spektive der politischen Parteien festgelegt: Erstens der Erwerb von Macht in bezug auf die aktuellen Wahlen und zweitens der Erhalt von Macht in bezug auf die nächsten Wahlen. Das impliziert, daß von den politischen Parteien von vornherein eine gewisse Verschränkung der Input- und Output-Perspektive der Polity vorgenommen werden muß. Diese doppelte Perspektive gewährleistet eine Vermittlung von Publikumssystem und Regierungssystem, weil dadurch unterschiedliche Handlungsrationalitäten miteinander verkoppelt werden: Die möglichst starke Responsivität gegenüber den Ansprüchen des Publikums­ systems und die möglichst effektive Realisierung dieser Ansprüche. Wie stark 33 Im Modell des demokratischen Prozesses (siehe Schaubild 2) werden die durch die Parteien selektierten und transformierten Ansprüche Streitfragen und Programme genannt. 53 einzelne Parteien in diesem Sinne rational handeln und beide Perspektiven tatsächlich miteinander verbinden, hängt sicherlich auch von Zusatzfaktoren ab. Es dürfte beispielsweise eine Rolle spielen, inwieweit sich politische Par­ teien von ideologisch festgelegten Parteien zu "Großparteien" 34 transformieren konnten und somit relativ flexibel gegenüber den Ansprüchen der Staatsbürger sein können. Ein weiterer Faktor dürfte der Nutzen der Langfristperspektive (nächste Wahlen) gegenüber der Kurzfristperspektive (aktuelle Wahlen) sein: Dieses Nutzenkalkül wird vermutlich wesentlich von der erwarteten Wahr­ scheinlichkeit eines Wahlerfolges bei den aktuellen Wahlen beeinflußt. Wenn keine Chancen bestehen, Versprechen einlösen zu müssen, können auch mehr Versprechen gemacht werden. Unangesehen, wie sich die Situation einzelner Parteien darstellt, das, was die politischen Parteien von Interessengruppen als kollektiven Akteuren des politischen Systems unterscheidet, ist, daß sie poten­ tiell politische Ämter besetzen können 35 (von Beyme 1984, 23). Und diese ver­ fassungsmäßig festgelegte Möglichkeit versetzt die politischen Parteien - und nur diese - aus strukturellen Gründen in die Lage, die notwendige Ver­ mittlungsfunktion zwischen Regierungssystem und Publikumssystem zu erfüllen. Das intermediäre System eines politischen Systems in repräsentativen Demokratien ist also weitgehend identisch mit seinem Parteiensystem. 4.2.2.3 Die kollektiven Akteure des Publikumssystems 4.2.2.3.1 Die Staatsbürger Die Legitimationsgrundlage repräsentativer Demokratien beruht wesentlich darin, daß der Machtprozeß bei den Staatsbürgern seinen Ausgang nimmt und 34 Alternative Bezeichnungen sind "Vielthemenparteien" oder "Volksparteien". Alle diese Bezeichnungen beleuchten unterschiedliche Aspekte und sind in unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen entstanden. Für unsere Zwecke ist bedeutsam, daß sich Parteien von festen Bindungen an ganz bestimmte Gruppeninteressen und ganz bestimmte programmati­ sche Ziele lösen und somit Flexibilitäten für eine Responsivität auf fluktuierende Ansprüche des Publikums gewinnen. 35 Weil die Interessengruppen diese Möglichkeit nicht haben, sind sie auch nicht genötigt, ihre Ansprüche in Relation zu anderen zu setzen und sie eventuell in ihrer zeitlichen Dringlich­ keit zurückzustellen oder sogar gänzlich fallenzulassen. Sie brauchen also Ansprüche nicht in der Weise selektieren oder transformieren, wie das die politischen Parteien tun müssen. 54 über einen Rückkopplungsprozeß wieder an die Staatsbürger zurückgebunden wird. Auf diese Weise entsteht ein kreisförmiger Machtprozeß mit dem Fix­ punkt der Staatsbürger. Das Kollektiv der Staatsbürger ist demzufolge der ent­ scheidende kollektive Akteur des Publikumssystems. In welchem Ausmaß und in welcher Weise sind die Staatsbürger aber als handlungsfähiges Kollektiv zu begreifen oder lediglich als ein Aggregat einzelner Staatsbürger, deren Cha­ rakter als Kollektiv nur in der errechneten Mehrheit der abgegebenen Stimmen besteht? Die Klärung dieser Frage setzt eine Erörterung voraus, wie das Kol­ lektiv der Staatsbürger überhaupt zu verstehen ist. Das Kollektiv der Staatsbürger hat eine hochformalisierte Dimension in dem Sinne, daß in den Verfassungen der repräsentativen Demokratien des Westens genau festgelegt ist, wer zu dem Kollektiv gehört und welche Rechte und Pflichten mit dieser Mitgliedschaft verbunden sind. Es gibt also eine klare Mitgliedschaftsdennition. Damit ist das erste Kriterium für das Vorliegen eines Kollektivs erfüllt. Der gesamte Komplex des Mitgliedschaftsstatus und der dar­ auf bezogenen Rechte und Pflichten wird häufig als die Institution der Staats­ bürgerschaft bezeichnet. Die zentralen Komponenten dieser Institution sind von Marshall (1965), Parsons (1969) und Heater (1990) unter unterschiedlichen theoretischen Perspektiven herausgearbeitet worden. Die erste Komponente ist die Sicherung von grundlegenden Bürgerrechten, die zweite ist die der Gewährleistung von politischer Beteiligung und die dritte die Garantie bestimmter "wohlfahrtsstaatlicher" Leistungen, wie z.B. eines Minimums an Lebensstandard, von Schulbildungsmöglichkeiten für alle Staatsbürger etc. Diese drei Komponenten sind historisch etwa in der aufgeführten Reihenfolge entstanden. Während die Grundrechtskomponente sich auf das grundlegende Verhältnis zwischen Bürgern und Staat angesichts des staatlichen Gewaltmo­ nopols bezieht und somit auf eine Rahmenbedingung des demokratischen Pro­ zesses insgesamt, ist die Komponente der politischen Beteiligung eher der Input-Seite des demokratischen Prozesses zuzuordnen und die Komponente der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen eher der Output-Seite. Der strukturie­ rende und dynamische Faktor für den demokratischen Prozeß ist aber vor allem die Partizipationskomponente, die in erster Linie durch das Prinzip der 55 freien, gleichen und geheimen Wahl definiert ist. Durch diese Formalisierung der Wählerrolle ist das Kollektiv der Staatsbürger aber durch eine segmentäre Differenzierung gleicher Einheiten charakterisiert, ohne daß es eine hierarchi­ sche Differenzierung geben kann, deren Spitze dann die Intentionen des Kol­ lektivs insgesamt repräsentieren könnte. Die Klärung der Frage nach dem Kollektivitätscharakter dieses Kollektivs verschiebt sich also auf andere Ebenen. Eine solche Ebene errichtet Parsons (1969, 19, 21, 40, 42), wenn er als bestim­ mende Merkmale eines Kollektivs ein legitimes Normensystem und ein "ausreichendes" Ausmaß an Solidarität, Zusammenhalt oder Gemeinschaftsge­ fühl ansieht. Kollektive konstituieren sich also auch oder vielleicht sogar vor allem als "imagined communities" (Easton 1965,171-189; Anderson 1991; Fuchs, Gerhards und Roller 1993). Als die legitime normative Ordnung des Kollektivs der Staatsbürger kann die Verfassung begriffen werden - natürlich nur insoweit, als sie von den Staatsbürgern auch als legitim angesehen wird. Die Bezugspunkte des Aufbaus und des Erhalts eines Gemeinschaftsgefühls kön­ nen sehr unterschiedlich sein. In den westeuropäischen Nationalstaaten spiel­ ten und spielen verschiedene Kombinationen territorialer, religiöser, ethnischer und weiterer Merkmale als Grundlage des Gemeinschaftsgefühls eine Rolle (Fuchs, Gerhards und Roller 1993). In Deutschland wird seit einiger Zeit die Frage diskutiert, inwieweit die Verfassung als legitime normative Ordnung auch gleichzeitig die Basis des Gemeinschaftsgefühls abgeben könnte. Sternberger (1990) hat dafür den Begriff des "Verfassungspatriotismus" eingeführt, der sich in der Diskussion weitgehend durchgesetzt hat. Unabhängig von der Tragfähigkeit einer so kognitionsbetonten Basis eines Gemeinschaftsglaubens muß davon ausgegangen werden, daß ohne eine geglaubte oder gefühlte Gemeinschaft - auf welcher Grundlage diese auch immer beruht - von einem Kollektiv der Staatsbürger nur sehr eingeschränkt geredet werden kann. Das Ausmaß der Kollektivität dieses Kollektivs ist nicht nur theoretisch bestimm­ bar, sondern vor allem auch eine empirische Frage. In jedem Falle dürfte das Ausmaß des Zusammenhalts und der Solidarität im Kollektiv der Staatsbürger ein politisch folgenreicher Sachverhalt sein. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten der politischen Entscheidungsträger in Deutschland unter Rekurs auf die Soli- 56 darität des Kollektivs Opferbereitschaften für den Prozeß des Zusammenwach­ sens beider Teile Deutschlands zu mobilisieren, sind ein Beispiel für solche Fol­ gen. Sie illustrieren zugleich auch Eastons (1965,171-189) allgemeine These, daß der "sense of community" eine fundamentale Ressource aller politischen Systeme ist, die vor allem in Krisenzeiten wirksam wird. Eine letzte noch zu diskutierende Frage hinsichtlich des Kollektivs der Staats­ bürger betrifft seine Handlungsfähigkeit ab Kollektiv und nicht nur die der einzelnen Mitglieder des Kollektivs (z.B. als Wähler). Eine derartige Hand­ lungsfähigkeit setzt einerseits voraus, daß sich Interessen des Kollektivs über­ haupt identifizieren lassen und andererseits, daß sich diese in irgendeiner Weise in Handlungen umsetzen bzw. in einem weiteren Sinne handlungsrele­ vant werden. Bezüglich beider Voraussetzungen erfüllen die Massenmedien und die Interessengruppen als weitere kollektive Akteure des Publi­ kumssystems eine angebbare Funktion für das Kollektiv der Staatsbürger. Bei dieser Hypothese wird von zwei Prämissen ausgegangen: 1. In hochmodernen Gesellschaften gibt es keine limitierten und stabilen Interessen der Staatsbürger mehr, sondern die Interessen sind vielfältig und fluktuierend. 2. Die einzelnen Staatsbürger können schon dadurch, daß sie als Individuen Träger eines ganzen Rollenkomplexes sind "nur punktuell, intermittierend und situativ in den Handlungszusammenhang des politischen Systems einbezogen werden" 36 (Mayntz 1988, 32). Es bedarf einer Ausdifferenzierung von kollektiven Akteu­ ren, die diese beiden "Defizite" der Staatsbürger kompensieren können und den Staatsbürgern eine Gestalt als Kollektiv geben. Die Massenmedien und die Interessengruppen können diese Funktion in jeweils unterschiedlicher Weise erfüllen. Um diese These ausführen zu können, ist noch ein begrifflicher Exkurs notwendig. 36 Diese Prämisse ist zumindest plausibel. Mit Hilfe des evidenten Tatbestandes, daß die Indi­ viduen in vielfältiges Rollenhandeln eingebunden sind, kann das Phänomen erklärt werden, daß die Staatsbürger einerseits eine ausgeprägte Bereitschaft haben, sich an verschiedensten politischen Handlungsformen zu beteiligen, dieses aber faktisch relativ selten tun (siehe Fuchs 1991b). Rollenvielfalt wirft zwangsläufig das Problem der Zeitallokation zu verschie­ denen Handlungsoptionen auf. 57 Der Bezugspunkt des Exkurses ist das Kollektiv der Staatsbürger. Wir wollen noch einmal festhalten, was darunter zu verstehen ist. Damit von einem solchen Kollektiv überhaupt geredet werden kann, ist als Minimalkriterium eine Mit­ gliedschaftsregel notwendig, die eindeutig festlegt, wer diesem Kollektiv zuge­ hört und wer nicht. Dadurch wird eine formale Grenze nach außen gezogen. Nach innen ist ein gewisses Ausmaß eines Solidaritäts- und Gemeinschaftsge­ fühls notwendig, wobei theoretisch nicht eindeutig festzulegen ist, wie groß dieses Ausmaß denn sein muß. Als eine weitere Ebene kann das Ausmaß der Gemeinsamkeit von Interessen gelten. Diese drei Ebenen bauen aufeinander auf und bestimmen, wie ausgeprägt der Kollektivitätscharakter des Kollektivs im einzelnen ist. Diese Ebenen sind alle auf die Integration des Gesamtkollektivs bezogen. Ein gesellschaftliches Kollektiv ist zumindest in modernen Gesell­ schaften aber "nach unten" hin geschichtet, das heißt unterhalb dieser Integrati­ onsebene existieren noch sogenannte "solidary groupings" (Parsons), das heißt Kollektive geringerer Größe, die Teil des Gesamtkollektivs sind. Wir haben somit innerhalb der Kategorie der Staatsbürger das Gesamtkollektiv und Sub­ kollektive unterschieden. Beide Arten von Kollektiven können im Rahmen des demokratischen Prozesses nur handeln, wenn sie Interessen und Ansprüche an die Polity richten. In Schaubild 4 werden die Interessen des Gesamtkollektivs Kollektivinteressen genannt und die Interessen der jeweiligen Subkollektive Par­ tikularinteressen. Um diese analytische Differenzierung zu vervollständigen, werden noch die Individiialinteressen eingeführt, das heißt die Interessen der jeweils einzelnen Staatsbürger. Interessen wurden bereits als Handlungsziele von individuellen und kollekti­ ven Akteuren bestimmt, die diese im Rahmen von situativen und strukturellen constraints zu realisieren suchen (siehe Kapitel 4.1). Wie kann diese Bestim­ mung im Hinblick auf die empirische Identifikation von Interessen operationalisiert werden? Wenn davon ausgegangen werden kann, daß es für die einzel­ nen Staatsbürger immer eine Vielzahl von Zielen gibt, die sie durch ihr politi­ sches Handeln verwirklichen wollen, dann stellt sich die Frage, welches dieser 58 Schaubild 4: Eine Typologie von Interessen und Gütern KollektivGüter PartikularGüter IndMdualGüter KollektivInteressen \J V "J •J V \J\ Partikulartnteressen Individual­ interessen 37 Ziele denn vordringlich ist . Nur die aktuellen (vordringlichen) Ziele aus der Menge möglicher Ziele werden Interessen genannt, und von diesen kann ange­ nommen werden, daß sie für das faktische Handeln der Individuen maßgebend sind. Zur empirischen Bestimmung der Interessen der Staatsbürger ist dem­ zufolge die Ermittlung einer Präferenzordnung ihrer Ziele notwendig. Individualinteressen sind also solche Ziele von Individuen, die auf ihrer Präfe­ 38 renzordnung möglicher Ziele relativ hoch rangieren . Diese Grundüberlegung wird auch auf die Definition von Partikularinteressen und Kollektivinteressen angewendet. Da sich Kollektive aber per Definitionen aus einer Vielzahl von Mitgliedern zusammensetzen, ist ein Zusatzkriterium notwendig, wie sich die Präferenzordnungen der einzelnen Mitglieder zueinander verhalten. Das einzig plausible Kriterium scheint uns die Mehrheitsregel zu sein. Partikularinteressen, das heißt die Interessen eines Subkollektivs der Staatsbürger sind dann solche Interessen, die bei der Mehrheit der Mitglieder dieses Subkollektivs relativ hoch plaziert sind. Die gleiche Definition ist auch auf die Kollektivinteressen anzu- 37 Es ist völlig unrealistisch, eine große Zahl von Zielen oder gar alle in Handlungssituationen verwirklichen zu wollen. 38 Auf theoretischer Ebene kann nicht festgelegt werden, wie hoch ein Handlungsziel auf der Präferenzordnung rangieren muß, um als Interesse eingestuft zu werden. Diese Frage ist nur empirisch und pragmatisch zu lösen. 59 wenden, nur daß in diesem Falle die Referenz das Gesamtkollektiv der Staats­ bürger ist. In Schaubild 4 werden Interessen und Güter unterschieden. Die Differenzie­ rung der drei Güterkategorien gründet auf der klassischen Analyse von Musgrave (1959), der als das entscheidende Differenzierungskriterium die Ausschließbarkeit vom Nutzen eines Gutes angegeben hat. Kollektivgüter sind dadurch gekennzeichnet, daß niemand vom Nutzen dieses Gutes ausgeschlos­ sen werden kann, auch wenn er zur Herstellung des Gutes nichts beiträgt. Bei Individualgütern ist demgegenüber die Nutzung des Gutes direkt an die Erbringung einer Gegenleistung gekoppelt, das heißt die Nutzung hat einen Preis. Bei der Anwendung dieser Bestimmung Musgraves für unseren Analy­ sekontext sind KollektivgUter solche Güter, die jedes Mitglied des Gesamtkollek­ tivs der Staatsbürger nutzen kann. Partikulargüter sind solche Güter, die ledig­ lich ein Subkollektiv der Staatsbürger nutzen kann und Individualgüter sind sol­ che Güter, die nur eine Teilmenge der Staatsbürger nutzen kann, ohne daß diese ein Subkollektiv bilden. Im Schaubild 4 sind die unterschiedenen Typen von Interessen und die unter­ schiedenen Typen von Gütern zueinander in Bezug gesetzt worden. Drei logisch mögliche Verknüpfungen werden nicht hergestellt (siehe schraffierter Teil der Matrix): Es ist nicht plausibel, daß das Gesamtkollektiv der Staatsbür­ ger Interessen artikuliert, die sich auf die Herstellung von Partikular- und Indi­ vidualgütern beziehen, das heißt auf Güter, von deren Nutzung ein Teil ihrer Mitglieder ausgeschlossen ist. Aus demselben Grund ist es nicht plausibel, daß ein Subkollektiv die Herstellung von Individualgütern als eines ihrer Interessen formuliert. Unter der Prämisse rationalen Handelns nach dem Eigennutz-Theo­ rem müßte man annehmen, daß die Interessen des Gesamtkollektivs sich auf Kollektivgüter richtet, die Interessen der Subkollektive auf Partikulargüter und die Interessen der Individuen auf Individualgüter. Wenn diese Annahme grundsätzlich zutrifft, dann ist es eine wichtige Frage, unter welchen Bedin­ gungen Individuen auch an der Herstellung von Partikular- und Kollektivgütern interessiert sind und Subkollektive auch an der Herstellung von Kollektiv­ gütern (auf diese Frage kommen wir in bestimmter Weise noch einmal zurück). 