Homo naturalis - Philipps

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Oftmals werden Natur und Kultur als unversohnliche Gegensatze aufgefasst. Dem widersprechen die Beitrage dieses Buches. Sie verfolgen
das Ziel, Kontinuitaten im Mensch-Natur-Verhdtnis herauszustellen
und die humane Kultur als spezifische Seinsweise und Seinsregion innerhalb der Natur auszuweisen. Dabei wird auch die Frage thematisiert, welchen Stellenwert technische Prozesse und mit ihnen assoziierte Denkweisen und Denkmuster in Natur und Kultur einnehmen.
Die Herausgeber:
Ana Maria Rabe, 2007 in Philosophie an der Hochschule fiir Bildende
Kiinste Braunschweig mit einer Arbeit zum Raum in der Kunst, Philosophie und Wissenschaft promoviert, lehrt z.Z. Philosophie und
Kunsttheorie an der Universitat der Kiinste Berlin und der KunsthochschuIe HalIe. Von 2008 bis 2011 arbeitete sie als Wissenschaftlerin am
))Institute de Filosofiacc des Forschungszentrums CSIC in Madrid.
ZahIreiche Veroffentlichungen zu lebensphilosophischen, erkenntnisund kunsttheoretischen Fragen. Ihre gegenwartigen Forschungen untersuchen zeitliche und raumliche Grundlagen der Gedenkkultur.
Ana Maria Rabe
Stascha Rohmer (Hg.)
Homo naturalis
Zur Stellung des Menschen
innerhalb der Natur
Stascha Rohmer, geb. 1966, promovierte nach einem Studium der Philosophie und Hispanistik 1999 an der Technischen Universitat Berlin
mit einer Arbeit zur Metaphysik Alfred North Whiteheads. Von 1999
bis 2011 war er Research Fellow am ))lnstituto de Filosofiacc des Fors ~ h u n ~ s z e n t r u mCSIC
s
in Madrid und lehrte ferner Philosophie am
Philos~~hischen
Seminar der Hurnboldt-Universitat Berlin, wo er sich
gegenwartig mit einer Arbeit zu Hegel und Plessner habilitiert. Sein
wichtigstes bisheriges Werk ~Liebe- Zukunft einer Emotion(( erschien
2008 im Verlag Karl Alber. Zahlreiche Veroffentlichungen.
Verlag Karl Alber Freiburg / Miinchen
Gefijhle als Triebfedern der Moral
ingrid Vendrell Ferran
Gefuhle als Triebfedern der Moral
Uber die moralische Funktion der Gefijhle'
1.
D e r Ort des Gefiihls in der Moral:
Fragesteflung und Perspektiven
Die doppelte Bestimmung des Menschen als Natur- und Kultunvesen
zugleich tritt wohI bei kaum einem anderen Phanomen so deutlich zutage wie bei den Gefuhlen. Auf den ersten Blick sind die Gefuhle bloiZe
Neigungen und leibliche Reaktionen auf Reize der Umwelt, die spontan entstehen und fast instinkthaft verlaufen. Aus dieser Perspektive
sind die Gefiihle etwas, das der Mensch rnit dem Tier gemein hat, sie
sind triebhafte Reaktionen und als solche Objekt der empirischen Wissenschaften. Diese Auffassung wird aber dem Phanomen der Gefiihle
nicht gerecht. Denn die Welt bietet sich Mensch und Tier auf verschiedene Weise dar. Dem Menschen ist nicht nur Reaktion und Anpassung
gegeniiber der Umwelt moglich, sondern wir besitzen auch die Moglichkeit, die uns gegebenen Umstande zu transzendieren und eine eigene menschliche Realitat aufzubauen. Die Gefiihle sind zwar Teil des
menschlichen biologischen Programms und sie mogen auch biologisch
bedingt sein. Sie erhalten aber in dieser menschlichen Welt eine Bedeutung, die ihre biologische Funktion ubersteigt und die unbeachtet
bleibt, wenn wir die Gefiihle als bloge animalische Triebe verstehen.
Das affektive Programm, rnit welchem die Menschen ausgeriistet sind,
bekommt in der menschlichen Welt eine neue Bedeutung. Die Welt
bietet sich dem Menschen nicht als ein neutraler Horizont dar, sondern
als eine Welt, die rnit bestimmten affektiven Qualitaten gefarbt ist, als
eine Welt rnit Wenen. Diese Werte prasentieren sich rnit einer grogen
Nuanciertheit und rnit zahlreichen Abschattungen, so dass sie nicht
lediglich als Objekte unserer Instinkte verstanden werden konnen. Dariiber hinaus besitzen wir komplexe kognitive Fahigkeiten, die auch
unsere emotionalen Erfahrungen mitbedingen: wir haben eine Sprache
und wir sind fahig, komplexe kognitive Propositionen zu formulieren,
welche die Auffassung von der Welt verandern. Zuletzt leben wir im
Unterschied zu Tieren in einer Welt von Normen und Institutionen,
die den Rahmen unserer emotionalen Erfahrungen bilden. Die Welt
des Menschen ist eine Welt der Werte und Normen.
