Film als »Welt-Anschauung - Beck-Shop

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Film als »Welt-Anschauung«
Unser heutiges Thema mag zunächst recht belastet erscheinen. Natürlich ist
der Begriff der »Weltanschauung« kaum mehr unvoreingenommen benutzbar, weil er von den Nationalsozialisten als Kampfbegriff benutzt und dem
marxistischen Begriff der »Ideologie« entgegengesetzt wurde. Dabei ist der
Begriff aber viel älter, ist weiter und anders zu fassen, als sein Missbrauch es
uns glauben machen will. Wenn wir diese Spannung aushalten und mitführen – etwa, indem wir das Wort mit einem Bindestrich versehen und in
Anführungszeichen setzen –, dann bringt er doch in einem ganz nahen Wortsinne etwas zum Ausdruck, das uns als Cinéasten sofort in den Bann schlägt.
Denn der Film gibt uns viel, sehr viel zum Anschauen, eine ganze Welt, eine
eigene Welt. Genau dazu ist er schließlich da, und dafür lieben wir den Film:
Er lässt uns in Hülle und Fülle sehen, was es sonst nicht oder so nicht zu
sehen gibt. Der Film ist zum Anschauen, zum Betrachten bestimmt sowie
auch zum Anhören; zum Wahrgenommenwerden mit unseren Sinnen jedenfalls. Die grandiose Welt des Films, so, wie sie auf der Leinwand erscheint,
ist eine in der Hauptsache anschauliche Welt. Und dementsprechend ist sie
keine gedankliche Welt. Denn Anschaulichkeit und Gedanklichkeit verhalten
sich doch wohl gegensätzlich zueinander. Das wird schon daran deutlich,
dass die Welt der Anschauung etwas ist, das außerhalb von uns selbst, draußen gleichsam, vorhanden zu sein scheint. Deshalb sind doch offenbar auch
unsere Sinne nach außen gerichtet. Dagegen ist die gedankliche Welt etwas,
das wir doch selbst produzieren und das seinen Sitz irgendwie »in« uns zu
haben scheint. Die Anschauung benutzt Bilder, das Denken dagegen –
unsichtbare – Begriffe. Beim Film jedenfalls mit seinen bewegten Bildern
gibt es unbestreitbar unendlich viel mehr zu sehen und zu hören als zu denken. Das unterscheidet ihn z. B. von der Schrift, die durch sehr wenig Sichtbares sehr viel Denkbares erzeugt. Und wenn der Film mit der anschaulichen
Welt verbunden ist, die Philosophie dagegen mit der gedanklichen Welt, dann
haben beide einander nicht viel zu sagen und zu zeigen.
Gerade wegen dieser Fremdheit aber führt unser Thema gleich mitten in
eine Philosophie des Films hinein. Das betrifft zunächst die Seite des Films.
Tatsächlich nämlich trennt der Film das Anschauliche oder Sensible gar
nicht, wie wir es gewohnt sind, vom Denkbaren oder Intelligiblen. Beide sind
für den Film vielmehr eins. Genau das ist das Charakteristikum des Films,
dass für den Film das Anschauliche und das Gedankliche, das Sensible und
das Intelligible, das Bild und der Begriff, das Sichtbare und das Sagbare
untrennbar zusammenliegen. Sichtbares und Sagbares bewohnen im Film ein
und dieselbe Welt, und diese Einheit begründet die »Welt-Anschauung« des
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Films. Wir werden gleich im Anschluss auch an genauen Beispielen sehen,
wie der Film diese Einheit aufbaut und wie sie funktioniert.
Zuvor aber ist anzumerken, dass auch die Philosophie die Frage nach der
Einheit von Anschauung und Begriff natürlich längst gestellt hat. Sie hat dies
nicht erst im Anschluss an Rudolf Arnheims wichtige gestaltpsychologische
Studie über das anschauliche Denken aus den dreißiger Jahren getan1. Schon
lange zuvor hat sie versucht, das Verhältnis des Wahrnehmbaren zum
Unwahrnehmbaren zu begreifen; und genau dafür hat sie dann – neben anderen – den Begriff der »Welt-Anschauung« geprägt. Die Welt, so etwa Immanuel Kant, ist niemals wahrnehmbar2. Wahrnehmbar ist nur die Wirklichkeit.
Sie erschließt sich uns immer nur in Ausschnitten und Teilen, die wir einerseits wahrnehmen und andererseits begreifen können. Die Welt dagegen
zeichnet sich dadurch aus, dass sie unendlich ist und zugleich zusammenhängend. Sie kann nicht in einem Ausschnitt erfasst werden. Und dennoch ist sie
vollständig, ja sogar vollkommen; eine Ganzheit. Unendlichkeit und Ganzheit der Welt stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das weder
durch einen Begriff noch durch eine Wahrnehmung erfasst und so aufgelöst
und beruhigt werden kann. Dennoch besitzt die Vernunft, so Kant, das Vermögen, sich die weder wahrnehmbare noch denkbare Welt vorzustellen; jenseits beschränkter Bilder und Begriffe. Und genau diese Fähigkeit nennt Kant
die »Welt-Anschauung«. Sie ist also bei Kant nichts Beliebiges, sondern
etwas, das der Vernunft schlechthin zueigen ist.
Genau daraus aber entsteht ein Problem. Denn die Weltanschauung besitzt
weder Bilder noch Begriffe. Sie ist, so Kant, notwendigerweise vorhanden,
aber weder sagbar noch sichtbar. Also ist sie nicht mitteilbar und wir können
nichts über ihre Beschaffenheit sagen. Die weitere Debatte im deutschen Idealismus um 1800 versuchte dieses Problem zu lösen, indem sie die Weltanschauung als eine Leistung des individuellen, ja des ausgezeichneten Subjekts – statt einer allen gemeinsamen Vernunft – zu fassen versuchte3. Erst
daraus konnte sich dann die Frage ergeben, ob es nicht für verschiedene Subjekte dann auch verschiedene Arten geben könne, die Welt anzuschauen, d. h.
sich die Integration der vielen einzelnen Wirklichkeitssplitter zu einer einheitlichen und ganzen, aber zugleich unendlichen Welt vorzustellen. Verschiedene Individuen können etwa über verschiedene Informationen und Wissensstände verfügen. Entsprechend wird ihre Weltanschauung variieren. Das
Auftreten der modernen Wissenschaften und ihre immer weiter gehende Aufsplitterung in Spezialdisziplinen verschärfte das Problem im 19. Jh.; nun gibt
es sogar verschiedene »objektive«, jedenfalls sehr begründete Möglichkeiten,
die Welt anzuschauen. Die Welt der Physik ist nicht mehr dieselbe wie beispielsweise diejenige der Geschichte; und keine ist »richtiger« als die andere.
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Eine Gesamtschau, die die »Welt-Anschauung« doch eigentlich sein wollte,
scheint nicht mehr möglich. Auch wenn etwa Wilhelm Wundt der Philosophie
im Jahr 1889 noch zutraut, alle Einzelwissenschaften mit ihren jeweiligen
einzelnen Weltanschauungen einem vergleichenden, wissenschaftsphilosophischen Blick zu unterwerfen und daraus eine Art »Welt-Anschauung«
zweiter Ordnung zu synthetisieren, so setzt sich doch schließlich ein Verständnis des Begriffs »Welt-Anschauung« durch4, der die intuitiv-geniale
Gesamtschau des einzelnen, dafür besonders begabten Individuums meint.
Dass derlei »Welt-Anschauungen« dann rein spekulativen Charakters sind,
durch nichts überprüfbar und durch nichts zu rechtfertigen, ist die zwingende
Folge. Um 1920 ist der Begriff deshalb philosophisch mehr oder weniger tot –
und nur so konnte Alfred Rosenberg mit ihm etwas anfangen.
Dennoch gab es im 19. Jh. auch andere und für uns heute wieder interessante Versuche, das Problem der »Welt-Anschauung« zu formulieren und zu
modellieren. Im Anschluss an Johann Gottfried Herder etwa ging Wilhelm v.