60 Nach diesem begrifflichen Exkurs kann die Funktion der Massenmedien und Interessengruppen für die Staatsbürger im Rahmen des demokratischen Pro­ zesses genauer expliziert werden. 4.2.2.3.2 Die Massenmedien Die Massenmedien sind nicht in gleicher Weise als kollektive Akteure zu begreifen wie beispielsweise Interessengruppen und politische Parteien. Das liegt daran, daß sie auch oder sogar hauptsächlich ein Medium der Vermittlung 39 zwischen den kollektiven Akteuren des politischen Systems sind . Deshalb ist es zu begründen, in welcher Weise den Massenmedien der Status eines kollek­ tiven Akteurs mit einer angebbaren Funktion im demokratischen Prozeß zuge­ sprochen werden kann. Das bedeutet vor allem den Nachweis eines spezifi­ schen Handlungsproduktes, das dieser kollektive Akteur herstellt und das einen Stellenwert im demokratischen Prozeß hat. Als dieses Handlungsprodukt kann die sogenannte öffentliche Meinung postuliert werden. In dem Charakter der Massenmedien als Medium liegt schon beschlossen, daß dort Meinungen veröffentlicht werden. Was unterscheidet also veröffentlichte Meinung von Öffentlicher Meinung? Das entscheidende Merkmal einer öffentlichen Meinung ist die erfolgreiche Suggestion bei dem Publikum der Massenmedien, daß die veröffentlichte Meinung eine Mehrheitsmeinung der Staatsbürger ausdrückt, die für diese gleichzeitig eine relativ hohe Priorität besitzt. Die öffentliche Mei­ nung ist also eine erfolgreiche Suggestion eines Kollektivinteresses der Staats­ bürger zu einem bestimmten Thema. Darin beruht die Bedeutung der Öffentli­ chen Meinung, die auch von Gerhards (1993,11,26f) so herausgestrichen wird. Die öffentliche Meinung wird von den Massenmedien und in den Mas­ senmedien konstruiert. Diese These schließt nicht aus, daß Akteure außerhalb 39 Wir wollen noch einmal festhalten, daß aus diesem Vermittlungscharakter nicht die Funk­ tion eines intermediären Systems zwischen Publikumssystem und Regierungssystem geschlossen werden kann. Die massenmediale Vermittlung von Themen, Meinungen etc. ist nicht die einzige Form der Vermittlung, und sie vermittelt nicht nur zwischen den Akteuren des Publikumssystems und des Regierungssystems, sondern auch zwischen den Akteuren innerhalb des Publikumssystems und innerhalb des Regierungssystems. Diese Aspekte gel­ ten unangesehen der schon ausgeführten These, daß das intermediäre System der Politik ganz spezifische Funktionen für den demokratischen Prozeß hat, die die Massenmedien gerade nicht erfüllen können (siehe dazu die Kapitel 4.2.1 und 4.2.2.2). 61 40 der Massenmedien versuchen, diesen Konstruktionsprozeß zu beeinflussen . Es kann angenommen werden, daß die Diskrepanz bzw. Homogenität der Richtung der Beeinflussungsversuche von außen die systemeigenen Rationali­ 41 täten und Selektivitäten der Massenmedien abschwächt bzw. verstärkt . Ent­ scheidend ist aber, daß es letztlich die Massenmedien selbst sind, die aufgrund ihrer eigenen Rationalitäten und Selektivitäten eine öffentliche Meinung quasi durch die veröffentlichten Meinungen hindurch erzeugen können und somit die Suggestion errichten, das Kollektivinteresse der Staatsbürger zu repräsen­ tieren. In dieser Suggestion liegt eine doppelte Wirkung, die folgenreich für den demokratischen Prozeß ist. Erstens können die Staatsbürger das, was als Mehr­ heitsmeinung suggeriert wird, gerade infolge dieser Suggestion in ihr Selbst­ verständnis aufnehmen und auf diese Weise tatsächlich eine Mehrheit bilden, die dann entsprechende Folgen für ihr Wahlverhalten hat. Wie solche Wir­ kungsmechanismen genau zu verstehen sind, ist eine noch offene Forschungs­ frage. Mit der Explikation dessen, was Noelle-Neumann (1989) "Meinungsklima" und "Schweigespirale" nennt, liegt einer der wenigen Versuche vor, diese Wirkungsmechanismen theoretisch und empirisch zu beschreiben. Die zweite relevante Wirkung bezieht sich auf die Akteure der Polity. Je erfolgrei­ cher die Suggestion einer Mehrheitsmeinung durch die Massenmedien ist, desto rationaler ist es für diese Akteure, diese als Substitution für die kontingenten Interessen und Ansprüche der Staatsbürger zu nehmen (siehe dazu auch Luhmann 1986, 175; Gerhards 1993, 26f). Diese Substitution erfolgt aber nur deshalb, weil hier die Vermutung einer aktuellen oder potentiellen Mehr­ heit der Staatsbürger im Spiel ist. Die Akteure der Polity können natürlich nicht mit Gewißheit annehmen, ob die öffentliche Meinung zu einem Thema auch tatsächlich ein aktuelles Kollektivinteresse der Staatsbürger darstellt, selbst 40 In der Massenkommunikationsforschung wird dieser Sachverhalt unter dem Titel des "agenda-building" diskutiert. 41 Die systemeigenen Rationalitäten und Selektivitäten von Massenmedien werden bei Gerhards und Neidhardt (1990) und Gerhards (1992) detailliert beschrieben. Einer der wich­ tigsten Handlungslogiken der Massenmedien zur Konstruktion öffentlicher Meinungen ist der Zwang, die eigenen Standpunkte unter Rekurs auf allgemein akzeptierte Werte zu recht­ fertigen. Das impliziert beispielsweise, daß auch ein Akteur, der bei seiner Beteiligung an öffentlichen Diskursen ein Partikularinteresse verfolgt, dieses als Kollektivinteresse darstel­ len muß. 62 wenn sie das als wahrscheinlich unterstellen. Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, warum die Akteure der Polity versuchen, Anhaltspunkte über die kontingenten Interessen der Staatsbürger, die letztlich für deren Wahlentschei­ dungen relevant werden, sowohl durch die Beobachtung der Massenmedien, als auch durch die Erhebung von Umfragen zu gewinnen. Umfragen allein rei­ chen nicht aus, weil sie nur Momentaufnahmen des permanenten Generierungsprozesses der Interessen der Staatsbürger darstellen, die sich schnell wie­ der ändern können und deren Änderung unter anderem durch die Massenme­ dien beeinflußt wird. Die Beobachtung der Massenmedien allein reicht eben­ falls nicht aus und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist auf dieser Grundlage nicht mit Gewißheit entscheidbar, ob die öffentliche Meinung auch tatsächlich das Kollektivinteresse der Staatsbürger repräsentiert, und zweitens ist unklar, ob dieses Kollektivinteresse eine relativ höhere Priorität für die Wahlentschei­ dung der Staatsbürger hat als beispielsweise Partikularinteressen von Subkol­ lektiven, denen die Staatsbürger auch zugehören. Wir wollen die behauptete Bedeutung und Wirkung der Öffentlichen Meinung an einem bestimmten Thema illustrieren, das zugleich die Kontingenzproble­ matik wieder aufgreift. Die Wähler müssen ihre Wahlentscheidung unter Bedingungen hoher Unsicherheit treffen: Sie können nicht wissen, wie die poli­ tischen Parteien handeln werden, wenn sie gewählt sind. Downs (1957) hat diese Situation durch einen Mangel an notwendiger Information für eine ratio­ nale Wahlentscheidung gekennzeichnet. Dieser Mangel kann auch durch einen Vergleich der Programme der konkurrierenden Parteien nicht vollständig behoben werden, da die Wähler wissen, daß diese zumindest teilweise unter wahltaktischen Gesichtspunkten formuliert wurden und keine der Parteien in der Lage sein wird, alles zu verwirklichen, was sie versprochen hat. Eine ratio­ nale Möglichkeit, diesem Informationsmangel zu begegnen, ist die Orientie­ rung an dem, was in der vergangenen Legislaturperiode tatsächlich getan wurde. Dieses kann natürlich nur im Hinblick auf die Partei oder die Parteien geschehen, die während dieser Periode die Regierung bildeten. Die tatsächli­ chen Leistungen der Regierungsparteien in der vergangenen Legislaturperiode sind ein relativ guter Prädiktor für die erwartbaren Regierungsleistungen in der 63 kommenden Legislaturperiode. Bei einem solchen Vorgehen der Wähler haben die Regierungsparteien einen strukturellen Vorteil, da es nur dann sinnvoll ist, eine Oppositionspartei zu wählen, wenn die Bilanz für die Regierungsparteien eindeutig negativ ausfällt. Fiorina hat eine derartige Wählerrationalität mit dem Begriff des "retrospective voting" bezeichnet (siehe dazu auch Popkin 1991; Fuchs und Kühnel 1993). In dem Maße, in dem ein solches retrospektives Wäh­ len stattfindet, ist die Meinung der einzelnen Wähler zu dem Thema "Regierungsleistung" auch maßgeblich für ihre Wahlentscheidung. Hinsichtlich der Herausbildung ihrer Meinung zu diesem Thema stellt sich allerdings ein weiteres Informationsproblem. Es ist für die meisten Wähler auf der Grundlage ihrer Primärerfahrungen nur schwierig entscheidbar, welche Auswirkungen die Regierungshandlungen für die Realisierung ihrer Interessen gehabt haben. Von daher gesehen liegt eine Orientierung der Wähler an der öffentlichen Mei­ nung zu dem Thema "Regierungsleistung" nahe, die in den Massenmedien und durch die Massenmedien konstruiert wird. Das eigentliche Thema der Mas­ senmedien ist nicht die Bewertung der Leistungen der Regierung zu einzelnen Politiken, sondern eine generalisierte Bewertung. Gerade die Konstruktion einer öffentlichen Meinung zu den Regierungsleistungen insgesamt macht diese geeignet als "information shortcut" für einen "reasoning voter" unter Bedingun­ gen einer "low-information-rationality" (Popkin 1991,7ff). Die Massenmedien operieren unter einer eigenen Handlungsrationalität. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wieso und in welcher Weise die Regierungsleistung zu einem Thema der Konstruktion einer öffentlichen Mei­ nung in und durch die Massenmedien werden kann. Luhmann (1981a, 317) hat als das wichtigste Kriterium für die Selektion eines Themas durch die Massen­ medien das der Aktualität eingeführt und als den wichtigsten Maßstab für Aktualität seine Neuigkeit bestimmt. Nur ein aktuelles Thema hat die Chance, die Aufmerksamkeit möglichst vieler Mitglieder des Publikums zu gewinnen und die Dynamik der Herausbildung einer Öffentlichen Meinung zu diesem Thema in Gang zu setzen. Wenn die Regierungsleistung sich auf die gesamte Legislaturperiode bezieht, dann bedeutet das, daß das Thema zu einem Dau­ erthema werden muß, damit sich eine öffentliche Meinung dazu herausbilden 64 kann. Unter dem AktuaÜtätszwang sind nur wenige Themen als Dauerthema geeignet. Luhmann (1981a, 317) gibt als Beispiel für ein geeignetes Dauerthema die Inflation an, da die Rate der Preissteigerung ständig wechselt und jeder Wechsel politische Relevanz besitzt. In vergleichbarer Weise lassen sich die permanent anfallenden Regierungshandlungen als immer neue Ereignisse begreifen, die im Lichte einer ansteigenden oder abfallenden generalisierten Bewertung der Regierungsleistung interpretiert werden. Der Sachverhalt einer sich verschlechternden oder sich verbessernden Regierungsleistung ist wie­ derum von so gravierender Bedeutung für das Publikum der Massenmedien, daß diese als Thema eine hohe Selektionschance hat. Durch die Dauerthematisierung der Regierungsleistung in den Massenmedien wird eine Geschichte der Legislaturperiode aufgebaut. Für die Wahlentschei­ dungen der Staatsbürger ist zwar die öffentliche Meinung zur Regie­ rungsleistung während der Wahlkampfperiode maßgeblicher als die zu frühe­ ren Zeitpunkten der Legislaturperiode. Diese öffentliche Meinung selbst kon­ stituiert sich aber im Rahmen der Geschichte der gesamten Legislaturperiode, das heißt, sie ist nicht bezugslos zu dem, was vorher passierte. Auch wenn die Regierungsleistung ein Dauerthema ist, kann sie sich der Logik von Themen­ karrieren (Luhmann 1990, 177) nicht gänzlich entziehen. Es hat wenig Neuig­ keitswert, wenn in den Massenmedien eine Gleichförmigkeit der Regierungslei­ stungen festgestellt werden würde. Die Handlungsrationalität der Massenme­ dien treibt zur Konstatierung eines Aufstiegs oder eines Abstiegs. Eine in den Massenmedien vieler Demokratien eingespielte Zäsur zur Inszenierung eines solchen Trends ist die Schwelle der ersten 100 Tage. Es ist eine aus der Per­ spektive der Handlungsrationalität der Massenmedien interessante und wich­ tige Frage, wie lange solche Trends zeitlich ausdehnbar sind, ohne daß sie an Neuigkeitswert verlieren. Es ist vermutlich nicht möglich, einen kontinuierlichen Trend (sei es ein Anstieg oder ein Abstieg) über die gesamte Legislaturperiode zu konstruieren, ohne daß sich nach einer gewissen Zeit der Neuigkeitswert verbraucht und einen Aufmerksamkeitsentzug des Publikums nach sich zieht. Wenn diese Annahme zutrifft, dann müßte es aus der Perspektive der konkurrierenden politischen Parteien wiederum rational sein, an der Kon- 65 struktion eines Trends der öffentlichen Meinung über die Regierungsleistung beizutragen (agenda-building), der etwa Mitte der Legislaturperiode beginnt. Für die Regierungsparteien bedeutet das natürlich die Konstruktion eines ansteigenden Trends und für die Oppositionsparteien eines absteigenden Trends. Nach der Erläuterung des Konzeptes der öffentlichen Meinung soll noch einmal der Bezug zu dem Kollektiv der Staatsbürger hergestellt werden. Wir gingen von der Annahme aus, daß das Staatsbürgerkollektiv aus sich selbst heraus keine Gemeinsamkeit von Interessen herstellen kann. Den Massenmedien wurde die spezifische Funktion zugeschrieben, dieses Defizit zu kompensieren. Die Kollektivinteressen der Staatsbürger sind demnach kurzfristige und wech­ selnde Konstruktionen, die von den Massenmedien wesentlich erzeugt werden und die sich in den Massenmedien manifestieren. Diese Konstruktionen selber wurden öffentliche Meinung genannt. Im Rahmen des Modells des demokrati­ schen Prozesses ist öffentliche Meinung somit eine bestimmte Kategorie von Ansprüchen, die vom Publikum an die Polity gerichtet werden. Inwieweit die Massenmedien diese Funktion der Artikulation und Erzeugung von Kollektivinteressen in der beschriebenen Weise tatsächlich erfüllen und inwieweit diese im Selbstverständnis der Handelnden und Betroffenen enthal­ ten ist, ist letztlich eine empirische Frage. Gerhards (1993) zeigt anhand seiner Fallstudie, daß zumindest die einzelnen Printmedien politischen Kon­ fliktstrukturen zugeordnet werden können und diese möglicherweise sogar stabilisieren. Bei einer eindeutigen Zurechenbarkeit einzelner Medien zu sol­ chen Konfliktstrukturen könnte man von einer Konstruktion von Kollek­ tivinteressen durch diese Medien nur schwerlich reden, da das Kollketiv der Staatsbürger durch solche Konfliktstrukturen ja gerade gespalten wird. Bei die­ sem Ergebnis von Gerhards muß aber offenbleiben, inwieweit es themenindu­ ziert ist und inwieweit es eher für die Printmedien gilt und weniger für das 42 Fernsehen . Wir wollen die Diskussion über den Stellenwert der Massenme- 42 Eine Strukturkomponente der Massenmedien, die für die zugeschriebene Funktionserfül­ lung relevant sein könnte, ist die Organisation des Fernsehens als Öffentlich-rechtliches oder privates Fernsehen. 