Praxis / Pratique Gleitsichtgläser – Technik und Tipps für die Praxis, 2. Teil Ernst Bürki, Thun Gleitsichtgläser haben in den letzten Jah­ ren eine faszinierende Entwicklung durch­ laufen und kommen dem «idealen» Glas näher. Sie stellen aber auch immer höhere Anforderungen an die Anpassung. In der letzten ophta­Ausgabe konnten Sie Details zur Entwicklung der Gleitsichtgläser­Ge­ nerationen nachlesen. In dieser Ausgabe geht es um wichtige Grundlagen, welche das Anpassen und die richtige Auswahl der Gläser für Ihre Patienten erleichtern. Hier lohnt es, nochmals auf optische Gesetz­ mässigkeiten zurückzugreifen, sich die Vorbedingungen für ein erfolgreiches Tra­ gen der Gläser zu vergegenwärtigen und möglichen Zentrierfehlern auf den Grund zu gehen. Für eine exzellente Beratung der Patienten und eine kundige Diskussion mit dem Augenoptiker über eine reklamierte Brille ist es gut, sich immer wieder die Grundlagen und Neuentwicklungen klar zu machen. Hier erhalten Sie Tipps, die sich in der langjährigen Praxis bewährt haben. ■ Grundlagen zum Verständnis von Gleitsichtgläsern Definition Im Gegensatz zu Bi- oder Trifokalgläsern weisen Gleitsichtgläser einen äusserlich nicht sichtbaren, stufenlosen Übergang vom Fernteil in den Nahbereich auf. Sie gestatten damit je nach eingenommener Kopfhaltung eine klare Sicht in alle Distanzen. Relativiert werden diese Vorteile durch optische Nebenwirkungen, eine gewisse Gewöhnungsbedürftigkeit und höhere Herstellungskosten. Flächenastigmatismus Der Flächenastigmatismus entspricht der Summe aller infinitesimalen astigmatischen Flächenelemente der Oberfläche eines Gleitsichtglases. Er hat für den praktischen Gebrauch von Gleitsichtgläsern drei wichtige Konsequenzen: 1. Der Flächenastigmatismus bleibt für eine bestimmte Oberfläche konstant. Analog zur Sandmenge in einem Sandkasten kann er zwar durch gezielte Massnahmen verschoben oder umver- 436 ophta 6|2012 • teilt werden; sein Ausmass ändert sich jedoch nicht. Die praktische Konsequenz daraus ist, dass jede Verbesserung eines Gleitsichtglases in einer bestimmten Richtung (z.B. bessere Nahsicht) mit Nachteilen an anderer Stelle erkauft werden muss. 2. Die wichtigsten theoretischen Grundlagen der Gleitsichtgläser sind durch den 1963 veröffentlichte Satz von Minkwitz bestimmt (1). Er besagt in Worten, dass – der Flächenastigmatismus von der Glasmittellinie zur Seite hin kontinuierlich zunimmt – der Progressionsbereich umso enger wird, je grösser die Addition ist – der Progressionsbereich umso breiter wird, je länger der Progressionskanal ist Für die Praxis heisst das, dass – die Sicht durch ein Gleitsichtglas umso verschwommener wird, je peripherer der Träger oder die Trägerin hindurchschaut – die Addition stets so schwach wie möglich gewählt werden sollte – eine gewisse Höhe des Brillengestells nicht unterschritten werden darf. 3. Je grösser der Bereich eines Gleitsichtglases ist, in dem der Flächenastigmatismus verteilt wird, umso angenehmer («weicher») wird das Glas vom Träger empfunden. Das bedeutet umgekehrt: Je kleiner der Gleitsichtglas-Bereich ausfällt, desto «härter» beurteilt die Trägerin das Glas. ■ Astigmatismus schiefer Bündel Bereits Einstärkengläser weisen bei schrägem Durchblick abhängig von ihrer sphärischen und zylindrischen Stärke einen mehr oder weniger ausgeprägten