Diese Welt der Werte und Normen, welche dem Menschen eigen
ist, ist eine Welt, in der moralisches Verhalten moglich wird. In diesem
Kontext entstehen die philosophischen Fragen, die ich in diesem Aufsatz untersuchen mochte: Spielen die Gefiihle, die ja auch Teil unserer
biologischen Realitat sind, eine Rolle fiir die Moral? Steht die Moral in
einer Linie der Kontinuitat rnit unserer affektiven Natur oder setzt sie
eine Trennung voraus? Und im Fall, dass die Gefiihle eine Rolle fur die
Moral spielen: Was ist ihre Funktion? Um diese Fragen zu untersuchen
und den Stellenwert des Gefiihls fur die Moral zu bestimmen, werde
ich zunachst mein Augenmerk auf zwei sehr unterschiedliche Traditionen richten. Zur ersten Traditionslinie gehoren diejenigen Ansichten,
fur welche Moral eine Frage der Normensetzung durch den Verstand
ist. Die Anhanger dieses Ansatzes pladieren fur eine streng zu ziehende
Grenze zwischen unserer affektiven Natur und unserem moralischen
Verhalten. Als Paradebeispiel dieser Tradition mag die Ethik Kants genommen werden. In der zweiten Traditionslinie - der ich mich anschlieaen mochte - wird behauptet, dass die Gefiihle auch eine Quelle
moralischen Verhaltens sind und dass es zwischen unserer affektiven
Natur und der Moral keinen Bruch @bt. In dem Zusammenhang dieser
zweiten Traditionslinie werde ich drei Theorien erlautern: Emotivismus, Dispositionalismus und Realismus2 - nsentimentalischecc Positionen, denen zufolge unser moralisches Verhalten in unserer affektiven
Natur griindet.Wach der Darstellung der beiden Traditionslinien werde ich meine eigene Position entwickeln und die Relevanz des menschlichen Gefuhlslebens fur die Moral aufweisen, die meines Erachtens
Eine umfangreiche Behandl~n~dieser
Frage sollte auch andere ethische Ansichten wie
die uti]itaristische und die fiktionalistische Ethik einbeziehen. Beide Positionen lasse ich
in diesem Aufsatz unbehandelt.
Bei der Bezeichnung dieser Tradition als *sentimentalistischa folge ich D'Arms and
Jacobson (D'Arms und Jacobson 2006)
2
Fiir hilfreiche Kommentare zu dieser Arbeit mochte ich mich bei Eva-Maria Engelen,
Voker Gerhardt, Christoph Johanssen, Ana Milria Rabe, Birgit Recki und Srascha Rohmer bedanken.
122
ALBER PHILOSOPHIE
Ana Maria Rabe I Stascha Rohmer (Hg.)
Homo naturalis
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ingrid Vendrell Ferran
Gefuhle als Triebfedern der Moral
eine mehrfache ist. Leitfaden dieses Aufsatzes ist die These, dass die
Bedeutung des menschlichen Fiihlens sich nicht in der Funktion einer
rein biologischen Reaktion auf die Urnwelt erschopft. Vielmehr erhaIt
das Fiihlen beim Menschen weitere Funktionen; unter ihnen auch die
der Fundierung einer Moral. Dank unserer Affektivitat konnen wir
moralische Fahigkeiten entwickeln und besitzen eine Veranlagung zu
moralischem Verhalten. Freilich sind die Ausformung dieser Veranlagung und die tatsachliche Entwicklung eines moralischen Verhaltens
nicht zwingend, sondern auch abhangig von anderen Faktoren.
2.