Humboldt von dem Gedanken aus, dass die Welt, die es in ihrer Gesamtheit
und Unendlichkeit anzuschauen gelte, gar nicht schlicht vorfindlich, nicht
einfach von vornherein vorhanden sei5. Sie wird vielmehr, so v. Humboldt,
ständig erst verfertigt. »Welt-Anschauung« heißt – um einen modernen Terminus Nelson Goodmans zu benutzen – Welterzeugung; diese Hervorbringung aber bedarf eines Werkzeugs, und dieses Werkzeug wiederum ist die
Sprache. Mithilfe der Sprache bilden wir die Welt nicht ab, wir bilden sie aus.
Und dabei, das ist der Clou bei v. Humboldts Argument, vereint die Sprache
einerseits das rein Individuelle und Beliebige des persönlichen Zugriffs –
denn jeder kann so sprechen, wie nur er oder sie spricht – mit der Verbindlichkeit des Mitteilbaren und Verständlichen andererseits – denn wir sprechen
alle dieselbe Sprache. Die Sprache prägt unsere »Welt-Anschauung« vor und
lässt uns zugleich einen individuellen Spielraum in der Äußerung, in der
Welterzeugung. In diesem Argument liegt – von heute aus gesehen – eine
wichtige medientheoretische Dimension. Denn was nach v. Humboldt in ausgezeichneter Weise die Sprache leistet, das gilt auch für andere, auch technische, Medien. Gerade aus der Sicht der Medienphilosophie können wir das
Sprachprivileg, das für v. Humboldt noch verbindlich ist, nicht einfach fortschreiben. Auch andere Medien nämlich – für uns also besonders: der Film –
erzeugen »Welt-Anschauung«, indem sie Welt erzeugen, und sie tun dies
zugleich allgemein und individuell, zugleich »in« uns und »außerhalb« unserer: Wir alle sehen auf der Leinwand die gleiche Welt erscheinen, aber niemand sieht sie so wie ich.
Einen anderen, weiter gehenden Vorschlag bietet gegen Ende des 19. Jh.
auch Wilhelm Dilthey an6. Wenn jeder Sprach- (und, wie wir heute sagen
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würden, Medien-) gebrauch eine eigene »Welt-Anschauung« ausbildet, d. h.
aus den vielen verstreuten Wahrnehmungen, Begriffen, Vorkommnissen und
Aktivitäten des gelebten Lebens eine kohärente Ganzheit herstellt, dann wandeln sich die »Welt-Anschauungen« mit den Sprachen (und eben den Medien)
und ihrem Gebrauch. Die Pluralität und Wandelbarkeit der »Welt-Anschauungen« ist mithin nicht mehr reduzierbar oder integrierbar, denn sie sind in
die gelebte und gesellschaftliche Praxis eingebunden. Die »Welt-Anschauungen« wandeln sich unausgesetzt; sie wechseln einander im Zuge des historischen Prozesses ab. Vielfalt, Wandel und Geschichtlichkeit sind Charakteristika gerade des gesellschaftlichen Lebens. Wir sehen, wie sich das Verständnis
von »Welt-Anschauung« gewandelt hat: Nun ist nicht mehr ein Blick von
außen auf das Ganze der Welt gemeint, sondern eine Tätigkeit innerhalb der
Welt, durch die die Welt zu einem wandelbaren Ganzen wird. Es gilt deshalb
gerade nicht, die verschiedenen »Welt-Anschauungen« zu einer einzigen zu
integrieren oder eine gültige gegen alle anderen durchzusetzen, denn dadurch
würde genau das, was »Welt-Anschauung« ausmacht, nämlich eben ihre Einbindung in kulturelle, gesellschaftliche und kommunikative Lebenszusammenhänge, verloren gehen. Aufgabe einer denkbaren Weltanschauungslehre
ist für Dilthey vielmehr die Analyse der »Welt-Anschauungen«, der Bedingungen ihrer Entstehung, ihres Funktionierens, ihres Wandels.
Heute können wir Diltheys vitalistische Emphase nicht mehr aufbringen
und seine Methodik des hermeneutischen »Sinn-verstehens« nicht mehr
unreflektiert und unrelativiert weiterführen, weil sie auf Vorausannahmen
über die Sinnhaftigkeit und Geschichtlichkeit der zu verstehenden Welt
beruht, die wir für problematisch halten. Für den Film als »Welt-Anschauung« ist Diltheys Gedanke dennoch wichtig, weil neben der Anschaulichkeit
die Wandelbarkeit, die unausgesetzte Veränderung im Film zentral wird. Film
wandelt sich schließlich nicht nur als Medium, wie es mit Dilthey anzunehmen ist, im Zuge seiner historischen Entwicklung in seinen Formen und
Anwendungen und Aneignungen, also im Verlauf der Filmgeschichte. Vielmehr handelt es sich beim Film immer schon um ein bewegtes, ein sich selbst
wandelndes Bild. Film heißt immer Veränderung, heißt immer »WeltAnschauung« im Sinne der Erzeugung eines unendlichen, nämlich unendlich
wandelbaren Ganzen.
Die Grundzüge des »Welt-Anschaulichen« eignen dem Film vom Beginn
seiner Entwicklung an. Wenn die Philosophie versucht, die Welt durch
Begriffe zu erzeugen, dann schließt sie, wie wir gesehen haben, gerade das
Unbegriffliche und Unbegreifbare stets mit auf. Dasselbe gilt für die sichtbaren Konzepte, mit denen der Film seine Welt schafft und ansieht. Sie sind
sichtbar, aber sie erschöpfen sich nicht im Sichtbaren, in dem, was auf der
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Leinwand erscheint, sondern greifen ins Unsichtbare hinaus. Die KonzeptBilder des Films sind nicht einfach nur die Einstellungen und Sequenzen, die
wir sehen, und schon gar nicht die einzelnen Bildkader des Filmstreifens, die
wir noch nicht einmal sehen. Sie organisieren und verdichten sich vielmehr
zu Leitbildern, zu bestimmten und bestimmbaren Auffassungen oder eben
Anschauungen der Welt. Im Übrigen sind dabei auch Auffassungen des Films
selbst und seiner Bilder mit enthalten, denn der Film ist ja selbst Teil der
Welt, die er anschaut. In den sichtbaren Bildern des Films artikulieren sich
also ganze Bildkonzepte, die dann als Konzept-Bilder über das rein Sichtbare
hinaus die »Welt-Anschauung« des Films ausmachen können7. Diese Konzept-Bilder sind zugleich im Sichtbaren der Bilder enthalten und somit
eigentlich ganz offensichtlich. Dennoch bedürfen sie der theoretischen Aufschlüsselung, weil sie im Sichtbaren nicht aufgehen. Genau dies ist die Aufgabe von Filmtheorie.
Das erste kinematographische Konzept in diesem Sinne überhaupt ist vermutlich dasjenige der Aufnahme (genauer: der Aufnahme und Wiedergabe).
Es prägt beispielsweise die Filme, die der Cinématographe Lumière ab 1895
ermöglicht. Ein Film besteht in einer durchgehenden Aufnahme mit Anfang
und Ende. Die Kamera nimmt auf, was sie anfindet; als Projektor eingesetzt,
gibt derselbe Apparat es wieder. Zwischen Aufnahme und Wiedergabe und
zwischen dem, was ist, und dem, was aufgenommen ist, gibt es keine
Abstände. Die Welt des Cinématographe Lumière ist alles, was zu sehen ist.
Sie ist vollkommen evident und bedarf deshalb auch keiner Erklärung. Die
Bilder informieren ihre Zuschauer zunächst auch in vielen Fällen keineswegs
über etwas, das sie noch nicht wissen; sie zeigen ihnen vielmehr das, was sie
ohnehin kennen, die Kartenpartie, die Mahlzeit, die Ankunft eines Zuges. Die
Welt des Cinématographe ist eine der Offensichtlichkeiten und Redundanzen, des immer schon einmal Gesehenen. Auch wenn es von Beginn an dazu
Alternativen gibt – wie etwa der Kurzfilm vom begossenen Rasensprenger,
der Urform des Filmwitzes – so eignet doch auch diesen das Spiel mit dem
Offensichtlichen, Evidenten: Wir sehen z. B. mehr als die Figur im Film, und
aus diesem Mehr an Wissen resultieren Schadenfreude und Witz.