Astigmatismus schiefer Bündel auf. Dieser überlagert beim Gleitsichtglas den Flächenastigmatismus; daraus entstehen neue Astigmatismuswirkungen mit anderen Achslagen und Stärken. Das ursprüngliche Glasdesign muss deshalb vom Hersteller entsprechend der verlangten sphä- rischen, torischen oder prismatischen Wirkung korrigiert werden. Auch ein bei der Refraktionsbestimmung nicht erfasster oder falsch korrigierter Zylinderwert erzeugt einen Astigmatismus schiefer Bündel, der sich negativ auf den Visus auswirkt. Ein Astigmatismus schiefer Bündel entsteht weiter durch den Sitz der Brillenfassung und beeinflusst ebenfalls die Sicht durch ein Gleitsichtglas: – je grösser die Inklination des Glases, umso weiter wird der Nahbereich – je grösser der Hornhautscheitelabstand, desto enger werden die Blickbereiche (sog. Schlüssellocheffekt). Bei älteren Glasgenerationen kann der nicht korrigierte Astigmatismus schiefer Bündel einen gegenteiligen Effekt bewirken. Schräge seitliche Augenbewegungen führen zur Verrollung der Augen und damit zu einer leichten Drehung des Bildes (Listing‘sche Regel). Idealerweise muss der Hersteller auch solche leichte Veränderungen der Astigmatismusachse im Glasdesign berücksichtigen (3). ■ Grafische Darstellung von Gleitsichtflächen Die optischen Eigenschaften von Gleitsichtgläsern können auf verschiedene Arten graphisch dargestellt werden. Am gebräuchlichsten ist die zweidimensionale Darstellung in Form von Linien des gleichen Astigmatismuswerts. Zwischen zwei Linien ändert sich der Glas-Astigmatismus um 0.5 dpt. Abbildung 1 zeigt dessen raschen Anstieg von der Glasvertikalen zur Seite, insbesondere im Bereich des Progressionskanals. Abbildung 2 stellt dasselbe dreidimensional dar: Seitlich vom Progressionskanal erheben sich hohe Astigmatismus-Gebirge. Gleitsichtgläser mit langer Progressionszone weisen eine geringere Steilheit des seitlichen Astigmatismusgebirges auf. Damit wird der Nahbereich breiter. Praxis / Pratique Abb. 1 Iso­Astigmatismuslinien. (Abb. 1­4 © Essilor, mit freundlicher Genehmigung) Wichtig: Die «Contour-Plots» gestatten keine direkten Aussagen über den Sehkomfort eines bestimmten Glases für dessen Träger! ■ Augenkonvergenz und Lage des Nahbereichs Beim Blick in die Nähe konvergieren die Augen, und die Durchblickpunkte des Brillenträgers durch seine Gläser verschieben sich nach innen. Der sog. Inset gibt an, um wie viele Millimeter die Mitte des Nahbereichs gegenüber dem Durchblickspunkt für die Ferne nach nasal verschoben werden muss. Er wird von fünf Parametern beeinflusst: besonders stark von der Pupillendistanz PD und dem Hornhautscheitelabstand HSA, etwas weniger von der Glasstärke, der Glasvorneigung (Inklination) und der Durchbiegung des Gestells in der Frontalebene (Fassungsscheibenwinkel). Moderne Gleitsichtgläser beziehen diese Gegebenheiten bei der Fertigung ein. ■ Das Dickenreduktionsprisma Infolge der zunehmenden Durchbiegung der Gleitsichtfläche im Nahbereich wird ein Gleitsichtglas unten dünner als oben (Abb. 3, links). Durch Wegschneiden eines Glaskeils im oberen Bereich wird das Glas schlanker. Dadurch wird aber ein Prisma mit Basis unten induziert. Wird die Glasdicke auf beiden Seiten auf diese Art reduziert, so spielt das für das Binoku- 438 ophta 6|2012 • Abb. 2 Die der linken Abbildung entsprechende 