Bonner Dogmatische Studien Susanne Hegger sperare contra spem Die Hölle als Gnadengeschenk Gottes bei Hans Urs von Balthasar echter Susanne Hegger sperare contra spem Herausgegeben von Karl-Heinz Menke Julia Knop Magnus Lerch Bonner Dogmatische Studien Band 51 Susanne Hegger Sperare contra spem Die Hölle als Gnadengeschenk Gottes bei Hans Urs von Balthasar echter Für Jonathan, Theresa und Leonard Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2012 Echter Verlag GmbH www.echter-verlag.de Umschlaggestaltung: Peter Hellmund Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe ISBN 978-3-429-03512-9 (Print) ISBN 978-3-429-04647-7 (PDF) ISBN 978-3-429-06057-2 (ePub) 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Abschied von der Hölle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Rückbesinnung auf das Mysterium der Hölle bei Hans Urs von Balthasar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Anlage und Anliegen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 11 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss . . . . . . . . . 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Theologisches Apriori natürlicher Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Unterscheidend christliche Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.1 Seinsvergessenheit der neuzeitlichen Metaphysik . . . 2.1.2.2 Das Wunder des Seins aus meta-anthropologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.2.1 Formale Struktur des Seins . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.2.2 Materiale Struktur des Seins . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.2.3 Analogie des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Theologie als Ausdruck des Eindrucks des göttlichen Wortes . . . . 2.2.1 Wahrheit als Beziehungsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Theologische Wahrheit als Liebesgeschehen . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr . . 2.2.3 Mystik als locus theologicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Gestalt der balthasarschen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die Trilogie: Theologische Ästhetik – Theodramatik – Theologik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Theologische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Methode der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Überlegungen zum Verhältnis von Theologie und Mystik . . 2.4.2 Absage an die Behauptung der Apriorität theologischer Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 27 28 37 37 18 21 45 49 52 57 64 65 74 87 93 98 99 109 113 118 118 122 6 Inhalt 3. Die Frage der Hölle im Konnex der theologischen Summe Balthasars . . . . 3.1 Hölle im Spiegel trinitarischer Lebendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Hermeneutik des Kreuzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Das Wesen Gottes als dreieiniges Geschehen der Liebe: die „Ur-Kenose“ in Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Dreiheit der Personen: die trinitarischen Prozessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1.1 Die Zeugung des Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1.2 Die Hauchung des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Einheit des Wesens: circumincessio . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Hölle als unendliche Starre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Hölle aus anthropologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Analogia trinitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Das Sein des Menschen als imago Dei: analogia libertatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Zur Denkform Balthasars . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1.1 Endliche Freiheit als bipolarer Spannungsbogen zwischen Autonomie und Verdanktsein . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1.2 Die Gefahr sündiger Verfehlung endlicher Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2 Die Bestimmung des Menschen zur similitudo Dei: analogia personalitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Entdramatisierung der (Heils)Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Hölle als egozentrische Selbstverschließung . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Hölle im Fokus christologischer Zentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Koinzidenz von Person und Sendung Jesu Christi . . . . . . . . . 3.3.1.1 Jesu Bewusstsein ewiger Sohnschaft . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.2 Das Sein Jesu Christi als konkrete analogia entis . . . . 3.3.2 Das Kreuz im Zentrum der Sendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1 Das pro nobis als ontisch reale Stellvertretung . . . . . . 3.3.2.2 Jesu Erfahrung der Weltsünde in der Passion . . . . . . . 3.3.2.3 Der Tod Jesu als Weltgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Der descensus Jesu Christi ad inferos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.1 Descensus als Höllenerfahrung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.2 Die Befreiung endlichen Seins zur analogia Christi . . . 3.3.3.3 Neubesinnung oder Häresie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.3.1 Wider den Häresieverdacht . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.3.2 Zur Begründung der Rechtgläubigkeit . . . . . 137 140 145 154 163 164 170 181 186 190 194 205 210 213 221 233 249 262 265 269 278 291 301 306 314 329 334 338 353 359 360 366 Inhalt 3.4 Hölle im Licht des neuen Äon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Der Mensch unter dem Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1 Selbstgericht in der personalen Begegnung mit der göttlichen Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.2 Die Gerechtigkeit des Richters als Modus seiner Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Hoffnung für alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.1 Hoffnung als göttliche Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.2 Hoffnung auf allerlösende Macht der Ohnmachtsgestalt des Retters . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.3 Kritische Rückfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.3.1 Verweltlichung des christlichen Glaubens durch Heilsgewissheit? . . . . . . . . . . 3.4.2.3.2 Logische Verstrickung in eine Lehre von der Apokatastasis panton? . . . . . . . . . . . . 3.4.2.3.3 Theologische Abseitigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausblick: Pathologische Angst als Vorschattung von Hölle? . . . . . . . . . . . . 4.1 Bestandsaufnahme: Beispiele theologischer Annäherungen an die Angstthematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Rahmenbedingungen eines Dialogs zwischen Balthasar und der Daseinsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Angst aus daseinsanalytischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Grundzüge des menschlichen Wesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Pathologische Angst als Privationsphänomen . . . . . . . . . . . . . 4.4 Überlegungen zu Möglichkeiten eines diskursiven Gesprächs zwischen daseinsanalytischem Angstverständnis und Balthasars Theologie der Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 377 383 392 397 404 410 419 437 438 443 451 465 470 481 490 491 502 509 520 5. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 6. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 7. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 8. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 9 Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum im Wintersemester 2011/12 als Inaugural-Dissertation zur Erlangung des theologischen Doktorgrades angenommen. Für die Veröffentlichung wurde lediglich ein Personenregister ergänzend hinzugefügt. Eine Promotionsschrift ist immer Produkt eines jahrelangen Denk- und Arbeitsprozesses, der nicht im „Alleingang“ zu bewältigen ist, sondern stets auch durch unterschiedliche Formen der Begleitung und Unterstützung belebt, in Gang gehalten und schließlich zum Abschluss gebracht wird. Am Anfang soll darum ein Wort des Dankes an jene stehen, die auf je eigene Weise einen Beitrag zum Gelingen meines Vorhabens geleistet haben. Prof. Dr. Markus Knapp hat die Arbeit von der ersten, noch unscharfen Fragestellung bis zur letzten Zeile gleichermaßen konstruktiv wie kritisch begleitet, sowie das Erstgutachten erstellt. Ganz besonders dankbar bin ich ihm für die Selbstverständlichkeit, mit der er mir dabei ohne jeden Vorbehalt zugetraut hat, familiären Verpflichtungen, dienstlichen Aufgaben und einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt gleichermaßen gerecht werden zu können. Das war und ist mir eine große Zu-Mut-ung! Die Mühe des Zweitgutachtens hat Prof. em. Dr. Hermann Josef Pottmeyer auf sich genommen. Ihm gebührt darum mein Dank ebenso wie Prof. Dr. KarlHeinz Menke für die bereitwillige Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Bonner Dogmatische Studien“. Dem Bistum Essen sage ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuss Dank. Nicht minder wichtig als die Unterstützung, die ich von akademischer und kirchlicher Seite erfahren durfte, waren Beistand und Hilfe von Freunden und meiner Familie. Frau Jutta Doetsch danke ich für so manchen bereichernden (theologischen) Gedankenaustausch, besonders wenn er spätabends, an Wochenenden oder auf Autofahrten stattfand. Um die leidige aber unverzichtbare Aufgabe des Korrekturlesens haben sich Tim Schiller und vor allem Dr. Bettina Oeste verdient gemacht. Ihr weiß ich mich außerdem für das eine oder andere Telefonat zu Dank verpflichtet. Mein Mann Andreas Hegger hat mein Projekt in jeder Phase mit großer Gelassenheit und dankenswerter Geduld verfolgt und mir so die für jedes wissenschaftliche Forschen unabdingbare Ruhe gewährt. Mein ganz besonderer Dank aber gilt meinen Kindern Jonathan, Theresa und Leonard, denen diese Arbeit darum gewidmet ist. Immer wieder haben 10 Vorwort sie als Heranwachsende gleichsam ihre Rollen mit mir getauscht und mich ermuntert, gelobt, getröstet oder aber auch, wann immer es ihnen nötig erschien, zur Arbeit geradezu angetrieben. Ohne ihr großes Verständnis, ihre Unterstützung und Nachsicht hätte diese Studie nicht entstehen können. Voerde, im Februar 2012 Susanne Hegger 11 1. Einleitung Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Frage der Hölle im 21. Jahrhundert mag auf den ersten Blick nicht nur anachronistisch, sondern geradezu befremdlich erscheinen. Nachdem die Höllenthematik über Jahrhunderte hinweg nicht zuletzt im Interesse der Sicherung kirchlicher Macht über die Gläubigen eine zentrale Stellung in Theologie und Verkündigung eingenommen hatte, setzte in der evangelischen Theologie im 19., katholischerseits dann ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine Kehrtwende ein. „Vor dem Denkhorizont des 20. Jahrhunderts erweisen sich die überkommenen Vorstellungen von der Hölle in zunehmendem Maße als nicht mehr mitvollziehbar“1, und so wächst die Einsicht in die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Entmythologisierung der Lehre. „Die naive analogielose Anwendung unseres Zeit- und Raumdenkens, eine rein innerweltl(iche) Beurteilung des Ganzen also, die diesem Dogma eine oft kaum zu ertragende Gestalt gibt, muß … als eine Verzerrung seiner eigentl. Bedeutung erkannt werden“2, betont in diesem Sinne schon 1960 Joseph Ratzinger. Vor allem aber wächst mehr und mehr das Bewusstsein für die im engeren Sinne theo-logische Problematik der Rede von einer ewigen Bestrafung des unbekehrten Sünders. Immer mehr Gläubigen erscheint sie als letztlich unvereinbar mit dem christlichen Bild eines dem Menschen in absoluter Liebe zugewandten, zutiefst gütigen und barmherzigen Gottes. 1.1 Abschied von der Hölle? „Die großen Theologen unseres (= des 20.; S. H.) Jahrhunderts haben versucht, der Hölle die Flammen zu löschen“3. Mit einer Neubesinnung auf die in Jesus Christus offenbar gewordene absolute Liebe Gottes und seinen unbedingten Heilswillen treten sie an, die Pervertierung der christlichen Frohbotschaft zu einer Drohbotschaft zu überwinden. „So wird heute die Tendenz zu einem gegenläufigen Pendelschlag verständlich, daß man nämlich statt von Gericht, Strafe und Hölle zu sprechen, nur noch einlinig Heil, Liebe und ewiges, seli- 1 Satory: In der Hölle brennt kein Feuer, 184. 2 Ratzinger: Hölle. V. Systematik, 448. 3 Bohren: Ungepredigte Hölle, 226. 12 1.1 Abschied von der Hölle? ges Leben hervorhebt.“4 Dieser Befund gilt sowohl mit Blick auf die wissenschaftliche Theologie, wie auch hinsichtlich der Verkündigungspraxis. Elke Jüngling kommt in einer breiten Bestandsaufnahme zu dem Ergebnis, dass in manchen neueren evangelischen aber auch ökumenischen Dogmatiken das Thema der Hölle schlicht vermieden und ausgespart wird.5 Aber auch dort, wo Abhandlungen sich der Frage annehmen, „brechen (sie) mit dem traditionellen eschatologischen Diskurs“6, indem sie zu Abschwächungen und Relativierungen der traditionellen Lehre neigen, stellt Michael Ebertz fest.7 Den gleichen Richtungswechsel kann er in einer historisch-empirischen Untersuchung für Predigttexte nachweisen. Auch hier ist ‚Hölle‘ „zu einem Tabuthema geworden …, worüber man eigentlich sprechen müßte, aber nicht mehr angemessen sprechen kann“8. Diese Entwicklung entpuppt sich nun zunehmend als zweischneidiges Schwert. Einerseits kann und darf es gar keinen Zweifel daran geben, dass der vollzogene Umbruch des Denkens nicht nur geistesgeschichtlich unausweichlich, sondern auch theologisch unbedingt geboten war. Im Zentrum der christlichen Botschaft steht die Rettung und Befreiung der Menschheit durch Jesus Christus. In ihm, in seinem Leben, Wirken und Sterben, zuhöchst aber in seiner Auferweckung ist das Heil Gottes in der Welt angebrochen, der damit zugleich ihre Vollendung in der Teilhabe an der göttlichen Liebe verheißen ist. Jede Rede von der Hölle im Sinne der realen Möglichkeit endgültiger Verfehlung dieser letzten Bestimmung von Mensch und Welt ist damit grundsätzlich 4 Greshake: Himmel – Hölle – Fegefeuer, 73. Zu den Entwicklungsstufen innerhalb dieses Prozesses vgl. Vorgrimler: Geschichte der Hölle, 307–445. 5 Vgl. dazu Jüngling: Hölle, 226. Die Vf’in verweist dazu auf: Ebeling, Gerhard: Dogmatik des christlichen Glaubens, 3 Bde., Tübingen 1979; Graß, Hans: Christliche Glaubenslehre, Teil 1 u. 2, Stuttgart 1973/74; Schlink, Edmund: Ökumenische Dogmatik. Grundzüge, Göttingen 1983. 6 Ebertz: Zivilisierung Gottes, 359 (im Original kursiv). 7 Jürgen Moltmann nimmt sicherlich eine Extremposition ein, indem er versucht, die Unmöglichkeit einer Hölle theologisch zu begründen. Vgl. dazu ders.: Am Ende ist alles Gottes. 8 Ebertz: Zivilisierung Gottes, 348 f. Diesen Befund findet der Autor bei einem Blick in Katechismen und liturgische Texte bestätigt (vgl. dazu ebd., 356–359). Parallele Entwicklungen sind seiner Beobachtung nach zudem hinsichtlich der Fegefeuerlehre auszumachen (vgl. dazu ebd., 351–353). Ganz übereinstimmend mit diesen Erkenntnissen konstatiert auch Günter Röhser „den nahezu vollständigen Verlust einer Sprache für die Zukunft und das Ende der Welt, für die Zukunft und das Leben des Menschen nach dem Tode in der Theologie ebenso wie in der kirchlichen und religionsunterrichtlichen Praxis der Gegenwart“ (ders.: Hat Jesus die Hölle gepredigt?, 26). 1. Einleitung 13 auf eine Hermeneutik der Erlösung verpflichtet. Hinter diese fundamentale Einsicht darf es unter keinen Umständen ein Zurück geben. Andererseits aber wird man sagen müssen, dass nicht nur eine Reinigung des Höllentopos von verfehlten und missbräuchlichen Vorstellungen stattgefunden hat, sondern geradezu ein Umschlag in das Gegenteil vollzogen wurde, indem die Theologie dazu neigt, „sich ausschließlich des ewigen Lebens und der Liebe Gottes zu versichern.“9 In der Eschatologie hat sich so in Ablösung der Rede von der Verwerfung der Vielen ein neues Paradigma durchgesetzt, das „in zugespitzter Kurzform: ‚Wenn Tod, dann Himmel‘“10 lautet. Mit dieser Beschneidung der Lehre von den letzten Dingen um ehemalige Schlüsselbegriffe und Grundgedanken11, findet aber nicht nur eine Korrektur der kirchlich-theologischen Tradition, sondern auch eine deutliche Veränderung der christlichen Botschaft statt. Wenngleich Jesus auch sicherlich kein Höllenprediger war, so spielt die Warnung vor der Gefahr, das zugesagte Heil endgültig zu verfehlen doch zweifellos eine unverkennbare Rolle in seiner Verkündigung.12 Wird diese Dimension in der Gegenwartsdiskussion nun ausgeblendet, so hat dies erhebliche Konsequenzen nicht nur für die Eschatologie, sondern für die Theologie insgesamt. Indem ein gewisser Heilsoptimismus, wenn nicht gar eine Heilsgewissheit um sich greift, geschieht nämlich eine regelrechte Zivilisierung des biblischen Gottes13 zu einem partnerschaftlichen Kumpanen.14 „Alles, was den Gott des Evangeliums unbequem, ja ärgerlich machte, wurde strukturell eliminiert.“15 Zur neuen Leitformel und Basisorientierung wurde der ‚liebe Gott‘16, ein Gott mithin, „über dessen Haltung man sich getrost hinwegzuset- 19 Jüngling: Hölle, 435. 10 Ebertz: Zivilisierung Gottes, 345. 