66 dien im Publikumssystem mit der folgenden konditionalen Formulierung abschließen: Wenn es unter den anfangs geschilderten Prämissen so etwas wie ein Kollektivinteresse der Staatsbürger gibt, dann kann sich das nur in der beschriebenen Weise durch die Mitwirkung der Massenmedien herausbilden und in den Massenmedien manifestieren. In dem Maße, in dem diese Funktion der Massenmedien nicht realisiert wird, in dem Maße reduziert sich auch die Wahrscheinlichkeit, daß Kollektivinteressen existieren und erhöht sich kom­ plementär dazu die Wahrscheinlichkeit einer Fragmentierung des Kollektivs der Staatsbürger. Als die Besonderheit der Massenmedien gegenüber anderen kollektiven Akteu­ ren wurde ihr "Doppelcharakter" als Akteur und als Medium dargestellt. Im Rahmen dieses Kapitels wurden sie unter der Akteurperspektive analysiert. Ihren Charakter als Akteur gewinnen sie in dem Maße, in dem sie ein spezifi­ sches Handlungsprodukt innerhalb der allgemeineren Kategorie der Ansprü­ che erzeugen. Dieses wurde als öffentliche Meinungen bezeichnet, die der Sache nach kurzfristige und wechselnde Konstruktionen von Kollektivinteres­ sen der Staatsbürger sind. Bei dieser Analyseperspektive wurden notwendi­ gerweise die Implikationen der Massenmedien als Medium für den demokrati­ schen Prozeß vernachlässigt. Durch die Ausbreitung und Mutzung der Mas­ senmedien (Kiefer 1987) ist der Kommunikationsprozeß zwischen den Akteu­ ren des politischen Systems wesentlich ein massenmedial bestimmter Kommu­ nikationsprozeß geworden. Demzufolge können die systemeigenen Rationali­ täten der Massenmedien nicht ohne Folge bleiben für diesen Kommunikations­ prozeß. Wenn die Annahme zutrifft, daß es bestimmte Nachrichtenwertfakto­ 43 ren sind, die die massenmediale Selektivität von Ereignissen steuern (siehe dazu Luhmann 1971, Schulz 1976, Staab 1990, Gerhards 1991), dann müßten die Wirkungen dieser Selektivität eher in Richtung einer Verstärkung der Polarisie­ rung zwischen den konkurrierenden politischen Parteien des intermediären Systems sowie zwischen dem intermediären System und dem Parteiensystem gehen. Diese Polarisierung muß nicht notwendigerweise bedeuten, daß die 43 Neben dem schon genannten Neuigkeitswert sind hier Krisensymptome, Skandale, Überra­ schungen, Kontroversen etc. zu nennen. 67 inhaltlichen Positionen entsprechend auseinandertreiben, sondern kann sich auch auf eine rhetorische Zuspitzung marginaler Differenzen beziehen, die dennoch den diffusen Eindruck der Zestrittenheit hinterlassen und Einigungs­ prozesse erschweren. Diese Aspekte betreffen aber weniger die Frage des spezi­ fischen Charakters der Massenmedien als kollektive Akteure, die den Fokus dieses Kapitels bildeten, als vielmehr die grundlegende Frage der Art der Kommunikationsprozesse in hochmodernen Gesellschaften, die unter anderem durch die Ausbreitung und Nutzen der Massenmedien beschrieben werden können. 4.2.2.3.3 Die Interessengruppen Neben den Massenmedien wurden die Interessengruppen als spezialisierte kollektive Akteure bezeichnet, die das Kollektiv der Staatsbürger als hand­ lungsfähiges Kollektiv erst konstituieren. Diese Handlungsfähigkeit ist bezogen auf die Artikulation von Ansprüchen gegenüber den Akteuren der Polity. Diese Funktion der Massenmedien und Interessengruppen schließt nicht aus, daß auch einzelne Staatsbürger Ansprüche artikulieren. Das kann beispielsweise in öffentlichen Veranstaltungen mit Politikern geschehen oder durch individuelle Kontaktierung von Politikern. Es ist aber anzunehmen, daß diese Art der Arti­ kulation von Ansprüchen eine relativ geringe Bedeutung für die Responsivität der Akteure der Polity besitzen, da sie nicht hinreichend instruktiv ist für die Verteilung der Ansprüche im Kollektiv der Staatsbürger und nur diese ist letzt­ lich für den Wahlerfolg entscheidend. Anders einzuschätzen sind demgegen­ über die durch repräsentative Umfragen ermittelten Meinungen der Bürger. Diese sind nicht notwendigerweise identisch mit folgenreichen Ansprüchen. Wenn meßtechnisch aber sichergestellt werden kann, daß die ermittelten Mei­ nungen auch als Ansprüche interpretiert werden können, dann stellen solche Umfragen für die Akteure der Polity bis zu einem gewissen Grade ein funktio­ nales Äquivalent zu den Massenmedien und Interessengruppen zur Feststel­ lung der Ansprüche der Staatsbürger dar, die sie berücksichtigen müssen, um gewählt zu werden. Eine Ersetzung der Beobachtung der Massenmedien und Interessengruppen zur Ermittlung der Ansprüche des Publikumssystems durch Umfragen wäre für die Akteure der Polity aber nur dann rational, wenn die 68 Staatsbürger lediglich aus sich selbst heraus ihre Ansprüche erzeugen würden. Wir gingen demgegenüber davon aus, daß die Ansprüche der Staatsbürger vielfältig und fluktuierend sind und daß die Massenmedien und Interessen­ gruppen die wichtigsten Erzeuger dieser fluktuierenden Vielfalt sind. Gleich­ zeitig dürften nur die Massenmedien und Interessengruppen in der Lage sein, zu bestimmten Perioden (wie der Wahlkampfperiode) diese fluktuierende Viel­ falt zu verdichten und zu fokussieren, so daß die Staatsbürger Anhaltspunkte für ihr politisches Handeln (vor allem für das Wahlverhalten) gewinnen. Die Massenmedien und die Interessengruppen gehen bei ihrer Funktion im Rah­ men des Publikumssystems also nicht darin auf, schon existierende Ansprüche der Staatsbürger ausdrücklich und wirksam zu artikulieren, sondern sie kon­ stituieren diese Ansprüche auch und damit in bestimmter Weise das Kollektiv der Staatsbürger. Die Integration des Kollektivs der Staatsbürger erfolgt auf zwei Ebenen: Erstens auf der Ebene des Gesamtkollektivs und zweitens auf der Ebene von Subkol­ lektiven. Bezogen auf die Staatsbürger liegt die Funktion der Massenmedien in der Artikulation und Erzeugung von Kollektivinteressen und ist somit der ersten Integrationsebene zuzuordnen. Die entsprechende Funktion der Interes­ sengruppen liegt in der Artikulation und Erzeugung von Partikularinteressen und ist somit der zweiten Integrationsebene zuzuordnen. Interessengruppen werden in der Literatur unterschiedlich eng oder weit definiert (zu dem Begriff und der Analyse von Interessengruppen siehe Salisbury 1975; von Beyme 1980; von Alemann 1987). Für die Metatheorie des demokratischen Prozesses scheint uns die Definition von Salisbury (1975, 175) ein geeigneter Anknüpfungspunkt zu sein: "An interest group is an organized association which engage in activity relative to governmental decisons". Diese Definition ist für unsere Zwecke in zweierlei Hinsicht zu modifizieren und zu ergänzen: Erstens beziehen sich die durch die Interessengruppen vertretenen Interessen auf Interessen von Sub­ kollektiven der Staatsbürger und zweitens richtet sich die Vertretung dieser Interessen nicht nur auf die Akteure des Regierungssystems, sondern auch auf die Akteure des intermediären Systems. 69 Mit diesem allgemeinen Begriff der Interessengruppen werden zwei unter­ schiedliche Typen verbunden: Die Interessenverbände und die sozialen Bewegun­ gen. Sowohl Interessenverbände als auch soziale Bewegungen sind als Interes­ sengruppen zu bezeichnen, sofern sie spezialisierte kollektive Akteure zur Erzeugung und Artikulation der Interessen von Subkollektiven der Staatsbür­ ger sind. Die Relation der beiden Typen von Interessengruppen zu den Staats­ bürgern wird aber in ganz unterschiedlicher Weise hergestellt: Die Interessen­ verbände sind dauerhafte, formale Organisationen mit relativ eindeutig defi­ nierten Organisationszwecken. Dementsprechend vollzieht sich ein perma­ nenter Interaktionsprozeß zwischen den Interessenverbänden und den sozialen Gruppen, die sie vertreten. Auf diese Weise entstehen innerhalb des Publi­ kumssystems stabile Relationen, die diesem System eine gewisse Struktur ver­ leihen. Auf der Grundlage solcher stabiler Relationen zwischen sozialen Grup­ pen und Interessenverbänden wurden Theorien entwickelt, die noch umfas­ sendere stabile Relationen im demokratischen Prozeß behaupten. Die Theorie politischer Konfliktlinien (Lipset und Rokkan 1967) geht von stabilen Relatio­ nen zwischen sozialen Gruppen, Interessenverbänden und politischen Parteien aus und die Korporatismusthese (Schmitter 1979, 1983) bezieht darüberhinaus noch administrative Einheiten ein. Beide Theorien postulieren auf diese Weise bestimmte informelle Strukturen des demokratischen Prozesses, die die Subsy­ steme mehr oder weniger ausgeprägt übergreifen. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit diese Art von Strukturen des demokratischen Prozesses auch noch für "postmoderne" Gesellschaften angenommen werden können (siehe dazu Crook, Pakulski und Waters 1992). Durch die Differenzierung der Sozial­ struktur und die Auflösung homogener Sozialmilieus löst sich gewissermaßen die Grundlage solcher informeller Strukturen auf. Bei den sozialen Bewegungen muß infolge des Charakters dieses Typs von Interessengruppen die Relation zu Subkollektiven der Staatsbürger von ganz anderer Art sein. Soziale Bewegungen formieren sich als manifeste Bewegun­ gen in Form von koordinierten Protestaktionen nur über bestimmte Anlässe. Danach nehmen sie wieder einen Latenzzustand ein, das heißt, sie reduzieren 70 44 sich auf Orgarúsationskerne und auf Alltagsnetzwerke . Die Besonderheit der sozialen Bewegungen gegenüber den Interessenverbänden im Rahmen des Pu­ blikumssystems liegt also vor allem in ihrer Flexibilität für Interessen der Staatsbürger, die durch die institutionalisierten Interessengruppen (den Interes­ 45 senverbänden) nicht oder unzureichend aufgegriffen werden können . Dabei handelt es sich typischerweise um Interessen, die Kollektivgüter repräsentieren. Als Beispiele können hier die Interessen der Ökologiebewegung angeführt werden, die sich auf Güter beziehen, von deren Nutzung niemand ausgeschlos­ sen werden kann, wenn sie einmal hergestellt sind. Etwas komplizierter ist die Sachlage bei den Interessen der Frauenbewegung, die zunächst einmal als Par­ tikularinteressen bezeichnet werden müssen, die sich auf Partikulargüter rich­ ten (sofern die Männer von dem Nutzen dieser Güter ausgeschlossen werden). Kollektivgüter sind die Interessen der Frauenbewegung lediglich dann, wenn man argumentieren kann, daß sie sich auf noch nicht realisierte Kollektivgüter beziehen, die als Kollektivgut längst realisiert sein sollten (die Gleichheit zwi­ schen Mann und Frau). Unangesehen dieser spezifischen Problematik kann davon ausgegangen werden, daß sich die Interessen der sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre weitgehend auf die Herstellung von Kollek­ tivgütern richteten. Das bedeutete nicht notwendigerweise, daß es sich auch um Kollektivinteressen handelt, sondern nur dann, wenn auch eine Mehrheit des Kollektivs der Staatsbürger der Herstellung dieser Güter eine hohe relative Priorität einräumt (relativ zu Partikulargütern). Olson (1965) hatte auf der Grundlage der Theorie rationalen Handelns gefolgert, daß die Herausbildung formaler Organisationen zur Vertretung von Kollektivgütern nur schwierig zu verwirklichen ist, selbst wenn es sich um KoOektivinteressen handelt. Der Hauptgrund dieser Schwierigkeit liegt in der schon diskutierten Möglichkeit, das hergestellte Gut zu nutzen, auch wenn man zu seiner Herstellung nichts beiträgt. Die sozialen Bewegungen können in dieser Perspektive als ein funk44 Ob man diesen Latenzzustand auch noch als soziale Bewegung bezeichnen kann, oder lediglich als das notwendige Substrat solcher Bewegungen, die zu Bewegungen erst durch eine erfolgreiche Mobilisierung dieses Substrats werden, soll hier als Frage lediglich ange­ merkt werden. 4 5 Die konstituierenden Merkmale von sozialen Bewegungen werden ausführlich beschrieben bei: Offe (1985), Rucht (1988), Neidhardt und Rucht (1992), Fuchs und Klingemann (1993). 71 tionales Äquivalent zu formalen Organisationen zur Vertretung einer bestimmten Kategorie von Ansprüchen des Publikumssystems begriffen wer­ 46 den . Die sozialen Bewegungen können diese Funktion deshalb erfüllen, weil die Beteiligung an ihren kollektiven Aktionen eine andere Kosten-NutzenBilanz impliziert, als das bei formalen Organisationen der Fall ist. Einerseits ist der Aufwand der Beteiligung an solchen kollektiven Aktionen relativ gering. Andererseits sind mit einer solchen Beteiligung über das propagierte Ziel (Kollektivgut) hinaus selektive Anreize verbunden, wie beispielsweise expres­ sive Erfahrungen. Auf der Grundlage einer solchen Kosten-Nutzen-Kalkulation kann auch die Beteiligung von Staatsbürgern an Protestaktionen der sozialen Bewegungen plausibel gemacht werden, für die das Kollektivgut, auf das sich das Ziel der Protestaktionen richtet, in ihrer Prioritätenordnung niedriger ran­ giert als Partikulargüter (wie z.B. ökonomische Gruppeninteressen). Faktisch haben sich die sozialen Bewegungen der letzten beiden Jahrzehnte zwar als Bewegungen dargestellt, die bestimmte Interessen vertraten, die hier als Kollektivgüter bezeichnet werden. Diese Art von Interessen wurden in der Regel auch als ein Bestimmungsmoment der neuen sozialen Bewegungen betrachtet, die unter anderem deshalb als neue klassifiziert wurden. Ein anderes Merkmal der neuen sozialen Bewegungen war (und ist) die befristete Beteiligung einer größeren Anzahl von Staatsbürgern an Protestaktionen zur Artikulation dieser Interessen. Diese Protestaktionen werden durch Infra­ strukturen moderner Gesellschaften ermöglicht, wie z.B. die massenmedial bedingte Möglichkeit der schnellen und weitreichenden Vermittlung von Informationen und die Möglichkeit der schnellen Überbrückung räumlicher Distanzen durch das Verkehrswesen. Diese durch die moderne Gesellschaft bereitgestellte Mögüchkeitsstruktur ist im Prinzip auch zur Artikulation ganz anderer Interessen verfügbar. Soziale Bewegungen können in diesem Sinne grundsätzlich als eine spezifisch moderne Form der Herausbildung einer Inter­ essengruppe und der Artikulation von Interessen betrachtet werden. Aus der 46 Unterschiede in der konkreten Funktionsweise zwischen Interessenverbänden und sozialen Bewegungen im Rahmen des demokratischen Prozesses werden von Rucht (1991) herausge­ arbeitet. 72 Perspektive der Individuen können auf diese Weise zwei grundlegende Pro­ bleme gelöst werden, die ihrerseits wieder eine Folge von Modernisierungs­ prozessen sind: Einerseits das Problem der Zeitknappheit (diese Zeitknappheit ist unter anderem eine Folge eines Überangebots von Handlungsoptionen, die die Individuen in ihrer außerberuflichen Zeit haben) und andererseits das Problem des Beteiligungswunsches. Bei Protestaktionen können die Individuen vorübergehend eine bestimmte politische Rolle übernehmen und solchermaßen beide Problem lösen. Aus der Perspektive der Akteure der Polity würde sich durch eine Zunahme dieser Orgarüsationsform der Staatsbürger allerdings die Kontingenz des Publikums weiter erhöhen. Das gilt umso mehr, als sich solche Interessengruppen auch an der Output-Seite des demokratischen Prozesses konstituieren können, wie beispielsweise zur Verhinderung bereits imple­ mentierter Entscheidungen. Das Kollektiv der Staatsbürger ist auf der Grundlage seiner einzelnen Mitglie­ der weder in der Lage, Interessen des Kollektivs zu identifizieren (sei es als Interessen des Gesamtkollektivs oder sei es als Interessen von Subkollektiven), noch diese in kollektive Handlungen umzusetzen. Die Interessengruppen und Massenmedien wurden im Rahmen der hier vorgelegten Metatheorie als eine Ausdifferenzierung des Kollektivs der Staatsbürger begriffen, die diese Funk­ tion übernehmen und somit das Kollektiv der Staatsbürger mitgestalten. Die Massenmedien und die Interessengruppen wurden bislang - um die Analyse nicht schon in diesem Stadium zu verkomplizieren - jeweils als kollektive Akteure benannt. Tatsächlich sind sie aber Konfigurationen einzelner kollek­ tiver Akteure derselben Art und diese Konfigurationen bilden dann ein Subsy­ stem "Massenmedien" und ein Subsystem "Interessengruppen". Die Struktur dieser Subsysteme des Subsystems Publikum ist seinerseits auch ein Merkmal der Publikumsstruktur selbst. Die Ausführung dieser Behauptung ist nicht Teil der hier dargestellten Metatheorie. Demgegenüber ist aber ein anderer Struk­ turaspekt des Publikumssystems von unmittelbarer Bedeutung für unseren Argumentationskontext, der eine mögliche Kontingenzerhöhung des Publi­ kumssystems (die bezüglich der sozialen Bewegungen schon angesprochen wurde) auch auf die Interessenverbände bezieht. 