3D­Darstellung. Abb. 4 Gravuren eines Gleitsicht­Glases. larsehen keine Rolle. Bei nur einseitigem Dickenreduktionsprisma (Gleitsichtglas auf einer Seite, Ausgleichsglas auf der anderen) entsteht jedoch eine störende Höhenphorie. Vorderfläche mit der Progressionszone bereits geschliffen und poliert war. Nach Bestellungseingang wurden die sphärischen und torischen Korrekturen auf der Rückseite angebracht und das fertige Glas ausgeliefert. ■ Gravuren und Kennzeichnungen Bei den heutigen, häufig individuell gefertigten Brillengläsern läuft die Fertigung anders.2 Nach Eingang der Bestellung wird zuerst aus den übermittelten Daten das Oberflächendesign des Glases berechnet und anschliessend in digitalisierte 3D-Koordinaten (x / y / z-Ebene) umgesetzt, wobei zur exakten Beschreibung einer Gleitsichtfläche mehrere Tausend Punkte notwendig sind. Diese numerischen Daten steuern hochpräzise CNC-Maschinen, die in einem Arbeitsgang eine Fläche des aufgeblockten Glases fräsen. Jeder Punkt der Glasoberfläche wird dabei vom Schleifdiamant auf die gewünschte Höhe bearbeitet. Diese Prozedur verläuft heute so fein, dass anschliessend nur noch ein kurzer Polierschritt nötig ist. Abschliessend wird die Glasoberfläche kontrolliert und mit den theoretischen Oberflächengleichungen verglichen. Jeder Hersteller hat seine eigene Philosophie, wie die Progression sowie Sphäre und Zylinder auf die Vorder- bzw. Rückfläche eines Gleitsichtglases zu verteilen sind. Das kann auch innerhalb des Gläserangebots variieren (z.B. Rodenstock Multigressiv2® mit objektseitiger und Impression® mit augenseitiger Progression). Organische Gleitsichtgläser werden durch Einbringen des flüssigen Monomers in eine Gussform mit exakt definierter Vorderund Rückfläche und nachfolgender Polymerisation hergestellt. Damit das Progressivglas später identifiziert und zentriert werden kann, erhält es eine permanente Lasergravur (EssilorGläser auf der objektseitigen, Zeiss- und Rodenstock-Gläser auf der augenseitigen Fläche). Zwei Gravuren im Abstand von 34 mm ermöglichen die horizontale Ausrichtung des Glases in der Fassung (Abb. 4). Ihre Distanz zum Fernbezugspunkt ist je nach Fabrikat verschieden, z.B. 6 mm für Zeiss-Gläser, 4 mm für Essilor-Gläser, 0 mm für Rodenstock Impression®- oder Office-Gläser. Der Additionswert wird unterhalb der temporalen Gravur angebracht, Herstellerlogo, Glastyp und Material unter der nasalen Gravur. Eine Identifikation ist auf www.gravurenfinder.de möglich. Zusätzlich wird das Glas mit einer abwischbaren gelben Stempelung versehen, die dem Augenoptiker die Überprüfung der korrekten Zentrierung des Fernbezugspunkts in der fertigen Brille gestattet. Diese Stempelung wird nach der Kontrolle entfernt, kann aber später mittels typenspezifischer Zentrierschemata jederzeit wieder rekonstruiert werden. ■ Herstellung von Gleitsichtflächen Mineralische Standard-Gleitsichtgläser wurden früher als sogenannte Halbfabrikate gefertigt, d.h. der Hersteller hielt ein Lager an Brillenglasblanks vorrätig, deren Praxis / Pratique ■ Vor­ und Nachteile von Gleitsichtgläsern Vorteile: – Unauffälliges und ästhetisch vorteilhaftes Aussehen – Klare Sicht auch in Zwischendistanzen möglich – Der gleitende Übergang wird oft angenehmer empfunden als die Trennkante von Bi- oder Trifokalgläsern – Bei Jungpresbyopen