11 „Viele Theologen unserer Zeit versuchen Schwierigkeiten, die sich existentiell, anthro- 12 13 14 15 16 pologisch und theologisch aus der Annahme unrettbarer Verlorenheit ergeben, einer Lösung zuzuführen, indem sie den … Begriff der Hölle – zugegebenermaßen oder stillschweigend – aufgeben bzw. so minimalisierend auslegen, dass das von der kirchlichen Lehrverkündigung Gemeinte darin nicht mehr wiederzuerkennen ist“ (Schulze: Ist die Hölle menschenmöglich?, 50). Ebertz geht darum sogar soweit, von einem „Kollaps des traditionellen eschatologischen Codes“ zu sprechen (ders.: Zivilisierung Gottes, 338). Vgl. dazu Röhser: Hat Jesus die Hölle gepredigt?, bes. 28–30; vgl. auch unten, 119–121. Ich schließe mich damit der Diagnose von Michael Ebertz an, die zugleich als Titel seiner Arbeit firmiert. Vgl. Jüngling: Hölle, 447. Fuchs: Gerichtsverlust, 161. Vgl. Ebertz: Zivilierung Gottes, 343. 14 1.1 Abschied von der Hölle? zen vermag“17, weil nichts Bedrohliches von ihm ausgeht. „Die inflationäre Rhetorik vom lieben Gott aber ist nicht nur langweilig und undramatisch, sie betrügt auch um den Ernst, der die Liebe in einer lieblosen Welt ans Kreuz gebracht hat.“18 Das biblische Gotteszeugnis wird dergestalt „unter dem Apriori einer ‚Hermeneutik der Harmlosigkeit‘ gedeutet“19. Mit der Reduzierung der zwischengottmenschlichenen Beziehung auf den Zuspruch göttlicher Liebe, wird der Anspruchcharakter der christlichen Botschaft eliminiert.20 Aus dieser Eindimensionalität ergibt sich aber nicht nur eine neue, gleichsam gegenläufige Verzerrung des Gottesbildes. Auch das Bild des Menschen erfährt deutliche Veränderungen in seiner Konturierung, wobei allerdings logisch zwei unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden können. Entweder dem menschlichen Dasein wird ein letzter Sinn und Ernst abgesprochen, weil und indem ohne letztgültige Ausrichtung und Weisung alles Handeln wie auch jede Entscheidung willkürlich und beliebig erscheinen, oder aber der Mensch muss antreten, sich und der Welt selber ein Ziel, aber auch Maß und Norm zu verleihen. Mit dem Verzicht auf den Höllentopos nämlich geht notwendig der Verlust des Gerichtsgedankens einher. Ist die Erwartung eines letzten göttlichen Aktes, mit dem jeder Mensch, sei er Opfer oder Täter, schließlich in sein Recht gesetzt wird, aber erst einmal aufgegeben, so „fällt die ganze Last der Gerechtigkeitssicherung auf menschliche Instanzen, auf den Menschen überhaupt zurück.“21 Dieser Aufgabe aber kann er als endliches Wesen schlechterdings nicht gerecht werden. Scheinbar aus der Fremdbestimmung eines allgegenwärtigen, disziplinierenden Gottes befreit, sieht er sich vor die Begrenztheit und Unzulänglichkeit seines eigenen Daseins gestellt. In der Auseinandersetzung nicht zuletzt mit dieser Erfahrung kommt nun unversehens die Rede von der Hölle in veränderter Gestalt vielfach wieder ins Spiel. „Seit dem 19. Jahrhundert sind es paradoxerweise … die atheistischen Dichter und Denker, die sich darum bemühen, die Hölle neu zu definieren.“22 In Literatur, Kunst und Philosophie findet zunehmend „das Bewußtsein von der Existenz von Höllen im Mikrokoskosmos des menschlichen Ich und im Makrokosmos der Gesellschaften und Schöpfung im Großen wie der mensch- 17 Jüngling: Hölle, 447. 18 Tück: ‚Glaubhaft ist nur Liebe‘, 147. „Eine Infantilisierung des Glaubens, die bereits Kin19 20 21 22 der als unterkomplex durchschauen, ist nicht selten die Folge“ (ebd). Miggelbrink: Zorn Gottes, 5 (Kursiven von mir). Vgl. Jüngling: Hölle, 447. Fuchs: Gerichtsverlust, 163. Minois: Hölle, 135. 1. Einleitung 15 lichen Beziehungen im Kleinen“23 seinen Niederschlag.24 „Der makrokosmische Bereich umfasst alles Entsetzliche, das Menschen einander antun können.“25 Es sind vor allem die Grauen der Weltkriege, aber etwa auch die systematische Vergewaltigung von Frauen zu kriegerischen Zwecken im ehemaligen Jugoslawien oder die Zustände in Flüchtlingslagern, die immer wieder mit dem Höllentopos in Zusammenhang gebracht wurden und werden.26 Als Höllenerfahrungen auf mikrokosmischer Ebene werden vielfach innerpsychische Deformationen und Zerrissenheiten interpretiert. Auf die Herausforderung durch diese Entwicklung hat die Theologie ihrerseits durchaus reagiert. In zunehmendem Maße sind in ihrem Raum analoge Ansätze erkennbar, Erfahrungen von Not und Grauen als Momente des Unheil-Seins auszuweisen und damit in den Horizont der christlichen Heilsfrage zu rücken. So betrachtet etwa Joachim Gnilka die Hölle durchaus als ein irdisches Phänomen. „Die Hölle ist die Verweigerung und Umkehrung der Botschaft des Heils, der Liebe, des Gnadenangebotes Gottes. Die Realität des Bösen wirkt um uns und unter uns.“27 Mit diesem Verständnis liegt er ganz auf einer Linie mit Karl Rahner, dem die biblischen Aussagen über die Hölle ebenfalls als Enthüllung der Situation, in der der Mensch sich jetzt befindet, gelten.28 Wilhelm Maas geht sogar so weit, ‚Hölle‘ als „eine exakte ‚Orts‘-Beschreibung menschlicher Existenz heute“29 zu bezeichnen. Aus einer kultur- und gesell- 23 Vorgrimler: Geschichte der Hölle, 370. 24 Eingang in die Malerei findet die „Einsicht in die alltägliche Realität der Hölle“ (Vorgri- 25 26 27 28 29 mer: Geschichte der Hölle, 367) bereits zu Beginn der Neuzeit im Werk von Hieronymus Bosch, der vor allem die psychischen Abgründe des Menschen zur Darstellung bringt. In seinem Gefolge zu nennen sind insbesondere Pieter Bruegel, Francisco Goya, Edvard Munch, Alfred Kubin, Wassily Kandinsky und Max Ernst (vgl. dazu ebd., 367 f). Mit den Schrecken der Kriege des 20. Jahrhunderts wird das Höllenmotiv zunehmend zur künstlerischen Ausdeutung von Erfahrungen auf makrokosmischer Ebene herangezogen. Exemplarisch sei dazu an die Kriegsbilder von Max Beckmann und Pablo Picasso erinnert. Die Liste der Auseinandersetzungen mit dem Gedanken der Hölle in der neueren Literatur ist schier endlos. Sie reicht von Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ über Camus und Satre, Lewis und Beckett, Thomas Mann und Lasker-Schüler bis zu Dorst und Muschg. Einen instruktiven ersten Überblick gibt auch dazu Vorgrimler: Geschichte der Hölle, 370–385; vgl. auch Maas: Hölle – Abgrund der Existenz?; ders.: Gott und die Hölle, 288– 312. Vorgrimler: Wiederkehr der Hölle?, 158. „Wenn die Literatur von den Höllen von Verdun, Stalingrad, Auschwitz sprach, dann handelte es sich nicht nur um Metaphern, oder genauer: dann tritt der harte Wahrheitskern jeder Metapher an den Tag“ (Vorgrimler: Wiederkehr der Hölle?, 158). Gnilka: Biblische Botschaft von Himmel und Hölle, 28. Vgl. Rahner: Hölle, 736. Maas: Geheimnis des Karsamstags, 128. 16 1.1 Abschied von der Hölle? schaftskritischen Perspektive erscheint ihm die Epoche der Moderne insgesamt zutiefst gekennzeichnet durch „höllische (…) Kommunikationslosigkeit und Ich-Einsamkeit“30. Papst Benedikt XVI. denkt demgegenüber mehr auf ontischer Ebene, wenn er die Hölle als Abgrund der menschlichen Natur bezeichnet. „Mehr denn je wissen wir heute, dass eines jeden Existenz diese Tiefe berührt“31, so auch seine Einschätzung. Die Vorstellung diesseitiger Höllen fristet nun aber anders als man bis hierher meinen könnte, keineswegs ein „Nischendasein“ in den Köpfen weniger Intellektueller. Dem Abschied vom traditionellen Bild der Hölle steht im Gegenteil auch im allgemeinen, öffentlichen Bewusstsein eine große Präsenz des Topos gegenüber. In einer profunden Untersuchung von Zeitungsschlagzeilen, Fernsehfilmen und Meinungsumfragen zur Höllenthematik gelangt Elke Jüngling zu der Erkenntnis, dass am Ende des 20. Jahrhunderts der Begriff ‚Hölle‘ wohl breitere Verwendung findet, als jemals zuvor in der Geschichte.32 Auffallend dabei ist allerdings ein tiefgreifender Bedeutungswandel. Indem der Höllenbegriff gleichsam seiner eschatologischen Dimension entkleidet wird, geschieht eine entscheidende Verlagerung der Schuldfrage. Hölle ist nicht mehr Folge von Sünde vor Gott, ja sie liegt gar nicht mehr primär im eigenen Verhalten eines Menschen begründet. Der Begriff wird vielmehr zumeist „als Synonym für [unschuldiges] Leiden verwendet.“33 Der bisherige Befund zeigt nun, wie ich meine, ein Doppeltes: Zunächst einmal gibt er allen Anlass zu der Hoffnung, dass das ehemalige Verständnis der Hölle als jenseitigem Strafort tatsächlich überwunden ist. Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist endgültig nicht mehr anfällig für Versuche einer Disziplinierung und Reglementierung seines Lebensvollzugs durch Androhungen ewiger Verdammnis. Dann aber ist auch deutlich geworden, und dies mag vielleicht überraschen, dass eine christlich verantwortete Rede von der Hölle 30 Maas: Geheimnis des Karsamstags, 128. Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung gelangt auch Eugen Biser. Ihm gilt die Neuzeit als „Zeitalter des Perfektionismus. Der perfektionierten Daseinsstruktur entspricht aber innerlich der homo deformis“ (ders.: Abgestiegen zu der Hölle, 286; Kursiven im Original wurden nicht übernommen), so dessen Befund. 31 Ratzinger: Einführung in das Christentum, 294. 32 Vgl. dazu Jüngling: Hölle, 21–48. 33 Jüngling: Hölle, 439. Damit schließt sich der Kreis. „Die Hölle, das sind die andern“; zu dieser Einsicht gelangt auch Satre (ders.: Geschlossene Gesellschaft, 59). Auf das mit diesem Verständnis verbundene Problem eines allgemein zunehmenden Mangels an Schuldbewusstsein, um nicht zu sagen einer sich ausbreitenden Unschuldsmentalität kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Vgl. dazu: Jüngling: Hölle, 437; Fuchs: Gerichtsverlust, 162. 1. Einleitung 17 heute vielleicht weniger verzichtbar ist denn je. Der Mensch, jeder Einzelne, in seinem ganz persönlichen Umfeld, wie auch die Weltbevölkerung insgesamt, ist in unserem Zeitalter immer rasanterer Entwicklungen auf allen Gebieten der Politik, Forschung und Lebensführung immer schneller vor immer größere Herausforderungen, Aufgaben und Entscheidungen gestellt, die zu bewältigen ihn zunehmend überfordert. In einer stetig steigenden Zahl von Biographien stellen sich darum Erfahrungen tiefen Unheil-Seins ein. Diese menschliche Not gilt es theologisch unbedingt einzuholen. Wenn nämlich „diesseitige Erfahrungen von Hölle in Leid und Qual nicht mehr mit Gott in Verbindung gesetzt werden, kann die christliche Botschaft die Menschen als Trost und Kraft nicht mehr erreichen“34. Der zweifellos ganz und gar notwendige Paradigmenwechsel von der Verbreitung einer Drohbotschaft zur Verkündigung der Frohen Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes in Jesus Christus hat es mit sich gebracht, dass gemeinhin Erfahrungen gelingenden Menschseins theologisch als Verheißung und Angeld endgültigen Heils interpretiert werden. Was aber, wenn solche Momente des Glücks und Heils einem Menschen, aus welchen Gründen auch immer, nicht zugänglich sind? Wenn er, sei es zu Recht oder Unrecht, sein Leben von Unglück beherrscht sieht? Die Botschaft von der göttlichen Heilszusage findet dann keine Anknüpfungsmöglichkeiten und muss ins Leere laufen; „die Hölle auf Erden bleibt gottlos.“35 Besonders an jene Menschen aber, die der Heilung bedürfen, richtet sich die Selbstzusage Gottes. Gefragt sind darum „positive Entwürfe …, die den (Höllen)Topos in eine Gotteslehre einbringen“36. Die bereits exemplarisch angeführten theologischen Versuche, Hölle als diesseitige Unheilserfahrungen in unsere Zeit hinein thematisch werden zu lassen, leisten dies indes nicht, sondern verbleiben weitestgehend auf der Ebene reiner Setzung. Der Zusammenhang zwischen dem Theolugomenon und existentiellen Erfahrungen wird zwar behauptet, nicht aber systematisch hergeleitet. Geeignete Ansatzpunkte für eine theologische Neuentdeckung und zeitgemäße Fassung der Höllenthematik bieten sich aber, so die Grundthese dieser Arbeit, im theologischen Werk Hans Urs von Balthasars. 34 Jüngling: Hölle, 449. 35 Jüngling: Hölle, 449. 36 Jüngling: Hölle, 449. 18 1.2 Rückbesinnung auf das Mysterium der Hölle bei Hans Urs von Balthasar 1.2 Rückbesinnung auf das Mysterium der Hölle bei Hans Urs von Balthasar Der schweizer Theologe ist der wohl letzte Denker, der sich in ernst zu nehmender Weise mit der Frage der Hölle befasst hat. Aber nicht nur deshalb bietet es sich an, seine Überlegungen zum Gegenstand der folgenden Untersuchung zu machen. „Balthasar ist vielleicht der gebildetste Mann seiner Zeit.“37 Neben einem schier unerschöpflichen Fundus an Wissen aus nahezu allen Bereichen der Literatur, Kunst, Musik und Philosophie verfügte der promovierte Germanist vor allem auch über ganz außergewöhnliche Kenntnisse der Theologiegeschichte, insbesondere aber der Patristik. Seine theologischen Überlegungen durchmessen daher einen ungewöhnlich weit aufgespannten geistesgeschichtlichen Horizont. Bei aller Weite seines Denkens weiß Balthasar sich aber immer in unverbrüchlicher Treue auf das Wort der Schrift als norma normans allen Theologisierens verpflichtet. Von dorther fühlt er sich nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, dort, wo es ihm nötig erscheint, Irrtümer und Fehler in der theologischen Tradition als solche aufzudecken und Korrekturen einzufordern. „Entschieden rückte er die Überzeugung von der absoluten Barmherzigkeit Gottes in das Zentrum seiner Theologie und überdachte von hieraus nochmals die überkommenen Traditionen. Dies gilt insbesondere für die Eschatologie, in der die Linien seiner gesamten Theologie sich verdichten.“38 Theologie als Reflexion auf die in Jesus Christus ergangene Selbstoffenbarung Gottes muss, so Balthasar, Spiegel ihres Gegenstandes sein. Im Zentrum der Botschaft Jesu aber steht der unbedingte Heilswille Gottes. Im Christus­ ereignis ist das Reich Gottes bereits in dieser Welt angebrochen und seine endgültige Durchsetzung zum Heil aller Menschen zugleich verheißen. Schlechthinniger Ort der Heilswahrheit ist darum nach balthasarschem Verständnis die Eschatologie, denn erst eingedenk seiner Verendgültigung ist das in der Person Jesu Christi ergehende Beziehungsangebot in seiner ganzen Tiefe zu ermessen. „Gott ist das ‚Letzte Ding‘ des Geschöpfs. Er ist als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Fegefeuer.“39 Rede von Gott ist demnach nur dann dem christlichen Gottesbild angemessen, wenn sie zuinnerst eschatologisch dimensioniert ist. 37 Lubac: Zeuge Christi, 392. 38 Striet: Wahrnehmung der Offenbarungsgestalt, 57. 39 VC, 282; vgl. auch Pa, 69; Balthasar: Eschatologie, 133. 1. Einleitung 19 Von dieser Grundüberzeugung her verfolgt Balthasar, darin bewusst den Spuren Karl Barths40 und anderer protestantischer Theologen seiner Zeit folgend, das Programm einer umfassenden Eschatologisierung der Theologie in allen ihren Lehrstücken.41 „Es ist jedoch begreiflich, daß dieses Aufpflügen der Theologie von der Eschatologie her eine beruhigte systematische Darstellung nicht gefördert hat; sind doch die Letzten Dinge viel eher der Ort, wo – spätestens! – die Aporetik der Theologie sichtbar wird. Es gibt kein ‚System‘ der Letzten Dinge“42. Balthasars Theologie sprengt darum jede klassische Systematik; vor allem sprengt sie die Grenzen aller Traktate auf. Dies heißt nun aber nicht, sie verliefe sich gleichsam in einer Aufaddierung von Disparatem. Vielmehr ist sein Werk in allen seinen Teilen christozentrisch ausgerichtet und strukturiert und hat in diesem Sinne durchaus eine innere Einheit. Die eigentliche Originalität des balthasarschen Denkens liegt nun aber darin, dass er den Einheitspunkt der Theologie noch einmal auf eine zentrierende Mitte zugespitzt sieht. Hans Urs von Balthasar zufolge ergeht die Selbst­ offenbarung Gottes zuhöchst im Karsamstagsereignis. Einzig vom Höllenabstieg Jesu Christi her ist darum seiner Überzeugung nach die christliche Heilsbotschaft angemessen zu erschließen und in ihrer ganzen Tiefe auszuloten. Damit ist klar, dass die balthasarsche Rede von der Hölle jeder Drohgebärde von Grund auf zuwider läuft. Sie ist vielmehr fundamental darauf ausgerichtet, eine universale Hoffnungsperspektive zu eröffnen und als begründet auszuweisen. Der Grundgedanke dabei ist, dass der Sohn Gottes das göttliche Heil bis in die tiefsten Abgründe des Menschen und seiner Welt hineinträgt und dergestalt Hoffnung auch und gerade dort stiftet, wo völlige Hoffnungslosigkeit herrscht. Von diesem Ereignis her entwickelt Balthasar also seine Theologie insgesamt, was in der Konsequenz zugleich bedeutet, dass alle seine theologischen Aussagen, sei es explizit oder auch implizit, die Signatur des Descensus Christi ad inferos tragen. 40 Die für seine Zeit geradezu revolutionäre Position Karl Barths lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun“ (ders.: Der Römerbrief. Zweite Fassung, München 1922, 298; zitiert nach: Jüngel: Barth, 258). 41 Vgl. dazu VC, 276–300. Jan-Heiner Tück bezeichnet Balthasars Schrift „Umrisse der Eschatologie“ m. E. völlig zu Recht als „programmatischen Aufsatz“ (Tück: Nachbetrachtung, 120). „Befasst man sich eingehender mit dem Werk Balthasars, dann kann man leicht feststellen, daß die Theologie Balthasars eschatologisch geprägt ist, denn Balthasar entfaltet seine Theologie im Horizont der Frage nach der Vollendung bzw. der Eschatologie“ (Kim: Christliche Denkform 28). 42 VC, 276. Diese Überlegungen Balthasars beziehen sich auf die Theologie Karl Barths. Sie haben aber nicht weniger Geltung für sein eigenes Werk. 20 1.2 Rückbesinnung auf das Mysterium der Hölle bei Hans Urs von Balthasar Es kann nicht verwundern, wenn eine solche Grundkonzeption in starkem Maße polarisierend wirkt. Balthasar hat ebenso glühende Bewunderer,43 wie auch vehemente Gegner. Gegen seine Verächter ist der Theologe vielfach „in Schutz zu nehmen – nicht, um eine sachliche Debatte zu blockieren, sondern um – gelinde gesagt – unterkomplexe Zuschreibungen abzuwehren.