Die Autoritiit des Verstands
in der Kantischen Normenethik
Es ist eine vie1 diskutierte Frage, ob und wie die Gefiihle moralisch
relevant sind.* Seit langem wird Kant die Ansicht zugeschrieben, dass
die Gefiihle keine Funktion fiir die Moral haben und aus dem Reich der
. ~ kanonisierte Auffassung Kants sollte
Ethik zu verbannen ~ i n d Diese
allerdings rediviert ~ e r d e n Kant
. ~ selbst war zwischen 1764 und 1766
ein Sensualist in der Linie von Shaftesbury, Hutcheson und Hume. Er
kannte daher die Thesen des moralischen Sinns aus erster Hand, obgleich e r diese Ansichten schnell zugunsten einer rationalen Begriindung der Moral aufgab (Recki 2008, 463). Die Wende zum Rationalismus bedeutete aber keineswegs eine Verbannung der Gefiihle aus der
Kantischen Ethik. In Kants spateren nrationalistischenc( Werken haben
die Achtung und der Bsensus comuniscc einen hohen Stellenwert, ebenso die Sympathie. Gefiihle stehen auch im Fokus der Aufmerksamkeit
seiner ethischen Uberlepngen in der Metaphysik der Sirten, wo Kant
die konkrete menschliche Situation mit all ihrer Nuanciertheit der GeFur eine deutschsprachige Behandlungen dieser Frage: Vgl. Donng, 5. und Mayer, V.
(Hrgs.): Die Moralitiit der Gefiihle, Berlin: Akademie Vedag 2002 und Engelen, E.-M.:
Gefiih/e, Reclam 2007. S. 82-104.
Vgl. hir diese kanonisierte Auffassung etwa: Oakley, 1.: Morality nnd the Emotions,
London: Routledge 1991.
Zu der Revision von Kants Auffassung der Gefijhle hat Birgit Recki entscheidend
beigetragen. Recki (2006a, 2006b, 20081, daran anschliegend auch Hilge Landweer und
Ursula Renz in ihrer Einleitung zum Sammefband Klassisrhe Ernotionstheorien (Landweer und Renz 2008) und Eva-Maria Engelen in einer kiirzlich erschienenen Rezension
iiber heurige Theorien der Gefiihle (Engelen 2009). Diese revidierte Auffassung Kants
isr auch bei analytischen Philosophen zu finden (etwa Prinz 2009).
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ALBER PHILOSOPHIE
Ana Maria Rabe I Scascha Rohmer (Hg.)
fuhle zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung nimmt. Auch in der
Anthropologie erhalten die Gefuhle einen Sonderstatus als wichtiger
Teil der menschlichen Natur. Denn weit davon entfernt, den Menschen
als ein reines Vernunftwesen aufzufassen, ist Kant der Ansicht, dass
sowohl die Vernunft als auch das Sinnliche und das Affektive Teil der
menschlichen Natur sind. Es ware daher ein Irrtum zu behaupten, dass
Kant den Gefiihlen iiberhaupt keine Rolle in seinem moralischen System zuschreibt.
Um den genauen Status der Gefiihle fiir die Moral in der Kantischen Ethik zu bestimmen, sollten wir einerseits zwischen Grundlegung und Fundierung unterscheiden. Gefiihle sind laut Kant grundlegend fur die Moral, da er den Menschen in seiner konkreten Situation
als ein fiihlendes Wesen versteht, dessen alltagliches Leben, Entscheiden und Handeln von Gefiihlen gepragt ist. Dennoch sind in der Kantischen Ethik die Gefuhle nicht fundierend: Sie bleiben dem Verstand
untergeordnet, wenn es darum geht, ein ethisches Normensystem aufzubauen. Gefiihle konnen nicht fundierend sein, weil sie den Verstand
verwirren konnten. In zugespitzter Form schreibt der Aufklarer: aAffekten und Leidenschaften untenvorfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemiits, weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschlief3tcc
(Kant 2003: 192). Dariiber hinaus sind die Gefuhle laut Kant zu unterschiedlich, um ein Magstab fur die Moral sein zu konnen (Kant 2008:
83). Kants Ethik ist und bleibt ein Projekt normativer Natur. Die
Hauptfrage der Moral: ))Was sollen wir t u n ? <wird demnach vielmehr
durch den Verstand beantwortet, indem wir ein moralisches System
von Normen und Pflichten rational herstellen und diesem bei jeder
Handlung folgen. Eine Handlung ist demnach gut, wenn sie aus einer
Norm heraus entstanden ist, welche eine Verallgemeinerung des der
Handlung zugrundeliegenden Grundsatzes zulasst - wie es der kategorische Imperativ besagt. Diese Kantische Position bedeutet einen moralischen Rationalismus und postuliert eine ,Autoritat des Verstandscc
fur die Moral.
Andererseits sollten wir bei Kants ethischem Projekt zwischen
Einschrankung und Kultivierung der Gefiihle unterscheiden. Kant pladiert fur eine Erziehung des Menschen zum Guten (Kant 2003: 282)
und dies sol1 auch als eine Kultivierung der Gefiihle verstanden werden. In diesem Kontext unterscheidet e r zwischen zwei Gefiihlsarten.