Natürlich zeigt der Lumièrefilm niemals mehr als ganz kurze und auch als
Bild mit seinen Grenzen ganz enge Ausschnitte aus einem größeren Ganzen,
das selbst nicht zu sehen ist. Auch die Gesamtheit aller Lumière-Filme
scheint sich allenfalls zu einer reich facettierten Kollektion einzelner Ansichten zu fügen, aber nicht zu einem Weltganzen, wie es den Begriff der »WeltAnschauung« rechtfertigen würde. Und dennoch: Die Lumièreschen Aufnahmen sind welthaft, weil sie je in sich vollständig und insofern ganz sind.
Es fehlt ihnen an nichts; sie enthalten alles, was sie benötigen. Dazu kann
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sogar die Apparatur der Aufnahme selbst gehören, die ja der Welt der Aufnahme angehören muss, wenn denn die »Welt-Anschauung« eine Weise der
Welterzeugung sein will und nicht nur eine der Welt selbst nicht angehörende, eine die Welt übersteigende, sie transzendierende Gesamtschau. In der
»Einfahrt des Zuges« etwa sehen wir, wie die Blickschneise auf dem Bahnsteig von Ordnungshütern freigehalten wird; wir sehen versteckte Blicke in
die Kamera; und das Ausweichen der Bahnsteigpassanten ist als Reaktion
auf die Anwesenheit der Kamera ebenfalls völlig evident. Das Bild macht so
seine eigene Genese sichtbar oder weist doch wenigstens auf sie hin. In den
Aufnahmen der sonntäglichen Jardins des tuileries in Paris sehen wir sogar,
wie der Kameramann von seinem Platz hinter der Kamera aus sein Stöckchen einsetzt, um einen Jungen zu vertreiben, der unserem Blick im Wege
steht. Auch zahlreiche nachfolgende Filmemacher werden in der Frühzeit
des Films mit der Anwesenheit der Kamera im Bild spielen, etwa die Kamera
»überfahren« oder »verspeisen« oder gar – später – den Revolvermann ins
Publikum schießen lassen.
Welthaft sind die überaus anschaulichen Aufnahmen der Lumières aber
auch, weil sie sich ganz dem Wandel und der Bewegung hingeben. Anders als
bei photographischen Bildern haben die Aufnahmen des Films nicht nur einen
Rahmen, sondern weisen Anfang und Ende in der Zeit auf. Es kann sich etwas
verändern in ihnen, und darauf richten sie ihre Aufmerksamkeit. Die Arbeiterinnen verlassen die Fabrik. Der Zug fährt ein – jetzt steht er still. Das Bierglas war voll, jetzt ist es leer. Und selbst wenn sich nichts verändert, bewegt
sich immer noch etwas, die Wellen des Meeres schlagen in gleichförmiger
Folge auf den Strand auf; die Blätter zittern unausgesetzt im Wind. Die Unveränderlichkeit dieser Bewegung, ihre Konstanz und vor allem ihre stete Wiederholung zeigen, dass jede neue Bewegung in eine andere Richtung gehen,
eine andere Form annehmen könnte. Das Ausbleiben der Veränderung wird
durch die Bewegung sichtbar. Anfang und Ende der Filmaufnahme sind stets
verschieden, auch wenn das nicht unbedingt auf das im Bild Sichtbare gelten
muss. Gerade diese Spannung zwischen der verfließenden Zeit der wiedergegebenen Aufnahme und ruhenden Zeit der aufgenommenen Wiederholung
macht die Tatsache und Möglichkeit des Wandels, macht das Vergehen der
Zeit so besonders spürbar. So ist das Lumièresche Konzept des Films als Aufnahme geprägt von einer allumfassenden Evidenz: Alles wird sichtbar, Ganzheitlichkeit, Gemachtheit und Wandelbarkeit der Welt wird mithilfe des Kinematographen in eben dieser Welt und als ihr Teil zur Anschauung gebracht.
Zur Evidenz gibt es natürlich auch einen Gegenbegriff, den der Latenz
nämlich; und so gibt es zum Lumièreschen Konzept der Aufnahme auch ein
filmisches Gegenkonzept. Dieses Gegenkonzept ist dasjenige des Tricks; und
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es ist ebenso funktional für eine Ansicht der Welt wie dasjenige der Aufnahme. Das Konzept des Tricks kommt mit dem Schaffen Georges Méliès’
auf. Integrieren die Bilder der Lumières eine vorfindliche, eben aufgenommene Wirklichkeit durch ihren Eingriff – die Aufnahme – zu einer Welt, die
sie zur Ansicht bringen können, so entfällt der Grundzug des Wirklichen,
Vorfindlichen für Méliès. Er zeigt vielmehr etwas, das zuvor nicht da war und
zu dem es außerhalb der Welt der filmischen Bilder keine Entsprechung gibt.
Die legendäre Entdeckung des Stopp-Tricks, die Méliès angeblich auf der
Pariser Place de l’opéra gelang, illustriert dies8: Méliès wollte eine »ganz
normale« Straßenszene à la Lumière drehen, als plötzlich der Film in der
Kamera blockierte. Nachdem der Defekt behoben war, filmte er unverdrossen weiter. Bei der Projektion des Films wurde etwas Überraschendes sichtbar: Ein Wagen, der sich eben noch in der Bildmitte befunden hatte, verschwand urplötzlich aus dem Bild, während die Gebäude ringsum doch
dieselben blieben (Méliès hatte die Kamera offenbar überhaupt nicht bewegt
während der Reparatur). Dieses Verschwinden – auch eine dramatische Form
der Veränderung, des Wandels – kann man nicht aufnehmen. Es ist in der
»wirklichen« Welt nicht da. Man kann es nur durch eine Veränderung der
Aufnahme, eine Manipulation, erzeugen. Es gehört allein der Welt des Films
an. Deshalb ist das Konzept des Tricks auch zu dem der Aufnahme komplementär. Die Aufnahme macht alles sichtbar; genauer: sie weist alles als Sichtbares aus. Der Trick dagegen verbirgt etwas, genauer: er weist darauf hin,
dass er etwas verbirgt. Er macht etwas unsichtbar, das er dennoch benötigt,
nämlich die Manipulation; sie bringt sich selbst zum Verschwinden. Die
Apparatur und die Operation, die das, was wir sehen, überhaupt erst möglich
macht, werden nicht gezeigt. Der Trick und seine Herbeiführung werden nur
am Resultat ablesbar; sie sind wirklich, werden aber nicht als evident, sondern eben als latent ausgewiesen.
Auf den Film als »Welt-Anschauung« hat das wichtige Auswirkungen. Die
durch den Film und seine Praxis gefertigte Welt gewinnt an Autonomie
gegenüber der Alltagswirklichkeit und anderen Weltbezirken. Die Welt des
Films umfasst jetzt charakteristischerweise nicht mehr nur die wirkliche Welt,
sondern auch die bloß mögliche Welt. Zugleich aber erobert sich der Film
damit das Unsichtbare. Er verweist auf das Unsichtbare (nämlich: die Operation des Tricks selbst), auf das er im Falle des Tricks ja angewiesen ist und von
dem die Méliès-Filme im eigentlichen Sinne handeln. Die eigene Welt des
Films ist jetzt nicht mehr nur eine des Sichtbaren, sondern auch die eines je zu
diesem Sichtbaren gehörenden Unsichtbaren. Dadurch, dass die Gemachtheit
des Films aus dem im Bild Sichtbaren – wie vorhin bei Lumière – auswandert
in das, was mit dem im Bild Sichtbaren zwar notwendig verbunden, aber in
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ihm nicht enthalten ist, heißt es ja nicht, dass diese Gemachtheit plötzlich
irrelevant ist. Ganz im Gegenteil; die Frage, wie das möglich ist, was wir
sehen, wird in der Latenz viel brennender als in der Evidenz. Wenn wir oben
das Anschauliche gegen das Begriffliche gesetzt haben und behauptet haben,
dass der Film diesen Gegensatz nicht kenne, dann wird an diesem Beispiel
vielleicht ansatzweise deutlich, wie ein solches Unterlaufen des Gegensatzes
für den Film und seine Weltsicht Gestalt annehmen könnte.