“44 Im Fokus polemischer Kritik stand zunächst einmal, wie nicht anders zu erwarten, die Frage der Hoffnung auf das Heil aller. Ihren Höhepunkt erreichten die diesbezüglichen Anfeindungen Balthasars durch Vertreter kirchlich rechtskonservativer Kreise in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre.45 Nach einer längeren Phase, in der seine Theologie der Hölle eher verhalten diskutiert wurde, löste im Jahr 2007 dann die amerikanische Theologin Alyssa L. Pittstick mit ihrer Dissertation,46 in der sie Balthasars Theologie des Karsamstags unter Häresieverdacht stellt, im englischsprachigen Raum neue und z. T. abermals heftige Auseinandersetzungen aus.47 Eine eingehende, systematische Darstellung und Untersuchung des balthasarschen Entwurfs zu einer Theologie der Hölle jedoch bleiben bei allen KritikerInnen gleichermaßen zu vermissen. Nun sind in jüngerer Zeit bemerkenswerter Weise zwei große Arbeiten zur Höllenthematik erschienen, aber auch diese handeln beide nicht von Balthasar. In ihrer schon mehrfach zitierten Dissertation zeigt Elke Jüngling u. a. in einer systematisch-theologischen Bestandsaufnahme,48 dass es sich bei der Hölle keineswegs um einen veralteten Glaubensartikel handelt. Hans Urs von Balthasar gehört aber leider nicht zu den 20 von ihr exemplarisch ausge­ wählten und besprochenen Theologen. Eine eher fundamentaltheologische Perspektive nimmt Markus Schulze ein und fragt: „Ist die Hölle menschen­ möglich?“49 Seine Arbeit dazu will er ausdrücklich verstanden wissen „als eine historisch-systematische Hinführung zu Balthasar und der Auseinandersetzung um sein Werk“50. Er denkt also „bis an Balthasar heran, nicht wirklich 43 „Balthasar wird stets Bewunderer finden, jedoch schwerlich Schule machen. Sein an- 44 45 46 47 48 49 50 gelegentliches Bemühen um eine einheitliche Gesamtschau eignet sich nicht für Schematisierungen und Unterscheidungen, die in den theologischen Traktaten gang und gäbe sind“ (Jöhri: Hans Urs von Balthasar, 436). Tück: Hans Urs von Balthasar, 95. Vgl. dazu bes. Jg. 15 (1984) der katholischen Monatsschrift „Der Fels“, sowie die Ausgaben Oktober 1986 bis April 1987 der Zeitschrift „Theologisches“. Vgl. auch unten Kapitel 3.4.2.3.1. Pitstick: Light in Darkness. Vgl. dazu unten Kapitel 3.3.3.3. Vgl. dazu Jüngling: Hölle, 59–227. Zitiert ist damit der Titel der Schrift Markus Schulzes. Schulze: Ist die Hölle menschenmöglich?, 9. 1. Einleitung 21 in seine Eschatologie hinein.“51 Diese angemessen zur Sprache zu bringen, formuliert er allerdings explizit als dringende Forschungsaufgabe.52 Der Stand innerhalb der Balthasar-Rezeption bleibt also auch durch erste Ansätze zu einer Wiederentdeckung der Höllenfrage unverändert. Zur Diskussion steht immer wieder das gedankliche Endergebnis der balthasarschen Theologie der Hölle, ohne dass aber die Wege seiner Herleitung angemessen erschlossen und erhellt wären. Die Tragfähigkeit jeder Kritik, sei sie nun negativ oder auch positiv53, kann damit nur eine deutlich begrenzte sein. Damit aber wird letztlich die Chance vergeben, das nicht nur so ganz originäre, sondern zweifellos auch sehr reiche Denken Balthasars auf heutige Frage- und Problemstellungen hin auszuwerten und fruchtbar zu machen. Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Beitrag zur Bearbeitung dieses Desiderats. 1.3 Anlage und Anliegen der Untersuchung Weil die Eschatologie bei Balthasar kein Traktat neben anderen ist und weil vor allem der Descensus für ihn kein Lehrstück unter vielen anderen darstellt, sondern vielmehr „zu einem Strukturelement … (seines; S. H.) ganzen Lehrgebäudes“54 avanciert, besteht die mit dem Vorhaben einer systematischen Erschließung der balthasarschen Rede von der Hölle gegebene Aufgabe notwendig darin, die Frage nach der Möglichkeit endgültiger Verlorenheit des Sünders vom Gesamtzusammenhang der theologischen Konzeption her zu erschließen. Näherhin bedeutet dies, die Höllenthematik unter trinitätstheologischem, anthropologischem, christologisch-soteriologischem und schlussendlich eschatologischem Fokus je neu zu verfolgen, wobei es gleichzeitig darum gehen muss, den inneren Zusammenhang der unterschiedlichen Perspektiven erkennbar zu machen, um so Balthasars Theologie der Hölle immer deutlicher in ihrer einheitlich-ganzheitlichen Gestalt zu konturieren. Angesichts dieses Vorhabens ist nun aber auf die spezifischen Probleme jeder Balthasar-Rezeption hinzuweisen.55 „Balthasars Theologie weist den, der 51 Schulze: Ist die Hölle menschenmöglich?, 9 (Kursiven im Original wurden nicht über- nommen). 52 Vgl. Schulze: Ist die Hölle menschenmöglich?, 417 f. 53 Balthasar ist ohne Zweifel auch vor vielen seiner LiebhaberInnen zu verteidigen, „weil sie nicht selten die Brisanz seiner Theologie unterschätzen“ (Tück: Hans Urs von Balthasar, 95). 54 Lochbrunner: Ineinander von Schau und Theologie, 188. 55 Vgl. dazu Löser: Unangefochtene Kirchlichkeit, 478 f. 22 1.3 Anlage und Anliegen der Untersuchung sich um sie bemüht, auf einen steilen Weg.“56 Im Speziellen gilt das für seine Eschatologie. „Diese ist nicht ein Berg, sie ist ein Gebirge.“57 Zunächst einmal stellt die Mannigfaltigkeit seiner Thematisierungen eine besondere Herausforderung dar. Es wäre wohl nicht nur ein kaum zu erfüllender Anspruch, wollte man versuchen, alle bei Balthasar selbst explizit oder auch implizit mit der Höllenthematik verknüpften Aspekte in die Darstellung und Reflexion einzubeziehen. Es hieße vor allem unweigerlich auch, sich in einem letztlich nicht mehr durchschaubaren Netzwerk aus Ansätzen und Ideen zu verstricken. Eine Konzentration auf die zentralen Dreh- und Angelpunkte sowie ihre Gelenk- und Verbindungsachsen ist darum unerlässlich, auch wenn dies in der Konsequenz bedeutet, Probleme unerkannt und Fragen offen lassen zu müssen. Analoges gilt im Hinblick auf die zu berücksichtigende Literatur. Die Fülle der balthasarschen Schriften ist kaum zu überschauen.58 Neben mehr als 100 Büchern hat der Theologe über 500 Aufsätze verfasst. Hinzu kommt inzwischen eine regelrechte Flut an Sekundärliteratur.59 Die Rezeption der balthasarschen Werke lief zunächst recht schleppend an. Bis zur Mitte der 1970er Jahre gab es nach eigenen Aussagen Balthasars gerade einmal ca. 20 Dissertationen60, die sich mit seinem Denken befassten. Inzwischen liegen um die 300 Monographien vor.61 Es versteht sich von selbst, dass es unmöglich ist, alle 56 Löser: Sein – ausgelegt als Liebe, 424. 57 Schulze: Ist die Hölle menschenmöglich?, 9; vgl. auch ebd., 417. 58 Vgl. dazu: Balthasar, Hans Urs von: Bibliographie 1925–2005. Darüber hinaus war Balthasar als Übersetzter klassischer französischer Werke tätig und betreute als Herausgeber und Verleger etliche Schriftreihen. Vgl. dazu auch Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar als Autor, Herausgeber und Verleger. 59 Die Hans Urs von Balthasar-Stiftung stellt unter http://homepage.bluewin.ch/huvbslit. ein Verzeichnis aller Sekundärschriften zu Balthasar zu Verfügung, das zweimal im Jahr aktualisiert wird. 60 Vgl. Albus: Geist und Feuer, 73. Seine Bücher seien „keine zünftige Theologie, darum für Dissertationen auch nicht sonderlich geeignet“ (ebd.), so Balthasars eigene Erklärung dazu. 61 Manfred Lochbrunner zählte im Jahr 2004 bereits 279 Titel (vgl. ders.: Summe der ­Theologie, 355). Zwischenzeitlich ist noch eine Reihe weiterer Veröffentlichungen hinzugekommen (zum vollständigen Nachweis sei noch einmal auf das Verzeichnis der Balthasar-Stiftung verwiesen; vgl. Anm. 59). Lochbrunner unterscheidet zwei Rezeptionsperioden. Die erste Phase erstreckt sich demnach vom allmählichen Einsetzten der Rezeption um das Jahr 1970 bis zum Ende der 1980er Jahre. Mit der Vollendung des 15-bändigen Hauptwerkes Balthasars, der sog. Trilogie, und dem plötzlichen Tod des Theologen wenig später (1988), setzt nach der Beobachtung Lochbrunners eine neue Periode deutlich vermehrter Auseinandersetzung mit der balthasarschen Theologie ein. Während er die zwischen 1970 und 1990 entstandenen Schriften zu Balthasar noch vollständig auflisten kann, ist ihm dies für die folgende Zeit angesichts der großen An- 1. Einleitung 23 Werke auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn zu studieren und in der Auseinandersetzung zu behandeln. Es wird mit den folgenden Ausführungen also ausdrücklich kein Anspruch auf Vollständigkeit der Sichtung erhoben. Vielmehr erlaube ich mir, ein ebenso weises wie pragmatisches Prinzip Balthasars zur Anwendung zu bringen: „Nur wer viel übersehen kann, hat Übersicht.“62 Was die Werke Balthasars anbelangt, so treffe ich meine Auswahl im Wesentlichen aus den nach 1947/48 entstandenen Schriften. In den Jahren zuvor entstanden Werke „mit einer vorwiegend philosophischen Perspektive“63. Ab diesem Zeitpunkt dann widmet er sich im engeren Sinne theologischen Fragestellungen. Insgesamt wird man „von einer auffälligen Kontinuität in den eschatologischen Arbeiten Balthasars sprechen dürfen“64. Dies gilt insbesondere auch „im Blick auf den christlichen Heilsuniversalismus, der in einer Theologie des Kreuzes und des Descensus Christi grundgelegt“65 ist. Es wird darum im Verlauf der Untersuchung durchaus möglich sein, die berücksichtigten theologischen Werke Balthasars alle untereinander ins Gespräch zu bringen, ohne seinem Denken damit Gewalt anzutun. Vor allem aber steht nicht zu befürchten, dass mit einem nicht einbezogenen Text ein wesentlicher Aspekt verloren geht oder etwa eine fundamentale Neubesinnung übergangen wird. Deutlich größere Schwierigkeiten bereitet die Auswahl der Sekundärliteratur. Neben deutschsprachigen Schriften konzentriere ich mich besonders auf Texte aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum, weil gerade hier in den letzten beiden Jahrzehnten ein deutlich wachsendes Interesse an der Theologie Hans Urs von Balthasars festzustellen ist.66 Außerdem ist es mir wichtig, 62 63 64 65 66 zahl nicht mehr möglich. Nach einer Sichtung der deutschsprachigen Sekundärliteratur kommt Lochbrunner zu dem Ergebnis, auf weitere Gesamtdarstellungen des Lebens und Werkes des schweizer Theologen könne zukünftig verzichtet werden. „Es ist die Zeit gekommen, da die Forschung auf umgrenzenden Feldern und in Detailfragen vorangetrieben werden muß“ (ebd., 366), lautet sein Befund. Insbesondere der diffizile Komplex der Karsamstagstheologie fordert seiner Einschätzung nach zu weiteren Anstrengungen in der Soteriologie heraus (vgl. ebd.). Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgabe. W, 45. Lochbrunner: Analogia Caritatis, 82. Tück: Nachbetrachtungen, 130. Tück: Nachbetrachtungen, 130. „Hans Urs von Balthasar is a theologian whose time appears to have come. Across a broad theological spectrum there is a growing interest in his thought, an interest which crosses older conservative/liberal, ecclesiopolitical boundaries in a surprising manner. In the English-speaking world this fascination has grown markedly in the past decade“ (Gardner u. a.: Preface, VII). 24 1.3 Anlage und Anliegen der Untersuchung neben einigen Standardwerken vor allem auch neuere Erscheinungen zu berücksichtigen, weil ich mir erhoffe – zu Recht, wie sich immer wieder herausstellen wird –, hier Fragen und Antwortperspektiven zu finden, die meinen verwandt sind. Leitender Impetus der folgenden Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt Hans Urs von Balthasars ist es, darzulegen, dass und in welchem Sinne die Rede von der Hölle, zu der er ausgehend von der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus findet, keinerlei Spuren einer Drohbotschaft trägt, sondern im Gegenteil in besonderer Weise geeignet ist, Größe und Wunder des göttlichen Heilsangebots auch und gerade in menschlichen Erfahrungen abgründigen Unheils zur Sprache zu bringen und dergestalt eine Hoffnungsperspektive zu eröffnen. Eine mögliche Vertiefung und Konkretisierung dieses Gedankens soll am Ende der Arbeit in einem kurzen Ausblick exemplarisch zumindest angedeutet werden. Es war eingangs bereits davon die Rede, dass im außer- wie auch im innertheologischen Raum gegenwärtig immer wieder von „individuellen und kollektiven Höllen des 20. Jahrhunderts“67 gesprochen wird. Eugen Biser geht sogar so weit, zu sagen, Hölle sei „das Stichwort der herrschenden Daseinsinterpretation“68. Die Hölle erscheint damit nicht länger als ausstehende, jenseitige Gefahr, sondern wird zu einem gegenwärtigen, ja sogar alltäglichen Phänomen erklärt.69 Sie „existiert schon allerorten; man muss sie nicht erst theologisch erfinden.“70 Dabei wird der Topos, auch das wurde schon erwähnt, immer wieder, nicht zuletzt von theologischer Seite, vielfach in Zusammenhang mit psychischen Leiden gebracht: „die Hölle als Inbegriff seelischer Erkrankungen, von Neurosen und Psychosen“71. Bisher verbleibt diese Erklärung allerdings weitgehend auf der Ebene der Behauptung; eine systematisch-theologische Durchdringung des Gedankens ist noch nicht geleistet. In einem Ausblick am Ende dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, anzudeuten, wie die Verknüpfung des Höllentopos mit Zuständen seelischen Leidens von Balthasar her möglicherweise als theologisch gerechtfertigt ausgewiesen und dergestalt erhärtet werden kann. Die These dabei lautet, dass pathologische Formen der Angst als Ursprung und Grund neurotischer und psychotischer Leiden als Vorschattungen von Hölle im Sinne Balthasars begriffen werden können. 67 68 69 70 71 Krenski: Spekulativer Karsamstag, 149. Biser: Abgestiegen zu der Hölle, 289. Vgl. Miggelbrink: Was kommt danach?, 106. Röhser: Hat Jesus die Hölle gepredigt?, 32. Vorgrimler: Wiederkehr der Hölle?, 158 f. 1. Einleitung 25 Nun kann und darf die Theologie sich freilich keinerlei psychologischen und psychiatrischen Kompetenzen anmaßen. Sie ist darum in der Entwicklung einer Theologie pathologischer Angst notwendig auf das interdisziplinäre Gespräch mit den entsprechenden Wissenschaften anwiesen. Ein solcher Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften bedarf aber ebenso notwendig der Vermittlung durch eine Philosophie, die gleichsam eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Perspektiven auf die Wirklichkeit schlägt. Nun gibt es mit der Daseinsanalyse eine psychopathologische und psychotherapeutische Richtung, die sich ausdrücklich ein philosophisches Fundament gibt. Dies ist umso interessanter, als sie sich auf die Philosophie Martin Heideggers gründet, eine Richtung mithin, die durchaus auch anschlussfähig für theologische Diskurse ist. In meinem Ausblick werde ich also zumindest andeuten, wo ich Berührungspunkte zwischen der Theologie Balthasars und der daseinsanalytischen Sicht des Menschen und seiner Gesundheit bzw. Krankheit erkenne. Damit soll der Versuch unternommen werden, eine Denkrichtung zu markieren, die es erstens ermöglichen könnte, pathologische Angstphänomene theologisch (be)greifbar zu machen, die sich aber darüber hinaus zweitens vor allem als geeignet erweisen könnte, Hoffnung auf Heilung und Heil zu begründen. Mit diesem Unterfangen hoffe ich nicht zuletzt auch zeigen zu können, dass „von Balthasars Position … ein noch intensiveres Gespräch zwischen den verschiedenen Wissenschaften möglich (ist), als er es selbst geführt hat.“72 In einen ­solchen Dialog tatsächlich einzutreten und dergestalt systematisch auf die Entwicklung einer Theologie pathologischer Angst hinzuarbeiten, muss al­­ lerdings einer weiteren Untersuchung vorbehalten bleiben. Wenden wir uns nach diesen Vorüberlegungen nun also Hans Urs von Balthasar und seiner Theologie zu. Um seinen Entwurf zur Höllenthematik in gebührender Weise nachvollziehen und erfassen zu können, ist es unabdingbar, um sein eigentümliches Theologieverständnis zu wissen. In einem ersten Schritt soll darum nun dargelegt werden, wie und in welchem Sinne der große Denker Theologie betreibt. Dabei wird es allerdings auch bereits ein erstes Mal vonnöten sein, kritische Einwände geltend zu machen, nicht zuletzt um damit Ziel und Anspruch dieser Arbeit deutlich zu machen. 72 Bieler: Befreiung zur Freiheit, 38. 26 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss Der scheinbar so eindeutige Begriff Theologie im Sinne des Sprechens von Gott ist nach Hans Urs von Balthasar erst unter Berücksichtigung zweier Bedeutungsdimensionen adäquat erfasst: Gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet Theologie menschliches Sprechen von und über Gott. Dieses menschliche Sprechen aber, so Balthasar, ist nur möglich, weil und insofern ihm ein Wort Gottes ermöglichend vorausgeht. Erst indem Gott den Menschen an-spricht, sich dem Menschen zu-spricht, wird dieser überhaupt befähigt, seinerseits von Gott zu sprechen. Sprechen von Gott her ist Bedingung der Möglichkeit jedes Sprechens über Gott. Theologie ist demnach ihrem Wesen nach „Logos über Gott aus dem Logos des sich selber im … Wort aussprechenden Gott.“1 In gleichem Maße aber gilt, „daß ‚Verstehen‘ ein Akt des Menschen als solchen ist.“2 Das Wort Gottes überwältigt den Menschen keinesfalls, sondern es wendet sich an seine natürlichen Erkenntnisfähigkeiten, die es ebenso respektiert wie in den Dienst nimmt. Theologisieren ist im wahrsten Sinne des Wortes menschliche Leistung, „denn keinesfalls kann die Möglichkeit, daß Gottes Wort vom Menschen verstanden und ausgedrückt werden kann, als ein bloßes Gnadenwunder von oben verstanden werden.