73 Im Rahmen der weitergehenden Modernisierung moderner Gesellschaften haben sich in den meisten westlichen Demokratien die dominanten politischen Parteien mehr oder weniger zu sogenannten Großparteien (Vielthemenparteien, Volksparteien) transformiert und damit erst die Ausdifferenzierung eines Par­ teiensystems ermöglicht, das die bereits diskutierte Vermittlungsfunktion zwischen Publikumssystem und Regierungssystem erfüllen kann. Von der Sache her bedeutet diese Transformation der politischen Parteien eine weitge­ hende Entkopplung von bestimmten sozialen Gruppen. Einerseits macht diese Entkopplung erst eine flexible Reaktion auf die Publikumsansprüche möglich und andererseits ist der Wandel des Publikums auch eine Voraussetzung dieser Transformation der Parteien. Das Publikum als das Kollektiv der Staatsbürger hat sich differenziert, so daß die traditionelle einfache Konfliktstruktur aufge­ weicht wurde, auf deren Grundlage sich die Parteiensysteme ursprünglich kon­ stituiert haben. Autoren wie Beck (1986) treiben diese Differenzierungsthese so weit, daß sie von einer Auflösung der Sozialformen und Sozialmilieus der industriellen Moderne ausgehen und einer damit verbundenen Freisetzung der Individuen. Das Resultat ist nach Beck (1986,122ff) eine Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen. Das würde zugleich auch bedeuten, daß innerhalb des Publikumssystems eine Entkopplung von Interessenverbänden und Staatsbürgern stattfindet. Die Interessenverbände wären dann weniger auf angebbare und stabile soziale Gruppen bezogen, sondern vielmehr auf Dauer gestellte Organisationen der Interessenvertretung (im Falle von Interessenver­ bänden), die sich ihre Klientel permanent selbst suchen muß (siehe dazu auch Streeck 1987). Das Konstitutionsverhältnis hätte sich dann umgedreht: Nicht mehr gegebene und dauerhafte soziale Gruppen konstituieren Interessenver­ bände, sondern gegebene und dauerhafte Interessenverbände konstituieren wechselnde Klientel mit unterschiedlicher Größe, deren Gruppencharakter lediglich in der befristeten Gemeinsamkeit eines bestimmten Interesses beruht. Es sollen hier keine Festlegungen getroffen werden, inwieweit dieser Indivi­ dualisierungsprozeß tatsächlich fortgeschritten ist. Der Tendenz nach bedeutet er aber sowohl eine Differenzierung als auch eine Entstrukturierung des Publi­ kums. Ein derartiger gleichzeitiger Differenzierungs- und Entstrukturierungsprozeß des Publikums müßte das Handeln der kollektiven Akteure der Polity 74 zwangsläufig erschweren: Diese müßte dann unter Bedingungen einer hochgra­ digen Kontingenz des Publikums stattfinden, sowohl was die Output-Seite als auch die Input-Seite des demokratischen Prozesses anbetrifft. Diese Schlußfol­ gerung ist allerdings an die Voraussetzung geknüpft, daß diese Differenzierungs- und Entstrukturierungsprozesse grundsätzlich stattfinden und daß sie sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befinden. Diesbezüglich gibt es gegenwärtig noch ein Übergewicht an theoretischer Plausibilisierung gegen­ 47 über empirischen Beweisführungen . 4.3 Generalisierte Handlungsorientierungen 4.3.1 Generalisierte Handlungsorientierungen im politischen System insgesamt Bei der Diskussion des handlungstheoretischen Paradigmas wurden die wich­ tigsten Kritikpunkte an diesem Paradigma in der Bezeichnung des "mangeln­ den Systembezugs" zusammengefaßt (siehe Kapitel 3). Der mangelnde System­ bezug wurde vor allem in der Ausklammerung der generalisierten Handlungsori­ entierungen der Akteure gesehen. Generalisierte Handlungsorientierungen sind neben den Rollenstrukturen eine der Sinnebenen, auf denen sich Sozialsysteme aus ihrer gesellschaftlichen Umwelt ausdifferenzieren. In einer handlungstheo­ retischen Perspektive bilden diese generalisierten Handlungsorientierungen den gemeinsamen und stabilen Handlungssinn der Akteure, die innerhalb des Systems handeln. Die Handlungsalternativen der Akteure, auf die sich ihre "choices" richten (ihre spezifischen Handlungsorientierungen), stellen sich erst im Rahmen solcher generalisierten Handlungsorientierungen. Diese werden in dem Begriff der "constraints" in der Handlungstheorie zwar implizit angespro­ chen, aber bei den Handlungsanalysen letztlich stillschweigend vorausgesetzt. Nach Schimank (1988a, 623) müssen vollständige Handlungserklärungen des­ halb "stets zweistufig angelegt sein: Akteure treffen im Sinne rationaler Interes­ senverfolgung Haxidhmgsselektionen im Rahmen von diesen konditionierenden 47 Zur Frage der Strukturiertheit des Publikums und des Verhältnisses von Publikumssystem und Parteiensystem sind einige empirische Analysen im Rahmen des Konzeptes politischer Konfliktlinien vorgelegt worden (z.B. Fuchs 1991a; Weßels 1991,1993; Gerhards 1993). 75 generalisierten Handlungsorientierungen". Schimank wirft dann folgerichtig die Frage auf, wie diese generalisierten Handlungsorientierungen zu bestim­ men sind und beantwortet diese durch die Ausarbeitung allgemeiner Katego­ 48 rien, mit deren Hilfe man diese bestimmen könnte . Unter dem Titel der sym­ bolisch generalisierten Austauschmedien bzw. Kommunikationsmedien wur­ den die wichtigsten theoretischen Arbeiten zur Frage generalisierter Hand­ lungsorientierungen von Parsons (1969, 352-472) und darauf aufbauend von Luhmann (1975a, 1975b) vorgelegt. Vor allem auf diese Theorieansätze wird im folgenden Bezug genommen. Das uns interessierende Sozialsystem ist das politische System. Darauf bezogen gilt die erste zu klärende Frage einer generalisierten Handlungsorientierung, die für das politische System ingesamt gilt, das heißt für alle Akteure, die poli­ tisch handeln wollen. Der allgemeine Sinn politischer Handlungen wurde bereits im Hinblick auf die Funktion des politischen Systems zu bestimmen versucht, die in der Herstellung kollektiver bindender Entscheidungen liegt (siehe Kapitel 4.1). Die Bedingung dieser Funktionserfüllung ist eine ausrei­ chende Erzeugung von Macht. Die Basis der Erzeugung von (politischer) Macht ist die Monopolisierung der Gewalt und die darauf gründende Möglichkeit, die kollektive Bindung der getroffenen Entscheidungen notfalls auch mit Zwangsmaßnahmen durchzusetzen. In den genannten Theorien von Parsons und Luhmann wurde deshalb auch Macht im Sinne der Erzeugung von Macht, des Erwerbs von Macht und der Ausübung von Macht als die generalisierte Handlungsorientierung des politischen Systems bezeichnet. Luhmann (1986, 167-182) geht in seinen späteren Analysen allerdings noch weiter und berück­ sichtigt bis zu einem gewissen Grad schon die institutionelle Ausgestaltung des Machtprozesses. In ausdifferenzierten politischen Systemen werden die kollek­ tiv bindenden Entscheidungen in dafür spezialisierten Ämtern mit ent­ sprechenden Kompetenzen vorgenommen, um deren Besetzung die politischen Parteien konkurrieren. Die generalisierte Handlungsorientierung im politischen System bezieht sich demzufolge genauer auf die Besetzung solcher Entschei- 48 Eine Umsetzung dieser Vorschläge nimmt Schimank (1988b) für den Sport als gesellschaftli­ ches Teilsystem vor. 76 dungspositionen. Luhmann (1986, 170) begreift deshalb den Code von Regie­ rung und Opposition als den einheitlichen Code der gesamten Politik. Mit der Bezeichnung Code will er auf den Sachverhalt hinweisen, daß hier nur zwei Werte vorliegen, die aufeinander verweisen und eine dritte Möglichkeit aus­ schließen. Nur wenn man den Code von Regierung und Opposition als genera­ lisierte Handlungsorientierung 49 übernimmt , handelt man im politischen System, das heißt man erzeugt Resonanzen und nicht nur Geräusche. Eines der Kriterien für eine generalisierte Handlungsorientierung, die einem entwickelten politischen System entspricht und dieses erst ermöglicht, ist ihre Offenheit für Vielfalt, Variabilität und Widersprüchlichkeit auf konkreteren Sinnebenen. Das wird dadurch eingelöst, daß der Code von Programmen ent­ koppelt ist (Luhmann 1986, 171). Diese Entkopplung bedeutet, daß das Beset­ zen von Entscheidungspositionen nicht mehr an die Verwirklichung ganz bestimmter Ziele gebunden sein kann. Die über die Wahlen erfolgende Beset­ zung von Regierungspositionen dient dazu, für die Dauer der Legisla­ turperiode den allgemeinen Code mit einem bestimmten Programm in Übereinstimmung zu bringen. Die Besetzung von Regierungspositionen allein gewährleistet noch kein Entscheidungshandeln, man muß auch wissen, wie man die politische Macht ausübt (bzw. was man konkret tun will), und das wird in Form von Programmen formuliert. Das Wesentliche ist aber, daß die Verknüpfung von Code und Programmen befristet ist und während der Legislaturperiode laufend überprüft und bei den nächsten Wahlen wieder zur Disposition gestellt wird. Über die Angemessenheit dieser prinzipiell befriste­ ten und aufhebbaren Verknüpfung des Innehabens von Regierungspositionen mit einem bestimmten Programm wird im Rahmen des demokratischen Pro­ zesses dauerhaft kommuniziert. Eine solche Kommunikation setzt Vergleichs­ gesichtspunkte und Bewertungskriterien voraus. Luhmann (1986, 174) nimmt an, daß komplexe politische Systeme zu diesem Zweck sogenannte "Zweitco­ dierungen" des Codes von Regierung und Opposition herausbilden, die die 49 Im Sinne der metatheoretischen Grundannahmen wird davon ausgegangen, daß alle Akteure um diesen Code auch wissen. Wissen bedeutet nicht unbedingt, daß man über den Code in bewußter Klarheit verfügt, sondern es kann auch ein diffuses Hintergrundwissen sein, das gleichwohl handlungsorientierend ist. 77 kritische Kommunikation des Regierungshandelns in Relation zu Oppositions­ alternativen steuern. Wenn auch diese Codes den Status von dauerhaften und generalisierten Handlungsorientierungen haben sollen, dann kann der Ver­ gleich der aktuellen Programme von Regierung und Opposition nicht nur auf der Grundlage der Programme selber erfolgen. Die Beispiele für solche Zweit­ codierungen, die dauerhafte und generalisierte Gesichtpunkte zur Bewertung wechselnder Programme bereitstellen, ändern sich bei Luhmann: Während er ursprünglich den Code von progressiv und konservativ vorschlug (Luhmann 1981b), neigt er in späteren Analysen eher den Codes restriktiv/expansiv (bezogen auf die Staatstätigkeiten) und ökologisch/ökonomisch zu. Diese Unentschiedenheit macht unseres Erachtens deutlich, daß die Hypothese sol­ cher Zweitcodierungen gegenüber der empirischen Wirklichkeit schwieriger aufrechtzuerhalten ist, als das bei der Erstcodierung (Regierung/Opposition) der Fall ist. Die Beispiele Luhmanns zeigen, daß er bei der Ansetzung solcher Codes von der faktischen Entwicklung jeweils eingeholt wurde. Eine gene­ ralisierte Handlungsorientierung, die die von Luhmann geforderte Funktion einer Zweitcodierung erfüllt, muß offenbar noch allgemeiner sein, als die von ihm vorgeschlagenen Beispiele. Als Alternative kommt zumindest in den libe­ ralen Demokratien Westeuropas der Links/Rechts-Code bzw. das Links/ 50 Rechts-Schema in Frage . Diese Annahme wurde in zwei Analysen detailliert ausgeführt (Fuchs und Klingemann 1990; Fuchs und Kühnel 1990). Dort konnten empirische Evidenzen dafür erbracht werden, daß das Links/Rechts-Schema die theoretischen Kriterien erfüllt, die Luhmann an einen politischen Code richtet. Das Links/RechtsSchema ist als solches ein räumlicher Archetyp, der mit verschiedenen Inhalten angefüllt werden kann. Er ist somit geeignet, in seinem Bedeutungsraum auf fast jede Art von gesellschaftlichem Wandel zu reagieren. Der gegenwärtige Bedeutungsraum ist strukturell dadurch gekennzeichnet, daß er ein begrenztes 5 0 Als das funktionale Äquivalent für den Links/Rechts-Code wird für die USA in der Regel der Code von Liberal/Konservativ beansprucht (Fuchs und Klingemann 1990). 78 51 Repertoire von generalisierten Elementen mit binärem Charakter besitzt . Durch diese Eigenschaften des Bedeutungsraums von Links/Rechts ist es möglich, daß die Akteure bei der Verwendung dieses Schemas in der Kommunikation zwar verschiedenes meinen können, aber die Verschiedenheit ist noch so auf­ einander beziehbar, daß trotz nicht-identischen Sinns die Kommunikation den­ noch gelingen kann. Wenn das Links/Rechts-Schema auf den Code von Regie­ rung und Opposition projiziert wird, dann ist damit zugleich eine asymmetri­ sche Perspektive festgelegt. Die Regierung ist entweder links und dann ist die Opposition rechts oder die Regierung ist rechts und dann ist die Opposition links. Entsprechend der Selbsteinstufung eines Akteurs als links oder als rechts erfolgt auch eine erste Steuerung hinsichtlich der Bewertung des Handelns von Regierung und Opposition. In diesem Sinne stellt das Links/Rechts-Schema eine generalisierte Handlungsorientierung dar, die eine Vorstrukturierung der choices der Akteure vornimmt. Trotz der Vertrautheit der überwiegenden Mehrheit der Staatsbürger mit dem Links/Rechts-Schema und der Gebräuchlichkeit dieses Schemas in der politi­ schen Kommunikation ist diese generalisierte Handlungsorientierung aber weniger konstitutiv für das politische System der liberalen Demokratien als der Code von Regierung und Opposition. Er ist keine notwendige Bedingung zur Erzeugung von Resonanz im politischen System und der Gewährleistung von AnscWußkoirmiurukationen. Dementsprechend wird das Links/Rechts-Schema auch nicht von allen Akteuren im politischen System verwendet und von den­ jenigen, die es verwenden, nicht in allen Situationen. Das Links/Rechts-Schema kann also als eine generalisierte Handlungsorientierung des politischen Systems angenommen werden, aber nicht als die generalisierte Handlungsorientierung, die einen gemeinsamen und stabilen Handlungssinn aller Akteure des politi­ schen System definiert. 51 Was das im einzelnen bedeutet soll hier nicht näher erläutert werden. Siehe dazu die beiden genannten Analysen. Es sind aber diese Strukturmerkmale des Bedeutungsraums des Links/Rechts-Schemas, die dieses zu einem politischen Code geeignet machen. 79 4.3.2 Generalisierte Handlungsorientierungen in den drei Subsystemen Als die generalisierte Handlungsorientierung der Akteure des politischen Systems insgesamt wurde die Orientierung an der Besetzung der Entschei­ dungspositionen bezeichnet. Da sich diese in liberalen Demokratien im institu­ tionellen Rahmen des Parteienwettbewerbs vollzieht, wurde diese genauer als der Code von Regierung und Opposition bestimmt. Dieser Code existiert als Hintergrundwissen der Akteure des politischen Systems über das, worum es bei den Handlungen innerhalb dieses Systems grundsätzlich geht. Durch diese Bestimmung der generalisierten Handlungsorientierung des politischen Systems wurde das bereits diskutierte Argument wieder aufgegriffen, daß sich die Ausdifferenzierung sozialer Systeme in einem wechselseitigen Beeinflussungs- und Restriktionsprozeß von struktureller Ausdifferenzierung (auf der Rollenebene) und Ausdifferenzierung eines generalisierten Handlungssinns vollzieht (siehe Kapitel 4.1). Wenn auch von der Sache her die generaliserte Handlungsorientierung auf einer allgemeineren Sinnebene liegt als die Rollen­ strukturen, so kann bei dem Konstitutionsprozeß beider Sinnebenen eine relative Strukturdominanz unterstellt werden. Diese ergibt sich aus zwei Gründen: Erstens erleichtert die Eindeutigkeit des Rollenhandelns auch die Identifikation allgemeinerer Sinnebenen (kognitive Dimension) und zweitens hat das Rollen­ handeln durch rechtliche Formalisierungen eine relativ starke Verbindlichkeit (normative Dimension). Wir knüpfen zur Bestimmung der generalisierten Handlungsorientierungen der drei Subsysteme des politischen Systems an diese relative Strukturdominanz an. Der demokratische Prozeß ist als eine gerichtete Abfolge von Handlungspro­ dukten begriffen worden. Diese Handlungsprodukte werden vor allem in Austauschprozessen zwischen der Polity und dem Publikum erzeugt. Die dominanten Strukturelemente, die diese Austauschprozesse überhaupt erst sinnvoll machen, sind das Recht der kollektiven Akteure des Regierungssy­ stems, zur Realisierung kollektiver Ziele bindende Entscheidungen zu treffen und das Recht der kollektiven Akteure des Publikumssystems, diese kollektiven Ziele zu formulieren. Beides wird durch das Wahlrecht vermittelt und das heißt durch die Selektion von politischen Parteien zur Besetzung von Entschei- 80 dungspositionen von den Staatsbürgern mittels periodischer Wahlen. Eine politische Partei kann erst dann ihre Programmatik umsetzen, wenn sie gewählt ist, und die Staatsbürger können erst dann davon ausgehen, daß ihre Ansprüche realisiert werden, wenn die von ihnen präferierten Parteien die Ent­ scheidungspositionen besetzen. Von daher gesehen ist es plausibel, Regie­ rung/Opposition als den Code anzusehen, der die generalisierte Hand­ lungsorientierung der Akteure des politischen Systems darstellt. Zur Beschrei­ bung der Austauschprozesse zwischen Polity und Publikum ist dieser Code allerdings noch zu allgemein. Nach dem Modell des demokratischen Prozesses (Schaubild 2) hat dieser Austauschprozeß eine Input- und eine Output-Dimen­ sion. An der Input-Seite vollzieht er sich in der Interaktion zwischen den politi­ schen Parteien und den Akteuren des Publikumssystems. Die Akteure des Publikumssystems wollen eine möglichst starke Responsivität der politischen Parteien auf ihre Ansprüche und geben dafür Unterstützung in Form von Wählerstimmen. Die politischen Parteien wollen umgekehrt möglicht viel Unterstützung durch die Staatsbürger und geben dafür eine entsprechende Responsivität gegenüber den Ansprüchen der Staatsbürger (beispielsweise durch die Berücksichtigung dieser Ansprüche in den Wahl- und Partei­ programmen). Der Begriff der Unterstützung wird dem Begriff der Stimmenmaximierung vorgezogen, weil es nicht für alle Parteien eine rationale Strategie sein muß, die Anteile der Stimmen zu maximieren. Es kann im Inter­ esse der Besetzung von Entscheidungspositionen auch rational sein, die Unter­ stützung ganz bestimmter Wählersegmente anzustreben und gerade auf diese Weise in eine Regierungskoalition aufgenommen zu werden 52 (die FDP in Deutschland ist ein Bespiel für eine solche rationale Strategie). An der Output-Seite vollzieht sich der Austauschprozeß zwischen Polity und Publikum in der Interaktion zwischen den Akteuren des Regierungssystems und des Publikumssystems. Dieser gestaltet sich jedoch komplizierter als der an der Input-Seite. Die Akteure des Regierungssystems wollen zunächst einmal 52 Ein anderer Grund für die Wahl des Unterstützungsbegriffs liegt in seiner weiteren Bedeu­ tung. Unterstützung (bzw. dessen Gegenteil) muß sich nicht nur in Stimmabgaben äußern, sondern kann sich auch in anderen politischen Beteiligungsformen manifestieren. 