Zusammenfassend können wir also festhalten, dass der frühe Film mithilfe
der Konzepte der Aufnahme und des Tricks operiert. Dadurch bringt er eine
Welt zur Anschauung, die sich als Gesamtheit des Wirklichen und des
Unwirklichen oder (filmisch) Möglichen einerseits und des Sichtbaren, Evidenten und des Unsichtbaren, Latenten andererseits darstellt. Indem dabei die
eigene Gemachtheit freigelegt oder in der Verbergung akzentuiert wird, wird
die filmische Welt als Produkt angezeigt und zugleich auf die Ganzheit als
Grundzug der Welt hingewiesen, die schließlich auch den Film – als Apparatur nicht weniger denn als Anschauung – mit enthält. Und schließlich macht
uns der Film seine Welt – oder Welt überhaupt – als eine genuin zeitliche,
unauflöslich an Wandel und Wandelbarkeit gebundene deutlich.
Diese Grundzüge behalten auch alle späteren Konzepte des Films, alle
nachfolgenden Formen der filmischen »Welt-Anschauung« bei. Aber sie
wandeln sie dennoch ab, konfigurieren sie neu, entwickeln sie weiter und
stellen ihnen andere, neue Konzepte zur Seite. Der klassische Stummfilm, wie
er von etwa 1915 bis zum Ende der 2oer Jahre anzutreffen ist, arbeitet mit
verschiedenen solcher weiter tragenden Konzepte. Besonders markant sind
dabei zweifellos das Konzept der Großaufnahme einerseits und dasjenige der
Montage andererseits. Beide sind durch einen gemeinsamen Grundzug miteinander verbunden, den wir als ein Merkmal der »Welt-Anschauung« des klassischen Kinos festhalten können. Er ist am zugänglichsten zu beschreiben,
wenn man noch einmal das Verhältnis von Evidenz und Latenz, des Offensichtlichen und des Verborgenen heranzieht, das der klassische Film vom frühen Film übernimmt und eben signifikant umarbeitet. Denn der klassische
Film der 2oer Jahre unternimmt es, das Latente nicht nur aufzuweisen, sondern es sichtbar zu machen, und zwar so, dass es einerseits evident wird, andererseits aber vom ohnehin Evidenten unterscheidbar bleibt. Zugleich zeigt der
Film dieser Phase, dass alles Evidente ein Latentes in sich birgt, das alles
Sichtbare etwas Unsichtbares enthält. Das Rätselhafte, Unsichtbare und
Gedankliche einerseits und das Selbstverständliche, sinnlich Erfahrbare andererseits werden in ein neues – und spezifisch filmisches – Verhältnis zueinander gesetzt. Denn nur dem bewegten Bild ist es möglich, Latentes und Evidentes nicht nur zu unterscheiden, sondern den Übergang vom einen ins andere
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sichtbar zu machen. Die Welt ist jetzt weder sichtbar und wahrnehmbar, gegeben, vorfindlich und klar; noch auch im Gegenteil verborgen, undurchsichtig
und wunderbar. Auch im Gegensatz erschöpft sie sich nicht. Vielmehr ist sie
die wechselseitige Hervorbringung des einen durch das andere.
Das wohl am besten entwickelte und auch beschriebene Konzept, mit dessen Hilfe der Film diese Operation durchführt, ist die Großaufnahme; um
genau zu sein: die eingeschnittene Großaufnahme9. Wir alle kennen ihren
standardmäßigen Einsatz im Stummfilm: Das Kontinuum der erzählenden
Halbtotalen oder Totalen wird unterbrochen, und statt der Figuren in der ganzen Körperansicht sehen wir plötzlich nur eine Hand, bildfüllend auf der
Leinwand, oder das Gesicht der Heldin mit dem traurigen oder begehrlichen
Blick, oder auch den optisch herausgehobenen einzelnen Gegenstand, die
Waffe, den Brief, das Beweisstück oder das Liebespfand. Danach kehrt das
Totalenbild wieder, und der Fluss der Erzählung übernimmt wieder das
Regime der Bilder. Die Großaufnahme entspricht nicht mehr der »normalen«
Sicht des Menschen auf die Wirklichkeit. Von einer Sekunde zur anderen
rückt sie den Dingen nah auf den Leib – und rückt sie auch wieder davon ab.
Als Zuschauer befinden wir uns scheinbar nicht in einem konstanten
Abstandsverhältnis zu den Dingen, obwohl wir uns nicht bewegen. Die Großaufnahme versucht nicht länger, eine Normalsicht oder auch etwa eine vom
Theater her gewohnte Sehhaltung zu imitieren. Sie nimmt eine eigene, spezifisch filmische Sicht der Dinge an. Sie löst den gezeigten Gegenstand aus
dem Kontinuum der Evidenzen heraus, aus dem alltäglichen und handlungsleitenden Zusammenhang. Für diese Alltagslogik stehen die Totalen und
Halbtotalen, die den äußerlich handelnden Menschen und die Objekte seiner
Aktivitäten zeigen, so weit es eben seine Reichweite erfordert; und die ihm
dazu so viel an Umraum geben, wie wir benötigen, um seine Beziehungen zu
diesem Umraum zu erkennen. Die Großaufnahme dagegen steht nicht mehr
für das Offensichtliche, und also auch nicht mehr für die äußerlich wahrnehmbare Handlung.
Ihr erstes Hauptobjekt ist das bloße Gesicht des Helden oder der Heldin,
abgelöst vom übrigen Körper. Nun ist das Gesicht unzweifelhaft etwas höchst
Sichtbares, eine sogar ausgezeichnete Oberfläche, die sich der Wahrnehmung
in besonderer Weise anbietet; es ist etwa ein Hauport der Schönheit. Das gilt
besonders für das übergroße Gesicht des Stars. Nirgends kann man einem
schönen – oder einem hässlichen – Menschen so ungeniert und so gründlich
ins Gesicht schauen, es so genau explorieren, wie im Film. Das Gesicht des
Stars in der Großaufnahme ist das Oberflächlichste, was der Film zu zeigen
hat, Inbegriff der bloßen Äußerlichkeit der Erscheinung. Dennoch birgt das
Gesicht immer auch etwas dem ganz Entgegengesetztes, etwas, das sich hinENGELL, Playtime. ISBN 978-3-89669-677-9
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ter dieser Erscheinung verbirgt und sie hervorbringt. Das kann ein Charakter
sein, ein Affekt, ein Gefühl, ein Gedanke, eine Disposition, eine Erinnerung,
eine Stimmung, eine Empfindung. Im Gesicht – und besonders in der filmischen Großaufnahme, die das Gesicht außerhalb normaler Dimensionen stellt
und aus allen anderen Zusammenhängen herauslöst – fallen mithin zwei
polare Extreme, ein kaum steigerbarer äußerlicher Erscheinungswert und ein
unergründlicher innerlicher Empfindungswert, in eins. Und dies geschieht
genau in dem Moment, wo das Gewebe des erzählenden Zusammenhangs,
der narrativen Oberfläche des Films, durchbrochen wird und dennoch dahinter nur eine neue Oberfläche, die Textur diesmal des Gesichts, hervortritt.
Damit ist auch eine neue Ordnung der Zeit verbunden, denn die gegliederte,
abfließende Zeit der Erzählung setzt plötzlich, mit dem Insert der Großaufnahme, aus; sie hält an und gibt eine andere Zeit, die Zeit des erfüllten und so
ausdehnungslosen wie unendlichen Augenblicks frei. Das wird etwa deutlich
in dem Moment des aufschiebenden Innehaltens, der seit den frühen Tagen
im Western zum festen Bestandteil des Revolverduells gehört. Wir sehen nur
die Gesichter, mitunter nur die Augen der Kontrahenten, die einander beobachten und fixieren – bis die Schüsse krachen und die Handlung, dann wieder
in der Totalen, den Höhepunkt erreicht.
Und schließlich wird durch die Einfügung der Großaufnahme die Ordnung des Subjektiven und des Objektiven für einen Moment aufgehoben.
Denn was sich in ausgezeichneter Weise dem Blick darbietet, das ist doch
zugleich der Ort eines eigenen Blicks. Der Star wird nicht nur angeschaut,
sondern er schaut auch selbst. Gerade das Beispiel des Revolverduells zeigt
das. Das Gesicht in der Großaufnahme ist zugleich reines Objekt der Betrachtung als auch vermuteter Sitz einer eigenen und letztlich nicht kontrollierbaren, eigenwilligen Subjektivität. So ist es nicht erstaunlich, dass die
Filmtheorien der Stummfilmzeit der Großaufnahme des Gesichts besondere
Aufmerksamkeit widmeten und sie als das herausragende Charakteristikum
des filmischen Weltverhältnisses begriffen. Und auch heute, in der ganz aktuellen Filmforschung, ist das Gesicht wieder ein besonders intensiv bearbeitetes Thema10.