“3 Im Folgenden gilt es nun zunächst, diese fundamentale Einsicht des Ineinanders von göttlicher und kreatürlicher Sphäre in jedem Akt theologischen Bemühens zu explizieren, um so die Grundstruktur des originär balthasarschen Denkens zu erschließen. Eine solche einleitende, allgemeine Darstellung der theologischen Form, die „in ihrem Formalobjekt von der Gottesherrlichkeit, deren Ausdruck sie wird, beherrscht ist“4, ist notwendig, um die Denkwege abzustecken, auf denen dann auch der Frage der Hölle nachzugehen sein wird. Die Fruchtbarkeit der balthasarschen Approximationen erwächst nämlich aus der konsequenten Entwicklung auch dieser, auf den ers- 1 H III/1.1, 285. Zu diesem Gedanken vgl. auch CE, 103 f. Balthasar wendet sich hier vehe- ment gegen Ansätze, „‚Theologie als Anthropologie‘ zu treiben“, weil sie „stillschweigend die Voraussetzung aller Theologie im Schatten (lassen), daß sie nämlich Logos des sprechenden Gottes ist“ (ebd.). 2 TL III, 331. 3 Ebd. 4 Scola: Theologischer Stil, 13. 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 27 ten Blick eher abseitigen Einzelfrage aus dem Gesamt des theologischen Entwurfes heraus. 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie „Theo-logie – Rede Gottes und in dieser Rede auch Rede des Menschen in Gott über Gott – kommt immer aus der obersten Höhe“5, so haben wir gesehen. Das theologische „Formalobjekt würde daher nach B. in jedem Sprechen über Gott verfehlt, das ‚von unten her‘ von Natur- oder Geisteswissenschaft, von Anthropologie und Philosophie her sich an das Offenbarungsgeschehen anzunähern versuchte“6. Um das von Gott her Zugesagte angemessen zur Sprache zu bringen7, muss vielmehr immer wieder die Sphäre des Kreatürlichen überstiegen werden. Theologisieren erfordert ein „Umdenken von den Menschengedanken auf Gottes eigene souveräne Gedanken“8. Dies ist aber nach Balthasar nur dann möglich, wenn der Mensch seinem Wesen nach auf einen solchen Akt der Selbsttranszendenz hin angelegt ist. Nur wenn der endliche Mensch als grundsätzlich offen auf das Unendliche hin ausgewiesen werden kann, ist seine prinzipielle Ansprechbarkeit durch Gott überhaupt zu denken. „Um die Selbstoffenbarung Gottes hören und verstehen zu können, muß der Mensch selbst ein Forschen nach Gott, eine ihm gestellte Frage sein. Also gibt es keine biblische Theologie ohne religiöse Philosophie.“9 An dieser Stelle gilt es, nun tiefer in die Gedankenwelt Balthasars einzudringen, denn „ein entscheidender Schlüssel zum rechten Verständnis des gesamten Denkens liegt in seiner Sicht und Begründung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie.“10 Wenn er einerseits betont, Philosophie habe von sich aus keinen Zugang zur Offenbarungswahrheit, andererseits aber Theologie unter Ausschluss philosophischen Denkens für schlechterdings unmög- 15 GF, 259. 16 Heinz: Gott des Je-mehr, 18. 17 „Die Wissenschaftlichkeit einer Wissenschaft bemisst sich danach, ob und wieweit ihre Methode dem Gegenstand angepaßt ist“ (Balthasar: Von der Theologie Gottes zur kirchlichen Theologie, 314) Dies gilt auch für die Theologie, ungeachtet der Tatsache, dass sie „nur in analogem Sinn zu den übrigen menschlichen Wissenschaften eine Wissenschaft genannt werden kann“ (H I, 578; Vgl. dazu auch ebd. 71–74; Ef, 33 f; vgl. dazu auch unten Kapitel 2.2). 18 SV, 365. Heinz bescheinigt Balthasar denn auch dementsprechend ein „Theologisieren ‚von oben‘“ (ders.: Gott des Je-mehr, 19). 19 ZsW, 97 (= MW, 92). 10 Bauer: Hans Urs von Balthasar, 288. 28 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie lich erachtet, entsteht zunächst unweigerlich der Anschein eines Circulus vitiosus. Wie also stehen Philosophie und Theologie zueinander? Die Antwort auf diese Frage kann nur ausgehend von der Tatsache erfolgen, „dass Balthasar seine Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie am Modell der Natur-Gnade-Beziehung ausrichtet.“11 2.1.1 Theologisches Apriori natürlicher Erkenntnis Die noetische Frage der Gotteserkenntnis ist nach Balthasar auf das Engste verbunden mit der ontologischen Frage nach dem kreatürlichen Sein, denn, so seine Grundeinsicht, der Mensch ist „wesenhaft ein ‚Suchender‘“12: In der Erfahrung der eigenen Endlichkeit stellt sich dem Menschen unweigerlich die Frage nach dem Grund seines Dasein. Der Begriff ‚Grund‘ ist dabei durchaus in seinem Doppelsinn von Fundament und Sinn zu verstehen. In der Reflexion auf sein eigenes Dasein erkennt der Mensch: „Ich bin, ich könnte aber auch nicht sein. Vieles, was existiert, könnte nicht sein.“13 „Es gibt ihn, aber was ist das Es, das ihn gibt?“14 Indem die Geschöpfe sich als kontingent erfahren, begreifen sie sich demnach zugleich als „bezogen auf ein sie bedingendes Absolutes (eben diese Es; S. H.), das als solches analytisch im kreatürlichen Sein mitgesetzt und folglich auch mitgedacht ist.“15 Mit der Einsicht des Menschen in sein eigenes Wesen geht die Erkenntnis einher, dass es ein sein Dasein als Ursprung und Ziel begründendes Absolutes geben muss. Der Mensch weiß, dass er weder über die reine Faktizität seines Daseins noch über Sinn und Ziel selber verfügt. Die Vernunft muss notwendig einsehen, dass eine letzte Antwort auf dieses Fraglichsein des Seienden innerhalb der Endlichkeit schlechterdings unmöglich ist; sie kann nur von Gott her ergehen. Sich selbst als natürliches Wesen kann der Mensch also nach Balthasar nur angemessen verstehen, indem er die Existenz eines Gottes denkt, dem er als Kreatur sich verdankt und der seinem Dasein Sinn und Ziel gibt. Im logischen Umkehrschluss muss die menschliche Vernunft nun sagen, dass Gott Subjekt der schöpferischen und sinngebenden Handlungen ist. Damit ist aber noch nichts über das Wesen dieses Subjekts ausgesagt. Aus dem mitmenschlichen Bereich wissen wir, dass jedes Subjekt „ein nur ihm gehöriges Innen hat, das 11 12 13 14 15 Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreunde, 207. Ce, 102 (Kursiven von mir). ZsW, 96 (= MW, 90). Ce, 101 f. Balthasar: Analogie und Natur, 40. 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 29 anderen zu offenbaren bei ihm steht.“16 Jedes Subjekt ist frei, anderen Einblick in sein eigenes Inneres zu gewähren oder aber zu verweigern. Diese Einsicht ist nach Balthasar nun auf die Frage der Gotteserkenntnis übertragbar. „Aus der Selbsterfahrung kann der Mensch erkennen, daß wenn er Gott innerlich erkennen können soll, dieses nur durch eine freie Selbsterschließung Gottes geschehen kann.“17 Einher mit der natürlichen Selbsterkenntnis des Menschen geht demnach also ein elementares Wissen um die Existenz Gottes und um die gleichzeitige Notwendigkeit wie Unverfügbarkeit seiner Selbsterschließung. Dieses Wissen liegt nun nach Balthasar jeder gnadenhaften göttlichen Selbstaussage notwendig voraus. „Auch der Gott der Bibel … erklärt den Menschen nicht erst, was ‚ein Gott‘ ist, denn das wissen sie von jeher.“18 Wüssten sie es nicht, so wären sie gar nicht in der Lage, ein von Gott her ergehendes Wort als ein solches zu erkennen und zu verstehen. Das natürliche Wissen um Gott ist aber geeignet, einen gedanklichen Rahmen zu bilden, in den hinein die Offenbarung Gottes erfolgen und durch den sie sich verständlich machen kann.19 „Menschliches Denken (ist) unausweichlich Voraussetzung für Gottes … Reden und Ver­ standenwerden“20, das dann seinerseits die bereits gewonnenen Sinnfragmente in sich einbirgt und darin zu ihrer Erfüllung bringt.21 Wenn nun Balthasar weiter sagt: „Wissen ist das, wofür der Mensch die Kriterien der Verifizierung bei sich selbst, in seiner Vernunft besitzt. … Das Unternehmen, das den Radius des Ausgriffs dieser Vernunft erforschend absteckt, hat seit Platon den Namen Philosophie erhalten“22, dann ist in diesem Sinne Gotteserkenntnis Gegenstand der Philosophie. Ihr kommt insofern inchoativer Charakter zu, womit nun aber keineswegs „die geheime Forderungen enthaltende, drängende platonische Sehnsucht nach der Gnade und der Gottesschau“23 gemeint ist, sondern vielmehr eine Dienstbarkeit und Verfüg- 16 17 18 19 20 21 22 23 TD III, 129. TD III, 130. SV, 365. Vgl. ebd. 364; VC, 71. Balthasar erkennt eben darin die bleibende Bedeutung natürlicher Welt- und Menschheitsreligionen, dass sie den Boden für die Offenbarung Gottes bereitet haben und auch heute noch bereiten können. Mit Ahnungen des Göttlichen in Mythen, Philosophien und Dichtungen und ihrer Bedeutung für die christlichen Offenbarung setzt er sich ausgiebig auseinander in den beiden Teilbänden von: H III/1. Vgl. auch die Zusammenfassung in: H III/2.1, 21–25. Bauer: Hans Urs von Balthasar, 288. Vgl. Klaghofer-Treitler: Gotteswort im Menschenwort, 131. H III/1.1, 143. VC, 63. 30 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie barkeit für göttliche Offenbarung24 im Sinne des bereits erwähnten leeren Rahmens. Die Überschneidung des jeweiligen Materialobjekts von Theologie und Philosophie ist damit evident. Es wäre nun aber ein Kurzschluss, wollte man alle Aussagen über Gott, die der Mensch qua reiner Vernunft mit Blick auf seine eigene natürliche Verfasstheit erschließen kann, dem Zuständigkeitsbereich der Philosophie, alle darüber hinausgehenden Erkenntnisse, die sich aus der Offenbarung Gottes ergeben, dagegen der Theologie zuordnen. Folgt man Balthasar, so geht die Verflechtung von Theologie und Philosophie wesentlich tiefer. Er ist der Überzeugung, „daß der Mensch zur ‚Anschauung‘, zum ‚Besitzen‘ Gottes geschaffen ist, daß er somit kein anderes Endziel hat als ein übernatürliches“.25 Das aber bedeutet, schon vor jeder gnadenhaften Offenbarung ist der konkret existierende Mensch auf eine übernatürliche Bestimmung hin ausgerichtet. „Natur ist als Ganze innerlich auf Übernatur finalisiert, ob sie will oder nicht, weiß oder nicht.“26 In der Welt, wie sie konkret existiert, gibt es demnach keine ‚reine Natur‘. „Gottes tatsächliche Weltordnung ist die faktische Einheit von zwei sachlich unterscheidbaren und auch in ihrer faktischen Einigung unterschiedenen, aber nicht geschiedenen, nicht trennbaren Ordnungen“,27 einerseits nämlich der Schöpfungsordnung und anderseits der Gnadenordnung.28 Dabei aber ist die der Natur gleichsam innewohnende Gnade unbedingt zu unterscheiden 24 Vgl. Balthasar: Von den Aufgaben der Katholischen Philosophie in der Zeit, 4. 25 TD III, 151. In dieser Grundüberzeugung findet der kaum zu überschätzende Einfluss Henri de Lubacs auf das Denken von Balthasars seinen Niederschlag. „De Lubac wendet sich … gegen alle Bestrebungen, das Übernatürliche zum Gegenstand einer natürlichen Forderung zu machen. (…) Deshalb steht im Mittelpunkt seiner Arbeiten zum Übernatürlichen die Ausrichtung der Natur des geschaffenen Geistes auf das übernatürliche Endziel“ (Figura: Geheimnis des Übernatürlichen 354). Von Balthasar macht sich diesen Standpunkt in kritischer Auseinandersetzung zueigen (vgl. dazu Balthasar: Henri de Lubac, bes. 52–62). Gerade „bei diesen philosophisch-theologischen Grundfragen, wo sich letztlich alles um den Naturbegriff dreht, bezieht (er) sich … immer wieder auf de Lubac“ (Figura: Geheimnis des Übernatürlichen, 356). Lubac war es auch, der Balthasars Liebe zu den Kirchenvätern weckte. Darauf wird später noch einmal zurückzukommen sein. Zum besonderen Einfluss Lubacs auf das Denken Balthasar vgl. ferner Krenski: Gottesdrama, 86–122; Löser: Kleine Hinführung, 73–76; Voderholzer: Bedeutung der so genannten ‚Nouvelle Théologie‘, 204–228. 26 ZsW, 45 (= MW, 41 = R, 9). 27 KB, 291. 28 Auch die Natur des ärgsten Sünders ist nach Balthasar nie nur reine Natur. „Negative Beziehung zum Gott der Gnade ist auch eine, sogar sehr reale Beziehung zu ihm. Gnade ist auch als verweigerte, abgewiesene, Gnade; es verbleibt auch im Stand der Sünde das Ziel“ (KB, 298). „Der Gnadenverlust Adams bedeutet nicht, daß mit dem ‚Besitz‘ der Gnade der ‚Stand‘ der Gnade [als übernatürliche Berufung, Ausrichtung und Erhö- 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 31 von der Gnade der freien Selbstoffenbarung Gottes. Balthasar betont ausdrücklich die Notwendigkeit der analytischen Unterscheidung von Natur und Gnade und damit eines elaborierten theologischen Naturbegriffs, zum einen „zur Kenntlichmachung des Geschöpfes in seinem von Gott unterschiedenen Sein, seiner Gott ‚gegenüber‘-stehenden, eigenen Subjekthaftigkeit“,29 und zum anderen zur Unterscheidung der Ungeschuldetheit der Gnade30 von der allgemeinen Ungeschuldetheit der Schöpfung. „Vom Standpunkt einer kreatürlichen Theologie [von unten nach oben] bleibt der formale Begriff der natura pura notwendig, vom Standpunkt Gottes aus [von oben nach unten] gewinnt er keine Bedeutung mehr. Doch da der Mensch keine rein göttliche Theologie treiben kann, bleibt für Balthasar … die Hypothese der natura pura … legitim“.31 hung der Natur] verloren … wäre“ (ebd., 299). Dieser Aspekt wird im Zusammenhang der Höllenthematik noch eingehend zu bedenken sein. 29 Balthasar: Begriff der Natur, 454. Das Gott-gegenüber-Stehen des Menschen, die unüberwindbare Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf bedeutet nach Balthasar nicht nur Ferne, sondern ist zugleich Bedingung der Möglichkeit von Beziehung. Nur wo es einen Unterschied zwischen Schenkendem und Beschenktem gibt, kann es überhaupt ein Geschenk geben (vgl. ders.: Analogie und Natur, 51). Natur als von Gott abständig ist in diesem Sinne Voraussetzung von Gnade. 30 Zur Diskussion um die Frage, ob die theologische Rede von der Ungeschuldetheit der Gnade impliziere, dass grundsätzlich auch eine andere Weltordnung denkbar sein müsse, in der der Mensch auf ein rein natürliches Endziel ausgerichtet wäre, vgl. Balthasar: Begriff der Natur, 459, wo jedem „Possibiliendenken“ eine deutliche Absage erteilt wird. In Umkehrung des üblichen Verständnisses, wonach eine Möglichkeit ihrer Verwirklichung notwendig voraus liegt, argumentiert Balthasar, die Möglichkeit von Welt ließe sich logisch erst aus ihrem Dasein ableiten. Nur von der faktischen Exis­ tenz her seien Rückschlüsse auf die Möglichkeit eben dieser Existenz zu ziehen. Die konkrete Welt existiere aber nun einmal nur in ihrer Hinordnung auf Gnade. Die Frage nach anderen möglichen Existenzformen von Welt sei daher müßig, weil sie sich letztlich auf die Möglichkeiten göttlicher Allmacht richte, die vom Menschen her nicht abzusehen seien. 31 Figura: Geheimnis des Übernatürlichen, 358. Figura betont, in seinen späteren Schriften habe Balthasar, Lubac darin folgend, jeder Hypothese der natura pura eine Absage erteilt (vgl. ebd.) und verweist auf die Ansprache, die Balthasar im März 1971 anlässlich der Verleihung des Romano-Guardini-Preises gehalten hat (aufgenommen in: PI, 13–25). Die Rede ist der Frage „Wer ist der Mensch?“ gewidmet. In diesem Zusammenhang nun fordert Balthasar die „Preisgabe dieser überflüssigen und gefährlichen Hypothese einer natura pura“, weil damit „die Zwangsvorstellung einer innerweltlichen Vollendbarkeit des Menschen [individuell und sozial] sich einfach erledigt“ (23). Es geht also in erster Linie um die Abwehr des Missverständnisses der Hypothese als anth­ropologische Aussage und der daraus sich ergebenden, theologisch nicht haltbaren Lehre, dass „der freie Ruf der Gnade der … gleichsam eine Störung der immanenten Autonomie darstellt, … als Überbau zu einer bereits in sich vollendeten Natur hinzu(tritt), indem er sie auf ein übergestülptes … Ziel, die Schau Gottes, hinordnet“ (Figura: Geheimnis des Übernatürlichen, 357). Richtig verstanden als reine Denkmöglich- 32 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie Die Herleitung eines Begriffs der reinen Natur obliegt dabei nach Balthasar ausschließlich der Theologie, insofern er nur durch Abstraktion von der gnadenhaften Ausrichtung der faktischen Natur zu gewinnen ist. ‚Reine Natur‘ ist gleichsam der Rest, der übrig bleibt, wenn von der gnadenhaften Erhöhung der faktischen Natur abgesehen wird, „das, woran schließlich Gottes Offenbarung ergeht“,32 „das Geschöpf als solches“.33 Die Bestimmung des Naturbegriffs setzt demnach ein Verständnis von Gnade voraus, zu dem die menschliche Vernunft aber von sich aus nicht zu gelangen vermag.34 „Die positive Definition der Gnade kann nur durch die Gnade selber gegeben werden: was Gott innerlich ist, das muß er selbst offenbaren. Die Kreatur kann sich diesem ihr Unbekannten gegenüber nicht selbst abgrenzen und darum auch nicht wissen, worin sie sich [als theologisch verstandene bloße ‚Natur‘] von ihm unterscheidet.“35 Der Gnadenbegriff kann also nur aus theologischer Reflexion auf ergangene Offenbarung erwachsen. Das aber bedeutet, so Balthasars Schlussfolgerung, dass auch der ‚Rest‘ ausschließlich theologisch in den Blick kommt. „Indem Offenbarung ergeht, hebt sich Natur von ihr als der Vorraum ab“36. Damit soll nun nicht gesagt sein, dass der Begriff der Natur aus dem Begriff der Gnade ableitbar wäre. Vielmehr ist Schöpfung die logische Voraussetzung für das Ergehen von Gnade; Gnade ergeht an Schöpfung. In diesem Sinne ist „die Priorität der Natur vor der Gnade … die notwendige Bedingung der Möglichkeit für die Priorität der Gnade vor der Natur.