81 eine Akzeptanz der implementierten Entscheidungen durch die Akteure des Publikumssystems. Es wurde bereits diskutiert, daß diese Akzeptanz eine variable Größe ist und sich nicht mehr als motivloses Akzeptieren denken läßt. Das Regierungssystem kann dafür mehr oder weniger effektive Realisierungen der an der Input-Seite artikulierten Ansprüche anbieten. Das Problem liegt aber darin, daß sich Effektivität erst in den Resultaten zeigen kann, während die Abnahme der implementierten Entscheidungen zeitlich vor der Möglichkeit des Erzielens solcher Resultate liegt. Die Akteure des Regierungssystems müssen deshalb die Akteure des Publikumssystems erst einmal davon überzeugen, daß die implementierten Entscheidungen effektiv sein könnten. Auf dieser Grundlage kann das Publikum dann beurteilen, ob die implementierten Ent­ scheidungen als angemessen in Relation zu ihren artikulierten Ansprüchen anzusehen sind. Von dieser Interpretation der Angemessenheit hängt die Abnahme der implementierten Entscheidungen wesentlich ab und beeinflußt die Resultate des Entscheidungshandelns des Regierungssystems und somit seine faktische Effektivität. Damit sind die generalisierten Handlungsorientierungen der drei Subsysteme des politischen Systems bestimmt, wobei für das Publikumssystem zwei unter­ scheidbare generalisierte Handlungsorientierungen angenommen wurden: Responsivität (Publikumssystem an der Input-Seite), Unterstützung (intermedi­ äres System), Effektivität (Regierungssystem), Angemessenheit (Publikums­ system an der Output-Seite). Diese stellen theoretisch jeweils den gemeinsamen Handlungssinn der kollektiven Akteure dieser einzelnen Subsysteme dar, innerhalb dessen diese Akteure dann die "choices" für ihr konkretes Handeln treffen. Diese postulierten generalisierten Handlungsorientierungen haben zwar eine gewisse theoretische und intuitive Plausibilität, müssen aber wie­ derum durch empirische Analysen bestätigt werden. Wenn sie tatsächlich eine handlungssteuernde Bedeutung haben, auch wenn es in generalisierter Form ist, dann ist eine solche empirische Erfassung grundsätzlich auch möglich. Unangesehen der Ergebnisse solcher empirischer Messungen kann auf der Grundlage der bisherigen metatheoretischen Überlegungen aber ein Zusam­ menhang postuliert werden: Je eindeutiger eine generalisierte Handlungsori- 82 entierung eines (Sub-)Systems identifiziert werden kann, und je eindeutiger diese von generalisierten Handlungsorientierungen anderer (Sub-)Systeme abgegrenzt werden kann, desto stärker hat sich dieses System als eigenes und relativ autonomes System ausdifferenziert. 4.4 Variationen des Prozeßmodells Das bislang diskutierte Modell des demokratischen Prozesses konstruierte die­ sen Prozeß vor allem als formalen Prozeß. Formal ist definiert worden als ver­ fassungsmäßig festgelegt oder in Luhmanns Worten "von der offiziellen Macht­ struktur gestützt". Als ein weiterer, eher impliziter Referenzpunkt der Modell­ konstruktion dienten Annahmen, die nicht schon durch die formale Struktur abgedeckt sind. Die formale Struktur repräsentativer Demokratien legt als sol­ che noch nicht fest, daß die Ansprüche der Bürger lediglich vermittelt über die politischen Parteien zu der Regierung gelangen, und sie legt auch nicht schon fest, was als motivloses Akzeptieren bezeichnet wurde. Solche Festlegungen werden in der liberalen Demokratietheorie als präskriptive Postulate zusätzlich eingeführt (zur liberalen Demokratietheorie siehe Barber 1984, Held 1987, Hirst 1990). Wir glauben, daß Luhmann bei seiner Theorie des politischen Systems letztlich auch auf präskriptive Postulate der liberalen Demokratietheorie rekur­ riert. Er kann sie allerdings mit der Annahme verknüpfen, daß diese Postulate ein notwendiges Erfordernis für Funktionserfüllung des politischen Systems in komplexen Gesellschaften ist. Dieses Problem braucht hier nicht weiter erörtert werden. Es soll zunächst einmal festgehalten werden, daß bei der bisherigen Darstellung des Prozeßmodells bereits zwei Abweichungen von dem präskriptiv interpretierten formalen Prozeß eingefühert wurden. Dieser Einbau erfolgte vor dem Hintergrund empirisch konstatierbarer Tatbestände. Es handelt sich dabei um die bedingte Abnahme der implementierten Entscheidungen durch das Publikum an der Output-Grenze des EntScheidungsprozesses und um die Artikulation von Ansprüchen durch das Publikum unter Umgehung der politi­ schen Parteien als den ausdifferenzierten Vermittlungsakteuren. Diese Artiku­ lation vollzieht sich in zwei Varianten: Erstens durch das Lobbying der Interes­ senverbände und zweitens durch die Protesthandlungen der sozialen Bewe- 83 gungen. Beide Varianten sind zwar nicht unbedingt verträglich mit der Idee der Repräsentation, werden aber durch die formale Struktur der repräsentativen Demokratien auch nicht ausgeschlossen. Zumindest die letzte Version kann deshalb als eine Radikalisierung des Demokratieprinzips interpretiert werden, die auch in repräsentativen Demokratien legal und legitim ist. Welche Konse­ quenzen diese Radikalisierung für die Qualität des demokratischen Prozesses hat, ist eine andere Frage. Eine weitere Variation des formalen demokratischen Prozesses wurde bei der Erörterung der kollektiven Akteure des Publikums bereits angedeutet, aber noch nicht systematisch eingeführt. Es wurde angenommen, daß die Interes­ sengruppen und Massenmedien die Interessen und Ansprüche der Staatsbür­ ger nicht nur artikulieren, sondern auch erzeugen. Dieser Aspekt soll hier auf­ gegriffen und verallgemeinert werden. Die Austauschprozesse zwischen den kollektiven Akteuren vollziehen sich unter Bedingungen doppelter Kontingenz, das heißt es ist für keinen der jeweiligen Interaktionspartner klar, was von dem jeweils anderen erwartet werden kann. Es gibt für die politischen Parteien bei­ spielsweise keine festen Anhaltspunkte dafür, was die Wähler wirklich wollen, und es gibt für die Wähler keine festen Anhaltspunkte mehr, was die Parteien wirklich tun werden. Da aber das Handeln des jeweiligen Akteurs von der Antizipation des Handelns des anderen Akteurs abhängt, entsteht auf diese Weise eine hochkontingente Konstellation. Diese wird auch nicht durch die bereits dargestellten generalisierten Handlungsorientierungen aufgelöst, da diese die konkreten Handlungsoptionen nur in sehr weitgefaßten Grenzen limitieren. Als Folge dieser Konstellation entsteht nach Luhmann (1970, 165; 1987, 148) ein inoffizieller, gegenläufiger Kommunikationsprozeß, der als eine Verarbeitung dieses Kontingenzproblems begriffen werden kann. Eine Möglichkeit, den offiziellen und inoffiziellen Kommunikationsprozeß zu konzeptualisieren, besteht in der bereits diskutierten Differenzierung zwischen einem Macht- und Einflußprozeß. Beide Prozesse regein auf ihre Weise die Weitergabe von Selektionsleistungen, die ein Akteur für einen anderen vor­ nimmt. Die Logik des Machtprozesses wurde schon geschildert. Durch die for­ male Struktur (in diesem Falle die Verfassung) wird festgelegt, wer welche 84 Selektionen von wem zu übernehmen hat. Abweichungen von dieser Festle­ gung sind mit rechtlichen Sanktionen verbunden. Die Annahmemotive der Selektionsieistungen beruhen demzufolge vor allem in der Vermeidung solcher Sanktionen. Die Weitergabe von Selektionsleistungen bei dem gegenläufigen Prozeß muß demgegenüber zwangsläufig von anderen Annahmemotiven getragen sein. Eine einflußgestützte Weitergabe von Selektionsleistungen kann sich nicht auf rechtliche Sanktionen stützen (mit dem potentiellen Einsatz von Zwangsmit­ teln), sondern lediglich auf Überzeugung. Parsons (1969,415) Definition von Ein­ fluß lautet entsprechend: "Influence is a means of persuasion" (siehe dazu auch Luhmann 1975a, 74ff). Die Bereitschaft der Akteure des demokratischen Pro­ zesses, sich davon überzeugen zu lassen, die Selektionsleistungen eines Akteures zu übernehmen, der ihm im formalen Prozeß nachgeordnet ist, liegt in der damit verbundenen Chance, die Kontingenz zu reduzieren. Die Verwaltung läßt sich von den Interessengruppen beeinflussen, weil sie damit die Wahr­ scheinlichkeit erhöht, daß die implementierten Entscheidungen auch abge­ nommen werden. Die Regierung läßt sich von der Verwaltung beeinflussen, weil sich damit die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß die getroffenen Entschei­ dungen auch realisierbar sind. Die (Regierungs-)Parteien lassen sich von der Regierung beeinflussen, weil sich damit die Wahrscheinlichkeit erhöht, auch umsetzbare programmatische Angebote an das Publikum zu machen. Diese gegenläufige Beeinflussungskette ist unseres Erachtens aus der Perspektive rational handelnder Akteure der Polity unmittelbar plausibel. Was ist aber das Annahmemotiv der Staatsbürger für Selektionsleistungen der politischen Par­ teien, sofern die Staatsbürger selbst der Anfangs- und Endpunkt des demo­ kratischen Prozesses sind und somit als Referenzpunkt ihres Handelns nur sich 53 selbst haben . Eines der kontingenzerzeugenden Probleme für die Staatsbür­ ger ist, daß sie - überspitzt ausgedrückt - nicht wissen, was sie konkret wollen sollen. Aus ihrer Situation als Mitglied einer modernen Gesellschaft ist der 53 Die Ergreifung einer Handlungsoption und die Vernachlässigung einer anderen hat für die Staatsbürger nicht die gleichen Konsequenzen wie für die Akteure der Polity, deren Hand­ lungen immer mit der Möglichkeit verbunden sind, die Entscheidungspositionen zu verlie­ ren oder gar nicht erst zu gewinnen. 85 Möglichkeitsspielraum der Ansprüche an die Polity hochgradig überdetermi­ niert. Die Überdeterminiertheit ist um so stärker, je ausgeprägter die traditio­ nellen Sozialstrukturen zerfallen und die Individualisierung der Lebenslagen fortschreitet. Dadurch entfallen auch die Begrenzungen der möglichen Interes­ sen und Ansprüche, die mit einer eindeutigen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verbunden sind. Das Annahmemotiv der Staatsbürger von Beein­ flussungsversuchen politischer Parteien (sowie von Interessengruppen und Massenmedien) bei der Formulierung ihrer Ansprüche beruht in der Reduktion dieser Kontingenz. In diesem Sinne können Beeinflussungsversuche nicht nur hingenommen werden, sondern möglicherweise sogar erwünscht sein. Als eine Form dieser Erwünschtheit können die Erwartungen der Staatsbürger an politi­ sche Parteien gesehen werden, klare programmatische Angebote und Alterna­ tiven zu präsentieren. Die Chancen des Einflusses kollektiver Akteure auf die Staatsbürger werden von wahrgenommenen und zugeschriebenen Qualitäten dieser Akteure bestimmt, wie beispielsweise Reputation, Vertrauenswürdigkeit, Integrität etc. Die geschilderten Variationen des formalen oder offiziellen demokratischen Prozesses bezogen sich erstens auf ein Überspringen einzelner Prozeßstufen und zweitens auf einen inoffiziellen, das heißt gegenläufigen Prozeß. Eine dritte Variation ergibt sich aus der Notwendigkeit einer systematischen Zurkenntnisnahme von Expertenwissen zur Steigerung der Efizzienz des eigenen Handelns im Sinne der Optimierung von Mitteln zur Erreichung bestimmter Ziele. Wel­ che Art von Expertenwissen relevant ist, hängt davon ab, in welchem Subsy­ stem die jeweiligen Akteure handeln und welche generalisierte Handlungsori­ entierung dieses Subsystem kennzeichnet. Wenn die generalisierte Handlungs­ orientierung der politischen Parteien in der Maximierung von Unterstützung besteht, dann entwickeln diese politischen Parteien zwangsläufig einen Bedarf an instrumentellem Wissen zur Erzeugung solcher Unterstützung. Das dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, daß praktisch alle größeren politischen Par­ teien der liberalen Demokratien systematisch Ergebnisse der Umfrageforschung registrieren oder sogar entsprechende Abteilungen zur Erzeugung solchen Wis­ sens in ihre formalen Organisationen einbauen. Andere Arten von Experten- 86 wissen werden bei einer möglichst effektiven Umsetzung programmatisch definierter Ziele der Regierungsparteien verlangt. Dieses bezieht sich auf Handlungsmöglichkeiten und Handlungskonsequenzen in den gesellschaftli­ chen Bereichen, auf die sich das jeweilige Ziel bezieht. Dieses Expertenwissen gelangt in das Regierungssystem vor allem durch die permanente Kommuni­ kation der Ministerialbürokratien mit den entsprechenden Experten. Die Experten außerhalb des politischen Systems bilden somit einen Einflußfaktor auf alle Handlungsprodukte des demokratischen Prozesses. Der Mechanismus, der diesen Einfluß sichert, beruht nicht in einem formalen Strukturelement des politischen Systems, sondern in dem Versuch, möglichst effizient zu handeln, wobei der Bezugspunkt der Effizienz bei den unterschiedlichen Akteuren des politischen System natürlich unterschiedlich ist. Wenn man versuchen würde, diesen Einfluß der Experten in das grafische Modell des demokratischen Pro­ zesses zu integrieren (siehe Schaubild 2), dann müßte man auf den vertikal angeordneten Handlungsprodukten einen horizontal liegenden Pfeil richten, der aus den Bereichen der gesellschaftlichen Umwelt des politischen Systems kommt, in denen das relevante Expertenwissen erzeugt wird. 87 5c Ein Begriff politischer Strukturen 5.1 Der Strukturbegriff von David Easton Das Modell des demokratischen Prozesses begreift diesen als eine gerichtete Abfolge bestimmter Handlungsprodukte bestimmter Akteure. Auf einer empi­ rischen Ebene sind die einzelnen Handlungsprodukte und ihre Beziehung zueinander variable Größen. Um ein Beispiel zu geben: Welche Ansprüche formuliert werden, wie diese formuliert werden und in welcher Weise sie die Entscheidungen (der Akteure des Regierungssystems) beeinflussen, hängt von den choices der relevanten Akteure ab, die diese in Handlungssituationen tref­ fen. Diese choices der Akteure vollziehen sich aber unter constraints, die den Raum möglicher choices limitieren. Eine vollständige Erklärung konkreter Handlungen (und damit auch von Handlungsprodukten) und Handlungs­ verkettungen muß deshalb sowohl die limitierenden constraints einbeziehen, als auch die rationale Kalkulation der Akteure. Als die wichtigste Art dieser constraints wurde bereits mehrfach die Struktur sozialer Systeme angegeben und angedeutet, was darunter zu verstehen ist. Im folgenden soll ein Begriff politischer Strukturen systematischer diskutiert werden. Dieser bezieht sich lediglich darauf, wie politische Strukturen allgemein begriffen werden können und nicht auf eine Analyse konkreter Strukturen. Wir wollen deshalb auch nicht bei neueren empirischen Studien ansetzen, die auf Strukturmerkmale von Demokratien rekurrieren, um die einzelnen Demokratien entweder auf einer empirischen Basis zu klassifizieren oder aber, um unterschiedliche Performanzen dieser Demokratien zu erklären (siehe unter anderem: Powell 1982, 1987; Lijphart 1984, 1989; Weil 1989; Lane und Ersson 1991). Den Schwerpunkt dieser Studien bilden eher empirische Analysen und weniger die Diskussion eines Strukturbegriffs, auf dessen Grundlage dann die empirischen Strukturmerk­ male bestimmt werden. In diesem Sinne kann wohl auch Eastons (1990, 3, 19ff) Diagnose verstanden werden, daß das Strukturkonzept ein vernachlässigtes Konzept in der politischen Wissenschaft ist. Easton selbst entfaltete einen Begriff politischer Strukturen in einer detaillierten theoretischen Analyse, an die wir im folgenden anknüpfen wollen. 