Auf der einen Seite gibt es diejenigen Gefiihle, welche dem Verstand zu
unterwerfen sind. Hier scheint Kant die Ansicht einer Opposition zwiHomo naturalis
h 125
Gefuhle als Triebfedern der Moral
ingrid Vendrell Ferran
schen Gefiihl und Verstand zu vertreten und fijr eine Einschrankung
der Gefuhle zu pladieren. Auf der anderen Seite steht das moralische
Gefiihl der Achtung, welches ein ,durch einen Vernunftsbegriff selbstgewirktes Gefiihl und daher von allen Gefiihlen (. ..), die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschiedencc ist (Kant
2008: 26). Die Achtung wird als Gefuhl aufgefasst, das der Mensch
den rnoralischen Gesetzen gegenuber hat. Das Gesetz wird mit Hilfe
des Verstandes formuliert und die Achtung ist dann eine Wirkung des
Gesetzes auf das Subjekt und nicht konstitutiver Faktor desselben
(Kant 2008: 107). Innerhalb des Reiches der Gefiihle erhalt die Achtung somit einen besonderen Status. Sie ist zwar ein Gefuhl, aber sie
ist nicht durch Einfluss der Empfindungen entstanden, sondern durch
einen n v e r n ~ n f t s b e ~ r i f fdas
r , hei4t durch die Setzung eines Gesetzes
durch den Verstand. Die Rolle der Achtung ist somit sekundar irn Vergleich zu der Rolle des Verstandes als Gesetzgeber, denn die Achtung
erkennt das rational begrundete Gesetz lediglich an und fungiert als
A ~ s h h r u n ~ s k r aund
f t Motivation fur den Vollzug der moralischen
Handlung. Um diese Idee der Motivation auszudrucken, spricht Kant
von der Achtung als moralischer Triebfeder. Damit hebt er die kognitive und praktische Funktion dieses Gefuhl hervor, aber wir diirfen hier
nicht vergessen, dass das Gefuhl nur sekundar gegeniiber dem Verstand ist. Der Vorrang des Verstands gegeniiber den Gefuhlen bei der
Ethik wird in Kants Werk nicht in Frage gestellt. Die Moral wird in
diesem Modell nicht als Entwicklung unserer affektiven Natur betrachtet.
Kants Ansicht uber die Gefiihle und ihre Rolle fur die Moral sowie
iiber die fundierende Rolle des Verstands fur die Moral scheint mir
vom Standpunkt der heutigen Gefuhlsforschung aus problematisch.
Zwar versucht Kant an einigen Stellen, die Gefiihle in Verbindung
mit dem Verstand zu bringen, doch bilden beide Begriffe oft genug
Gegenpole. Kants Vorschlag einer Untenverfung des Gefiihls unter
den Verstand kann nicht zuletzt durch die Arbeiten als hinfallig gelten,
welche die kognitivistischen Theorien der Emotionen in jiingster Zeit
hervorgebracht haben. Denn diesen Theorien zufolge haben die Gefuhle selbst kognitive Elemente als Grundlagen. In der heutigen analytischen Tradition wird insbesondere die Rolle des Urteils als Grundlage
der Gefiihle beriicksichtigt. (Kenny 1963, Taylor 1985, Solomon 1993,
Nussbaum 2005, Marks 1982, Green 2000). Die heutige analytische
Philosophie erkennt als mogliche Basis der Gefiihle auch Phantasien,
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ALBER PHILOSOPHIE
Ana Maria Rabe / Srascha Rohmer (Hg.)
~ a h r n e h m u n g e n ,Erinnerungen und Annahmen an (Stocker 1987,
Greenspan 1988, Mulligan 1998, Goldie 2002, Vendrell Ferran 2008).
~ e f i i h l ebasieren auch auf Denkakten, und daher sind kognitive EIemente ein wesentlicher BestandteiI derselben.
Die Gefiihle zeigen au4erdem eine Struktur, die einige Autoren
als intentional beschrieben haben. Die These der Intentionalitat der
Gefuhle wurde schon von Brentano und seinen Schulern der phanomenologischen und der Grazer Schule vertreten (Brentano 192% 1924,
1959; Scheler 1954; Meinong 1968a, 1968b, 1969). Heute ist die These
aufgrund der Veroffentlichung von Anthony Kennys Buch Action
Emotion and Will ein Topos der analytischen Philosophie (Kenny
1963, de Sousa 1987, Tappolett 2000). Der genannten Auffassung zufolge sind die Gefiihle auf Objekte der Umwelt gerichtet und vermitteln uns Informationen uber dieselben. So konnen etwa die Angst auf
eine Gefahr, die Emporung auf eine Ungerechtigkeit und das Mitleid
auf die Sorgen eines Anderen hinweisen. Daruber hinaus konnen Gefiihle ihrerseits manchmal auch selbst Denkakte fundieren. Zum Beispiel dann, wenn wir etwas als schlecht beurteilen, weil es in uns ein
negatives Gefiihl ausgelost hat.