“37 Das Problem ist jedoch, dass nach Balthasar der Raum der der Gnade logisch vorausgesetzten ‚reinen Natur‘ inhaltlich nicht zu füllen ist, eben weil er nur einen Hilfsbegriff zu Bezeichnung eines in der konkreten Welt nicht existierenden Abstraktums darstellt. Deshalb ist etwa die Frage, inwieweit das Hingeordnetsein des Menschen auf 32 33 34 35 36 37 keit ist die analytische Trennung von Natur und Gnade, wie Balthasar sie in seinen frühen Schriften durchführt, jedoch auch in seinen späteren Schriften implizite Grundlage der Begründung der absoluten Ungeschuldetheit göttlicher Offenbarung und ergo auch der Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie (als Ausdruck natürlicher Gotteserkenntnis) und Theologie (als Wort vom freien, gnadenhaft ergehenden Wort Gottes). Balthasar: Begriff der Natur, 453. KB, 301. „Natur (hat) aus sich selbst keinen Zugang zur Welt der Gnade …, obwohl sie zuletzt nur von der Gnade her und auf die Gnade hin geschaffen wurde und verständlich ist“ (KB, 313). KB, 290 (im Original vor dem Doppelpunkt kursiv). KB, 295. Balthasar: Analogie und Natur, 52. Balthasar unterscheidet „das relative Prius der Schöpfungsordnung vor der Gnadenordnung [in ordine executionis]“ vom „absolute(n) Prius der Gnadenordnung vor der Naturordnung [in ordine intentionis]“ (KB, 313). 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 33 Gott (im augustinisch-thomanischen Sinn des desiderium naturale) zu seiner ‚reinen Natur‘ oder aber zu seiner je schon gnadenhaft erhöhten faktischen Natur gehört, letztlich nicht zu beantworten. „Wir stehen hier offenbar an einer Grenze menschlichen Denkens, (…) wo es wirklich zu einer Ermessenfrage wird, wieviel von dem ‚Vermögen zu Gott‘ in der einen konkreten menschlichen Natur man der ‚Natur‘, wieviel der ‚Gnade‘ zuschreiben will.“38 Der Hinweis auf diesen Ermessensspielraum mag auch ein möglicher Erklärungsansatz (sicherlich nicht der einzige, weil „die Kontroverse von Motiven unterschiedlicher Natur bestimmt ist“39) für die „Sprunghaftigkeit der Balthasarschen Beurteilungen“40 der Theologie Karl Rahners, insbesondere seines Konzepts eines ‚übernatürliches Existentials‘ sein. An dieser Stelle kann und soll die Auseinandersetzung zwischen Balthasar und Rahner nicht im Einzelnen nachvollzogen werden.41 Es sei aber darauf hingewiesen, dass Balthasar den Begriff des ‚übernatürlichen Existentials‘ durchaus positiv aufgreifen kann, solange er im Sinne einer gnadenhaften, über die natürliche Hinordnung des Menschen auf Gott hinausgehenden Einladung verstanden wird.42 Ein solches Angerufensein begreift er mit Rahner als „ein ‚ontologisches Konstitutiv seines (des Menschen; S. H.) konkreten Wesens‘, aber doch nicht zu seiner Natur gehörig [Rahner].“43 Übernatürliches Existential trifft demnach die Natur des Menschen zwar in ihrem Innersten, ist aber selbst nicht „naturhaft-konstitutive Bestimmung.“44 Diese Bedeutungszuschreibung sieht Balthasar aber bei Rahner nicht immer eingehalten. Harsche Kritik übt er dann, wenn die Hinordnung auf Gott als aktive menschliche Potenz erscheint.45 Von der baltharsarschen Logik her gedacht, erscheint die Uneindeutigkeit des Begriffs jedoch unvermeidlich. Rahner theologisiert, anders als Balthasar, nicht von oben. Vielmehr „baut er der Theologie eine ‚theologische‘ Anthropologie als rein philosophische Disziplin vor, die als solche ‚die Bedingung der Möglichkeit von Theologie ist‘“.46 Innerhalb dieser Anthropologie begreift nun Rahner die Hinordnung des Geschöpfes auf Gott als „Ontologie der potentia oboedientalis für Offenbarung“47. Um von dort aus nun zu einem theologischen Begriff zu gelangen, so Balthasars Argument weiter, muss die Perspektive gewechselt werden. Statt von ‚unten‘ i. e. vom Geschöpf her, zum Absoluten aufzubli- 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 KB, 312; ähnlich auch in: TD III,135. Werner: Fundamentaltheologie bei Karl Rahner, 152. Raffelt: Balthasar – Rahner, 503. Zu der Kontroverse vgl. neben Raffelt, Balthasar – Rahner auch Batlogg: Hans Urs von Balthasar und Karl Rahner, bes. 424–444; Lochbrunner: Analogia Caritatis, 113–132; Werner: Fundamentaltheologie bei Karl Rahner, 149–152. Vgl. etwa Balthasar: Begriff der Natur, 455; TD III, 150 f. Balthasar: Begriff der Natur, 456. Balthasar: Begriff der Natur, 456; in gleichem Sinn verwendet Balthasar den Begriff auch in: TD III, 152. 261. Vgl. KB, 310 f; ihren polemischen Höhepunkt erreicht die Kritik in: CE, bes. 85–97. Balthasar: Analogie und Natur, 42, Anm. 1. Das enthaltene Zitat stammt aus: Rahner, Karl: Hörer des Wortes, München 1941, 214. Rahner: Hörer des Wortes, 9; zitiert nach Balthasar: Analogie und Natur, 42, Anm. 1. 34 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie cken, muss der Blick nun von ‚oben‘, von der Offenbarung her auf das Geschöpf fallen. „Was wir jetzt als seine ‚Natur‘ entdecken, deckt sich nur analog mit dem, was Philosophie als solche betrachtet.“48 Entsprechend ist auch nur eine analoge Bestimmung dessen, was unter einer natürlichen Hinordnung auf Gott zu verstehen ist, möglich. Der philosophische Begriff der potentia oboedentialis ist nicht deckungsgleich mit dem theologischen.49 Das genau scheint mir nun das Problem zu sein: Der Begriff ‚übernatürliches Existential‘ changiert zwischen philosophischer und theologischer Bedeutungsebene. „In der Entwicklung Rahners verschieben sich die Akzente immer wieder, und die bei ihm verwendeten Begriffe machen einen Bedeutungswandel durch.“50 Je nachdem, welche Blickrichtung Rahner in einem Kontext stärker betont, respektive Balthasar stärker fokussiert, bewegt sich das Konzept noch innerhalb des balthasarschen Ermessensspielraumes, oder aber es sprengt ihn eindeutig. Indem Balthasar die Einheit und Interdependenz zwischen Natur und Gnade analytisch löst und eben dadurch erhellt, stellt er zugleich auch die Weichen für die nähere Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie. Weil „Übernatur und Gnade die letzte ontologische Form der gesamten Welt (sind), so ist es notwendig, daß all ihr Tun und Denken, ihr Leben und ihr Philosophieren je schon eingebettet ist in diese höchste Seinsform.“51 Die Natur als Gegenstand der Philosophie, ist immer schon eine gnadenhaft erhöhte. „Darum (ist) auch alle Philosophie von einem – bewussten oder unbewussten – theologischen Apriori umgriffen.“52 Zwar haben nach Balthasar Philosophie und Theologie je eigene, gegenläufige Formalobjekte – Philosophie betrachtet danach primär weltlich Seiendes, um von dort zum absoluten Sein vorzustoßen53, während Theologie vom Geheimnis Gottes, wie es in der Offenbarung sich zeigt, aus auf die Welt zudenkt54 – aber die Materialobjekte sind 48 Balthasar: Analogie und Natur, 44. 49 Zur Bestimmung der Dimensionen des Analogieverhältnisses vgl. Balthasar: Analogie und Natur, 38–49. 50 Römelt: Personales Gottesverständnis, 28. Zur Entwicklung speziell des Begriffs ‚über- natürliches Existential‘ vgl. Verweyen: Wie wird ein Existential übernatürlich?, 116–126. 51 Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele, 57. An dieser schon früh nicht zuletzt unter Einfluss der sog. ‚nouvelle théologie‘ insbesondere Henri de Lubacs formulierten Überzeugung (vgl. oben, 19, Anm. 25) hielt Balthasar unbeirrt fest (vgl. dazu Löser: Unangefochtene Kirchlichkeit, 475). 1947 verfasste er sein Werk „Wahrheit der Welt“. Dort heißt es poetischer, aber in gleicher inhaltlicher Intention: „Das Übernatürliche (wurzelt) in die innersten Strukturen des Seins ein, um sie wie ein Sauerteig zu durchsäuern, wie ein Hauch und allgegenwärtiger Duft zu durchwehen“ (zitiert nach: TL I, XI). 1985 wurde das Werk in unveränderter Form als Bd. 1 der Theologik neu aufgelegt. 52 Balthasar: Heidegger Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus, 4. 53 Vgl. Balthasar: Von den Aufgaben der Katholischen Philosophie, 4. 54 Vgl. SV, 380; Heinz: Gott des Je-mehr, 18. 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 35 unlösbar verflochten. Die konkrete Welt, wie Philosophie sie vor sich hat, steht immer schon in (positiver oder negativer) Beziehung zum Gott der Gnade. ‚Reine Natur‘ ist eine in der faktischen Welt nicht existente Abstraktion. Analoges gilt für die Erkenntnisfähigkeit. Auch hier erweist sich wieder das Ineinander von ontischer und noetischer Dimension als zwei Aspekte der einen Wirklichkeit. Nach Balthasar verfügt die Philosophie über kein eigenes Werkzeug, weil eben „auch das konkrete Auge der Vernunft immer schon entweder ein durch das Licht von Glaube und Liebe gereinigtes und geschärftes, oder aber ein durch Erbsünde oder persönliche Schuld verdunkeltes“55 ist. Vor diesem Hintergrund erwartet Balthasar als angemessene Haltung der Philosophie die Anerkennung ihrer Grenze als weltliche Wissenschaft, die „auf einen anderen, mehr als nur weltlichen Abschluss angewiesen und auf diesen hingeordnet“56, d. h. von der Theologie zu vollenden ist. Den Grundfehler aller rein philosophischen Entwürfe erkennt er in dem Versuch, die Antwort auf die Seinsfrage vom Endlichen her zu entwerfen. Damit wird seiner Überzeugung nach das Verdankt-Sein, dessen Erkenntnis, wie eingangs dargestellt, die philosophische Frage allererst auslöst, systematisch geleugnet.57 Philosophie muss sich so im Sinne Balthasars unweigerlich selbst verfehlen, indem sie „jeder Transzendenz entratend, in absolutistische Immanentismen oder logizistische Formalismen“58 verfällt. Für ebenso gefährlich erachtet er es aber, „wenn man den Menschen an seiner natürlichen Vernunftbewegung vorbei und im Gegensatz zu ihr zu Gott führen will; denn ein solcher (theologischer; S. H.) Positivismus verdächtigt und verketzert den der Natur eingezeichneten Weg und zwingt sie, aus Opposition zu einem positivistischen Christentum, in den Atheismus.“59 Das philosophische Formalobjekt ist also keineswegs in die Theologie hinein aufzulösen. „Sofern … der vernunftbegabte Mensch in der Offenbarung nicht überrannt, sondern geachtet wird, schließt das für eine die Offenbarung ins Wort bringende Theologie unbedingt ein, daß sie ihre eigene Wahrheit nicht ohne Philosophie finden kann, Theologie also nirgends ohne Philosophie, rationales Denken auskommt.“60 Daher postuliert Balthasar die Integration von Theologie und Philosophie zu einer Wissenschaft der „Theosophie“61. Aber, um 55 56 57 58 59 60 61 Balthasar: Von den Aufgaben der Katholischen Philosophie, 5. Zaborowski: Katholische Integration, 33. Vgl. Ce, 102. 105. Bauer: Hans Urs von Balthasar, 289. SV, 367; vgl. dazu auch H I, 137; TL I XIV f. Klaghofer-Treitler: Gotteswort im Menschenwort, 132 f. H II/2, 659. 36 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie es noch einmal pointiert zu sagen, „es geht von Balthasar nicht um eine Synthese, in der Philosophie und Theologie als prinzipiell gleichberechtigte Glieder in einer dialektischen Relation miteinander vermittelt wären.“62 Was er beiden Disziplinen dagegen abverlangt, ist „Eingliederung in eine Einheit, die vorgegeben ist, um Bewahrung und Hineinordnung in eine gegebene Ordnung und Struktur“63, wie sie im absoluten Prius der Gnade bei relativem Prius der Natur gegeben ist, im klaren Bewusstsein des „ständige(n) Gestelltsein(s) unseres Denkens in eine Entscheidung für das Wort Gottes, nicht bloß inhaltlich, sondern schon formal im Denkakt selber“64. Diese scheinbare Verdemütigung menschlichen Denkens, seine Unterordnung unter das theologische Apriori, bezeichnet im Sinne Balthasars gerade seine Würde, weil sie Ausdruck gnadenhafter Erhöhung menschlicher Vernunft ist. In diesem Sinne bedeutet ihm die Unterordnung der Philosophie unter die Theologie keineswegs fremddienliche Versklavung65, sondern vielmehr Erfüllung ihrer wahren Bestimmung. Dennoch aber bleibt für von Balthasar wahr, dass Theologie, weil durch ihre gnadenhafte Erhöhung der Philosophie immer notwendig überlegen, „über den Gebrauch des philosophischen Gedankengutes keine letzte Rechenschaft schuldig“66 ist. Das balthasarsche Programm der Integration, so ist deutlich geworden, „fordert eine strenge Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Theologie, welche Zusammenarbeit aber nur möglich wird, wenn beide Disziplinen innerlich füreinander offen sind. Das ist nur möglich, wenn die Analogie zwischen göttlichem Urbild und weltlichem Abbild von beiden Seiten wieder zentral zu denken versucht wird.“67 Damit rückt nun Balthasars Philosophieverständnis vollends in den Blick: Philosophie im wahren Sinne des Wortes ist für ihn gleichbedeutend mit Metaphysik. Nur wo menschliches Denken sich der ewig bleibenden Frage nach dem Sein des Seienden stellt und sich von ihr in einer Bewegung der Selbsttranszendenz vor die Frage des absoluten Seins führen lässt, so seine unumstößliche Überzeugung, wird es sich selber gerecht. „Der Weg zum Sein, der der Weg der Vernunft überhaupt ist, ist der Weg zu Gott.“68 Nur seinsmetaphysisches Denken, als demnach einzig wahre Philosophie, ist 62 63 64 65 66 67 68 Zaborowski: Katholische Integration, 31. Zaborowski: Katholische Integration, 31 (Kursiven von mir). Vorgrimler: Hans Urs von Balthasar, 136. Vgl. Balthasar: Heideggers Philosophie vom Standpunkt des Katholizismus, 4. Balthasar: Von den Aufgaben der Katholischen Philosophie, 4. TL I, XV. SV, 367. 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 37 ob seiner Offenheit auf das Absolute hin anschlussfähig für Theologie. Seine ‚Theosophie‘ kann Balthasar daher auch als unterscheidend christliche Metaphysik69 bezeichnen. 2.1.2 Unterscheidend christliche Metaphysik Seine originär eigenen Konzeptionen entwickelt von Balthasar in aller Regel in kritischer Auseinandersetzung mit anderen Denkern und ihren Aussagen. Dabei dienen ihm sowohl die Theologie- und Philosophiegeschichte, aber auch Literatur, Musik und bildende Kunst aller Epochen als Hintergrundfolien. Auf dieses ganz eigentümliche methodische Vorgehen wird später noch ausgiebiger einzugehen sein.70 Es ist an dieser Stelle aber bereits in Rechnung zu stellen, weil gerade auch Balthasars grundlegende Gedanken zu der Frage, welcher Gestalt eine moderne, den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werdende Metaphysik sein müsste, aus seiner Kritik an der neuzeitlichen Metaphysik neuscholastischer Prägung erwachsen. Um seine zentralen Anliegen genau verstehen und richtig einordnen zu können, ist es also unerlässlich, zunächst einmal seine Kritik zumindest in groben Linien nachzuzeichnen, um anschließend die Konturen seines eigenen Entwurfs in Abgrenzung von diesem Umriss hervortreten zu lassen. 2.1.2.1 Seinsvergessenheit der neuzeitlichen Metaphysik Jedes ernsthafte philosophische Bemühen ist, wie bereits deutlich wurde, nach Balthasar seinem Wesen nach „auf die authentische metaphysische Frage als Mitte hin(ge)ordnet: Warum ist überhaupt Etwas und nicht lieber Nichts?“71 In der Erfahrung der grundsätzlichen Nicht-Notwendigkeit alles weltlich Seienden gerät der Mensch in Staunen über das Wunder des Seins. „Das aber besagt …, daß es nicht nur verwunderlich ist, daß Seiendes in der Differenz zum Sein sich über das Sein wundern kann, vielmehr ebenso, daß das Sein als solches und von sich her bis zum Ende ‚wundert‘, sich als Wunder, wunderlich und wunderbar benimmt. Dieses Ur-Wunder festhaltend zu bedenken, müsste das Grundanliegen der Metaphysik sein“.72 Gerade diesem Anspruch wird nun aber, so sein Befund, neuzeitliche Philosophie nicht gerecht. Vielmehr ist 69 70 71 72 Vgl. H III/1.2, 407 u. ö. Vgl. dazu unten Kapitel 2.3.3. H III/1.2, 943. H III/1.2, 944 (Zeichensetzung entspricht dem Original). Es sei bereits an dieser Stelle zumindest darauf hingewiesen, dass Balthasar sich mit dieser Bestimmung der metaphysischen Fragestellung explizit von Heidegger absetzt (vgl. ebd.). 38 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie sie seiner Auffassung nach tiefster Seinsvergessenheit verfallen. Er beobachtet „eine schicksalshafte Erblindung, die ganze Geschlechter befällt: die äußerste Fragwürdigkeit der seienden Welt verstellt den Ausblick auf das umgreifende Sein, die metaphysische Urfrage an dieses wird gar nicht mehr gestellt“73. Mit dieser Diagnose schließt Balthasar sich dem „Siewerthschen Theorem einer nachthomanischen Seinsvergessenheit der abendländischen Philosophiegeschichte … uneingeschränkt an.“74 Nach Siewerth ist das Seiende „einerseits die höchste und letzte eingefaltete Einheit, das Einfachste das in der Wirklichkeit der Welt angetroffen wird, wie es andererseits ein unauflösbar Allgemeines ist, das alle Merkmale und Bezüge sowohl in ihrer Verschiedenheit wie in ihrem Übereinkommen auf sich hin [eingefaltet] zusammen- oder inne-hält und seinshaft durchwaltet. Es umgreift daher mit den versammelnden, einigenden Bezügen auch alle Weisen von Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit, die an einer Sache hervortreten.“75 Diese Komplexität und dieses Mehrschichtigsein des Seienden macht ein Denken erforderlich, das die unterschiedlichen Dimensionen zunächst einmal als solche (an-)erkennt und aufnimmt, das sie darüber hinaus aber auch auf ihren Konstitutionsgrund, i. e. das Sein, hin ordnend zueinander in Beziehung setzt und dergestalt zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügt. Ein solches Denken bezeichnet Siewerth, dem Wortsinn des griechischen Verbs avnale,gein folgend, als analoges Denken. Einzig ein solcher Akt der „durchmessende(n) ‚Über-legung‘“76 wird seiner Ansicht nach dem Sein des Seienden gerecht. Im modernen Denken dagegen beobachtet er ein Streben nach Einsinnigkeit. „In diesem Sinne lösen die modernen Wissenschaften die ‚analogen‘, ganzheitlichen Synthesen der Atome, der Moleküle oder Zellen in die gleichen Zuordnungsfaktoren und in gleiche Verhältnisse auf und scheiden alles, was sich diesem Ordnungs- und Maßsystem nicht einordnen läßt, aus der Betrachtung aus.