mit geringer Addition ist die Eingewöhnungszeit in der Regel gering. Nachteile: – Gewöhnungsbedürftig v.a. bei älteren Presbyopen mit Additionen über 1,5 dpt – Kleinere Sehbereiche gegenüber Einstärken- bzw. Bi- oder Trifokalgläsern – Verzerrtes Sehen beim Blick durch die Randzonen – Höhere Kosten Besonderheiten bei verschiedenen Ametropien Hyperope gehören zu den dankbarsten Gleitsichtbrillenträgern. Drei Knackpunkte sind aber dennoch zu berücksichtigen: – Die Fernkorrektion sollte auf unendlich und nicht auf die Prüfraumentfernung eingestellt sein – Der Nahzusatz darf nicht Teil der Hyperopiekorrektur werden – Änderungen des Fernkorrektionswerts müssen bei der Festlegung der Addition berücksichtigt werden. Für emmetrope Presbyope sind Gleitsichtgläser ebenfalls sehr gut geeignet, vor allem wenn die Addition nur 1 bis 1.5 dpt beträgt. Geringgradig Myope (–2 bis –4 dpt) sind gewohnt, ihre Brille zum Lesen abzunehmen. Sie sind im Gegensatz zu den stark Myopen weniger ideale Kandidaten für eine Gleitsichtbrille. Nicht korrigierte Heterophorien können die Eingewöhnung erschweren. Anderseits führen Prismen zu unerwünschten Einengungen der Sehbereiche, die mit einem individuellen Gleitsichtglasdesign kompensiert werden sollten. ■ Voraussetzungen für ein erfolg­ reiches Tragen von Gleitsichtgläsern Gleitsichtgläser können nur dann erfolgreich und problemlos getragen werden, wenn verschiedene Bedingungen erfüllt 440 ophta 6|2012 • sind. Das Buch von Kalder 2 vermittelt dazu eine ausgezeichnete Übersicht und wurde durch eigene Erfahrungen ergänzt. a) Beratung Viele spätere Probleme liessen sich vermeiden oder zumindest reduzieren, wenn schon bei der Erstinformation des Patienten / Kunden folgende Punkte beachtet werden: – Mangelnde Motivation seitens des Patienten Dies ist eine klare Kontraindikation zum Verschreiben von Gleitsichtgläsern. – Ungenügende Information über die Vorund Nachteile von Progressivgläsern Die Patienten müssen darüber aufgeklärt werden, dass sich die Sehzonen für die einzelnen Entfernungen an anderen Stellen im Brillenglas befinden als bisher und dass sie dies mit ihrer Kopfhaltung ausgleichen müssen. Ferner sind die Einengung der Sehbereiche im Progressionskanal und im Lesebereich (stark abhängig von der Nahaddition!), die Unschärfen und Verzeichnungen beim Blick zur Seite und das Verschwommensehen beim Blick zum Boden (Herabsteigen von Treppen, Trottoirränder) anzusprechen. Erwähnenswert ist auch, dass Lesen oder Fernsehen in horizontaler Lage Probleme bereiten. Bei einer Verstärkung der Addition bei bisherigen Trägern von Gleitsichtgläsern muss unbedingt auf die weitere Einengung im Progressionsbereich und auf die Zunahme der Unschärfe im Seitenbereich hingewiesen werden. – Auf eine gewisse Gewöhnungszeit an Gleitsichtgläser ist ebenfalls aufmerksam zu machen. Sie beträgt für Jungpresbyope in der Regel 2–3 Wochen und für ältere Presbyope mit höherem Nahzusatz 1–2 Monate. Gibt es danach immer noch Probleme, sollten Sie die Zentrierung der Brille überprüfen. Die Erfahrung zeigt leider, dass ein Grossteil der Trageprobleme hier ihre Ursache hat. – Nahzusatz für die Umstellung auf Gleitsichtgläser zu hoch und (oder) Patient altersbedingt nicht mehr imstande, sich auf neue Sehgewohnheiten umzustellen – Erfolgreiche Träger von Trifokal- (in