Auch fur das Handeln scheinen die Gefuhle grundlegend zu sein.
Wie Damasios Studien gezeigt haben, sind Menschen mit gestorten
affektiven Fahigkeiten oft unfahig, richtig zu entscheiden und zu handeln (Damasio 1994). Weit entfernt davon, eine Storung des Handelns
darzustellen, sind die Gefuhle Quelle rationalen Handelns. Die Abwesenheit angemessener Gefuhle in einer konkreten Situation und gerade
auch bei dem Treffen einer Entscheidung ist ein Zeichen moralischen
Mangels.
Kant erkennt - auch dies ist zu beriicksichtigen - die Achtung als
Triebfeder der Moral nur in dem Sinne an, dass dieses Gefiihl zu Handlungen motivieren kann. Mit dieser Fixierung auf die Relevanz der
Handlungen fur die Moral werden weitere mogliche moralische Funktionen der Gefuhle vollkommen ignoriert. So wird etwa auger Acht
gelassen, dass wir eben dank unseres Gefuhlslebens die Nuancen einer
Situation erfassen, dass Gefuhle uns mit anderen Menschen und Lebewesen verbinden oder dass sie Normensysteme begriinden konnen.
Eine weitere Beschrankung von Kants Model1 liegt in der Tatsache, dass Kant nicht allen Gefiihlen eine moralische Bedeutung zuschreibt. Demgegenuber sollten wir uns fragen, ob nicht alle Gefiihle im positiven oder negativen Sinne - moralisch relevant sind. SymHomo naturalis
h 127
ingrid Vendrell Ferran
Gefijhle als Triebfedern der Moral
pathie oder Mitgefiihl (Smith 2006; Scheler 19731, Eke1 (Kolnai 1974),
Verachtung (Miller 1997) und Liebe (Scheler 1986, Ortega y Gasset
1957), um hier nur ein paar Beispiele zu nennen, haben bislang Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer moralischen Bedeutung erhalten.
Problematisch an Kants Ansicht ist auch, dass er die Ethik allein
auf Normen griindet und die Bedeutung der Werte fur die Moral ignoriert (Scheler 1954). Das, was man tun soll, wird durch Pflichten bestimmt, und die menschliche Fahigkeit, das moralisch Wertvolle zu
entdecken, wird ignoriert.
Es scheint notwendig, auf andere Modelle zu rekurrieren, welche
den Gefuhlen eine fundierende Rolle fur die Moral zuschreiben und bei
denen die Moral sich aus unserer affektiven Natur heraus entwickelt.
In solchen Modellen sind die Gefiihle als Triebfeder der Moral im weitesten Sinne zu verstehen, d.h. dass sie Grundbausteine einer Moral
sein konnen.
3.1. Gefiihlsprojektionen i m Emotivismus
Den grogten Gegensatz zu Kants Rationalismus bilden diejenigen sentimentalistischen Autoren, welche die Gefuhle als Queile unserer Moral betrachten. Es gibt ein sehr breites Spektrum von sentimentalistischen Positionen, welche sich voneinander aufgrund ihrer Konzeption
der Gefuhle, der Moral und der Verbindung zwischen beiden stark unterscheiden. Denn die Metapher der ))Quellecc kann sehr unterschiedlich verstanden werden. Trotz der Vielfalt der verschiedenen Positionen
haben diese Ansichten als gemeinsamen Kern die These einer ))Autoritat des Gefuhls~'fur die Moral. Von den Gefuhlen hangt ab, dass die
Welt sich uns als ein wertreicher Horizont prasentiert, in dem die Richtungen unserer Praferenzen zu erkennen sind. Auch die ethischen Urteile iiber die Umwelt, die Anderen und uns selbst sind in dieser Auffassung von unserem Gefuhlsleben abhangig Im Unterschied zu der
normativen Ethik Kants legen diese Ansichten den Akzent auf die Existenz einer menschlichen Sensibilitat fur die Werte. Der Mensch ist
aufgrund seiner Fahigkeit zum Fiihlen und zu Gefiihlen imstande, das,
was wertvoll ist, als solches zu erkennen und dementsprechend zu han-
Die emotivistischen Thesen finden ihre Inspiration bei Hume. Ihm zufolge sind die ethischen Eigenschaften nicht Eigenschaften der Objekte,
an denen sie uns gegeben sind, sondern bloI3e Projektionen unserer
Gefiihle auf diese Objekte. In Bezug auf die ethischen Urteile vertritt
Hume die These, dass sie auf den Gefiihlen grunden (Hume 1998 und
1999). Eine ahnliche These wurde von Ayer vertreten und findet heute
bei Mackie, Gibbard und Blackburn einen gewissen Widerhall (Ayer
1946, Mackie 1977, Gibbard 1990, Blackburn 1993).