“77 Das Sein als letzter Maßgrund alles Seienden ist dabei obsolet und gerät ergo zunehmend in Vergessenheit. Dieser Vorwurf richtet sich gegen die beiden von Balthasar ausgemachten Wege neuzeitlich philosophischen Denkens gleichermaßen. Auf der einen Seite beobachtet er ein rationalistisches Bestreben, „das Sein zum umfassendsten Vernunftbegriff zu formalisieren … und damit der Vernunft ausdrücklich oder einschlußweise Übersicht und Verfügung über das Sein einzuräumen. Das Sein wird damit zur obersten und leersten Kategorie“.78 Diese Ablösung 73 74 75 76 77 78 H III/1.2, 953. Enders: Die Schönheit der Seinsordnung, 85. Siewerth: Die Analogie des Seienden, 12 f. Siewerth: Analogie des Seienden, 10 f. Siewerth: Analogie des Seienden, 12. H III/1.2, 374. Vgl. auch H III/1.1, 364. Nach Balthasar hebt eine derartige Entwicklung bereits mit Duns Scotus an (vgl. H III/1.2, 377–380; vgl. dazu auch Siewerth: Analogie des Seienden, 85–111) und vertieft sich mit „Kants Bestimmung des Seins als raum-zeit- 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 39 des Seinsbegriffs von der Wirklichkeit des konkreten Seienden muss die Seinsfrage unweigerlich zum Verstummen bringen, weil sich an einem abstrakten Begriff kein wunderndes und staunendes Fragen entzünden kann. Ohne diesen Brückenschlag auf das Absolute hin bleibt der Mensch dem Endlichen ohne jede Möglichkeit des Selbstüberstiegs verhaftet. Er ist gleichsam in seinem eigenen Denken gefangen. Folgt man Balthasar, so wird man sagen müssen, dass Selbiges in der Konsequenz auch für das Sprechen von Gott gilt. Weil der Seinsbegriff als abstrakte Denkkategorie völlig unbestimmt ist, kann er „einsinnig [univoce] auf unendliches wie endliches Sein, d. h. auf Gott und die Welt angewendet werden“.79 Das unendliche Sein Gottes wird so zu einer Kategorie menschlichen Denkens verweltlicht, und dadurch dem Menschen scheinbar verfügbar. Er meint, über Existenz wie Wesen Gottes Bescheid zu wissen.80 Auf der anderen Seite steht der von Balthasar so genannte „pantheistische Idealismus“81 hegelscher Ausprägung, der das Sein „so in sich verfestigt, daß es mit Gott zusammenfällt und nun im göttlichen Weltprozeß seine Wesenheiten aus sich selber erzeugt“.82 Ein Sein aber, das sich notwendig auszeugen muss, um dergestalt erst zu sich selber zu kommen, ist nicht anders als ein Endliches (im Sinne des Begrenztseins durch die Notwendigkeit zu werden, was es noch nicht ist) und deshalb letztlich auch als Figur menschlichen Denkens zu verstehen. In beiden Wegen neuzeitlicher Philosophie erkennt Balthasar daher „Formen der Logisierung und Essentialisierung des Seins“83, durch 79 80 81 82 83 licher Position von sinnlich erscheinenden, also empirisch erfassbaren Dingen bis in den Idealismus Hegels hinein“ (Enders: Schönheit der Seinsordnung, 85). H III/1.2, 377. Den Anfang dieser von ihm sogenannten „modernen Geistphilosophie“ (H III/1.2, 792) macht Balthasar in Descartes’ „Rückgang (…) aus der Außenwelt auf das reine Ich“ (ebd., 815) aus. Mit dem Gedanken des ‚cogito sum‘ wird „das Kriterium der Wahrheit gar nicht mehr ins Sein, sondern nur noch in die ‚Klarheit und Distinktheit‘ der Vorstellung verlegt“ (ebd., 798). Im descartschen Gefolge sieht der Theologe Spinoza (vgl. dazu ebd., 799–804), aber vor allem auch Leibniz. „Wohl nie ist eine christliche Philosophie mit einem so triumphalen Totalitätsanspruch aufgetreten wie das alles wissende, alles bedenkende und versöhnende System des barocken uomo universale Leibniz“ (ebd., 804). In diesem Versuch einer umfassenden Integration aller Wahrheitsaspekte fallen weltliche Harmonie und der „Glanz der Liebe des sich offenbarenden Gottes“ (ebd., 814) letztlich ineinander und werden dem menschlichen Verstand so gleichermaßen verfügbar gemacht. Balthasar spricht in diesem Sinne von einem philosophisch-theologischen Zuviel-Wissen. H III/1.1, 364. H III/1.1, 364. H III/1.1, 365 40 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie die das Sein zu einem Begriff des menschlichen Intellekts verkehrt und verfälscht wurde und wird.84 An dieser Stelle gilt es nun ganz genau hinzuschauen, um Balthasars Anliegen nicht misszuverstehen. Es geht ihm nicht um eine pauschale, undifferenzierte Ablehnung der sogenannten ‚anthropologischen Wende‘, die neuzeitliche „Umzentrierung des Kosmos auf den Menschen“85, durch die der „Mikrokosmos Mensch zu Mitte und Maß der Natur aufrückt“.86 Ganz im Gegenteil: Mit dieser Entwicklung, so seine grundsätzlich positive Wertung, nimmt der Mensch seine schöpfungsgemäße Bestimmung als Herrscher der Schöpfung erst wahrhaft an.87 Entsprechend erkennt von Balthasar in den immer beherrschender gewordenen wissenschaftlichen Strategien der Weltbewältigung, mit deren Einsatz der Mensch „immer weniger Dinge dem bloßen Naturverlauf überläßt, immer mehr Lebensverhältnisse [bis hinein in die verborgensten und intimsten des Menschen selbst] dem Zugriff der forschenden und damit auch praktisch-planenden Ratio unterwirft“88, zunächst einmal ein dem Wesen des Menschen durchaus entsprechendes Bemühen. „Wissenschaft läßt sich nur vom Menschen her definieren; sie ist das Tun des homo sapiens, der auf Grund dieses Tuns auch zum homo faber wird, weil er das Leben und die Dinge so meistert, wie sein verstehender Geist die Welt innerlich theoretisch im voraus gemeistert hat.“89 Das Bestreben, die Welt zu verstehen, um sie gestaltend zu durchwirken, ist demnach so alt wie der Mensch selbst. Was sich dabei im Laufe der Menschheitsgeschichte allerdings gewandelt hat, ist das Verhältnis des Menschen zur Natur,90 wobei Balthasar davon ausgeht, dass „das Gesetz des ‚Wandels als Fortschritt‘ die Ausfaltung der Idee des Menschen in der Welt zum Inhalt hat“.91 Vgl. Enders: Schönheit der Seinsordnung, 85. Gf, 36. Gf, 36. Vgl. Gf 47. Gf, 9. Gf, 9. In Weiterentwicklung des Drei-Stadien-Gesetzes von August Comte geht Balthasar von drei großen Phasen aus, wobei „jede Phase eine durch die folgende nicht einfach übernommene und absorbierte Gültigkeit besitzt“ (Gf, 26). Auf die erste Phase eines religiös magischen Naturverhältnisses folgt demnach „mit dem Durchbruch des Selbstbewusstseins des Geistes“ (ebd. 27) die Phase der Hochreligionen und der Geburt der Philosophie, die ihrerseits wiederum aufgehoben wird in der Phase der Philosophie und Naturwissenschaft und Naturbeherrschung. Zu den einzelnen Phasen und ihrer Entwicklung vgl. Gf 26–48. 91 Gf, 27. Balthasar begründet dies vor allem mit der Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins. „Sofern dies ein innerweltlich qualitativ nicht überschreitbarer 84 85 86 87 88 89 90 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 41 Wenn nun aber wissenschaftliches Arbeiten dergestalt Maß und Form vom menschlichen Wesen her erhält, so muss „jedes wissenschaftliche Urteil … um das Gewicht zu haben, das der Würde wissenschaftlichen Verhaltens überhaupt zukommt, angesichts der Gesamtidee des Menschen gefällt werden“.92 Dieser aber, so haben wir eingangs gesehen, ist nicht nur Welt bewältigender Geist, sondern gerade darin gleichzeitig immer auch wesentlich eine auf die ihm unverfügbare Gabe des Seins hin offene Frage und in diesem Sinne immer schon ein religiöses Wesen. Nur dort also, wo sich der Mensch in der Begegnung und Auseinandersetzung mit weltlich Seiendem zugleich dem Wunder des Seins öffnet und sich darin auf das absolute Sein hin übersteigt, wird er den Dingen wie auch seinem eigenen Wesen gerecht. Diese Perspektive ist in naturwissenschaftlich-technischem Denken nun aber systematisch ausgeblendet, „denn jede Einzelwissenschaft setzt das Da­­ sein ihres Gegenstandes voraus und muß die Frage, warum überhaupt etwas ist, ausklammern.“93 Die Logik der sogenannten exakten Wissenschaften verfolgt mit Ausschließlichkeit das Ziel, vorliegende Fakten auf ihre Gesetzmäßigkeiten hin zu befragen, um sich ihrer auf diese Weise zu bemächtigen und so in immer stärkerem Maße Herrschaft über die Natur zu gewinnen. Ergo bedarf es immer wieder der Vermittlung dieser wissenschaftlichen, das Seiende bewältigenden, mit der religiösen, sich auf die Gabe des Seins angewiesen sein lassenden94 Dimension menschlichen Seins, damit der Mensch nicht der Gefahr erliegt, sich selbst zum letzten Bezugspunkt und Maß aller Dinge zu machen. Nur so ist nach Balthasar den Dingen wie dem Menschen gerecht werdendes Verstehen überhaupt möglich. „Realität der Welt, welcher Ord- Höhepunkt ist, läßt sich sagen, daß der Stufenbau der Welt [ontisch oder gleichzeitig evolutiv betrachtet] sich wesenhaft auf den Menschen zubewegt. Insofern in ihm das Sein [als Wirklichkeit] im Wesen nicht nur an sich, sondern auch für sich ist, sich reflektiert, kann der Mensch als ‚Bild und Gleichnis Gottes‘ bezeichnet werden“ (E, 39). Von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen wird später ausgiebig zu handeln sein (vgl. dazu unten Kapitel 3.2.1). 92 Gf, 57 (Kursiven von mir). 93 SC, 83. 94 Der Gedanke der nicht ineinander auflösbaren Polarität von Passivität und Aktivität innerhalb des kreatürlichen Seins zieht sich immer wieder neu durchbuchstabiert (z. B. Mystik – Theologie, Objekt – Subjekt, Glaube – Theologie, Gabe – Aufgabe, um nur einige der im Folgenden relevanten Zusammenhänge zu nennen) als eine zentrale Figur durch das Denken Balthasars. Er wird also auch in dieser Untersuchung noch mehrfach aufzugreifen sein, wobei sich immer wieder zeigen wird, dass ungeachtet der grundsätzlichen Interdependenz dem passiven Moment im Sinne Balthasar Priorität einzuräumen ist (vgl. etwa die Ausführungen zu Balthasars Wahrheitsverständnis [vgl. unten Kapitel 2.2]). 42 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie nung sie auch angehören mag, … kommt nicht anders zur Geltung als innerhalb einer Seins- und damit auch einer S i n n-vorgabe der Vernunft … Deshalb hat eine eigene Wissenschaft über diese Vorgabe zu wachen, sie zu prüfen und zu rechtfertigen: die Philosophie.“95 Wenn von Balthasar ‚der Philosophie‘ diese Aufgabe zuspricht, so steht dabei, daran sei noch einmal erinnert, sein Konzept der Integration von Philosophie und Theologie immer schon im Hintergrund: „Indem Philosophie die Voraussetzungen für die sinnstiftende und sinnspendende Funktion der Vernunft in deren Offensein für die Allheit des Sein entdeckt, mit dieser Allheit aber notwendig der Gedanke des absoluten und göttlichen Seins auftaucht, grenzt Philosophie notwendig an Religion, wenn sie nicht gar, in ihrer eigenen Tiefe, ineinsgesetzt wird mit der gedanklichen Seite der Religion oder, was dann auf das Gleiche herauskommt, mit der ‚natürlichen Theologie‘.“96 Damit sind wir nun wieder bei der am Ausgangspunkt dieser Überlegungen stehenden Kritik Balthasars angelangt. Diese ihr eigentliches Wesen ausmachende Vermittlungsaufgabe erfüllt die neuzeitliche Philosophie seiner Überzeugung nach nämlich in keiner Weise. Im Gegenteil: Sie hat die ihr anvertraute metaphysische Grundfrage vergessen, sodass die „auf sinnliche Empirie beschränkte Vernunft … von da ab (begann), sich mit Naturwissenschaften die Zeit zu vertreiben, in der sie es weit gebracht hat, so weit, daß sie heute die fortvegitierende philosophische Frage in sich hinein absorbiert und zum Schweigen bringt.“97 Noch einmal: Nicht die naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Welt als solche ist im Sinne Balthasars philosophisch und vor allem theologisch in Frage zu stellen. Wohl aber die weitgehende perspektivische Beschränkung, in der sie geschieht. „Die Menschheit heute ringt mit dem 95 Gf, 14. 96 Gf, 14. In dieser Schrift aus dem Jahr 1956 geht Balthasar noch sehr optimistisch davon aus, dass „der moderne Mensch … die wache Forderung spürt, Wissenschaft nicht abzulösen von Weltanschauung und Religion als vom tragenden und rechtfertigenden Ursprungsgrund menschlichen Handelns und Entscheidens“ (ebd. 22), weshalb „auch die Entwicklungsphasen der modernen wissenschaftlichen Kosmologie … dauernd begleitet (sind) von einer auf alle Wandlungen der Weltbildes achtsamen religiösen Philosophie, die ihr Normierungsamt keinen Augenblick aus der Hand zu geben gewillt ist“ (ebd. 20). Entsprechend großes Zutrauen besteht hier noch im Hinblick auf die Wächterfunktion der Philosophie. Bereits in seiner „Rechenschaft 1965“ zeigt er sich diesbezüglich allerdings bereits ernüchtert und enttäuscht (vgl. ebd., 26 f = ZsW, 67 f = MW, 61). In seinen späteren Schriften dann, vor allem in „Cordula oder der Ernstfall“ (1966) aber auch in H III/1.2 (1965) verleiht Balthasar einer scharfen Philosophieund Metaphysikkritik deutlich Ausdruck. 97 SC, 289. 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 43 materiellen Kosmos, um ihn zu beherrschen. Das ist ein Teil ihrer Bestimmung, der durch die Wege der Metaphysik den Schein der Ganzheit erhielt“.98 Die neuzeitliche Bewegung der sogenannten ‚anthropologischen Wende‘, die einen gerade auch aus schöpfungstheologischer Sicht berechtigten Sinn als bewusste Annahme der dem Menschen von Gott zugedachten Stellung innerhalb der Schöpfung hat, wird demnach durch die Verabsolutierung der horizontalen, i. e. weltimmanenten, Dimension zu einer „anthropologischen Reduktion“ 99 pervertiert. Mit dieser Formel ist nach Balthasar die Grundsignatur unserer Zeit erfasst. „Der Konstruktionspunkt von dem aus die Welt und das Wissen um die Wirklichkeit entworfen wird, ist die Subjektivität des Menschen.“100 Der Mensch ist damit letzter Bezugspunkt. „Ihn vom Sein umgriffen … zu denken ist müßig, es sei denn, man beziehe dieses Sein auf den schöpferischen und geistigen Gott, der im System ein Fremdkörper bleibt.“101 Seinsblindheit ist bei Balthasar daher gleichbedeutend mit Gottesblindheit.102 Dem Denken bleiben logisch jetzt nur zwei Wege: Entweder die atheistische Leugnung Gottes, womit das System ‚bereinigt‘ wäre oder aber die systematische ‚Anpassung Gottes‘, indem er dem menschlichen Denken auf einem der beiden Wege des Rationalismus oder des pantheistischen Idealismus unterstellt wird. In diesem Sinn wirft Balthasar der neuscholastischen Theologie denn auch vor, in ein „Bewältigungsdenken“103 verfallen zu sein, was seiner Auffassung nach einer Selbstauflösung in eine positivistische Wissenschaft gleichkommt. Gott wird dem menschlichen Denken scheinbar verfügbar, so wie auch weltliche Dinge ihm verfügbar sind. Dies aber hat fatale Konsequenzen, denn „wo die Frage untergeht, hat die Antwort keine Chance mehr, aufzutreffen.“104 Wo die Welt nicht mehr nach Gott fragt, da kann Gottes (Ant) 198 H III/1.2, 980 (Kursiven von mir). 199 GL, 19 (Kursiven von mir). Zur Entfaltung des Begriffs vgl. ebd. 19–32. 100 101 102 103 104 Es ist sicherlich nicht zu übersehen, dass der balthasarschen Kritik an der neuzeitlichen Philosophie eine sehr einseitige Wahrnehmung zugrunde liegt. Denkansätze, die sich kritisch von positivistischen Strömungen absetzen, wie etwa die Lebensphilosophie Diltheys, die Sprachphilosophie Wittgensteins oder auch die philosophische Hermeneutik Gadamers, um nur einige prominente Beispiele zu nennen, nimmt er kaum oder gar nicht zur Kenntnis. Löser: Sein – ausgelegt als Liebe, 413. CE, 56. Vgl. R, 31 (= ZsW, 73 = MW, 71). Vgl. dazu CE, 49–62, bes. 54–57. Dies ist im Kern auch der Vorwurf, den Balthasar gegen die Transzendentaltheologie rahnerschen Zuschnitts erhebt (vgl. dazu Lochbrunner: Analogia Caritatis, 125 f). SC, 284. 44 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie Wort nicht mehr an sie ergehen. Was dann dennoch über Gott gesagt wird, ist letztlich nichts anderes als menschliches Wort, das sich in seiner Hybris unweigerlich selbst entlarven muss. „Wenn es schon für den echt bekümmerten und existentiell fragenden Laien eine solche [oft kaum zumutbare] Belastung ist, sonntags von einem je-schon-bescheidwissenden Kleriker über Gott aufgeklärt zu werden, so läßt sich verstehen, warum sich die Welt eines Tages als hinreichend über Gott aufgeklärt gefühlt und deklariert hat und wie es ihr verleidet worden ist, die Frage zu stellen, die, in die stereotypen Katechismusfragen hineinkanalisiert, die ebenso stereotypen Antworten bereitfindet.“105 Balthasar spricht in diesem Zusammenhang von einem neuscholastischen Zirkel innerhalb dessen modernes Denken zwischen Seins- und Gottvergessenheit kreist.106 Soll die Frage nach Gott und damit die Ansprechbarkeit des Menschen für Gott in der Welt nicht endgültig verstummen, so gibt es seiner Überzeugung nach nur einen einzigen Ausweg, nämlich den der Neubelebung der Seinsfrage, weil „das Christliche immer wieder nur als Antwort auf die Seinsfrage im Ganzen … sich den Menschen plausibel machen kann. Wo die Seinsfrage nicht ertönt, wird die Theologie mysterienlos-positivistisch.“107 Damit sind wir nun beim eigentlich Originären des balthasarschen Denkansatzes angelangt. Wenn im Folgenden von seiner Neubelebung der Seinsfrage die Rede sein wird, so darf darunter keinesfalls eine Renaissance der antiken Metaphysik, gleichsam ein Schritt zurück hinter neuscholastisches Denken, hin zu den griechischen Wurzeln gedacht werden.108 Balthasar will nicht etwa das Rad der Geschichte zurückdrehen; vielmehr verfolgt er ausdrücklich einen theoretischen Neuansatz. Sein Grundgedanke dabei ist, dass Meta-Physik für uns heute eben nicht mehr „den Akt des Überstiegs über die Physis besagt, die für die Griechen den ganzen Kosmos umfaßte, von dem der Mensch ein Teil war. … Der Kosmos vollendet sich für uns im Menschen, der zugleich Zusammenfassung der Welt ist und ihr Überstieg.