geringerem Masse auch von Bifokal-)Gläsern sollten nicht umgerüstet werden – Vorsicht, wenn eine Astigmatismuskorrektion nicht voll verordnet werden kann (z.B. bei erstmaliger Verschreibung der Brille). – Bei Patienten mit extremen PD-Werten, Prismen, kleinen oder stark gewölbten Fassungen ist ein individuell gefertigtes Gleitsichtsglas zu diskutieren. – Von Kurzkanalgläsern bei Additionen von 2 dpt und mehr ist abzuraten. In der Regel schränken sie den Zwischenbereich zu stark ein. – Bei Trägern von Progressivgläsern kann der Wechsel von einem Fabrikat auf ein anderes zu Problemen führen. Ebenso kann sich der Wechsel auf ein billiges Glas einer früheren Generation verheerend auswirken. – Vorsicht bei Korrektion einer Anisometropie. Wegen der induzierten Höhenphorie im Nahbereich bedürfen solche Patienten besonderer Aufmerksamkeit. Wenn kein Binokularsehen vorhanden ist (z.B. bei alternierender Suppression), sind auch keine Probleme zu erwarten. Ist jedoch Binokularsehen vorhanden, muss mit der Messbrille das Ausmass der Nahphorie ermittelt und mit dem Patienten diskutiert werden. Bei grosser vertikaler Fusionsbreite kann eine Gleitsichtbrille Erfolg haben. Ansonsten ist eine Bifokalbrille mit Slaboff Schliff nötig. – Patienten, die im Bett lesen möchten, sind mit einer gewöhnlichen Lesebrille besser bedient. – Ältere Presbyope ab etwa 50 Jahren bzw. einem Nahzusatz über 1,5 dpt, die am Bildschirm arbeiten, benötigen eine Zweitbrille mit entsprechend angepasstem Gleitsichtglasdesign. – Besondere Aufmerksamkeit erfordern auch Körperbehinderte, die ihre Kopfhaltung nicht mehr unter Kontrolle halten können, Patienten mit Hemianopsie, Nystagmus oder Keratokonus. b) Refraktion Das Zurechtkommen mit Gleitsichtgläsern verschlechtert sich empfindlich durch Refraktionsdefizite, insbesondere in folgenden Situationen: – Nicht korrigierte, zu starke oder zu schwache Zylinderwerte sowie eine ungenaue Achsenbestimmung führen zur Einengung der Sehbereiche und / oder seitlichen Verschiebung der Progressionszone – Überkorrektion einer Hyperopie oder Unterkorrektion einer Myopie bewirken Verschwommensehen im Fernbereich. Idealerweise wird die Refraktion abschliessend noch auf 100–200 m Distanz überprüft. – Unterkorrektion einer Hyperopie oder Überkorrektion einer Myopie führen zu einem erhöhten Additionsbedarf und damit zur Einengung des Nahbereichs – Eine zu starke Addition ist der wohl häufigste Fehler beim Verschreiben von Praxis / Pratique Gleitsichtgläsern, da die Breite der Progressionszone damit massiv verringert wird. Der schwächste Nahzusatz, der noch ein genügendes Sehen gestattet, ist der richtige! – Idealerweise wird zur Angabe der Addition auch der vom Patienten gewünschte Abstand des Leseguts vom Auge vermerkt. Die Duane-Tabelle ist veraltet, denn da die Menschen heute grösser sind, muss auch die Lesedistanz grösser gewählt werden. Eine schematische Verordnung birgt die Gefahr einer zu starken Addition. – Fehlendes Refraktionsgleichgewicht führt dazu, dass im Zwischen- und / oder Nahbereich immer nur ein Auge deutlich sieht. – Bei prismatischen Verordnungen ist anzugeben, ob die Prismenwerte nach Pupillenmittenzentrierung PMZ ohne Nachführung der Messbrille während der Refraktion durchgeführt wurden. Alternativ kann die Messbrille nach der Faustformel um 0,3 mm pro 1 