Aber das Gesicht ist nicht die einzige Domäne der Großaufnahme. Das
Revolverduell kann ergänzt werden durch die Großaufnahme der Hand und
des Colts. Der sehnsuchtsvolle Blick kann auf ein Erinnerungsstück oder eine
Photographie fallen, die dann auch in Großaufnahmen zu sehen sind. Und
schließlich können Gegenstände auch ohne Einbindung in eine Blickbeziehung herausgehoben und ins Riesenhafte vergrößert erscheinen. Sie werden
dann aus ihrem alltäglichen, dinglichen Kontext – als Teil einer Einrichtung,
eines Umgebungszusammenhangs – herausgenommen und dadurch »irgendENGELL, Playtime. ISBN 978-3-89669-677-9
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wie« bedeutsam, ohne dass wir schon wissen, worin diese Bedeutung bestehen könnte. Die in der Großaufnahme isolierten Dinge – eine silberne Teekanne, der Knauf an der Tür, die Zigarette, die Blume – gehen nicht mehr in
ihrem Kontext auf, sondern treten »an sich« hervor. Béla Balázs hat deshalb
von der Großaufnahme als dem »Gesicht der Dinge« gesprochen11, so als
ruhe auch hinter der Oberfläche der sichtbaren Dinge, wenn sie einmal durch
die Großaufnahme ihrer Funktionalität und Dienstbarkeit entkleidet sind,
eine geheimnisvolle, eigene Subjektivität, eine, wie Robert Musil anfügte,
zweite Welt eines »anderen Zustands«12. Auch hier wird wieder etwas Latentes aufgeschlossen durch eine radikale Steigerung der Sichtbarkeit in der
Großaufnahme. Radikal ist die Großaufnahme an dieser Stelle auch deshalb,
weil sie erstmals die Dinge mit den menschlichen Subjekten bei- und gleichordnet. Eine Welt entsteht, in der Dinge und Menschen erstmals außerhalb
vorgeprägter Subjekt- und Objektverhältnisse neue, noch rätselhafte Beziehungen eingehen, einander verändern, mit Möglichkeiten ausstatten und
unter Bedingungen setzen.
Mit dem Aufkommen des Tonfilms tritt dieser Aspekt allerdings zunächst
wieder zurück. Ohnehin hat natürlich der mehr oder weniger konventionalisierte, stereotype Gebrauch der eingeschnittenen Großaufnahme im kulturindustriell gefertigten Massenfilm der 2oer Jahre viel, wenn nicht alles von
seiner Magie verloren. So ist Ende der 2oer Jahre alles dafür vorbreitet, den
Tonfilm zu allererst einmal als Sprechfilm aufzufassen (trotz bemerkenswerter Ausnahmen wie Fritz Langs herausragenden »M – eine Stadt sucht einen
Mörder« mit seiner raffinierten Geräuschregie). Das Sprachprivileg sorgt
dafür, dass der sprechende Mensch in den Mittelpunkt des Films zurückwandert. Das Latente, Unsichtbare wird nun durch Worte zum Ausdruck gebracht,
die Gefühle und Empfindungen, die Pläne, Erinnerungen und Aussichten.
Diese Rezentrierung wird eigentlich erst in den 7oer Jahren wieder aufgenommen, wenn die technische Entwicklung (nämlich durch die Zoom-Linse
und die Steady-Cam-Technik) erlaubt, Großaufnahme und Totale in einem
Kontinuum miteinander zu verbinden, ineinander übergehen zu lassen und
v. a. bewegte Großaufnahmen herzustellen. Eine neue Form der Belebung
und Subjektivierung der Dinge beginnt. Filme wie Martin Scorseses »After
Hours« und Stanley Kubricks »The Shining« legen davon Zeugnis ab. Und
schließlich ist mit der dramatischen Verbesserung der Tontechnik in jüngster
Zeit, besonders mit dem Raumklang, auch eine stark intensivierte Geräuschregie verbunden. Mit den Geräuschen verfügt das Kino – wieder sind entsprechende Vorläufer zu nennen, etwa die Filme Jacques Tatis – damit über eine
akustische »Großaufnahme«, die das Geräusch als Sprache der Dinge zur
Geltung bringt und so die frühere Kraft des Films zur Neuordnung der Welt
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der Gegenstände als Figuren und zur Weckung der eigenartigen Subjektivität
der Dinge wieder aufbringt.
Wenn es die Fähigkeit der eingefügten Großaufnahme ist, das Latente
durch Radikalisierung der Evidenz zum Vorschein zu bringen – optisch oder
akustisch –, dann ist dies jedoch nur eine mögliche Operation aus einem ganzen Bündel möglicher filmischer Verfahren, mit deren Hilfe das Sichtbare
und Wahrnehmbare an das Sagbare und Denkbare angeschlossen werden soll,
um eine Vorstellung dessen zu erzeugen, was alle Wahrnehmung und alle
Begrifflichkeit überfordert. Diese Gruppe filmischer Verfahren wird zusammengefasst unter dem Begriff der Montage; und vielleicht sind nie wieder in
der Filmgeschichte so viele und bedeutsame Montageexperimente unternommen worden wie in der Stummfilmzeit13. In allen Lehr- und Geschichtsbüchern des Films wird dabei nicht ohne Grund besonders auf die sowjetische
Avantgarde hingewiesen, von den frühen und legendären Versuchen Lew
Kuleschovs bis zu den ausgefeilten Konstruktionen Sergeij Eisensteins. Die
Montage gilt in den zwanziger Jahren (und teilweise noch weit darüber hinaus) als das ästhetische Verfahren des Films schlechthin. Ob nun als Kontrastmontage, als Assoziationsmontage, als dialektische oder als tonale Montage, die Operationen beruhen doch fast immer auf einem Prinzip, das der
eingeschnittenen Großaufnahme nahezu entgegengestellt ist. Wurde dort die
Aufmerksamkeit auf das isolierte Fragment gerichtet, so installiert die Montage zumeist eben nicht das sichtbare Fragment selbst, sondern eine Beziehung; sie konzentriert sich auf die Relation zwischen den Fragmenten. Diese
Relation ist in keinem der Bilder und keiner der Einstellungen sichtbar, sie
würde aber verschwinden, wenn die Bilder verschwänden oder auch nur
anders zusammengesetzt wären. Durch das Arrangement zweier offensichtlicher, visuell erfassbarer Sachverhalte wird etwas Drittes, davon Verschiedenes erzeugt, das unsichtbar und latent bleibt, aber dennoch hochwirksam ist.
Man zeigt etwas, man zeigt etwas anderes, und im Zusammenspiel entsteht
die Vorstellung einer Kraft oder einer Beziehung, die beides zusammenhält.
Das »welt-anschauliche« Potential dieser Konstruktion wird sofort deutlich: So, wie die Welt das facettierte Wirkliche zu einem unendlichen Ganzen
integriert, so integriert die Montage auch das fragmentierte Sichtbare zu
einem gewiss immer weiter fortsetzbaren, aber eben durch Beziehungen
zusammengehaltenen Ganzen. Der Zusammenhalt selbst, die Beziehung, ist
nicht sichtbar, aber dennoch wirksam. Er kann durch Kausalität und Finalität
bestimmt werden, durch zeitliche Beziehungen des vorher und nachher und
inzwischen, der Möglichkeit, der Analogie und der Gegensätzlichkeit. Die
wohl berühmteste Montagesequenz der gesamten Filmgeschichte, die Treppensequenz aus Sergeij Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« zeigt, wie aus
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Kraft und Gegenkraft etwas anderes entsteht, eine dritte Bewegung, ein Verlauf. Es ist nicht schwer, sich als diesen dritten Verlauf nichts Geringeres
vorzustellen als die Geschichte selbst, nicht nur im Sinne der erzählten Episode, sondern im Sinne der Historie14. Auch die Geschichte ist als solche ja
nicht erfahrbar, wahrnehmbar. Dennoch ist sie, wie wir oben mit Dilthey
gesehen haben, ein Inbegriff dessen, was die Ganzheit der Welt im unendlichen Wandel überhaupt ausmacht.