“109 Diese veränderte Weltsicht macht es unabdingbar, die Seinsfrage aus einer entsprechend veränderten Blickrichtung anzugehen. „Unsere Philosophie wird also wesentlich eine Meta-Anthropologie sein, die nicht nur die kosmologischen, sondern auch die anthropologischen Wissenschaften zur Vorraussetzung hat und sie auf die SC, 284. Vgl. H III/1.2, 386. SC, 289. Zur Absage Balthasars an solche Versuche antiker Vermittlung vgl. bes. H III/1.2, 593– 787. 109 ZsW, 98 (= MW, 92). 105 106 107 108 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 45 Seins- und Wesensfrage des Menschen hin übersteigt.“110 Balthasar tritt also an, die klassische Seinslehre von der existenzialen111 Verfasstheit des Menschen her neu zu durchdringen, „wobei alle früher gestellten Grundfragen der Philosophie ein neues Gesicht erhalten“112. An dieser Stelle ist es nun aus einem doppelten Grund unerlässlich, den Versuch zu unternehmen, die unterschiedlichen, stark miteinander verwobenen Dimensionen der Gedankenführung Balthasars offen zu legen. Zunächst einmal führen sie natürlich zu seinem Verständnis von Sein, das es hier ja zu ergründen gilt. Weil aber, wie dargelegt, nach balthasarscher Überzeugung auch und gerade die Theologie untrennbar an die metaphysische respektive meta-anthroplogische Urfrage gebunden ist, ergeben sich die wesentlichen originären inhaltlichen wie methodischen Grundzüge seiner Theologie notwendig aus seinem Umgang mit der Seinsfrage. Mit anderen Worten: Gelingt es, das Seinsverständnis Balthasars zu erschließen, so ist damit bereits auch Wesentliches bezüglich seines Theologieverständnisses zumindest markiert. Nur darum kann und soll es an dieser Stelle gehen. Die einzelnen, sich mit diesem Seinsverständnis eröffnenden theologischen Gehalte, gilt es dann im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung im Hinblick auf die Höllenthematik eingehend zu bedenken. 2.1.2.2 Das Wunder des Seins aus meta-anthropologischer Perspektive Balthasars Unterfangen der philosophischen Neubelebung der Seinsfrage besteht im Wesentlichen darin, „seine eigenen, speziellen Überlegungen in das ontologische Erbe der klassischen Philosophie einzufügen.“113 Er ist also keineswegs bestrebt, aus meta-anthropologischer Perspektive gleichsam eine völlig neue Seinslehre zu konzipieren. Vielmehr werden die zentralen Gehalte der traditionellen Lehre „in einer umfassenderen Sichtweise wiederaufge- 110 ZsW, 98 (= MW, 92); Kursiven von mir. Mit dem Begriff Meta-Anthropologie greift Balthasar ein Diktum seines Vetters Peter Henrici auf (vgl. Ce, 107 f). 111 Mit dieser Wortwahl schließe ich mich bewusst der Heideggerschen Terminologie an. Martin Heidegger verwendet das Kunstwort ‚existenzial‘ zur Bezeichnung der Strukturen, die die Existenz im Sinne der Seinsweise des Daseins konstituieren. Von ‚existentiell‘ spricht er im Unterschied dazu, wenn es ihm um die Existenz selber geht (vgl. Luckner: Martin Heidegger, 20). Von Balthasar geht es in seinem Ansatz beim kreatürlichen, endlichen Sein des Menschen wesentlich um die Erhellung der konstitutiven Strukturmerkmale, um von dort aus eine Verhältnisbestimmung von Seiendem, Sein und absolutem Sein annähern zu können. 112 Ce, 107 f . 113 Scola: Theologischer Stil, 27. 46 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie nommen, nämlich in der einer existentiellen Verfasstheit des Menschen“114, mit dem Ziel, sie dergestalt gleichermaßen zu erhärten wie für heutiges Denken neu fruchtbar zu machen. Der Mensch ist, so Balthasars fundamentale Überzeugung, das Wesen „das als konkrete Universalität die Idee der Welt ist und deshalb auch der Ort, wo Sein überhaupt verstanden und erhorcht wird.“115 Eine Annäherung an die Seinsfrage ist demnach nur möglich über eine Reflexion auf das Wesen des Menschen. In diesem seinem Ansatz vollzieht Balthasar nun allerdings einen entscheidenden Paradigmenwechsel. Jörg Disse verweist dazu in seiner Habilitationsschrift auf eine von ihm entdeckte unveröffentlichte Schrift Hans Urs von Balthasars, die er auf den Zeitraum zwischen 1939 und 1941 datiert.116 Unter dem Titel „Geeinte Zwienatur. Eine philosophische Besinnung“ bemüht sich Balthasar „im Rückgang bis auf die Anfänge der Metaphysik … noch im Rahmen der antik-scholastischen Begrifflichkeit die falsche Weichenstellung in Bezug auf das Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem aufzudecken.“117 Sein Ziel dabei ist es, die mit dem Erbe der griechischen Philosophie und ihres Dualismus von Begriff und Anschauung übernommene Zuordnung eines abstrakten Seins zur Metaphysik, der konkreten seienden Dinge dagegen zu den Einzelwissenschaften zu überwinden und auch das Seiende als Gegenstand der Metaphysik auszuweisen. Aus diesem Grund destruiert er den nach seinem Verständnis für griechisches Seinsdenken charakteristischen metaphysischen Stammbaum des Menschen nach Porphyrius um ihn seinerseits durch ein gegenläufiges Paradigma zu ersetzen. Der sogenannte ‚Baum des Porphyrius‘ stellt sich folgendermaßen dar:118 114 Scola: Theologischer Stil, 33. „Die Punkte sind überkommen, neu aber sind die Linien, 115 116 117 118 anders die Dimensionen“ (Heinz: Gott des Je-mehr, 10). Gf, 49. Vgl. dazu Disse: Metaphysik der Singularität, 56–68. Disse: Metaphysik der Singularität, 56. Balthasar, Hans Urs von: Geeinte Zwienatur. Eine philosophische Besinnung Manuskript, Basel, Archiv Hans Urs von Balthasar, 19; hier wiedergegeben nach: Disse: Metaphysik der Singularität, 61. 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 47 Sein Akzidens Substanz Einfache Zusammengesetzte Sein(Geist) (Leib) Akzidens Substanz Tote Lebende Einfache Zusammengesetzte (reiner Stoff) (Lebewesen) (Geist) (Leib) Tote Lebende sinnlose (reiner Stoff) (Lebewesen) sinnhafte (Pflanze) (Tier) sinnlose (Pflanze) sinnhafte (Tier) vernunftlose vernunfthafte (Mensch) vernunftlose vernunfthafte (Tier) (Tier) (Mensch) ? Individuum ? Individuum Diesem Schema zufolge ist das abstrakte begriffliche Sein das Eigentliche, dem IndiviDiesem Schema zufolge ist das abstrakte begriffliche Sein das Eigentliche, dem dualität lediglich lediglich noch äußerlich Metaphysische demnach Individualität nochzukommt. äußerlich zukommt. Seinserkenntnis MetaphysischeistSeinserkenntnis ist demnach nur in Ablösung vom konkreten Seienden möglich. nur in Ablösung vom konkreten Seienden möglich. 119 119 Diesem Verständnis setzt Balthasar nun seineentgegen: Sicht entgegen: Diesem Verständnis setzt Balthasar nun seine Sicht (Sein) - (Sein 1) (Substanz) Sein 2 - Sein 3 Substanz 1 Substanz 2 Körper Körper 1 Lebewesen Sein 4 Substanz 3 Körper 2 Lebew. 1 Sinnenwesen Sein 5 Substanz 4 Körper 3 Lebew. 2 Sinnenw. 1 Vernunftw. Sein 6 Substanz 5 Körper 4 Lebew. 3 Sinnenw. 2 Vernunftw.1 dieser Mensch Hier erfolgt Seinserkenntnis gerade nicht unter Absehung vom Einzelnen, Besonderen. Im Gegenteil, „wir erschließen das Sein eines jeden Dinges, sowie Sein als solches nur, indem wir die Individualität des jeweiligen Seienden berücksichtigen, d. h. indem wir 119 Balthasar: Geeinte Zwienatur, 20; hier wiedergegeben nach: Disse: Metaphysik der Sinjedes Einzelwesen in seinem konkreten Gesamtsein sehen lernen bzw. von diesem Ge- gularität, 62. samtsein aus zum Gesamtsein des weltlich Seienenden überhaupt aufsteigen.“120 Balthasar weist also seinerseits auch und gerade das Individuelle als Materialobjekt der Metaphysik aus. 48 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie Hier erfolgt Seinserkenntnis gerade nicht unter Absehung vom Einzelnen, Besonderen. Im Gegenteil, „wir erschließen das Sein eines jeden Dinges, sowie Sein als solches nur, indem wir die Individualität des jeweiligen Seienden berücksichtigen, d. h. indem wir jedes Einzelwesen in seinem konkreten Gesamtsein sehen lernen bzw. von diesem Gesamtsein aus zum Gesamtsein des weltlich Seienenden überhaupt aufsteigen.“120 Balthasar weist also seinerseits auch und gerade das Individuelle als Materialobjekt der Metaphysik aus. Vor diesem Hintergrund also ist die balthasarsche Interpretation der traditionellen Seinslehre zu sehen. Er macht den konkreten Einzelmenschen zum Ausgangspunkt seiner Neuinterpretation und buchstabiert die wesentlichen Gehalte von ihm her durch. Leitend dabei ist die moderne Grundeinsicht in die wesentlich dialogische Verfasstheit des menschlichen Wesens. „Der Mensch existiert nur im Dialog mit seinem Nächsten.“121 Wenn Balthasar also vom konkreten Menschen spricht, so meint er damit kein isoliertes Wesen, sondern immer schon „die je einzelne Person in der Gemeinschaft“.122 Seine metaphysische Betrachtung des Seins setzt unmittelbar beim je einzelnen Menschen in seiner Verwiesen- und Bezogenheit auf andere Seiende an und überschreitet dergestalt „das traditionelle Denken … in einen geschichtlichen und dialogischen Denkansatz hinein“123. Dadurch aber erfährt der metaphysische Entwurf des Seins sowohl hinsichtlich seiner formalen, wie auch in seiner materialen, inhaltlichen Struktur124 wesentliche Neubestimmungen. „Die Unterscheidung von material und formal versteht sich hier als Hilfsgröße zur besseren Erklärung.“125 Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich in den folgenden Darlegungen nur um eine rein analytische Trennung von zwei nach balthasarschem Verständnis sich wechselseitig durchdringenden und bedingenden Dimensionen des Seins handeln kann und soll. 120 Disse: Metaphysik der Singularität, 62. 121 ZsW, 98 (= MW, 92). Diese fundamentale, für sein gesamtes Denken prägende Einsicht 122 123 124 125 verdankt Balthasar nicht zuletzt seiner Freundschaft mit dem Arzt, Psychiater, Philosophen und Theologen Rudolf Allers, der ihm während seiner Wiener Studienjahre „ein fast unerschöpflicher Quell von Anregung (war). Gegner Freuds, hat er … den Blick für die mitmenschliche Liebe als das objektive Medium menschlicher Existenz gehabt und mitgeteilt, in dieser Wende vom Ich weg zur Wirklichkeit voller Du lag für ihn die philosophische Wahrheit und psychotherapeutische Methode“ (R, 34; = ZsW, 76). Gf, 60. Römelt: Personales Gottesverständnis, 73. Mit dieser Unterscheidung greife ich einen Vorschlag Manfred Lochbrunners auf (vgl. ders.: Analogia Caritatis, 107). Lochbrunner: Analogia Caritatis, 107. 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 49 2.1.2.2.1Formale Struktur des Seins Zur Bestimmung der formalen Struktur des Seins greift Balthasar die thomanische Lehre von der Realdistinktion, i. e. von einer alles weltlich Seiende durchwaltenden „reale(n) Differenz zwischen dem Sein als Wirklichkeit und den einzelnen Wesen“126 auf. Das Sein, so betont Balthasar immer wieder, ist hier zum letzten Mal Mysterium, bevor es zum eindeutigen Begriff formalisiert wird.127 Sein Anliegen ist es, diese Geheimnishaftigkeit wieder neu bewusst zu machen, um dergestalt einen Ansatzpunkt zur Überwindung der Formalisierung des Seinsbegriffs zu einer Kategorie menschlichen Denkens und somit auch des theologischen Bewältigungsdenkens zu gewinnen. In diesem Sinne also greift er die Realdistinktionslehre auf, um sie ausgehend vom Einzelmenschen über vier Stufen vertiefend zu entfalten.128 „Dabei sieht Balthasar die Differenz nicht nur zwischen … Seienden und Sein, Wesenheiten und Sein sondern zutiefst als die Differenz zwischen allgemeinem Sein und Gott.“129 126 E, 38. Balthasar ist stets an einem phänomenologischen Aufweis der Realität dieser ontologischen Differenz gelegen. Schon in einem frühen Aufsatz thematisiert er die Spannung „Verstehen oder gehorchen“ und bemüht sich darin um „eine ‚Verifikation‘ der Realdistiktion“, indem er bei „bei anthropologischen Gegebenheiten an(setzt), die der Erfahrung zugänglich sind“ (Löser: Im Geiste des Origenes, 20). In derselben Absicht sucht er auch von jeher das Gespräch mit der Lebensphilosophie, von der er hofft, sie könne „zu einer Neubelebung jener in sich erstarrten und abstrakt gewordenen Lehre von Wesen und Dasein führen. Es würden sich plötzlich, was in der Philosophiegeschichte noch ganz selten der Fall war, phänomenologische Zugänge zur Lehre von der Realdistinktion finden“ (Balthasar: Von den Aufgaben der katholischen Philosophie, 33; vgl. auch ders.: Philosophie und Theologie des Lebens, 46–52). Wenn Jörg Disse den Vorwurf erhebt, Balthasar gehe von dem Paradox zwischen Seinsfülle und Seienden aus, ohne eine Begründung zu liefern (vgl. ders.: Metaphysik der Singularität, 201) und führe damit eine Unterscheidung ein, für die es nicht einmal „die Andeutung einer phänomenalen Grundlage gibt“ (ebd., 207), was letztlich bedeute „an den Kategorien des Weltverständnisses der eigenen Zeit vorbei Metaphysik (zu) betreiben“ (ebd., 208), so wird diese Kritik m. E. dem Bemühen Balthasars nicht gerecht. Er versucht sehr wohl „über den thomistischen Begriff der ‚distinctio realis‘ hinaus eine phänomenologische Real-Ontologie des Verhältnisses von esse und essentia zu entfalten“ (Bauer: Hans Urs von Balthasar, 300). Damit ist freilich noch nichts über das Gelingen eben dieses Versuches ausgesagt; dennoch meine ich, dass er zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen ist. 127 Vgl. SC, 288; E, 36 f. 128 Der Frage, inwieweit die balthasarsche Interpretation in allen ihren Teilaspekten tatsächlich der thomanischen Lehre gerecht wird, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiter nachgegangen werden. Vgl. dazu Enders: Schönheit der Seinsordnung, 80–86. 129 Henrici: Zur Philosophie Hans Urs von Balthasars, 257. „Metaphysical wonder … is possible only where the horizon of being itself is not closed but is constituted in such a way as to include a ‚more‘: in other words, to include a difference“ (Schindler: Dramatic Structure of Truth, 32). 50 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie Ansatzpunkt ist die Erfahrung der Kontingenz des eigenen Daseins, der jeder Mensch in der Begegnung mit anderen Seienden unweigerlich ausgesetzt ist. „Ich kann mich … nie als ein solches Glied am Organismus des Weltseins verstehen, daß ohne mein Dasein dieser Organismus nicht bestehen und heil funktionieren könnte. Ich kann mir nicht die Seinsdignität und den Notwendigkeitsgrad zudenken, die der Welt im ganzen eignen.“130 Es klafft also zunächst einmal eine Differenz auf zwischen der Zufälligkeit des je einzelnen Daseins und der Faktizität des Seins der Welt. Weil der Mensch nun ein soziales Wesen ist, begreift er zugleich darüber hinaus, „daß alle übrigen Seienden zum Sein im gleichen Verhältnis stehen“131. Somit vertieft sich die Differenz auf einer zweiten Stufe: Weil alle Seienden in Ihrem Wirklich-Sein das Sein als Ganzes in sich haben, ist das Sein keinesfalls mit der Summe der Seienden identisch zu setzen. Vielmehr hat das Sein einerseits eine unerschöpfliche, auch über die Summe aller möglichen Seienden hinausgehende Fülle, wobei es aber andererseits zu seiner Verwirklichung gleichzeitig notwendig auf ein konkretes Seiendes angewiesen ist. Beide Momente, das Da-Sein wie das konkrete So-Sein, sind unlösbar miteinander verbunden, ohne jedoch jemals zusammenzufallen oder auf einander rückführbar zu sein. „Das Ganze der Wirklichkeit existiert je nur im Fragment eines endlichen Wesens, aber das Fragment existiert nicht, es sei denn durch das Ganze des Wirklichseins.“132 An dieser Stelle zeigt sich, dass sich Balthasars „metaphysische Wende zum Singulären“133 keineswegs auf einen rein gnoseologisch motivierten Perspektivenwechsel beschränkt, sondern auch sein Seinsverständnis zutiefst durchdringt. Seine Ausführungen zur thomanischen Lehre von der Realdistinktion weichen nämlich deutlich von der traditionellen Interpretation ab, die ein Gefälle implementierte, indem sie dem Sein die Funktion zusprach, das Wesen ins Dasein zu rufen. Balthasar betont demgegenüber den wechselseitigen Bedingungszusammenhang zwischen Da-Sein und So-Sein.134 „Das Sein ist selber auf die Wesenheiten ‚angewiesen‘.“135 Indem Individualität dergestalt 130 131 132 133 134 135 H III/1.2, 947 f. H III/1.2, 948. E, 38. Disse: Metaphysik der Singularität, 66. Vgl. dazu Krenski: Gottesdrama, 48. Römelt: Personales Gottesverständnis, 81. 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 51 als konstitutives Moment des Seins ausgewiesen wird, wird ihr zugleich eine ganz neue Dignität zugesprochen.136 Balthasars Sicht auf die ontologische Differenz impliziert aber noch ein Weiteres. Wenn nämlich jedes Seiende seinem Wesen nach immer in der unauflösbaren Spannung zwischen der Überfülle der Seinsmöglichkeiten und seinem faktischen So-Sein steht, dann ist „das Wesen … also weit davon entfernt, jeweils verwirklicht zu sein.“137 Vielmehr ist weltliches Sein als eine unaufhaltsame Bewegung, als ein Pendeln zwischen den beiden Polen zu beschreiben. In diesem Sinne ist „eine mit der Dasein-Sosein Polarität im endlichen Seienden unmittelbar mitgegebene Struktur … dessen Zeithaftigkeit.