pdpt entgegen der Basislage des Korrektionsprismas laufend nachgeführt werden. Dann ist aber zu vermerken, dass es sich um einen Formelfall FF handelt. – Auch bei monokularen Verschreibungen müssen die Rezeptwerte des Gegenauges angegeben werden. Nur durch die Angaben beider Glaswerte können die binokularen Designs optimal berechnet werden. c) Ermitteln der Fassungsdaten (Abb. 5, S. 444) Bereits bei der Auswahl und Anpassung der Brillenfassung kann einiges schief gehen und später zu Problemen führen: – Ein zu grosser Hornhautscheitelabstand HSA führt immer zu einer massiven Einengung der Breite des Blickfelds im Progressions- und Nahbereich. Der HSA sollte deshalb möglichst unter 14 mm liegen. – Damit der HSA bei Blicksenkung nicht grösser wird, muss das Brillenglas gegenüber dem Haltebügel vorgeneigt werden. Diese sogenannte Inklination sollte optimalerweise um 10° liegen, damit das Nahblickfeld nicht enger wird. – Ein zu geringer Abstand zwischen der Pupillenmitte und dem unteren Fassungsrand führt zu Problemen im Nahbereich. Für Short-Gläser sollte deshalb eine Distanz von 14–16 mm nicht unterschritten werden. – Randlose Fassungen werden von ihren Trägerinnen wegen des geringen Gewichts sehr geschätzt. Die leichte Ver- 442 ophta 6|2012 • schiebbarkeit des Gleitsichtglases gegenüber dem Auge kann bei empfindlichen Personen aber zu Schwierigkeiten führen, die bei einer stabilen Brillenfassung nicht auftreten. – Eine rutschende Brille kann zu totaler Unverträglichkeit führen. d) Ermittlung der Zentrierdaten Die korrekte Zentrierung von Gleitsichtgläsern ist das A und O und entscheidend für das Gelingen. Leider zeigt die tägliche Erfahrung, dass viele Augenoptiker dem zu wenig Beachtung schenken. Zeitgemäss ausgerüstete Augenoptiker verwenden Video-Zentriersysteme, die Messungen mit 0,1 mm Genauigkeit erlauben. Das Video-Infral® von Zeiss, 1992 eingeführt, besteht aus einer Einheit mit zwei Videokameras. Damit werden eine Frontal- (in 6 m Distanz) und Seitenansicht des Kunden mit der Brillenfassung simultan erfasst und daraus die genauen Anpassdaten für die Brillengläser ermittelt. Infolge enger Platzverhältnisse sind heute meist kleinere Geräte im Gebrauch, wie z.B. – das i.Terminal von Zeiss, bei dem sich der Kunde für die seitliche Messung am Ort um 90° drehen muss – das Visioffice® von Essilor, das zusätzlich die natürlichen seitlichen Augen- und Kopfbewegungen aufzeichnet – der ImpressionIST® (Integriertes Service-Terminal) von Rodenstock, bei dem zwei Kameras simultan von vorne und von unten die nötigen Daten ermitteln. Alle Geräte gestatten nicht nur eine exakte Zentrierung, sondern bieten gleichzeitig integrierte Module zur Glas- und Fassungsberatung. So können Kunden mehrere Fassungen ausprobieren und sich damit anschliessend auf dem Bildschirm betrachten. Randlose Brillenfassungen können virtuell auf dem Gesicht der Kundin miteinander verglichen werden. Die früher sehr gebräuchliche ViktorinMethode als Zentriersystem zur Fertigung der Brille ist heute insbesondere bei individuellen Gleitsichtgläsern zu ungenau; zur raschen Nachkontrolle der Brillenzentrierung ist sie hingegen brauchbar. ■ Welche Zentrierfehler führen zu Problemen? Glas zu hoch angepasst Wenn das vom Hersteller auf dem Glas aufgestempelte Fernzentrierkreuz bei Gerade- ausblick über der