Der Emotivist postuliert, dass die ethischen Eigenschaften - also
die Werte - Projektionen unserer Gefiihle auf die Welt sind. Das bedeutet, dass etwas zum Beispiel deswegen Iustig oder traurig ist, weil
wir amiisiert sind oder weil wir Trauer empfinden. Nach dieser Theorie
haben die ethischen Eigenschaften ihren Ort nicht in den Gegenstanden, sondern in uns als Subjekten. Diese Auffassung der Werte bedingt
auch ein bestimmtes Verstandnis des ethischen Urteils. In einer Version des Emotivismus wird behauptet, dass - da die Werte Projektionen
unserer Gefiihle sind - die Urteile, die wir ausgehend von unseren
Gefiihlen formulieren, falsch sind (Mackie 1977). In einer anderen Version des Emotivismus werden die ethischen Urteile einfach als expressive Urteile aufgefasst (Blackburn 1993).8
Fiir den Emotivismus spricht die Tatsache, dass es eine grol3e Anzahl fiihlender Wesen gibt und gleichzeitig das, was gefiihlt wird, sehr
verschiedenartig sein kann. Allerdings konnen auch andere Positionen
fur diese Tatsache aufkommen, denn je nachdem, ob man eine Personlichkeit oder eine andere hat, oder je nachdem, ob man einer bestimmten Kultur oder einem bestimmten Zeitalter angehort, wird man auf
bestimmte Eigenschaften achten und andere iibersehen.
Die Einwande gegen den Emotivismus sind zahlreich. Ich werde
' Ich iibernehrne diesen Ausdruck von Mark Johnston (Johnston 2001).
*
ALBER PHILOSOPHIE
Homo naturalis
3.
128
deln. Inwiefern aber hangen ethische Eigenschaften und ethische Urteile von den Gefiihlen ab? Ich werde im Folgenden drei verschiedene
Antworten auf diese Frage skizzieren, die in jiingster Zeit die meisten
Befiirworter gefunden haben: den Emotivismus, den Dispositionalismus und den Realismus.
Gefuhle als Quelle der Moral in
den sentimentalistischen Ethiken
Ana Maria Rabe I Stascha Rohmer (Hg.)
Ich folge fur diese Taxonomie D'Arms und Jacobson (2006)
Gefiihle als Triebfedern der Moral
Ingrid Vendrell Ferran
hier nur auf die relevanten Problerne hindeuten. Die emotivistischen
Ansichten konnen nicht erklaren, warum wir etwas als lustig oder
traurig bezeichnen konnen, ohne dabei amiisiert oder traurig zu sein.
In diesen Fallen kann man nicht von einer Projektion sprechen. Es gibt
auch ein Zeitlichkeitsargument gegen die emotivistische These. Oft
treten die Gefuhle erst nach der Erfassung der Werte auf, so dass es
zeitlich unmoglich ist, dass die Werte Projektionen unserer Gefuhle
sind. [Garcia Morente 2002, 48). Dariiber hinaus prasentiert sich die
Welt manchmal rnit einer bestirnmten Qualitat, uber welche es einen
Konsens gibt, so dass wir hier fast von einer obiektiven, von unserer
ernotionalen Haltung unabhangigen Eigenschaft sprechen konnen.
Diese Einwande gegen den Emotivismus sprechen h r die Suche
nach neuen Alternativen fiir die Auffassung der ethischen Eigenschaften und Urteile und ihre Verbindung mit den Gefuhlen.
3.2. Angemessene Dispositionen zurn Fiihlen
Angesichts der Problerne des Emotivisrnus bietet sich der Dispositionalisrnus als Alternative an. Dieser Theorie zufolge hat etwas einen bestimmten Wert, wenn es in dem Betrachter unter optimalen Umstanden ein bestirnmtes Gefuhl auszulosen pflegt. Etwas ist dann traurig,
weil es unter bestirnrnten, moglichenveise normalen Umstanden Trauer in rnir auslost. Die Werte selbst werden als Dispositionen verstanden, bestirnrnte Gefuhle zu erleben. Ihnen wird irn Dispositionalisrnus
eine Zwischenstellung zugewiesen, welche sowohl die rnenschliche
Sensibilitat beriicksichtigt als auch den Werten eine gewisse Objektivitat zuschreibt. Dispositionalistische Theorien erlauben es, in Bezug auf
die Werte von der Richtigkeit oder Angernessenheit und der Falschheit
oder Unangernessenheit einer Emotion zu sprechen. Die Urspriinge
dieser These sind bei Brentano zu finden (Brentano 1921). Sie wurde
in jungster Zeit von McDowell, Wiggins und Mulligan (McDowell
1998, Wiggins 1987 und Mulligan 1998) vertreten.