88 Die allgemeinste Bedeutung von Struktur, die schon in der umgangssprachli­ chen Verwendung des Begriffs enthalten ist, ist die einer bestimmten Anord­ nung von Elementen, die eine gewisse Stabilität in der Zeit hat. Das wichtigste Kennzeichen einer solchen Anordnung besteht darin, daß nicht alle möglichen Relationen zwischen den Elementen zugelassen sind, sondern nur eine begrenzte Menge. Erst durch diese Begrenztheit kommt eine Struktur zustande. Wenn es um politische Strukturen geht, dann stellt sich als erste Frage, was denn die spezifischen Elemente sind, deren Anordnung diese konstituieren. Für die komplexen politischen Systeme, auf die sich die Metatheorie bezieht, ist diese Frage bereits beantwortet worden. Nach Luhmann (1970, 155) sind es unterschiedliche Arten von Rollenverbindungen, die unterschiedliche politi­ sche Strukturen ausmachen. Rollen sind demgemäß die kleinste Struktureinheit politischer Systeme. Dieser Annahme schließen sich auch Almond und Powell (1978,12, 52) und bis zu einem gewissen Grade Easton (1990, 74f) an. Parsons (1971) begreift Rollen allgemein als die Basiskategorie aller Sozialsysteme. Rol­ len können definiert werden als relativ konsistente Bündel von (generalisierten) Erwartungen, die an eine soziale Position gerichtet und mit dem Anspruch ver­ bunden sind, daß sich die Individuen, die diese Position einnehmen, in ihrem Handeln danach richten (Wiswede 1977, 18, 38). Diese Rollendefinition enthält eine normative Komponente und eine Verhaltenskomponente, und es bleibt häufig unklar, worauf sich der Strukturbegriff bezieht: Entweder nur auf eine der beiden Komponenten oder auf beide zugleich. Easton trifft hier zwei klare Entscheidungen. Er differenziert zwischen kulturellen Strukturen und Verhal­ tensstrukturen und ordnet soziale Strukturen als Interaktionsstrukturen aus­ schließlich der Verhaltensebene zu (Easton 1990,51, 67,74f, 260). Die Beziehung zwischen der kulturellen Ebene und der Verhaltensebene sieht er als eine Kau­ salbeziehung, das heißt die Rollennormen sind unabhängige Variablen, die hel­ fen, das Rollenhandeln zu erklären (Easton 1990, 74). Diese theoretischen Ent­ scheidungen sind zwar plausibel, wir wollen sie aber dennoch nicht vollständig übernehmen. Bevor das begründet wird, soll noch auf eine weitere grundle­ gende Differenzierung Eastons eingegangen werden, und zwar die zwischen formalen und informellen Strukturen. 89 Der Unterschied zwischen beiden Strukturformen liegt vor allem in dem Explizitheitsgrad, in dem sie eingeführt sind und für die Beteiligten und Betrof­ fenen durchsichtig werden. In modernen Gesellschaften wird diese Explizitheit formaler Strukturen vor allem durch schriftlich niedergelegte Regeln mit Ver­ bindlichkeitscharakter erzielt (Easton 1990, 66f). Den höchsten Formalisierungsgrad haben Rechtsnormen, da sie einerseits die Verhaltenserwartungen und andererseits auch die Sanktionen im Fall der Verletzung dieser Erwartun­ gen detailliert festlegen. Durch die Miterwartbarkeit der Sanktionen im Falle der Erwartungsverletzung wird den Erwartungen selber eine größere Stabilität verliehen (Luhmann 1984, 436). Dieser stabilisierende Effekt müßte um so grö­ ßer sein, je stärker der Sanktionsgrad ist. Unter anderem deshalb hat Giddens (1984, 22) das Kriterium stark sanktioniert/schwach sanktioniert als ein Bestimmungsmerkmal sozialer Strukturen eingeführt. Neben dem Grad der Explizitheit kann demzufolge auch die Erwartbarkeit von Sanktionen und die Stärke von Sanktionen bei Regelverletzungen als ein Differenzierungsmerkmal zwischen formalen und informellen Strukturen angesehen werden. Die Diffe­ renz zwischen formalen und informellen Strukturen kann auch auf strukturelle Arrangements vormoderner Gesellschaften bezogen werden. Easton (1990, 66, 81) begreift als das funktionale Äquivalent zu schriftlichen Rechtsnormen moderner Gesellschaften die rituelle oder zeremonielle Einführung von Ver­ haltenserwartungen. Formale Strukturen müßten sich deshalb in allen Gesell­ schaften auffinden lassen und nicht nur in modernen. Im Unterschied zu den formalen Strukturen haben die informellen einen geringeren Explizitheitsgrad, eine geringere Eindeutigkeit der Konsequenzen im Falle der Regelverletzung und meistens auch (nicht immer) einen schwächeren Sanktionierungsgrad. Positiv formuliert bezeichnet Easton (1990, 81, 86) informelle Strukturen als Sitten und Gebräuche bzw. als eingelebte Verhaltensregeln. Der Unterschied zwischen formalen und informellen Strukturen wurde bislang unter Bezug­ 54 nahme auf Regeln und Normen beschrieben und bewegt sich insofern nach Easton (1990, 67) auf einer kulturellen Ebene. Easton bezieht aber diese Diffe- 54 Der Begriff der Regel ist in seinem Bedeutungsgehalt etwas weiter als der Normenbegriff, der schon stärker mit dem Kriterium der Sanktioniertheit assoziiert ist (zum Regelbegriff siehe Crozier und Friedberg 1980,52; Giddens 1984,17ff; Easton 1990,64, 67f). 90 renz auch auf die Interaktionsebene und das heißt bei ihm, auf die Ebene des realen Verhaltens der Akteure. Durch die Kreuzung der beiden analytischen Differenzierungen Eastons von formal/informell sowie kulturelle Ebene/ 55 Verhaltensbene erhält man vier Kategorien politischer Strukturen . Strukturformen c § ja Kulturelle Ebene Formal Informell formale Regelstrukturen informelie Regelstrukturen formale empirische Strukturen informelle empirische Strukturen Û) 2 2 Verhaltensco ebene Wir wollen noch einmal festhalten, daß Easton (1990, 55, 60) soziale Strukturen und damit politische Strukturen als stabile Interaktionsmuster der Akteure begreift. Wesentlich für Eastons Strukturbegriff ist darüber hinaus, daß diese Interaktionsmuster sich ausschließlich auf tatsächliches Verhalten beziehen. Verhaltenserwartungen und Verhaltensnormen werden demzufolge der kulturellen Ebene zugeordnet und im Falle von formalen Strukturen als formale Regelstrukturen (formal rule structure) bezeichnet (Easton 1990, 95). Formale politische Strukturen sind deshalb auch als formale empirische Strukturen (formal empirical structure) zu bestimmen. Easton arbeitet sein Verständnis der formalen Regelstrukturen sehr genau heraus. Demgegenüber wird die Bedeutung von formalen empirischen Strukturen weniger deutlich. Was kann beispielsweise den Charakter des Formalen auf der Verhaltensebene ausmachen? Eastons (1990,56f, 103f) Lösung dieses Problems besteht darin, formale Strukturen auf der Verhaltensbene dann zu konstatieren, wenn die Verhaltensstruktur der Struktur auf der kulturellen Ebene entspricht. Das bedeutet aber, daß die 55 Die in dieser Typologie unterschiedenen Kategorien von Struktur beziehen sich alle auf die "lower-order-structures". Diese unterscheiden sich von "higher-order-structures" unter anderem durch das Kriterium der Beobachtbarkeit (Easton 1990,241,244f, 260,266). 91 Bestimmung des Formalen nicht auf der Beobachtungsebene allein vorgenom­ men werden kann, sondern erst durch einen nachträglichen Vergleich des empirisch festgestellten Interaktionsmusters mit den formalen Regelstrukturen. Die Lösung Eastons impliziert also, daß die formale empirische Struktur nicht unabhängig von der formalen Regelstruktur zu bestimmen ist. Die Schwierig­ keit einer klaren Abgrenzung beider Arten von formalen Strukturen wirft unseres Erachtens die grundlegende Frage auf, inwieweit politische Strukturen auf der Verhaltensebene lokalisiert werden können. Ist es konzeptuell in hinrei­ chender Klarheit möglich, auf der Verhaltensebene alleine zwischen tatsächli­ chen Handlungen der Akteure und den constraints (Strukturen) für diese Handlungen zu trennen? Wenn Strukturen als limitierende Handlungsconstraints begriffen werden, dann kann die Vorauswahl der durch diese constraints zugelassenen Handlungen nicht auf der Ebene der faktischen Handlungen selbst Zustandekommen, sondern nur auf der Ebene der Hand­ lungserwartungen (Luhmann 1976, 121; 1984, 73, 140) und das heißt in der Terminologie von Easton, auf der Ebene der Regelstrukturen. Empirische Strukturen entstehen deshalb und können deshalb beobachtet werden, weil es Regelstrukturen gibt. Bezogen auf die in Schaubild 5 dargestellten Strukturka­ tegorien von Easton begreifen wir politische Strukturen deshalb primär als Regelstrukturen und sekundär als empirische Strukturen. Das betrifft gleichermaßen die formalen und die informellen Strukturen. Die empirische Ebene wird als das Handeln von Akteuren in Situationen bestimmt, und es ist eine empirische Frage, inwieweit die Regelstrukturen dieses Handeln determi­ nieren. In dem Maße, in dem sie das tun, lassen sich in den tatsächlichen Interaktionen der Akteure auch Muster beobachten und diese Muster (empirische Strukturen) lassen wiederum Rückschlüsse auf die latenten Regel­ strukturen zu. In Kapitel 3 wurde bereits diskutiert, daß die strukturellen constraints das Handeln der Akteure nie vollständig, sondern nur mehr oder weniger determi­ nieren und daß es immer Freiheitszonen für die handelnden Akteure gibt. Die Realisierung dieser Freiheitszonen im Handeln der Akteure ist zum Teil struk­ turrelevant und zum Teil nicht. Nicht alle Handlungsfacetten sind auf Normen 92 Schaubild 6: Ein Modell von Handlungsstrukturen und aktuellem Handeln Formale Informelle e» _ o- Strukturen ^ ^ ^ < ^ Aktuelles Handeln von Akteuren L in * S i t u a t i o n e n " Reproduktion odor Transforrns&on dieser Strukturen und Regeln beziehbar, das heißt sie sind durch diese gar nicht angesprochen. Sie sind strukturell also indifferent. Andere Aspekte des konkreten Handelns beziehen sich demgegenüber eindeutig auf Normen und Regeln, sie sind dem­ zufolge mit dem Anspruch verknüpft, daß diesen im Handeln entsprochen wird. Wenn das tatsächlich auch geschieht, dann kann von einer Reproduktion der Struktur gesprochen werden. Die beobachtbaren Manifestationsformen die­ ser Reproduktion sind die Interaktionsmuster oder die empirischen Strukturen von Easton. In dem Maße, in dem den präskriptiven Erwartungen nicht ent­ sprochen wird, in dem Maße vollzieht sich eine Transformation der Struktur. Diese Transformation kann entweder eine Auflösung der gegebenen Struktur bedeuten oder aber eine Umstrukturierung. Hinsichtlich der formalen und informellen Strukturen wird von einem Kausalverhältnis ausgegangen. Die informellen Strukturen bilden sich um die formalen Strukturen herum, die die Strukturkerne darstellen und die Herausbildung informeller Strukturen restringieren. 5.2 Strukturen als generalisierte und komplementäre Verhaltenserwartungen Wenn an der Terminologie von Easton angeknüpft wird, dann werden politi­ sche Strukturen in der hier vorgelegten Metatheorie vor allem als formale und informelle Regelstrukturen begriffen. Regeln beziehen sich nicht auf tatsächli- 93 ches Verhalten, sondern auf Verhaltenserwartungen. Der letztere Begriff müßte genauer als generalisierte und komplementäre Verhaltenserwartungen gekennzeich­ net werden. Mit diesem Begriff ist zugleich ein Oberbegriff gewonnen, der die beiden Formen von Handlungsconstraints umfaßt, die bislang diskutiert wur­ 56 den: generalisierte Handlungsorientierungen und Rollenstrukturen . Durch die Generalisierung von Verhaltenserwartungen entsteht eine Einschränkung des Möglichkeitsraumes von Handlungen (Luhmann 1984, 397). Generalisierte Verhaltenserwartungen treffen eine Vorauswahl der im System zulässigen Handlungen, das was die Interaktionspartner typischerweise erwarten können. Die Komplementarität bedeutet, daß diese Verhaltenserwartungen aufeinander bezogen sind. Diese Komplementarität hat zwei Aspekte: Im Falle von generali­ sierten Handlungsorientierungen bezieht sie sich auf identische Verhaltenser­ wartungen 57 (jeder Interaktionspartner erwartet von dem jeweils anderen die­ selben Handlungsorientierungen), und im Falle von Rollen kann sie sich auf unterschiedliche Erwartungen beziehen (die aber gleichwohl komplementär sind). Rollenhandeln vollzieht sich in der Regel nicht isoliert, sondern in einem Geflecht unterschiedlicher, aber aufeinander bezogener Rollen. Hinsichtlich der Generalisierung unterscheidet Luhmann (1970, 121; 1984, 140) drei Dimensio­ nen: sachliche, zeitliche und soziale Generalisierung. Die sachliche Generalisie­ rung bezieht sich auf die komplementären Erwartungen der Interaktionspart­ ner, wie gehandelt werden soll. Die zeitliche Generalisierung bezieht sich auf die Dauerhaftigkeit und Verläßlichkeit dieser komplementären Verhaltenserwar­ tungen. Diese Dauerhaftigkeit und Verläßlichkeit wird vor allem durch Nor­ mierung erzeugt (kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen). In modernen Gesellschaften erfolgt diese Normierung primär durch das Recht und die dadurch definierten Sanktionen bei einer Verletzung der Erwartungen. 56 Die Bezeichnungen Rollenstrukturen, Regelstrukturen und Handlungsstrukturen werden weitgehend synonym verwendet. 57 Auf der Grundlage der generalisierten Handlungsorientierungen, die in der Metatheorie diskutiert wurden, bedeutet das beispielsweise, daß alle Akteure des politischen Systems damit rechnen können, daß alle anderen nach dem Code von Regierung und Opposition handeln oder daß alle Akteure des intermediären Systems die Unterstützung des Publikums als generalisierte Handlungsorientierung haben und erwarten, daß das bei den anderen auch so ist. 94 Die soziale Generalisierung bezieht sich auf die Unterstellung, daß die komple­ mentären Verhaltenserwartungen auch von dem Konsens der faktischen und potentiellen Interaktionspartner getragen wird. Nach Luhmann (1970, 122) benötigt jedes Sozialsystem ein bestimmtes Ausmaß an kongruenter Generali­ sierung in allen drei Dimensionen, das heißt es sind auf Dauer gestellte kom­ plementäre Verhaltenserwartungen mit hoher Konsensvermutung erforder­ 58 lich . Diese bilden den Kern der Sozialstruktur. In modernen politischen Systemen wird dieser Kern durch die rechtlich fixierten Rollenstrukturen bestimmt. Wir schließen uns dieser Bestimmung sozialer Strukturen von Luhmann weitgehend an, scheiden aber die soziale Generalisierung als definie­ rendes Merkmal aus. Wenn die Konsensvermutung oder der faktische Konsens schon als definierendes Merkmal sozialer Strukturen angenommen wird, dann kann unseres Erachtens nicht mehr klargemacht werden, wie es zu einer Reproduktion oder Transformation dieser Strukturen kommen kann. Diese Reproduktion oder Transformation wird wesentlich von dem Ausmaß des Konsenses oder der Unterstützung dieser Strukturen seitens der beteiligten Akteure bestimmt. Wir begreifen also die formale Struktur des politischen Systems liberaler Demo­ kratien als Muster generalisierter und komplementärer Verhaltenserwartungen 59 der relevanten Akteure, die durch das Recht definiert werden . Die Komplementarität der Verhaltenserwartungen bezieht sich auf zwei Ebenen: Erstens auf die Ebene der einzelnen Rollen, deren Verbindungen die Struktur der kollektiven Akteure bildet und zweitens auf die Ebene der kollektiven Akteure, deren Verbindung die Struktur des politischen Systems bildet. Die informelle Struktur besteht demgegenüber aus Mustern generalisierter und komplementärer Verhaltenserwartungen, die sich habituell (beispielsweise 58 Als Beispiel solcher kongruenten Generalisierungen können Institutionen begriffen werden. In dieser Richtung argumentiert auch Göhler (1987,1990). Da aber mit dem Institutionenbe­ griff in der Regel noch weitergehende Assoziationen verknüpft sind (siehe dazu Easton 1990, 58ff), hat er in unserem systemtheoretischen Kontext keinen klar verortbaren analyti­ schen Status. 