Pupillenmitte liegt, blickt der Patient bereits durch den beginnenden Progressionsbereich und sieht vernebelt. Glas zu tief angepasst Ein 1 bis 2 mm unterhalb der Pupillenmitte liegendes Fernzentrierkreuz kann bei Erstanpassungen, grossen Patienten oder bei überwiegend auf gute Fernsicht angewiesenen Brillenträgern sinnvoll sein. Nachteilig ist jedoch, dass der Träger gezwungen ist, durch wirkungsschwächere und enge Progressionsbereiche zu sehen oder den Kopf stark anzuheben. Beides ist auf die Dauer sehr unangenehm. Grundsätzlich wird aber ein um 1mm zu tief angepasstes Gleitsichtglas vom Patienten meist eher vertragen als ein 1mm zu hoch liegendes. Bei einer Zweitanpassung sollte die Höhenzentrierung der neuen Gleitsichtbrille von der alten übernommen werden. Unterschiedliche Durchblickshöhen Sie müssen beim Massnehmen zum Zentrieren der neuen Gläser in der ausgesuchten Fassung unbedingt berücksichtig werden. Bei der fertig verglasten Brille müssen die Fernzentrierkreuze exakt vor die Pupillenmitten zu liegen kommen. Seitenzentrierung zu weit oder zu eng Auch die korrekte Seitenzentrierung ist für die Verträglichkeit einer Gleitsichtbrille entscheidend und fast noch wichtiger als die Höhenzentrierung. Eine seitliche Verschiebung des Glases führt dazu, dass vor allem mittlere und nahe Distanzen schlecht abgebildet werden, da der Träger nicht mehr durch die Mitte der Progressionszone, sondern durch deren Rand blickt. Fehlende Zentrierkorrektur bei prisma­ tischen Gläsern Wie bei sonstigen Prismengläsern üblich, müssen auch Progressivgläser um 0,3 mm pro 1 pdpt entgegengesetzt zur Basislage des Prismas eingeschliffen werden. Nur so nehmen die Augen hinter dem Glas ihre Ruhelage ein und blicken bei der Überprüfung der fertigen Brille durch die richtige Stelle. Diese Zentrierkorrektur muss für alle Prismenwirkungen ungeachtet ihrer Basislage durchgeführt werden. Zentrierung bei Einäugigkeit Da Einäugige meist nicht mehr konvergieren, darf das Nahteil des sehenden Auges nicht in üblicher Weise nach innen verschoben sein, sonst sieht die Trägerin durch den Rand der Progressionszone. Praxis / Pratique Zentrierung von Individualgläsern Individuell gefertigte Gleitsichtgläser ertragen keine Abweichungen vom Zentriersollwert! Leider ist die neue Zentriernorm DIN EN ISO 21987 mit ihren weltweit gültigen Fertigungstoleranzen für Ein-, Mehr- und Gleitsichtgläser sowie degressive Nahgläser ein Rückschritt gegenüber der alten deutschen Norm RAL-RG 915. Um die unterschiedlichen WerkstattGenauigkeiten der einzelnen Länder unter einen Hut zu bringen, erhöhte man die Toleranzwerte auf 1.0 mm. Für individuell gefertigte Gleitsichtgläser müssen diese aber unter 0.5 mm liegen, sonst sind Probleme vorprogrammiert. e) Glasherstellung Flächenfabrikationsfehler infolge Werkzeugabnützung oder Abweichungen von der Fertigungstoleranz kommen vor, sind aber gegenüber Zentrier- und Fassungsfehlern deutlich seltener. f) Einschleifen der Gläser Hier versteckt sich ein weiterer Knackpunkt auf dem Weg zur bequemen Gleitsichtbrille. Was nutzen die sorgfältigste Refraktion und das beste Zentriersystem, wenn die Gläser schludrig eingeschliffen werden? Leider ist es zudem eine verbreitete Unsitte, dass der Augenoptiker auswärts eingearbeitete Progressivgläser vor der Abgabe an seinen Kunden nicht