Abhangig von dieser Auffassung der ethischen Eigenschaften ist
eine entsprechende Ansicht uber die ethischen Urteile. Diese sind nur
dann angemessen, wenn wir dazu disponiert sind, eine bestimmte
Emotion unter bestimrnten Umstanden zu fiihlen.
Der Dispositionalismus legt den Akzent auf den Begriff der
menschlichen Sensibilitat und betrachtet die Werte gleichzeitig als
130
ALBER PHILOSOPHIE
Ana Maria Rabe I Staxha Rohmer (Hg.)
~ i ~ e n s c h a f t mit
e n einer gewissen Objektivitat. Das Hauptproblern dieser Theorie liegt darin, dass der genaue Status der Werte und ihre hybride Stellung zwischen Projektion menschlicher Sensibilitat und objektiver Tatsache oft nicht iiberzeqend sind. Entsprechende Thesen
erwecken leicht den Eindruck der Zirkularitat: Etwas hat einen Wert,
weil es in uns unter bestirnmten Umstanden ein bestimmtes Gefiihl
auslost, und etwas lost in uns unter bestimmten Umstanden ein bestimrntes Gefuhl aus, weil es einen Wert hat.9
Dariiber hinaus stellt sich die Frage: Wenn Werte irnmer von unserer Fahigkeit zurn Fiihlen abhangig sind und diese Fahigkeit nicht
nur durch die individuellen Tatsachen, sondern auch historisch und
kulturell bedingt ist: Wie kann eine Gesellschaft dann einen neuen
Wert entdecken oder einem bestehenden Wert eine neue Bedeutung
zuschreiben ? Diese Theorien miissen auch eine Erklarung der Wandelbarkeit unserer Art zu fiihlen liefern.
AuBerdem sollten dispositionalische Ansichten auch die Bedingungen fiir die Angemessenheit unserer emotionalen Antworten bestimrnen. Zu envahnen ist ferner, dass wir normalerweise rnit einem
bestirnmten Gefuhl auf eine Situation reagieren konnen, ohne dass
dieses Gefiihl uns tatsachlich garantiert, dass die Situation einen bestimmten Wert hat.
3.3. Souveranitat der Werte im Realismus
Die letzte Alternative, die ich in Betracht ziehen mijchte, ist der Realismus. Realistische Positionen behaupten, dass die Werte eine eigene
Realitat haben, welche sowohl von den Dingen, an denen sie gegeben
sind, als auch von den Subjekten, welche die Werte erfassen, unabhangig ist. Nach dem Realismus werden uns die Werte dank affektiver
Phanornene unter optimalen Umstanden zuganglich: Ohne Gefuhle
waren wir fur die Werte blind. Diese Auffassung der ethischen Eigenschaften wurde im vergangenen Jahrhundert von Meinong und Scheler
vertreten (Meinong 1968a, Scheler 1954). Heute wird er von Christine
TapPolet und Mark Johnston vertreten (Tappolet 2000, Johnston 2001).
Laut Tappolet sind die Werte unabhangig von jeder subjektiven
TapPolet hat allerdings gezeigt, dass der Eindruck eines rirculus vitiosus bei solchen
Ansichten unbegriindet ist (Tappolet 2000).
Homo naturalis
h 131
ingrid Vendrell ferran
Gefuhle als Triebfedern der Moral
Haltung oder Reaktion der Subjekte. Die Funktion der Gefiihle besteht
darin, die Werte zu erfassen. So prasentiert uns die Furcht das Furchterregende, der Eke1 das Ekelhafte und die Freude das Erfreuliche. Um
diese These zu vertreten, arbeitet TappoIet mit der Analogie zwischen
Gefuhlen und Wahrnehmungen. Gefuhl und W e r t ~ a h r n e h m u nkon~
nen hier in Analogie betrachtet werden. W a h r n e h m u q e n und Gefuhle
werden durch Dinge unserer Urnwelt ))verursachtcclo, beide besitzen
phanomenale Eigenschaften, beide fiihlen sich leiblich in einer bestimmten Weise an. Und zuletzt haben beide einen Inhalt und konnen
in Bezug auf diesen angemessen oder unangemessen sein. Nicht nur
wegen der Werterfassung haben die Gefiihle eine moralische Funktion,
sondern auch - so Tappolet -, weil sie Werturteile fundieren (TapPolet
2000,9 und 259). Zum Beispiel rechtfertige die Bewunderung, die man
beim Anblick einer Person fuhIt, das Urteil, dass diese Person bewund e r ~ n g s w i i r dist.