Die Welt der filmischen Montage ist also eine Welt nicht der Sachen oder
der Empfindungen oder auch der Geheimnisse (wie bei der eingefügten
Großaufnahme), sondern eine Welt der Beziehungen, der Verhältnisse, der
Relationen. Sie ist eine Welt nicht so sehr der Sachen als vielmehr – um Wittgensteins Unterscheidung zu bemühen – der Sachverhalte. Und genau in diesem Sinne kann man dann sagen, dass die für den klassischen Montagefilm
kennzeichnende »Welt-Anschauung« eine Welt generiert, für die Wittgensteins berühmter Satz gilt: Die Welt ist alles, was der Fall ist15.
Der moderne Film, wie er seit den vierziger Jahren Schub um Schub entsteht und in den 6oer und 7oer Jahren seinen Höhepunkt erfährt, setzt sich
von dieser Anschauung der Welt als Gesamtheit von Sachverhalten aber wieder ab, und das in charakteristischer Weise. Der klassische Film widmete sich
der indirekten Repräsentation der Gesamtheit und Unendlichkeit der Welt. In
der Großaufnahme geschieht dies, wie gesehen, vermittelt über Isolierung
und Überdimensionierung der Dinge, die daraufhin verrätselt und subjektiviert werden und eine latente Welt freigeben, die hinter den oberflächlichen
Zusammenhängen der Alltagswirklichkeit schlummert. In der Montage dagegen wird die Welt als Zusammenhang freigesetzt, der von bloßen Ursacheund Wirkungsrelationen bis hin zur komplexen und dynamischen Großgesamtheit reichen kann, die wir – zumindest in einer traditionellen Auffassung,
die heute nicht mehr geteilt werden muss, die aber für das klassische Montagekino gewiss Bestand hat – die Geschichte nennen. Der moderne Film
unterscheidet sich davon in doppelter Weise. Erstens geht er über zum Versuch, Ganzheit oder Welthaftigkeit nicht mehr indirekt über einzelne Dinge
und Gesichter zu erfassen, sondern unmittelbar selbst; und zweitens nähert er
sich der Vorstellung, diese Ganzheit sei insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass sie offen, wandelbar und vor allem unauflöslich heterogen sei16. Die
Welt wird dann nicht mehr als abschließender Sinnhorizont, in dem und zu
dem alles sich fügt, sondern als grundwidersprüchlich gefasst. Nicht mehr die
Gesamtheit der Sachverhalte, sondern ihre irreduzible Vielfalt steht dann im
Vordergrund. Für den modernen Film ist die Welt eben nicht alles, was der
Fall ist. Nicht minder betrachtet er auch das, was nicht der Fall ist; und ganz
besonders die Frage danach, wie und warum beides sich voneinander unterENGELL, Playtime. ISBN 978-3-89669-677-9
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Film als »Welt-Anschauung«
scheidet, wie eines ins andere umschlägt und zurückkehrt. Die Welt des
modernen Film ist eine der unausgesetzten Transformation dessen, was der
Fall ist, in das, was es nicht ist, und umgekehrt.
Ein konkretes filmästhetisches Konzept, das als Anschauungsform die
Weltauffassung des modernen Films prägt, ist das Konzept der Tiefenschärfe.
Ein tiefenscharfes Bild zeigt Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund des
Bildes allesamt gleichermaßen scharf. Aus der bis dahin verpflichtenden
Wahrnehmungsähnlichkeit des photographischen Bildes mit dem natürlichen
Blick löst sich der Film mit der Tiefenschärfe heraus. So kann man nicht
mehr genau bestimmen, was eigentlich die Haupt- und was die Nebenhandlung ist: Ist das, was wir vorne sehen, nur der Vordergrund zur Haupthandlung, oder ist es die Haupthandlung selbst, und das im Hintergrund Sichtbare
dazu nur die erläuternde Nebenhandlung? Was ist Zentrum, was Peripherie,
was ist Milieu und Rahmen, was eigentliche Handlung? Die berühmtesten
Beispiele für einen spektakulären Einsatz dieses photographischen Verfahrens stammen aus Orson Welles bahnbrechendem Film »Citizen Kane« aus
dem Jahre 194217. Etwa gibt es eine Schlüsselszene, in der wir in das Wohnzimmer der Eltern des Helden sehen, in dem gerade ein Vertrag abgeschlossen wird, der das Schicksal des Kindes besiegelt; durch das Fenster in der
Rückwand des Raumes sehen wir hinaus in den Schnee, wo der junge Kane,
um dessen Zukunft es geht, mit seinem Schlitten im Schnee spielt. Die Vordergrund- und Hintergrundanordnung hat auf die Gewichtung der Szenen
keinen Einfluss, da beide gestochen scharf und deutlich sind und auch etwa
gleich viel Bildraum bekommen. Aber schon früher, bei Jean Renoir etwa,
hatte es solche Einstellungen gegeben; und wenig später, gegen Ende der
vierziger Jahre, werden die zentrumslosen Bilder des italienischen Neorealismus das Verfahren nahezu verbindlich fortführen. Spätestens hier können wir
nie mehr genau wissen, wo eigentlich der Bildschwerpunkt, wo das Interesse
der Beobachtung legt. Wir müssen uns als Zuschauer vielmehr selbst entscheiden, was wir betrachten wollen; das Bild zeigt uns immer mehr, als wir
aktualisieren können.
Die Gleichzeitigkeit zweier voneinander verschiedener, bisweilen sogar
einander ausschließender oder auseinanderlaufender Handlungen wird in der
Tiefenschärfe buchstäblich sichtbar gemacht. Das gilt auch für die beschriebene Szene aus »Citizen Kane«, denn je nachdem, welchen Aspekt ich heraushebe, steht das Bild für die zu Ende gehende Vergangenheit (der spielende
Junge im Schnee) oder für die anbrechende Zukunft; und in diesem uneindeutigen Zusammentreffen löst sich der Gegenwartsmoment vollständig auf.
So sind wir als Betrachter aufgefordert, eine Entscheidung zu treffen, die
auch anders ausfallen könnte. Immer wissen wir, dass das, was wir zentral
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Film als »Welt-Anschauung«
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setzen wollen, genau so gut dezentral sein könnte. Das, was der Fall ist, ist
kontingent geworden18. Die Bilder werden nicht nur mehrdeutig, sondern es
wird klar, dass eine Bedeutung immer den Ausschluss einer anderen bedeutet, und dass es eine Bedeutung allein gar nicht geben kann. Das Bild ist nun
nicht mehr ein geschlossener oder zusammengesetzter Raum der Handlung,
sondern der offene Raum der Begegnung des Verschiedenen, eigentlich nicht
Zusammengehörigen; es sei denn, in eben der heterogenen, uneinheitlichen
Welt, um die es dem modernen Film geht. Der moderne Film beginnt dadurch,
dass er die Welt als Einheit des Verschiedenen zur Anschauung bringt, aus
dem Weltverständnis herauszutreten, das wir oben im Anschluss an v. Humboldt und Dilthey skizziert haben. Denn diese Einheit zwingt das Heterogene
nicht mehr, sich als bloßer Aspekt des Selben, als Einheitlichkeit zu erweisen
oder als aufgehoben in dem einen großen Strom der Geschichte, die beständig eines ins andere umwandelt.