59 Diese Definition umfaßt sowohl die sachliche Festlegung der Verhaltenserwartungen als auch die Festlegung der Konsequenzen bei Erwartungsverletzungen. 95 aufgrund von Sitten und Gebräuchen) herausgebildet haben. Diese formalen und informellen Strukturen sind die wichtigsten und unmittelbaren Handlungsconstraints für die Akteure des politischen Systems. Sie legen weitgehend fest, welche Handlungsalternativen zur Realisierung der jeweiligen Ziele der einzelnene Akteure überhaupt zur Verfügung stehen und bestimmen dadurch bis zu einem gewissen Grade die Choices der Akteure in Handlungssitua­ tionen. Neben den Strukturen wurden in der Diskussion der Metatheorie auch die generalisierten Handlungsorientierungen der Akteure als Handlungsconstraints bestimmt. Solche Handlungsorientierungen sind als stabile und gemeinsame Orientierungen der Akteure eines Systems definiert worden und stellen somit auch generalisierte und komplementäre Verhaltenserwartungen dar. Schaubild 7: Generalisierte Verhaltenserwartungen und Handlungs-Constraints Generalisierte Handlungs­ orientierungen Handlungs-C onstraints Generalisierte Verftaltenserwartungen Rollenstrukturen Handlungs-Choices Während die Rollenstrukturen eine Komplementarität verschiedener Verhal­ 60 tenserwartungen implizieren , beziehen sich die generalisierten Handlungs­ orientierungen auf eine Komplementarität identischer Verhaltenserwartungen aller Akteure (siehe dazu das Beispiel in Fußnote 57). Es handelt sich also um generalisierte Verhaltenserwartungen unterschiedlicher Generalisierungsgrade. Letztlich soll die Metatheorie des demokratischen Prozesses eine theoretische Vorarbeit zur Erklärung des faktischen Handelns der Akteure des politischen Systems sein. Ausgehend von diesem Bezugspunkt kann ein Kontinuum zwi­ schen spezifischen und generalisierten Handlungsorientierungen und Verhal­ tenserwartungen unterstellt werden, das zumindestens in drei theoretisch rele60 Zwischen verschiedenen Rollen und verschiedenen kollektiven Akteuren. 96 vante Abschnitte unterteilbar ist. Die unterste Ebene bildet die der einzelnen Akteure (individuelle und kollektive), die in konkreten Situationen ihre jeweili­ gen Ziele durch ihr Handeln verwirklichen wollen. Die nächste Ebene ist die der Rollenstrukturen, die für die einzelnen Akteure typischerweise vorschreibt, wie sie handeln sollen und weitgehend erwartbar machen, wie andere handeln werden. Dadurch wird die spezifische Handlungsorientierung der einzelnen Akteure limitiert und aufeinander beziehbar gemacht. Die oberste Ebene stellen die generalisierten Handlungsorientierungen aller Akteure des Systems dar. Soziale Systeme werden durch beide Ebenen der generalisierten Verhaltenser­ wartungen gebildet: durch Rollenstrukturen und durch generalisierte Hand­ lungsorientierungen. Hinsichtlich der Strukturen des politischen Systems können wiederum ver­ schiedene Strukturebenen unterschieden werden, die in Anlehnung an Easton (1990, 270) als eine Hierarchie politischer Strukturen beschrieben werden. Der von uns vorgeschlagene Strukturbegriff ist auf alle Sozialsysteme und auf die unterschiedlichen Hierarchiestufen ihrer strukturellen Ausdifferenzierung beziehbar. Das politische System ist ein Sozialsystem, das eines der primären gesellschaftlichen Teilsysteme darstellt. Die höchste Hierarchiestufe bildet demzufolge die Gesellschaft als das umfassendste Sozialsystem, das sich in ver­ schiedene primäre Teilsysteme differenziert, wobei das uns interessierende Teilsystem das politische System ist. Das politische System differenziert sich nach der Metatheorie des demokratischen Prozesses in drei Subsysteme und zwar das Publikumssystem, das intermediäre System und das Regierungssy­ stem. Das intermediäre System und das Regierungssystem können unter bestimmten analytischen Perspektiven zur Polity zusammengefaßt werden. Die drei Subsysteme des politischen Systems differenzieren sich jeweils in bestimmte kollektive Akteure und diese dann wiederum in einzelne Rollen. Die Rollen sind die unterste Ebene der Hierarchie politischer Strukturen und wer­ den deshalb als Basiselemente dieser Strukturen bezeichnet. Wenn man von dieser untersten Ebene ausgeht, dann stellen die jeweils höheren Ebenen immer komplexere Konfigurationen von Rollenverbindungen dar. Bei dieser Komplexitätszunahme handelt es sich aber nicht um eine bloße Aggregation von immer S c h a u b i l d 8: H i e r a r c h i e politischer S t r u k t u r e n Gesellschaft politisches System andere primäre gesellschaftliche Teilsysteme Polity Publikumssystem Staatsbürger Massenmedien Intermediäres Interessengruppen Parteien System Regierungssystem Regierung Parlament Verwaltung Subkollektiv X Subkollektiv Y Medium X Medium Y Interessengruppe X Interessengruppe Y Partei X Partei Y Minister- Ministerien 1. Kammer 2. Kammer Ministerial- Lokale präsident bürokratie Bürokratien Einzelne Rollen Einzelne Rollen Einzelne Rollen Einzelne Rollen Einzelne Rollen ¡3 98 mehr Rollen, sondern die Struktureinheiten der jeweils höheren Ebene sind ganz spezifische Verbindungen der Struktureinheiten der jeweils niedrigeren Ebene. Diese Annahme impliziert unter anderem, daß die konkrete Bestim­ mung der Struktur eines politischen Systems nicht durch die Entfaltung der gesamten Komplexität der Rollenverbindungen im politischen System erfolgen muß, sondern lediglich durch die Bestimmung der spezifischen Konfiguration der drei Subsysteme des politischen Systems. Die gleiche Logik müßte auch bei den Strukturbestimmungen niedrigerer Hierarchieebenen angewendet werden. Das Regierungssystem beispielsweise könnte als eine spezifische Konfiguration von Regierung, Parlament und Verwaltung bestimmt werden. Im Kontext sei­ ner Theorie politischer Strukturen hat Easton (1990, 270f) eine ähnliche Annahme formuliert, wenn er bei der Hierarchie von Strukturen von einer 61 "nesting hierarchy" ausgeht . Innerhalb der Hierarchie politischer Strukturen muß auf eine wichtige analyti­ sche Differenzierung zurückgekommen werden, die bereits durch die Unter­ scheidung zwischen handlungsprägenden und handlungsfähigen Sozialsyste­ 62 men angesprochen wurde . Handlungsfähige Sozialsysteme sind solche, die zumindest in einem weiteren Sinne zu einem intentionalen Handeln in der Lage sind. Das trifft in der Hierarchie politischer Strukturen nur für die Ebenen zu, die sich auf einzelne Rollen und auf kollektive Akteure beziehen und bei­ spielsweise nicht mehr für die Ebene der Subsysteme des politischen Systems. Lediglich das Regierungssystem könnte unter bestimmten Bedingungen als ein kollektiver Akteur begriffen werden. Wenn klare Mehrheitsverhältnisse im Parlament herrschen, die der jeweiligen Regierung eine weitgehende Hand­ lungsautonomie ermöglichen, dann stellt diese Regierung so etwas wie eine Spitze des gesamten Subsystems (Regierungssystem) dar, der letztlich die bin­ denden Entscheidungen dieses Systems als intentionales Handlungsprodukt zugerechnet werden können. Unangesehen, wer im einzelnen als kollektiver 61 Bei dieser "nesting hierarchy" steht bei ihm allerdings der Aspekt im Vordergrund, daß die höheren Struktureinheiten die Operationsweisen der niedrigeren Struktureinheiten determi­ nieren. 62 Der gleiche Sachverhalt wird bei Easton (1990,241-279) bei seiner Unterscheidung zwischen "higher-order-structures" und "lower-order-structures" diskutiert. 99 Akteur begriffen werden kann und somit als handlungsfähiges Sozialsystem, so ist per Definition klar, daß manifeste Interaktionsmuster und latente Verhal­ tenserwartungen nur bei solchen handlungsfähigen Sozialsystemen beobachtet und gemessen werden können. Das macht die Bestimmung der Strukturen von handlungsprägenden Sozialsystemen bzw. von "higher-ord er-structures" nicht eben einfacher. Die "higher-order-structures" müssen dann weitgehend aus den "lower-order-structures" analytisch rekonstruiert werden. In jedem Falle scheint es uns notwendig zu sein, vor der Anwendung von Datenreduktionsverfahren auf eine Menge von Strukturindikatoren und der Zuordnung der auf diese Weise erhaltenen Dimensionen zu höheren Systemebenen erst einmal eine kon­ krete Bestimmung vorzunehmen, was als Strukturmerkmale auf diesen Ebenen begriffen werden kann. Erst dann kann man eine sinnvolle Auswahl von Indi­ katoren treffen und erst dann können die Ergebnisse von solchen Datenreduk­ tionen theoretisch sinnvoll interpretiert werden. Diese theoretische Bestim­ mung konkreter Strukturen und darauf aufbauender empirischer Analysen ist aber nicht Gegenstand der hier diskutierten Metatheorie. Nach dieser Explikation des Strukturbegriffs muß noch eine rückwirkende Dif­ ferenzierung an dem Strukturbegriff vorgenommen werden, der bis zu dieser Explikation verwendet wurde. Als Struktur sozialer Systeme wurde unter anderem die Vernetzung der kollektiven Akteure bezeichnet, die diesem System zugehören. Bei dieser Vernetzung müssen nunmehr zwei Aspekte unterschieden werden: Erstens die auf der Ebene der Verhaltenserwartungen (Regeln, Normen) definierte Vernetzung und zweitens die auf der Ebene des tatsächlichen Verhaltens erfolgende Vernetzung. Vor allem die erstere Art von Vernetzung wird nach dem explizierten Strukturbegriff als Struktur bezeichnet und die letztere Art von Vernetzung eher als Interaktionsmwsfer, das durch diese Struktur generiert wird. Die konkreten Handlungsprodukte des demo­ kratischen Prozesses sind dann natürlich als eine direkte Folge der tatsächli­ chen Aktionen und Interaktionen der kollektiven Akteure zu begreifen. Diese Interaktionen sind unter anderem durch ein mehr oder weniger ausgeprägtes und stabiles Muster gekennzeichnet. 100 6» Politische Strukturen und politische Performanz Der dargestellte Begriff politischer Strukturen ist für empirische Analysen erst dann fruchtbar zu machen, wenn konkrete Strukturen der liberalen Demokra­ tien - auf die sich die Metatheorie des demokratischen Prozesses ja bezieht bestimmt werden. Dazu kann dieser Strukturbegriff eine theoretische Grund­ lage bilden. Wenn die konkrete und das heißt die empirische Bestimmung der Strukturen der einzelnen liberalen Demokratien erfolgt ist, dann kann diese auch als Erklärungsvariable für empirische Phänomene des demokratischen Prozesses verwendet werden. Darunter ist vor allem die konkrete Ausprägung der einzelnen Handlungsprodukte des demokratischen Prozesses zu verstehen und die Frage, wie stark ein Handlungsprodukt andere determiniert. Letztere bezieht sich beispielsweise auf die Frage, inwieweit artikulierte Ansprüche aus dem Publikumssystem in den Handlungsprodukten der Akteure der Polity (Programme, Entscheidungen etc.) berücksichtigt werden. Auf die konkrete Umsetzung dieser Erklärungsstrategie kann im Kontext der Metatheorie nicht eingegangen werden. Es sollen lediglich zwei allgemeine Probleme angespro­ chen werden, die sich bei solchen Erklärungsversuchen stellen und in der For­ schungspraxis häufig vernachlässigt werden. Eines dieser Probleme betrifft die sinnvolle Spezifikation von Strukturvariablen als Erklärungsvariablen: Für welche abhängige Variable ist welche Ebene in der Hierarchie politischer Strukturen die relevante? Wird beispielsweise die Responsivität der politischen Parteien auf die Ansprüche des Publikumssy­ stems ausschließlich von den Strukturen des Parteiensystems bestimmt, oder ist es notwendig, hier auf eine höhere Strukturebene zu rekurrieren, die das inter­ mediäre System und das Regierungssystem umfaßt (Polity)? Oder: Kann die Artikulation bestimmter Ansprüche durch die Interessengruppen lediglich durch die Struktur des Subsystems der Interessengruppen erklärt werden oder eher durch die Struktur des gesamten Publikumssystems? Bei dem zweiten allgemeinen Problem handelt es sich um eine sinnvolle Spezifikation der abhängigen Variablen, die durch politische Strukturen erklärt werden sollen. Für die Handlungsprodukte innerhalb des politischen Systems ist das relativ unproblematisch. Anders verhält es sich aber für die Resultate, die durch die 101 Entscheidungstätigkeit des politischen Systems in seiner Umwelt erzielt werden sollen. Wenn Lijphart (1991) beispielsweise unterschiedliche ökonomische Performanzen (Wirtschaftswachstum, Inflationsraten, Arbeitslosenquoten) durch 63 verschiedene Strukturarrangements repräsentativer Demokratien erklärt und darauf bezogen "constitutional choices for new democracies" nahelegt, dann liegt hier vermutlich eine Überschätzung der möglichen Effekte politischen Handelns vor. In gleicher Weise wie Sartori und Easton einen soziologischen Reduktionismus bei der Erklärung politischer Phänomene kritisiert haben, kann hier ein politologischer Reduktionismus bei der Erklärung ökonomischer Phänomene geltend gemacht werden. Das ökonomische System ist genauso wie das politische System ein ausdifferenziertes gesellschaftliches Teilsystem mit eigenen Strukturen und eigenen Rationalitäten, und es kann deshalb davon ausgegangen werden, daß es zunächst einmal endogene Variablen des ökono­ mischen Systems sind, die ökonomische Phänomene wie die von Lijphart ana­ lysierten, erklären können. Das schließt nicht aus, daß politische Variablen auch einen Erklärungseffekt haben. Dieser kann aber nur dann empirisch hinrei­ chend bestimmt werden, wenn die Erklärung sowohl Ökonomische als auch politische Variablen berücksichtigt (was die genannten abhängigen Variablen anbetrifft). Wenn das nicht der Fall ist, besteht die Möglichkeit der Fehlspezifi­ kation eines Erklärungsmodells, das zu verzerrten Schätzungen der im Erklä­ rungsmodell berücksichtigten Variablen führt. Wir wollen noch einmal auf einen der zentralen Bezugspunkte der Metatheorie des demokratischen Prozesses zurückkommen, der im Einleitungskapitel aus­ geführt wurde. In Anlehnung an Fukuyamas Thesen gehen wir davon aus, daß durch den Wegfall der grundlegenden Alternative zu den liberalen Demokra­ tien die Frage des Vergleichs zwischen unterschiedlichen Varianten von libera­ len Demokratien in den Vordergrund rückt. Das Vergleichskriterium ist das der politischen Performanz, und hier kann umstand slos an die Feststellung von Almond und Powell (1978, 392) angeknüpft werden: "for professional political 63 Lijphart bildet vier grundlegende Typen von Demokratien, die er bei seiner Erklärung ver­ wendet: präsidentiale Demokratien mit Mehrheitswahlrecht bzw. Verhältniswahlrecht und parlamentarische Demokratien mit Mehrheitswahlrecht bzw. Verhältniswahlrecht. 102 sciervtists the comparative study of political Performance ought to be a central one". Die letzte zu diskutierende Frage der Metatheorie des demokratischen Prozesses bezieht sich demzufolge auf eine begriffliche Klärung von politischer Performanz. Die politischen Systeme der OECD-Staaten wurden als Leistungssysteme gekennzeichnet (siehe Kapitel 4.2.1), und eines der Merkmale von Leistungssy­ stemen ist die Differenzierung in Rollen zur Produktion und Abnahme dieser Leistungen. Auf der Grundlage dieser Rollendifferenzierung und darauf bezo­ gener generalisierter Handlungsorientierungen wurde zwischen einem Pro­ duktionssystem und einem Abnehmersi/stem unterschieden, die in der Meta­ theorie als Publikum und Polity bezeichnet wurden. Unter dem analytischen Aspekt der Produktion von Leistungen wird das intermediäre System und das Regierungssystem also zur Polity zusammengefaßt und dem Publikum gegen­ 64 übergestellt . Bei dieser Gegenüberstellung kann sich im Sinne der erfolgten Beschreibung die politische Performanz nur auf die Handlungsprodukte der Polity beziehen, das heißt auf die durch die Akteure der Polity erbrachten Leistungen. Diese werden aber für das Publikum produziert, und das Publikum (in seiner Gestalt als das Kollektiv der Staatsbürger) ist zumindest in der normativen Demokratietheorie der Ausgangspunkt und der Endpunkt der Produktion der Leistungen der Polity. Dieser Sachverhalt wird durch die for­ malen Strukturen der politischen Systeme der liberalen Demokratien detailliert festgelegt und das heißt zugleich, rechtlich codifiziert. Die politische Perfor­ manz bezieht sich also auf die Leistungen der Politypir das Publikum, und die Bewertung dieser Performanz wird deshalb auch aus der Perspektive des Publikums vorgenommen. Auf der Grundlage des Modells des demokratischen Prozesses (siehe Schaubild 2) kann die politische Performanz der Polity in zwei Dimensionen unterschieden werden: Die erste Dimension betrifft die Responsi64 Der Begriff der Polity ist weitergefaßt als der Regimebegrirf bei Haston (1965, 190-211). Die Regimestruktur wird bei Easton durch die "structure of the authority roles" bestimmt, und authority roles sind durch die Kompetenz charakterisiert, bindende Entscheidungen zu tref­ fen. Die Struktur des Regimes bei Easton ist also weitgehend identisch mit der Struktur des Regierungssystems unserer Metatheorie. Da die politischen Parteien als Parteien keine sol­ chen Entscheidungskompetenzen besitzen (sondern nur als "incumbents" von authority roles), können säe auch nicht dem Regierungssystem oder dem Regime zugerechnet werden. 