i~
Johnston vertritt eine ahnliche Position und arbeitet auch mit
einer Analogie zwischen Affekten und Wahrnehmungen (Johnston
2001, 189). Er behauptet, dass wir ohne Emotionen fur verschiedene
Aspekte der Welt blind waren, keine Werturteile formulieren konnten
und keine intrinsische Motivation zum Handeln hatten (Johnston
2001, 101). Es gebe ein Primat der Affekte gegenuber Kognition und
Motivation. Johnston spricht hier von einer ,)Autoritat des Gefuhlscc
(Johnston 2001, 189).
Ohne explizit einen Wertrealismus zu vertreten, hat sich auch
Oakley fur eine starke Rolle der Gefuhle bei der Wahrnehmung und
dem Verstehen von Situationen ausgesprochen (Oakley 1993, 49).
Hinsichtlich der Moralphilosophie seien die klare Wahrnehmung und
das scharfe Urteilen wichtig, um eine gute Person zu sein. Sie sind laut
Oakley nicht nur per se relevant, sondern weil sie unerlasslich sind, um
gut zu handeln (Oakley 1993, 50). Ein Mensch ohne Gefiihle wiirde
diesem Autoren zufolge an ,)insensitivity, apathy, listlessness, and detachmentcc leiden, er hatte kein Identitatsgefuhl und konnte seinem
Leben keinen Sinn geben (Oakley 1993,48).
Der Wertrealismus entspricht unserer Erfahrung, dass die Welt
sich uns manchmal mit einer bestimmten Werthaltigkeit prasentiert,
iiber welche ein Konsens besteht. Allerdings lassen die realistischen
ID Wobei diese Kausalitat fiir die Emotionen weniger direkt als fiirdie Wahrnehmungen
ist, da die Emotionen einer kognitiven Basis bedurfen.
ALBER PHILOSOPHIE
Ana Maria Rabe / Stascha Rohrner (Hg.)
Positionen ungeklart, warum wir manchmal Werte erfassen, ohne dass
wir von einem Gefuhl betroffen sind. Es gibt keine eindeutige Korrelation zwischen Wert und Gefuhl." Dies hat Mulligan zu der alternativen These gefiihrt, wonach die Werte nicht mitteIs der Gefiihle, sondern mittels eines eigenen Aktes des ))Fiihlenscc erfasst werden
(Mulligan 2004 und 2005). Die Gefuhle waren dann mogliche Antwortreaktionen auf die gefiihIten Werte.
Ferner scheint es kontraintuitiv und sogar widerspriichlich zu
sein, die Existenz eines Reiches der Werte zu postulieren, das unabhangig von der menschlichen G e h h l ~ f a h i ~ k eist.
it
Realistische Ansatze haben auch manchmal ahnliche ProbIeme
wie die dispositionalistischen, wie etwa die Schwierigkeit, die Bedingungen f i r eine optimale W e r t ~ a h r n e h m u nzu~ bestimmen.
Sie mussen ferner die genauen Berechtigungsbedingungen fur
Gefuhle liefern. Wann erfullt ein Gefiihl die Bedingungen fur die Angemessenheit? Ein Gefuhl ist schlieglich nicht deswegen angernessen,
weil es sich auf einem bestimmten Wert richtet. Die Furcht richtet sich
auf Furchterregendes - aber es kann unangemessen sein, etwas als
furchterregend zu bewerten, und damit kann die Furcht selbst unangemessen sein.
Jede dieser verschiedenen Positionen des Sentimentalismus, welche ich als Kontrast zu Kants Rationalismus dargestellt habe, pladiert
fur eine Fundierung der Moral in den Gefiihlen. Die Basis der MoraIitat ist demnach in unserer Fahigkeit zu fuhlen zu suchen. Die drei
skizzierten Ansichten sind m. E. von Bedeutung, weil sie - wenn auch
auf unterschiedliche Weise - auf die menschliche Fahigkeit zum Fiihlen
hinweisen, ausgehend von welcher die Welt des Menschen zu einer
Welt voller Werte wird und irn Zusammenhang mit welcher Werturteile formuliert werden. Es ist diesen Positionen zufolge dem Gefiihlsleben zu verdanken, dass der Mensch ein moralisches Wesen ist.
I' Mulligan hat diesen Kritikpunkt in verschiedene Stellen entwickelt (Mulligan 2004
und 2005).
Homo naturalis
h 133
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