Das Konzept der Tiefenschärfe ist oft, vor allem von André Bazin, als dem
der Montage entgegengesetzt beschrieben worden19. Und tatsächlich lässt
sich vertreten, beide Konzepte verhielten sich komplementär zueinander. Die
Montage macht das verborgene Gemeinsame des Verschiedenen deutlich und
konstituiert darin einen Ausblick auf die undenkbare Gesamtheit, die als Welt
angeschaut werden soll. Die Tiefenschärfe dagegen inszeniert die offensichtliche Verschiedenheit des zugleich Gegebenen und Offensichtlichen. Die
Welt wird nicht mehr als geschossene, unendliche Ganzheit, sondern als
unendliche Verschiedenheit, als – eigentlich unmögliche, jedenfalls instabile – Einheit aller Differenzen angeschaut. In jedem Fall löst sich der Film
hier von der Nachahmung natürlicher (oder scheinbar natürlicher) Wahrnehmungsverhältnisse noch weiter ab als in der Großaufnahme. Die Einformung
der Welt geschieht also nicht mehr als Abbildung des Vorfindlichen mit
anschließender Vorführung vor einem Publikum; sondern als Erzeugung
einer Welt, wobei das Publikum, selbst Teil dieser Welt, an ihrer Hervorbringung beteiligt ist. Zugleich bleibt der moderne Film aber als photographisches Bild der Wahrnehmungsähnlichkeit dennoch verhaftet; er generiert so
etwas unanschaulich Anschauliches. Dieser Ablösungs- und Intensivierungsvorgang, in dem das Bild gegenüber dem Sichtbaren immer autonomer wird,
zugleich aber auf intensive Weise visuell bleibt, wird heute von den Möglichkeiten der digitalen Bilder fortgeführt. Denn das digitale Bild – man denke
nur an das jüngere asiatische Kino, an Filme von Zhang Yimou oder Kim Ki
Duk – vermag unendlich tiefenscharf zu werden. Noch das entfernteste Blatt,
das im Hintergrund an einem Baum im Wind raschelt, ist genau so konturscharf wie die Wimper im Vordergrund. Der Effekt ist, dass die Tiefendimension des Bildes nahezu verloren geht, das Bild ganz und gar flach wird, linear
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Film als »Welt-Anschauung«
sogar, denn die Konturen bestimmen seine Gliederung mehr als Licht- und
Schärfenverhältnisse. Es erreicht damit ein Höchstmaß an Durchsichtigkeit
und an Beiordnung des Verschiedenen. Als ein neues Strukturmerkmal
unendlicher Ganzheit – und um sie geht es ja hier noch immer im Kontext der
»Welt-Anschauung« – tritt nun der Ornamentcharakter des Bildes auf.
Natürlich ist die filmische Moderne zugleich auch eine Phase erneuerter
Bemühung um die Montage und ihre Möglichkeiten. Der frühe moderne Film
jedoch entwickelt im Zusammenhang mit der Tiefenschärfe noch ein weiteres charakteristisches Verfahren, ein weiteres kinematographisches Konzept,
nämlich die »Plansequenz« oder »Sequenzeinstellung«20. Eine »Plansequenz« oder »Sequenzeinstellung« ist eine langgezogene, kontinuierliche
Aufnahme ohne Unterbrechung durch einen Schnitt; und tatsächlich kann
man hier eine Wiederaufnahme und Weiterentwicklung des alten Konzepts
der Aufnahme sehen, wie die Lumières es eingesetzt hatten. Die Aufnahme
wird in der Plansequenz gleichsam ausgedehnt und im Verständnis verzeitlicht als ununterbrochener Fluss. Als Stammvater kann man hier erneut auf
Jean Renoir verweisen; besonders aber, dann schon in den 6oer Jahren, auf
Michelangelo Antonioni, etwa in seinen schönen Schlusseinstellungen aus
»L’avventura« und aus »Blow Up«. Später hat sich ganz besonders Andrej
Tarkowski auf die Plansequenz konzentriert; filmpraktisch und, wie auch
zuvor André Bazin, filmtheoretisch21.
Die Leitidee der Plansequenz ist diejenige des Kontinuums. Wir sehen
nicht, wie in der gewöhnlichen erzählenden Montage oder dem filmischen
Szenenumbruch, ausschnitthaft Anfang, Mitte und Ende eines Vorgangs; und
wir ergänzen auch nicht die dazwischen fehlenden Teile. Im Gegenteil, wir
sehen einen zusammenhängenden Ablauf ohne jede Pause und ohne etwas
hinzuzufügen. Die Eck- und Wendepunkte sind nicht im Voraus ausgewählt.
Wir können nicht sagen, welches der entscheidende Punkt oder der glückliche Moment in diesem Verlauf eigentlich ist. Wir können aber sehr wohl
sehen, dass und wie im Verlauf der Sequenz etwas in etwas anderes sich verwandelt. Wir schauen so – das ist etwa in den genannten Filmen Antonionis
so – dem Heranbrechen des Tages zu und dem Umschlag von der bloßen
Vorstellung in die Wahrnehmung, das Hineingleiten ins Imaginäre oder in die
Resignation. Es gibt keinen präzise markierten Umschlagpunkt, sondern
einen Verlauf, der nicht weiter teilbar und gliederbar ist; der eine Zeit in ihrer
vollen Erstreckung und Fülle beansprucht. Auch hier können wir zum Kontrast wieder die Welt, die alles ist, was der Fall ist, heranziehen, um den Unterschied zu markieren. Denn in der Plansequenz sehen wir, ähnlich wie in der
Tiefenschärfe, eben nicht nur, was der Fall ist. Ging es dort vor allem um das,
was nicht der Fall ist, es ebenso gut aber sein könnte, also um die Kontingenz,
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so zielt die Plansequenz auf die Zeitlichkeit der Welt ab. Wir sehen nämlich,
dass das, was der Fall ist, es eben noch nicht war und auch schon nicht mehr
ist. Nichts ist einfach nur der Fall; stabile, sistierbare Sachverhalte gibt es für
die Plansequenz nicht. Wir sehen, was an vergangenen Möglichkeiten im
aktuell Gegebenen untergeht und wie dies geschieht; und was das Aktuelle an
zukünftigen Möglichkeiten enthält, die sich dann fließend verwirklichen. Wir
sehen also das Noch-nicht und das Nicht-mehr der Sachverhalte; wir sehen,
wie unausgesetzt Virtuelles sich in Aktuelles verwandelt und umgekehrt
Aktuelles in die Virtualität absinkt.
Mit Gilles Deleuze könnte man sagen, dass an die Stelle des Gegensatzes
von Evidenz und Latenz im modernen Kino derjenige von Aktualität und Virtualität tritt22. Ihre dynamische, unendlich wandlungsfähige und nie ruhende
oszillierende Einheit ist es, die die Welt des modernen Films ausmacht. Tiefenschärfe und Plansequenz sind die herausgehobenen Konzepte, die das
frühe moderne Kino zu diesem Zweck entfaltet. Mittlerweile aber, sei es
durch Montageverfahren, Erzähltechniken oder durch die rechnergestützte
Bildgebung, verfügt das Kino über ein reichhaltiges Sortiment an Formen und
Prozessen, die das Ineinander des Aktuellen und des Virtuellen zur Anschauung bringen können.
Diese neuen Formen und Figuren haben aber insbesondere dazu beigetragen, die »Welt-Anschauung« des Films noch einmal jenseits des Modernen
zu verwandeln. Das Problem der Weltsicht verlagert sich für den nachmodernen Film, der auch schon oft als »postmodern« oder gar mit Oliver Fahle
»Film der zweiten Moderne« bezeichnet wurde23. Die »Welt-Anschauung«
ist, wie wir, von Kant ausgehend, gesehen haben, die Fähigkeit, Ganzheit und
Unendlichkeit der Welt zugleich als Einheit zu realisieren. Der Film stellt
sich dem, indem er zunächst Sichtbares und Verborgenes, aber auch Fragment und Zusammenhang und Aktuelles und Virtuelles miteinander in Beziehung setzt. Und er beginnt, die Welt zunehmend als eine Einheit zu fassen, in
der das Verschiedene eben nicht aufgeht, nämlich als Einheit aller Differenzen. Er nähert sich damit einem nachmodernen, einem nicht mehr »alt-europäischen«24 Weltverständnis. Problematisch aber bleibt das Verhältnis, in
dem sich der Film selbst zur Welt, die er realisiert, sieht. Im frühen Film, so
haben wir gesehen, ist der Film noch Teil der Welt, die er selbst schafft. Dann
aber tritt er aus dieser Welt aus; gleichsam in Umkehrung zur Entwicklung in
der philosophischen Konzeption der »Welt-Anschauung«, die von der transzendenten Auffassung Kants zur immanenten Auffassung Diltheys (und darüber hinaus) geführt hat, nimmt der klassische und der moderne Film eine
Position außerhalb der angeschauten Welt an. Ein nachmodernes, ein im
Wortsinne »globalisiertes« Weltverständnis aber lässt eine solche Position
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nicht zu; die Welt hat ja als unendliche keine Grenzen, kein Außen. Sie ist nur
als Innenwelt erfahrbar, unnegierbar und eben deshalb »eigentlich« auch
unreflektierbar, sie lässt keinen Rest25, weder außerhalb ihrer noch inselartig
als Rückzugsraum in ihrem Inneren, von dem aus sie zu betrachten wäre.