“138 Zeit wird zunächst einmal als Gegenwart erfahren; „in ihr meldet sich das Da des Seins“139. Weil nun aber die Fülle des Seins immer weit über die an ihr teilhabende konkret daseiende Verwirklichung hinausgeht, wohnt jedem Dasein zugleich die Verheißung zukünftiger Möglichkeiten inne. „Zukunft ist der Überschuß über die Gegenwart, der aber nicht hinter, sondern gerade in ihr verborgen liegt“.140 Balthasar geht deshalb so weit zu mutmaßen, Realdistinktion und Zeit seien letztlich nichts anderes, als zwei unterschiedliche Perspektiven auf dieselbe Wirklichkeit.141 Er rückt also deutlich von dem zeitlos-statischen Seinsbegriff der klassischen Metaphysik ab und setzt seinerseits ein Verständnis dagegen, wonach „das Phänomen der Zeit ins Herz der geschöpflichen Ontologie hinein gehört“142. In der Erkenntnis der wechselseitigen Bedürftigkeit von Sein und Seiendem wird nun nach Balthasar das menschliche Denken weitergetrieben. Indem es begreift, dass das Sein keinen Bestand in sich hat, muss es auf einer dritten Stufe unweigerlich auch einsehen, „daß das Sein im ganzen oder das Wirklichsein alles Wirklichen die wirklichen Wesenheiten nicht aus sich selber entlässt, weil verantwortendes Auszeugen von Formen selbstbewußten 136 Der Aspekt der Werthaftigkeit des Einzelnen wird im Hinblick auf Fragen der indivi- 137 138 139 140 141 142 duellen Eschatologie eingehend zu erörtern sein und soll daher an dieser Stelle nicht weiter bedacht werden. TL I, 218. Löser: Im Geiste des Origenes, 27 (Kursiven von mir). Heinz: Gott des Je-mehr, 25. Heinz: Gott des Je-mehr, 25. Vgl. Balthasar: Von den Aufgaben der Katholischen Philosophie, 3. In der Theologik heißt es ganz ähnlich, „daß die geheimnisvolle Nichtidentität zwischen Wesen und Dasein sich innig berührt mit dem Phänomen der Zeit“ (TL I, 219). An anderer Stelle findet sich sogar die zugespitzte Formulierung „Realdistinktion sagt: Nichtidentität, daher Werden, daher Zeit“ (Balthasar: Philosophie und Theologie des Lebens, 50). TL I, 220. 52 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie freien Geist voraussetzen würde.“143 Hinter dem zu seiner Verwirklichung auf das Seiende angewiesenen und in diesem Sinne unfreien Sein muss also notwendig ein dieses Sein und damit auch alles weltlich Seiende begründendes, freies, subsistierendes, absolutes Sein gedacht werden. An der Nichtsubsistenz des Seins „bricht … die letzte (vierte; S. H.) Tiefe der Differenz, die Gegenüberständigkeit von Gott und Welt auf.“144 Damit nun sieht Balthasar die thomanische Definition des Seins als „die erste von Gott ausströmende Weltwirklichkeit, woran teilnehmend alle Wesen wirklich sind“145, eingeholt. Er erkennt gerade darin die „schöpferische Hauptleistung“146 des Thomas, in aller Deutlichkeit zwischen dem Sein als Weltwirklichkeit und Gott als Quelle eben dieser Wirklichkeit unterschieden zu haben. Zum einen wird dadurch natürlich „Gott … über alles Weltsein, alle Berechenbarkeit und Anzielbarkeit hinaus entrückt, als das ernstlich GanzAndere“147. Indem Balthasar diese Bestimmung seinerseits über einen anthropologischen Zugang zu bestätigen sucht, trägt er also zunächst einmal seinem Anliegen Rechnung, das absolute Sein Gottes auf auch für heutiges Denken plausible Weise als jedem Zugriff durch die menschliche Vernunft grundsätzlich entzogen auszuweisen und so jedwedem Bewältigungsdenken den Boden zu entziehen. „Gott kann von der Welt aus nicht dadurch ‚konstruiert‘ werden, daß dem ‚einfachen, unteilbaren, aber nicht subsistierenden‘ Wirklichen eine un-endliche Wesenheit gleichgesetzt wird“148. Zum anderen aber führt diese aus der Betrachtung der formalen Struktur erwachsene fundamentale Unterscheidung zwischen Gott und Sein von Balthasar auch zur Bestimmung der inhaltlichen Struktur des Seins. 2.1.2.2.2 Materiale Struktur des Seins Das Sein, so haben wir gesehen, ist wesentlich Fülle von Möglichkeiten, die aber in weltlich Seiendem nie zu ihrer vollen Entfaltung kommen kann. „Diese Fülle kann sich nur einmal absolut ausbreiten: in Gott“149. Gott ist in sich absolut erfüllt und in diesem Sinne des Seins der Welt gänzlich unbedürftig. Die Existenz der Welt unterliegt daher keiner wie auch immer zu denkenden Notwendigkeit; sie ist völlig ungeschuldete Gabe. Gottes „Fülle (ist) als solche 143 144 145 146 147 148 149 H III/1.2, 954. Römelt: Personales Gottesverständnis, 84. H III/1.1, 336. H III/1.1, 354. H III/1.1, 354. E, 40. H III/1.2, 955. 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 53 reine Mächtigkeit … aus deren Mögen alles Mögbare als das Vermögen hervorgeht, deshalb reine Freiheit, und als nicht an sich haltende … Freiheit reine Schenkung und Liebe.“150 In seiner Unterscheidung von Gott, und nur hier, so wird man mit Balthasar sagen müssen, ist das Sein nicht anders zu verstehen, denn als freie Gabe der Liebe. „Eben wenn das Geschöpf sich im Sein von Gott abgerückt fühlt, weiß es sich aufs unmittelbarste von Gottes Liebe erdacht“151. „Der metaphysische Ansatz im Denken und Werk Hans Urs von Balthasars verdichtet sich zur Kurzformel: Sein als LIEBE. Sein und Liebe sind koextensiv.“152 Diese Aussage erwächst einmal mehr aus dem unlösbaren Ineinander von Philosophie und Theologie im Denken Balthasars. Zu der Einsicht, dass Sein gleichbedeutend mit Liebe ist, vermag die menschliche Vernunft nämlich keinesfalls von sich aus zu gelangen; sie ist vielmehr nur von der Selbstoffenbarung göttlich-trinitarischer Liebe in Jesus Christus her möglich. Die metaphysische Einsicht in die Gott-Welt-Differenz bildet zwar den notwendigen Verstehenshorizont, in den hinein Offenbarung allein ergehen kann, ihre Vollendung findet die Metaphysik aber nur in der Reflexion auf das Offenbarungsgeschehen. „Vom theologischen Apriori her, d. h. von der gesamten Heilsgeschichte, die in Jesus Christus ihren Höhepunkt hat, klärt sich der Seinsbegriff.“153 In diesem Licht erst kann der Mensch begreifen, dass sein Gott-gegenüber-Stehen Geschenk der Anteilgabe am göttlichen Liebesgeschehen ist. Damit aber erscheint das Sein als personale Beziehung. „Das Seinsverständnis, das in von Balthasars gesamtem Werk waltet, ist ein ‚dialogisches‘. Nicht das Sein als Bei-sich-Sein, sondern das Sein als Gespräch und Begegnung bestimmt das Denken.“154 Mit diesem Verständnis des Seins rücken nun notwendig auch seine Eigenschaften, in ein neues Licht. Das Sein ist ein sich mitteilendes, an sich teilgebendes; Sein ist Liebe. „Liebe wird in ihrer inneren Wirklichkeit nur von Liebe 150 H III/1.2, 955. 151 H III/1.1, 363. 152 Lochbrunner: Analogia Caritatis, 112. Der zweite Teil der Formel findet sich ursprüng- lich in: Balthasar: Zugang zur Wirklichkeit Gottes, 17. Holger Zaborowski spricht, sehr zutreffend, wie ich meine, im Hinblick auf das balthasarsche Denkmuster von einer „Hermeneutik der Liebe“ (ders.: Katholische Integration, 39). 153 Lochbrunner: Analogia Caritatis, 110. Werner Löser spricht in diesem Sinne auch von einer „theologischen Ontologie“ Balthasars (vgl. ders.: Unangefochtene Kirchlichkeit, 477). 154 Löser: Unangefochtene Kirchlichkeit, 477 (Kursiven von mir). Einmal mehr rückt damit auch die geschichtliche Dimension in den Fokus. 54 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie erkannt.“155 Sein verstanden als Liebe kann daher nur in liebender, i. e. interessenloser Hinwendung zum anderen Seienden erblickt werden. Entsprechend buchstabiert von Balthasar auch die traditionelle Tanszendentalienlehre neu durch. „Die Transzendentalien werden in der Begegnung entdeckt, denn in Wirklichkeit ist jede Begegnung eine Begegnung mit dem Sein und die Transzendentalien sind Eigenschaften des Seins als solchem“156. Auch hier denkt Balthasar also wieder vom konkreten Einzelmenschen in seiner existentiellen Ausrichtung auf ein Gegenüber her. Erkenntnis des Seins und seiner Eigenschaften kommt ihm nicht etwa in theoretischer Reflexion auf ein abstraktes, allgemeines Sein zu, sondern einzig in der konkreten Begegnungssituation. Balthasar bleibt also auch in seiner Interpretation der klassischen Lehre von den Transzendentalien seiner meta-anthropologischen Perspektive treu. Fundiert und ermöglichend begründet werden in seiner Sichtweise alle bewussten, differenzierenden Erfahrungen des Seins, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht, in einer vorreflexiven metaphysischen Urerfahrung, die dem Kind in der liebenden Zuwendung seiner Mutter zuteil wird. „Sein Ich erwacht an der Erfahrung des Du: am Lächeln der Mutter, durch das es erfährt, daß es in einem unfaßlich-Umgebenden, Schon-Wirklichen, Bergenden und Nährenden eingelassen, bejaht, geliebt wird.“157 In dieser ganzheitlichen Erfahrung erschließt sich nach Balthasar das Sein als solches in unüberholbarer Weise. „Alles, restlos alles, was später hinzutreten mag und unweigerlich dazukommen wird, muß Explikation dieser ersten Erfahrung bleiben“158, die wesentlich als eine Erfahrung des Verdanktseins, des SichEmpfangens aus der Liebe der Mutter zu beschreiben ist. In diesem einen Moment erschließt sich das Sein in seiner ganzen Fülle und zeigt dem Kind gleichzeitig vier Dinge: „1. Daß es ‚eins‘ ist in der Liebe mit der Mutter, obwohl ihr gegenübergestellt, also daß alles Sein ‚eins‘ ist. 2. Daß diese Liebe ‚gut‘ ist: 155 GL, 49. 156 Scola: Theologischer Stil, 34. Balthasar erliegt also nicht der Gefahr der metaphy- sischen Verdoppelung von Wirklichkeit. Im Seienden kommt das Sein selbst zur Erscheinung. „Die Erscheinung ist kein zweites selbständiges Sein neben dem Grund, sie ist der Grund selbst, sofern er erscheint“ (TL I, 246). Dieser Aspekt wird im Zusammenhang mit dem balthasarschen Wahrheitsverständnis noch darzustellen sein und kann deshalb an dieser Stelle vernachlässigt werden. 157 H III/1.2, 945. 158 H III/1.2, 946. David Schindler handelt ausgiebig davon, wie auch die formale Struktur des Seins sich dem Menschen in dieser Urerfahrung als Einheit erschließt; vgl. dazu ders.: Dramatic Structure of Truth, 50–58. 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 55 also alles Sein ‚gut‘ ist. 3. Daß diese Liebe ‚wahr‘ ist, also alles Sein ‚wahr‘ ist. 4. Daß diese Liebe ‚Freude‘ weckt, also alles Sein ‚schön‘ ist.“159 Damit nun sind die transzendentalen Eigenschaften des Seins im Sinne klassischer Metaphysik eingeholt, erscheinen jedoch in einem entscheidend anderen Verhältnis zueinander. „Die Transzendentalien sind keine Kategorien, die als endliche Gehalte gegeneinander de-finiert werden können; sie sind durchgehende Bestimmungen des Seins als solchen und liegen deshalb ineinander.“160 Damit aber ist zugleich gesagt, dass sie auch nur mit- und durcheinander zu begreifen sind. „Der Transzendentaliensatz relativiert den seit Beginn der abendländischen Philosophie sich mehr oder weniger ausdrücklich behauptenden, seit der Neuzeit geradezu verabsolutierten ‚Primatsanspruch‘ der begrifflichen Erkenntnis und gibt ein mehrdimensionales, gleichursprüngliches Gefüge von Grundvollzügen frei.“161 Das Sein ist demnach auch im Hinblick auf seine materiale Struktur der menschlichen Vernunft nicht verfügbar. Dieser Befund vertieft sich noch einmal mit Blick auf das bereits über die formale Struktur Gesagte. Die Einheit des Da-Seins, so wird man von dort her sagen müssen, steht in unauflösbarer Spannung zur Einheit des je einzelnen So-Seins. Einheit als transzendentale Eigenschaft des Seins ist also „nicht platte, univoke Identität, sondern bewegte Einheit des ‚Zwischenraums‘ zwischen Dasein und Sosein“162, und als solche nicht auf einen abstrakten Begriff rückführbar. Weil nun aber die Transzendentalien einander gegenseitig innerlich sind, ist evident, „daß durch alle drei transzendenten Modi eine grundlegende Polarität hindurchgeht, … (die) sich von der alles durchziehenden Polarität der Einheit herleitet“163. Hier spätestens zeigt sich die unlösbare Verflechtung von formaler und materialer Struktur des Seins im Sinne Balthasars. Deshalb sei an dieser Stelle der Versuch unternommen, die beiden Linien, die mit Blick auf Balthasars 159 ZsW, 98 (= MW, 92). 160 TL I, XV. „Die transzendentalen Eigenschaften des Seins heißen so, weil jede von ih- nen das Sein im ganzen durchwaltet; sie können deshalb gegeneinander nicht abgegrenzt sein, sondern durchwohnen und durchstimmen einander (H III/1.1, 22). Ihr Verhältnis ist daher als „circumincessio“ (ebd.) zu bestimmen. 161 Lochbrunner: Analogia Caritatis, 107. Ganz ähnlich wertet auch Angelo Scola die balthasarsche Neuinterpretation: „Dieser Ansatz wird zum sicheren Bollwerk gegen jeden Rationalismus und jeden Subjektivismus: Was nicht wahr ist, kann auch nicht schön und gut sein. Die selbe logische Verknüpfung gilt schließlich auch für jedes andere Transzendale“ (ders.: Theologischer Stil, 38). 162 Heinz: Gott des Je-mehr, 26. 163 E, 65. 56 2.1 Ineinander von Theologie und Philosophie Neuinterpretation der Lehre von der Realdistinktion einerseits und der klassischen Transzendentalienlehre andererseits bis hierher gezogen wurden, zusammenzuführen und von diesem vorläufigen Befund her einen dritten wesentlichen Konstruktionspunkt seines Seinsverständnisses in den Blick zu nehmen: In der konkreten Begegnung mit anderem Seienden wird dem Menschen wahrhaftige Erfahrung des Seins zuteil, in der das Sein sich ihm notwendig als weder in formaler noch in inhaltlicher Hinsicht auf eine in sich geschlossene Einheit rückführbares Mysterium erschließt. „Und nun stellt sich unabweisbar vom Phänomen der nicht-einen Einheit her die Frage nach der einen, in sich identischen Einheit“164, in der die im Sein notwendig auseinanderfallenden Polaritäten und Dimensionen eingeborgen sind; die Frage also nach dem absoluten Sein, nach Gott. In diesem Sinne sieht sich der Mensch, wie eingangs gesagt, in der Begegnung mit dem Seienden angesichts der Unbegreiflichkeit des Seins auf Gott verwiesen. Im Sein besteht demnach eine Verbindung zwischen Gott und Mensch; im Sein wird der Mensch für Gott ansprechbar. „Es ist zwar richtig, daß … das nackte Gottsein und das nackte Geschöpfsein ohne Ähnlichkeit, vielmehr reine Entgegensetzung sind. (…) Aber schon in der ersten Entgegensetzung ist notwendig von Gottsein und Geschöpfsein die Rede, und somit von einer Ähnlichkeit des Geschöpfs mit dem je unähnlichen Gott“165, die ihm in seiner Natur immer schon gegeben ist. Balthasar erkennt darin „das Geheimnis der Weltimmanenz des welttranszendenten Gottes, das man mit der Formel der Analogia Entis … anvisieren kann.“166 Wenn eingangs von einem natürlichen Wissen um Gott als minimaler Voraussetzung für das Verstehen-Können der göttlichen Offenbarung die Rede war, so wird man jetzt also sagen können, „dieses Minimum ist grundgelegt in der Analogia entis.“167 Im Gedanken der Seinsanalogie liegt also letzten Endes der Schlüssel zum Verständnis des balthasarschen Konzepts unterscheidend christlicher Metaphysik. 164 165 166 167 E, 65. KB, 296 f. CE, 66 (Kursiven von mir). Löser: Im Geiste des Origenes, 35. Vgl. auch KB, 295. „Wort Gottes an uns setzt je schon ein Gotteswort in uns voraus, sofern wir im Wort geschaffen sind und von diesem Ort nicht losgelöst werden können“ (BG, 21; Kursiven von mir). 2. Das Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars im Umriss 57 2.1.2.2.3 Analogie des Seins „Die Rede von der Analogie als analogia entis ist im deutschen Sprachraum vor allem mit dem Werk Przywaras und der von ihm eingeführten Verbindung mit der bekannten Aussage des IV. Lateranense verbunden.“168 Die Formel von der ‚Analogia entis‘ umfasst das Zusammenspiel zweier zunächst einmal grundsätzlich zu unterscheidender Relationen, nämlich einer immanenten und einer transzendenten Analogie. In unverkennbarer Nähe zur thomanischen Lehre von der Realdistinktion nimmt Przywara seinen Ausgangspunkt in der Kennzeichnung der Grundstruktur des kreatürlichen Seins und aller seiner Vollzüge als immanente Analogie im Sinne einer dynamischen Bewegung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, die über ihre Ausrichtung auf eine angestrebte Mitte hinaus von vorneherein unausweichlich ein ihr vorgegebenes, übergeordnetes Ziel in sich trägt.169 Eine solche Bewegung sieht er im Sinn des Wortes ‚Analogie‘ umschrieben170. Das Präfix ‚ana‘ kann mehrere Bedeutungen haben. Zum einen bedeutet es als ‚ana‘ ‚über, nach, gemäß‘. Es changiert aber immer mit ‚ano‘ im Sinne von ‚oben, hinauf‘ und kann schließlich auch ‚wieder‘ meinen. Die Bedeutung der Vorsilbe umschließt also letztlich ein Koordinatenkreuz aus einer Waagerechten, mit einer zwischen einander auf einer Ebene gegenüberliegenden Data hin und her schwingenden Bewegung und einer Senkrechten, die die Ausrichtung der Bewegung vorgibt. Auch die Bedeutungsdimensionen des zweiten Wortteils bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen. ‚Logos‘ kann sowohl ‚Wort‘ meinen, wobei dasjenige, das mit diesem Wort bezeichnet wird, in den Hintergrund rückt, als auch ‚Sinn‘, sodass das Wort nur als Träger in den Blick kommt. „Werden Präfix und Verbum in dem Wort ‚Analogie‘ zusammen betrachtet, so ergibt sich ein äußerst dynamischer Wortsinn, der in jedem seiner ursprünglichen Teile Ausdruck der kreatürlichen Struktur einer Bewegung zwischen Vor und Zurück bei Einheit und Differenz ist und überdies zentral auf einen über diesen rhythmischen Prozeß sich bildenden Sinnzusammenhang verweist“171, der die kreatürliche Bewegung als Ursprung und Ziel begründet. In ihrer Ausrichtung auf ein ihr transzendentes Ziel verweist nun diese erste Relation über sich hinaus auf eine zweite, die in theologischer Interpretation des Entwurfs als die Beziehung zwischen dem kontingenten geschöpflichen Sein und dem absoluten Sein Gottes verstanden und näherhin als transzendente Analogie beschrieben wird. Demnach steht in analogem Bezug zur transzendierenden Bewegung des Kreatürlichen auf Gott hin eine immanierende Bewegung Gottes in die Schöpfung hinein. „Auf 168 Nieborak: ‚Homo analogia‘, 190. 169 Vgl. Nieborak: ‚Homo analogia‘, 169. 170 Zum Folgenden vgl. Nieborak: ‚Homo analogia‘, 120–122; Gertz: Glaubenswelt als Ana- logie, 209–211. 171 Nieborak: ‚Homo analogia‘, 123. Hier können Sie "Sperare Contra Spem" sofort kaufen und weiterlesen: Amazon Apple iBookstore buchhandel.de ebook.de Thalia Weltbild Viel Spaß!