103 vität der Akteure der Polity auf die Ansprüche des Publikums an der InputSeite des demokratischen Prozesses und die zweite Dimension betrifft die Effek­ tivität der Akteure der Polity bei der Umsetzung dieser Ansprüche an der Output-Seite des demokratischen Prozesses. Diese beiden Bewertungsaspekte müssen analytisch getrennt bleiben und nicht von vornherein in eine "responsive Effektivität" zusammengefaßt werden. Es gibt in der Demokratie­ theorie unterschiedliche Auffassungen darüber, ob eher die Responsivität oder eher die Effektivität der Polity der demokratischen Grundnorm entspricht. Man kann hier zwischen "inputorientierten" und "outputorientierten" Demokratie­ theorien unterscheiden (Scharpf 1975, 21-28). Aber auch empirisch ist es noch zu klären, welche dieser beiden Performanzaspekte für die Staatsbürger in welchen Situationen die wichtigere ist. Schaubild 9: Kategorien politischer Performanz Dimension Dimension B Objektiv Responsivität Effektivität Persistenz N C 0) w d> % « cn D c Generalisierte 3 3 o Responsivität Effektivität Unterstützung CS Subjektiv Die Responsivität und Effektivität der Akteure der Polity läßt sich wiederum nach zwei Gesichtspunkten beschreiben und bewerten: Wie ist der objektive 104 65 Tatbestand und wie wird dieser subjektiv durch die Staatsbürger perzipiert? Die sogenannte objektive Responsivität und Effektivität beeinflußt die subjek­ tive Perzeption der Staatsbürger sicherlich. Nach der Metatheorie des demo­ kratischen Prozesses wird sie aber auch von Definitionsprozessen in der Kom­ munikation zwischen Interessengruppen, Massenmedien und den konkurrie­ renden politischen Parteien beeinflußt. Ein weiterer Einflußfaktor sind die selektiven Wahrnehmungen politischer Informationen der Staatsbürger selbst, die durch deren kognitive und evaluative Schemata gesteuert werden. Aus diesen Gründen müssen auch die "objektive" und "subjektive" Ebene analytisch getrennt werden und es zu einer empirischen Frage gemacht werden, inwieweit die objektive Responsivität und Effektivität der Polity die subjektive Perzeption der Staatsbürger bestimmt und welche Erklärungskraft hier die genannten anderen Faktoren haben. Die subjektive Perzeption der Responsivität und Effektivität der Polity durch die Staatsbürger gewinnt ihre politische Relevanz im Rahmen des demokratischen Prozesses in zweierlei Hinsicht: Erstens durch ihre Folgen für das Wahlverhalten der Staatsbürger oder andere Formen der politischen Partizipation und zweitens durch ihre Folgen für die Erzeugung einer generalisierten Unterstützung. Das Ausmaß der generalisierten Unterstützung eines politischen Systems wird im allgemeinen als die wichtigste Determinante für die Persistenz dieses Systems angesehen (siehe dazu unter anderem: Easton 1965, Grew 1978, Linz 1978, Lichbach 1981, Zimmermann 1981, Fuchs 1989). Die Stabilität oder Persistenz politischer Systeme ist eines der Grundfragen der politischen Wissenschaft. Der Begriff der Persistenz wurde von Easton (1965, 211, 220f) eingeführt, den er dem der Stabilität vorzog, um die Assoziation des statischen Beharrens zu vermeiden. Die Bestandserhaltung eines politischen Systems wird nach Easton im Gegenteil vor allem durch seine Adaptivität für gesellschaftlichen Wandel bestimmt. Bezogen auf die Struktur politischer Systeme bedeutet das, daß politische Systeme dann persistent sind, wenn sie ihre grundlegenden und konstituierenden Strukturmerkmale 65 Die "okjektive" Responsivität der Polity kann beispielsweise durch den Vergleich von empi­ risch ermittelten Ansprüchen der Staatsbürger durch Umfragen mit der empirisch ermittel­ ten Berücksichtigung dieser Ansprüche in den Parteiprogrammen gemessen werden. Für das Erfassen der "objektiven" Effektivität könnte auf ökonomische und soziale Indikatoren zurückgegriffen werden. 105 bewahren und durch Veränderungen relativ peripherer Strukturelemente auf sich verändernde Umweltbedingungen reagieren. Die auf der Prozeßebene lie­ genden Performanzkategorien der Responsivität und Effektivität können also durch die auf der Systemebene liegenden Performanzkategorien der generali­ sierten Unterstützung und der Systempersistenz ergänzt werden (siehe Schau­ bild 9). Aus zwei Gründen ist unseres Erachtens die Erzeugung einer generalisierten Unterstützung der Polity durch die Staatsbürger eine besondere Kategorie politischer Performanz. Erstens infolge des erläuterten Stellenwertes dieser Variablen für die Persistenz des politischen Systems. Zweitens durch ihre Rele­ vanz für Fragen der normativen Demokratietheorie. Die generalisierte Unter­ stützung bezieht sich auf eine Einstellung zu dem demokratischen Prozeß ins­ gesamt und den Strukturen, die diesen Prozeß steuern. Das Ausmaß der gene­ ralisierten Unterstützung ist deshalb ein informationsreicheres Kriterium für die Realisierung der demokratischen Grundnorm ("Volkssouveränität") durch die tatsächlichen demokratischen Prozesse als die Responsivität und Effektivi­ 66 tät der Polity im Hinblick auf einzelne Ansprüche der Staatsbürger . Auf der Ebene der alltäglichen politischen Prozesse sind spezifische Unzufriedenheiten selbstverständlich und notwendig für die Dynamik dieser Prozesse. Sowohl im Hinblick auf den analytischen Aspekt der Persistenz des politischen Systems als auch im Hinblick auf den normativen Aspekt der Verwirklichung der Volks­ souveränität ist die entscheidende Frage, ob und inwieweit sich solche spezifi­ schen Unzufriedenheiten generalisieren und das heißt, über die aktuellen kol­ lektiven Akteure der Polity hinausgehen und sich auf allgemeinere Objekte des politischen Systems erstrecken und letztlich auch auf das politische System als Ganzes. 66 Letztlich hängt es natürlich von der konkreten Fragestellung ab, welche der unterschiedenen Kategorien politischer Performanz betroffen sind. Wenn sich diese beispielsweise auf die Lösung eines bestimmten Problems durch staatliches Handeln bezieht, dann wird die Performanzkategorie B des Schaubildes 9 relevant. Oder wenn diese sich auf die Erklärung des Wahlverhaltens der Staatsbürger bezieht, dann sind die Performanzkategorien C und D die relevanten. 106 Das Konzept der generalisierten Unterstützung ist auf der Grundlage von Eastons (1965, 1975) Konzept der diffusen Unterstützung entwickelt und in empirischen Analysen angewendet worden (Fuchs 1989; Fuchs 1993; Fuchs, Guidorossi und Svensson 1993). Es unterscheidet sich aber von diffuser Unter­ stützung in zwei wesentlichen Punkten. Easton (1975) nimmt zwei Quellen der Entstehung von diffuser Unterstützung an: Erstens Mechanismen der primären Sozialisation und zweitens spätere Erfahrungen mit der Perform anz der Akteure der Polity. Nach Easton (1975, 444-448) sind solche Erfahrungen lediglich eine Quelle der Entstehung von diffuser Unterstützung, aber diese Einstellung exi­ stiert erst dann, wenn sie sich von dieser Quelle wieder gelöst hat und damit unspezifisch wird und in diesem Sinne eben diffus. Bei dem Konzept der gene­ ralisierten Unterstützung wird demgegenüber davon ausgegangen, daß infolge von weitergehenden Modernisierungsprozessen die primäre Sozialisation an Wirkungskraft verloren hat und von Erfahrungen des Erwachsenenalters überlagert wird. Die Erfahrungen mit der Perform anz der Akteure der Polity stellen wie bei Easton eine Quelle der Entstehung einer generalisierten Unter­ stützung dar, aber im Unterschied zu Easton gehen wir davon aus, daß diese Quelle der Entstehung der Einstellung in der resultierenden Einstellung nicht verschwindet, sondern erhalten bleibt, das allerdings in einer generalisierten Form. Das bedeutet beispielsweise, daß eine positive Einstellung zu Strukturen der Polity bzw. zur Polity insgesamt weniger eine diffuse (psychologische) Bin­ dung an dieses Objekt darstellt, sondern eher auf bestimmten Bewertungskrite­ rien beruht, die die Einstellung als solche charakterisieren. Diese Bewertungs­ kriterien können expressiver, moralischer und instrumenteller Art sein. Je nachdem, welches dieser Bewertungskriterien zur Erzeugung von Erfahrun­ gen 67 verwendet wird und damit auch die Generalisierungsbasis bestimmt, können unterschiedliche Formen der generalisierten Unterstützung unterschie­ den werden (siehe dazu Fuchs 1989, 1993). Welcher der drei grundlegenden Bewertungsstandards zur Beurteilung politischer Ereignisse bei den Staatsbür­ gern gegenwärtig tatsächlich dominiert und welche Form der generalisierten Unterstützung demzufolge die politisch relevante und wirksame ist, ist eine 67 Erfahrungen werden fast immer im Lichte von Bewertungsstandards gemacht, das heißt, rein kogniüonsbestimmte Erfahrungen sind nur in Grenzfällen möglich. 107 noch offene Forschungsfrage. Unangesehen dieser differenzierten Aspekte der generalisierten Unterstützung, als generalisierte hat sie im Prinzip aber eine ähn­ liche Pufferwirkung gegenüber den alltäglichen und konkreten Unzufrieden­ 68 heiten wie die diffuse Unterstützung Eastons . Dennoch ist mit dem Konzept der generalisierten Unterstützung die Annahme einer relativ stärkeren Abhängigkeit von der politischen Performanz auf der Prozeßebene verknüpft als das bei Easton der Fall ist. Diese Annahme impliziert auch, daß die Stabili­ sierung einer generalisierten Unterstützung (oder Erzeugung, falls nötig) eine permanente Aufgabe der Akteure der Polity ist. Diese Stabilisierung beruht nicht nur auf dem, was durch diese Akteure produziert wird, sondern auch wie 69 sie produzieren, das heißt ihre Handlungsprodukte herstellen . Es ist eine wichtige und offene Frage, wie sich der Wegfall der grundlegenden Systemal­ ternative auf die Generierung und Erhaltung verschiedener Formen der gene­ ralisierten Unterstützung der liberalen Demokratien auswirkt. Unsere Vermu­ tung wurde bereits im Einleitungskapitel formuliert. Spezifische Unzufrieden­ heiten werden schneller als früher generalisiert, aber diese Generalisierung mündet nicht in einer Infragestellung des Systems der liberalen Demokratie als solcher, sondern lediglich in der Frage, ob es strukturelle Alternativen inner­ halb dieses System gibt, die eine bessere Performanz auf der Prozeßebene ermöglichen. Abschließend sei die Frage gestellt, wo die Metatheorie des demokratischen Prozesses als Theorieversuch eingeordnet werden kann. Alexanders wissen­ schaftliches Kontinuum erlaubt lediglich eine Einordnung zwischen den Polen von "metaphysical environment" und "empirical environment" und gibt Direk­ tiven an, in welcher Weise und welchen Hinsichten eine solche Metatheorie 68 Der Begriff der Generalisiertheit ist wesentlich durch Indifferenz gegenüber Konkretheit und SpezUizität bestimmt. Wenn generalisierte Unterstützungsformen des politischen Systems einmal aufgebaut sind, dann haben sie infolge dieser Indifferenz auch eine gewisse Resistenz gegenüber Enttäuschungen auf der Ebene alltäglicher Politik Die entscheidende Frage vor allem bei neuen Demokratien ist, daß eine generalisierte Unterstützung dieser Demokratien aufgebaut werden kann, und das ist eine voraussetzungsvolle Angelegenheit, wie wir aus historischen Erfahrungen wissen. 69 Zu dieser Dimension des Verhaltensstils der Akteure der Polity bei der Herstellung ihrer Handlungsprodukte gehören unter anderem Fragen der politischen Moral. 108 erstellt werden kann. Eine etwas genauere Einordnung als Theorieansatz im Bereich der Politik erlaubt ein Schema von von Beyme (1991, 346). Nach einer umfassenden Bestandsaufnahme der "Theorie der Politik im 20. Jahrhundert" vereinfacht er die vielfältigen theoretischen Ansätze durch die Aufspannung eines zweidimensionalen Raumes mit den Achsen Systemansatz/Akteurs­ ansatz und Makroebene/Mikroebene. Als die Extrempunkte dieses Raumes, die von Beyme letztlich als Sackgassen kennzeichnet, lokalisiert er die autopoietischen Systemtheorien (in der Zelle Systemansatz/Makroebene) und orthodoxen Behaviorismus (in der Zelle Akteursansatz/Mirkoebene). Die hier vorgelegte Metatheorie bezieht sich in der Terminologie von Beymes eher auf die "klassische Systemtheorie" und auf "rational choice", d.h. zwei theoretische Ansätze, denen von Beyme jeweils eigene Möglichkeiten einräumt. Ein Problem bei der Anwendung beider Ansätze sind die "Sprünge" jeweils von der Akteursebene auf die Systemebene und von der Mikroebene auf die Makroebene und umgekehrt (von Beyme 1991, 344ff). In der Metatheorie des demokratischen Prozesses ist versucht worden, diese Sprünge zumindest konzeptuell durch eine möglichst systematische Integration von Systemansatz und Akteursansatz zu reduzieren. Inwieweit das gelungen ist, wäre noch zu disku­ tieren. Vor allem aber muß sich dieser Integrationsversuch in empirischen Stu­ dien als fruchtbar erweisen, die durch die Metatheorie gesteuert werden sollen. 109 Literatur Alber, Jens, 1982: Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analyse zur Ent­ wicklung der Sozialversicherung in Westeuropa. Frankfurt/M., New York: Campus. von Alemann, Ulrich (unter Mitarbeit von Reiner Fonteyn und Hans-Jürgen Lange), 1987: Organisierte Interessen in der Bundesrepublik. Opladen: Leske und Budrich. Alexander, Jeffrey C , 1982: Theoretical Logic in Sociology, Vol. I: Positivism, Presuppositions, and Current Controversies. Berkeley, L. A.: University of California Press. Almond, Gabriel A., and G. Bingham Powell Jr. (Hrsg.), 1978: Comparative Politics. 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Dieter Rucht, Peter Hocke, Thomas Ohlemacher FS HI 92-104 Social Relays: Micro Mobilization via the Meso-Level. Thomas Ohlemacher FS HI 93-101 Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit. Jürgen Gerhards Abteilung 2 "Institutionen und sozialer Wandel" FS III 90-202 Politisches Denken in der Informationsgesellschaft. Zum Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und Einstellungskonsistenz. Katrin Voltmer FS III 90-203 The Normalization of the Unconventional - Forms of Political Action and New Social Movements. Dieter Fuchs FS IH 90-204 Vielfalt oder strukturierte Komplexität? Zur Institutionalisierung politi­ scher Spannungslinien im Verbände- und Parteiensystem in der Bun­ desrepublik Bernhard Weßels FS III 90-205 Zum Wandel politischer Konfliktlmien. Ideologische Gruppierungen und Wahlverhalten. Dieter Fuchs FS III 91-201 Ein analytisches Schema zur Klassifikation von Politikinhalten, Edeltraud Roller FS III 91-202 Coalition Government in the Federal Republic of Germany: Does Policy Matter? Hans-Dieter Klingemann und Andrea Volkens FS HI 92-201 Trends of Political Support in the Federal Republic of Germany. Dieter Fuchs FS III 92-202 "BubbIe-Up"-Theory or Cascade Model? The Formation of Public Opinion Towards the EC: Shaky Evidence from Different Empirical Sources. Bernhard Weßels FS III 92-203 Democratization and Constitutional Choices in Czecho-Slovakia, Hungary, and Poland, 1989-1991. Arend Lijphart FS III 92-204 Bürger und Organisationen - Ost- und Westdeutschland: vereint und doch verschieden? Bernhard Weßels FS III 92-205 Hermeneutisch-klassifikatorische Inhaltsanalyse - Analysemöglichkeiten am Beispiel von Leitfadengesprächen zum Wohlfahrtsstaat. Edeltraud Roller und Rainer Mathes FS m 92-206 Ideological Basis of the Market Economy: Attitudes Toward Distribution Principles and the Role of Government in Western and Eastern Germany. Edeltraud Roller FS HI 93-201 The Cumbersome Way to Partisan Orientation in a 'New' Democracy: The Case of the Former GDR. Max Kaase und Hans-Dieter Klingemann FS III 93-202 Eine Metatheorie des demokratischen Prozesses. Dieter Fuchs