überprüft. Folgende Fehler sind am häufigsten zu beobachten: – Gläser verkippt eingeschliffen (Gravuren liegen nicht auf einer horizontalen Linie an einem oder an beiden Gläsern) – Falsche Seitenzentrierung an einem oder beiden Gläsern – Falsche Höhenzentrierung an einem oder beiden Gläsern g) Sitzkontrolle der fertigen Brille am Patienten / Kunden Vor der Abgabe der fertigen Brille sollte der Augenoptiker die Glaszentrierung überprüfen, bevor er den Stempelaufdruck entfernt. Leider wird das nicht selten unterlassen. Reklamiert dann später die Trägerin, dass sie mit der Brille nicht zurechtkomme, so wird sie meist mit der noch notwendigen Angewöhnungszeit vertröstet, bis ihr die Sache verleidet ist und sie wieder zur alten Brille greift oder den Optiker wechselt. Wenden sich die Patienten wieder an uns, müssen wir uns in solchen Fällen die nötige Zeit nehmen und die Zentrierung genau überprüfen. Ich wage nach über 30 Jahren Praxiserfahrung heute zu behaupten, dass der schlechte Ruf, der Gleitsichtbrillen landläufig anhaftet, nicht auf die Gläser, sondern meist auf ungenaue Fertigung der Brille zurückzuführen ist. In der nächsten Ausgabe: Individuell gefertigte Gleitsichtgläser Korrespondenz: Dr. med. Ernst Bürki, Thun [email protected] Literatur 1. Minkwitz G. Ergänzende Bemerkungen zum sogenannten «Satz von Minkwitz» Deutsch Opt Z 2005 Heft 9. www. doz-verlag.de/archivdownload/?artikelid=1264 2. Kalder D. Gleitsichtgläser 1, Grundlagen. WVAO-Bibliothek Band 16, 2. Auflage 2008 3. Kalder D. Gleitsichtgläser 2, Beurteilung der Ausstattungs- und Produktmerkmale. WVAO-Bibliothek Band 19, 2007 4. Varilux University: Brillenoptik-Kompendium: Gleitsichtgläser. Essilor International, 2006 5. Kaschke M. Refraktion und Aberrationen des Auges. www.kaschke-medtec.de/SS10/Skript%206d.pdf 6. Meister D, Thibos L. i.Scription by Zeiss: Setting the new Standard of Vision Correction. PDF beim Autor erhältlich 7. Mendel L. i.Scription™ – Refraktion trifft HighTech. Deutsch Opt Z 2007 Heft 2. www.doz-verlag.de/ archivdownload/?artikelid=2567 8. Cabeza JM, Mendel L, Kratzer TC. Erfolg ist, wenn der Kunde strahlt – Leistung Wellenfrontbasierter Refraktion ist nachweisbar. Deutsch Opt Z 2008 Heft 1, www.doz-verlag.de/archivdownload/?artikelid=1000081 9. Gleitsichtgläser – Tipps und Technik. Rodenstock, München. Broschüre, 2011 10. Oswald M, Busche M. Visioffice und eyecode: Die Messung für perfektes Sehen. Teil 1: Visioffice. Deutsch Opt Z 2009 Heft 5. www.doz-verlag.de/ archivdownload/?artikelid=1000520 11. Oswald M, Busche M. Visioffice und eyecode: Perfektes Sehen ist kein Geheimnis mehr Teil 2: eyecode. Deutsch Opt Z 2009 Heft 10. doz-verlag.de/ archivdownload/?artikelid=1000658&download=true 12 Wesemann W, Bartz JU, Arnolds P. Messgenauigkeit und Reproduzierbarkeit von PD-Messgeräten und Unterschiede zwischen der Zentrierung auf Pupillenmitte bzw. auf Hornhautreflex. Deutsch Opt Z 1997 Heft 2. www.hfak.de/download/DOZ%20PD_ Messung%201997b.pdf Danksagung Ich bedanke mich bei Herrn Marc Streit, Firma Essilor, für die Durchsicht des Manuskripts und für wertvolle ergänzende Hinweise. Abbildungsnachweis 1 - 4 © Firma Essilor 5 © Firma Rodenstock Interessenkonflikt Keine Abb. 5 Individualparameter der Brillenfassung. © Rodenstock, mit freundlicher Genehmigung. 444 ophta 6|2012 •