Auch die historische und sinnverstehende Weltsicht im Zuge der Diltheyschen Hermeneutik hatte sich schon solchen Problemen stellen müssen.
Von wo aus, so die Problematik des nachmodernen Films, kann eine
Anschauung der Welt überhaupt erfolgen? Und, noch schwieriger und beunruhigender, von wo aus lässt sich eine solche Frage überhaupt stellen, anders
gesagt: Wo sind wir, wenn wir uns diese Frage überhaupt stellen? Wir geraten
in einen Zirkel hinein, der von Rückverweisen, Rückbezügen und Paradoxierungen geprägt ist. Und genau der Entfaltung solcher rekursiver Konzepte hat
sich der Gegenwartsfilm in besonderer Weise verschrieben; er fasst »WeltAnschauung« als Problem des Selbst- und Rückbezugs. Selbstverständlich
waren diese Probleme im Film immer präsent, aber keine Epoche hat sich mit
ihnen so prägend auseinandergesetzt wie der Film der letzten anderthalb
Jahrzehnte. Deshalb sei abschließend die rekursive »Welt-Anschauung« des
Films, die Auffassung der Welt als Rekursionsschleife, kurz beschrieben. Das
weltanschauliche Leit-Konzept des nachmodernen Films nämlich ist das
Konzept der Wiederholung.
Die Rekursionstendenzen des Gegenwartsfilms sind zunächst in seinen
Grobstrukturen, nämlich in den Erzählformen, ablesbar. Da sind zunächst
Filme, die, wie nach dem Modell des Möbiusbandes26 oder auch von Quentin
Tarantinos »Pulp Fiction«, in ihrer temporalen Logik so aufgebaut sind, dass
sie in sich selbst münden und dabei am Ende erst die Voraussetzungen
geschaffen haben, die notwendig waren, damit der Anfang der Anfang sein
konnte. Dennoch handelt es sich nicht um Rückblenden, zweifellos folgt jede
Sequenz der vorausgehenden zeitlich und logisch. Mitunter sogar geschieht
das explizit als Rückwärtserzählung wie in »Memento«, in »Six fois deux«
oder »Irréversible«. David Lynchs »Mulholland Drive« ist so organisiert,
dass sich um einen Umschlagpunkt in der Mitte herum alles spiegelbildlich
umsortiert; auch hier ist der Anfang das Ende, aber die Hauptpersonen wurden vertauscht. In anderen Fällen wird die Einkehr der Handlung in sich
selbst im Film thematisiert; oft kommt es dabei auch zu Verschiebungen im
Realitätsstatus der dargestellten Wirklichkeit. Das gilt etwa für so verschiedene Filme wie »Quer durch den Olivenhain« »Being John Malkovich«,
»The Matrix« und »Swimming Pool«. Vollends kommt das Rekursionsproblem in Thema und Struktur der Wiederholung zum Austrag; »Groundhog
Day« und »Lola rennt« sind hier prominente Beispiele. Und nicht zu vergessen ist die so oft schon beschriebene Neigung des Gegenwartsfilms zum
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Zitat, zur Parodie und zum Remake, die ja ebenfalls nichts anderes als Formen reflektierter Wiederholungen sind. Dem Gegenwartsfilm ist die »WeltAnschauung« zum Wiederholungsproblem geworden.
War die Welt des modernen Films diejenige der Transformation, so ist also
diejenige des nachmodernen – des »postmodernen« Films und des Films der
»zweiten Moderne« – diejenige der Wiederholung27. Es ist zweifellos ein
Konzept, das auch außerhalb des Films beobachtbar und sogar prominent und
dominant ist; das Fernsehen etwa hat es viel früher und intensiver entfaltet als
das Kino. Dennoch ist die Wiederholung nicht weniger kinematographisch
als die früheren Konzepte; schließlich war etwa auch die Montage schon in
anderen Medien aufzufinden und ist dennoch ein Schlüsselkonzept des Films.
Der Film hat deshalb ein ausgezeichnetes Verhältnis zur Wiederholung, weil
er, gerade in Anknüpfung an die Plansequenz des modernen und an das Konzept der Aufnahme des frühen Films, stets einen irreversiblen, unaufhaltsamen zeitlichen Ablauf realisiert. Die Bilder des Films müssen abfließen,
sonst sind sie überhaupt nicht möglich; das Leinwandbild existiert nur als
eines, das Anfang und Ende in der Zeit hat. Erst vor diesem Hintergrund wird
Reversibilität und Wiederholbarkeit überhaupt zum Merkmal. Denn nur das,
was verschwinden muss wie das Bild des Films und die Einstellung des Leinwandbildes, kann auch wiederholt werden; nur das, was wiederholbar ist,
kann auch eine Variante ausbilden und anders weitergehen als das, was es
ohnehin schon ist und war28. So scheint es so zu sein, dass der Film die Welt
nicht mehr über Evidenz und Latenz aufschließt und generiert, auch nicht
mehr über Aktualität und Virtualität, sondern über Wiederholung und Variation. Die Welt wäre dann schließlich zugleich die Gesamtheit aller Wiederholungen wie diejenige aller Varianten.
Das Bild des Films wird dann auch nicht mehr als Abbildung gelesen, sondern als Verdoppelung oder Variation eines anderen Bildes. Gerade die Technologien und ästhetischen Praktiken des digitalen Bildes treiben dies in
erheblichem Maße voran. Im Spielfilm sind sie – bislang – vor allem im Zuge
der »post-production« präsent, d. h. als nachträgliche Veränderung und Überarbeitung der aufgenommenen Bilder. Die Welt des Films besteht zunehmend
aus Film; sie kennt kein Außen und keinen Rest. Innen und Außen sind ihr
auch nur Varianten des wiederholbaren Selben. Die Welt des Films ernährt
sich demzufolge auch nicht mehr von der Wirklichkeit und bezieht sich nicht
mehr auf sie. Ihre Grenze kann nicht überschritten werden, ist aber von innen
erfahrbar; und ihre Unendlichkeit kann in unendlicher Rekursion und Variation verwirklicht werden. Die Folge der Wiederholungen und Abweichungen
nimmt dann auch das alte Problem des Sensiblen und des Intelligiblen, der
Anschauung und des Begriffs, mit dem wir unsere Überlegungen begonnen
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haben, in sich auf: Auch hier wird das eine zur Wiederholung und Variation
des anderen. Sichtbares und Denkbares werden nicht identisch, aber sie
­schreiben einander unaufhörlich fort. Film und Philosophie sind füreinander
dann jeweils Fortsetzungen mit – vielleicht noch nicht einmal so sehr – anderen Mitteln. Möglicherweise ist das Kino überhaupt nur deshalb noch nicht
verschwunden, weil es im Zeitalter und unter den Bedingungen der Globalisierung einer der letzten Orte ist, an denen so etwas wie »Welt-Anschauung«,
wie deformiert und verzerrt auch immer, überhaupt noch möglich ist.
Anmerkungen
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  8
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13
14
15
16
Rudolf Arnheim: Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln: DuMont
1972.
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, B92 f; in: Kant: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. W.
Weischedel, Bd. 8, Darmstadt: Wiss. Buchges. 1983, S. 341
Vgl. dazu H. Thomé: Weltanschauung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Bd. 12, Basel: Schwabe 2004, Sp. 454 – 460.
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© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010
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Youssef Ishagpour: Orson Welles cinéaste. Une caméra invisible, Paris: La différence
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Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/m.:
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Deleuze, a. a. O., S. 95– 192; S. 108 ff.
Oliver Fahle: Filme der Zweite Moderne, Weimar: VDG 2005 (= serie moderner film,
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Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998,
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Markus Krajewski: Restlosigkeit: Weltprojekte um 1900, Frankfurt/M.: Fischer 2006.
Douglas F. Hofstadter: Gödel Escher Bach. Ein endloses geflöchtenes Band, Stuttgart:
Klett 1985.
Zur Philosophie der Wiederholung grundlegend Gilles Deleuze: Differenz und Wieder­
holung, München: Fink 1992; einen Überblick zur Wiederholung als medientheoretisches
Konzept gibt Jürgen Felix et al. (Hrsg.): Die Wiederholung, Marburg: Schüren 2001.
Luhmann, Soziale Systeme, a. a. O., S. 79.
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