Basler Zeitung - Hotel Waldhaus Sils

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reiseland.schweiz.
baz 18. April 2008 | Seite 19
Völlig auf
der Höhe
Das Burghotel, droben hinter
den Bäumen. Wer es einmal
besucht hat, geht eine lebenslange
Bindung ein. Sils-Maria. Das Hotel
Waldhaus ist 100 Jahre jung
CHRISTINE RICHARD
»» In
diesem
Burghotel waren
Thomas Mann
zu Gast, Albert
Einstein und der FC Basel.
Viele Prominente sind seit
1908 hier hinaufgestiegen.
Dafür weht der Jahr­
hundertcharme des Grand
Hotels ins Tal, in die Theaterabende von Christoph
Mar­thaler, dem grossen
Schweizer Regisseur.
Wer übers «Waldhaus»
berichtet, tut das nicht ungestraft. Das «Waldhaus» ist
wie eine vornehme Dame:
Jeder ihrer Liebhaber meint,
sie am besten zu kennen, jedes falsche öffentliche Wort
über sie schmerzt. Und zudem: Wer sie einmal besucht
hat, geht eine lebenslange
Bindung ein; das kostet.
«Waldhaus», bien. Aber
welches? Es kann zu Verwechslungen kommen. Unser «Waldhaus» ist ein strahlendes
Fünf-Sterne-Hotel
mit 150 Zimmern und Suiten, Schwimmhalle und Tennisplatz. Gemeint ist mit
«Waldhaus» aber keineswegs
die gleichnamige todschicke
Hotelpark-Anlage in Flims,
sondern unser liebes «Waldhaus» thront über dem Dörflein Sils-Maria. Wer unten in
Sils steht, der ahnt nur undeutlich, dass sich droben
hinter den Bäumen ein Burghotel erhebt. Warum mit
Prunk provozieren, wenn es
auch anders geht.
Wahre Herrschaft hält
sich vornehm zurück. Wer
nun glaubt, dass die Preise
im «Waldhaus» ähnlich zurückhaltend sind, der irrt
und das leider meist überm
eigenen
Einkommensniveau: das Doppelzimmer
(Standard) für um die 600
Franken pro Nacht, schluck.
Wer jetzt ins Sinnieren
kommt, das sei hübsch expensive für ein Nachtlager in
einem Hotel, der irrt zumindest teilweise. Wir haben es
hier nicht mit einem Hotel zu
tun, sondern mit einer gewichtigen Institution; mit einer Fluchtburg für die europäische Intelligenz aus den
Niederungen des Kulturbetriebs; mit einem Parnass,
wo sich Künstler, Politiker
oder Wissenschaftler bis
heute treffen. Dünkellos,
zwanglos, stilvoll.
Nicht jeder, der hier logiert, ist ein Krösus. Er hat
sich manchmal das Geld für
zwei, drei Übernachtungen
mühsam zusammengespart.
Nicht unbedingt, um dabei
zu sein, adabei. Sondern um
wenigstens kurz noch einmal
heimzukehren. Heim? Diese
Heimat heisst: geistiges Europa. Lässige Internationalität, gepflegtes Beisammensein, Gedankenaustausch.
Nieder mit den Spa-Palästen; Kampf dem Wadenkrampf an der Kraftmaschine. Im «Waldhaus» dürfen
Menschen noch einfach miteinander sein. Reden. Oder
schweigen. Oder sogar lesen.
Einfach so. Gesellschaft wird
hier gross geschrieben. Bei
den vielen teuren Umbauten
hat die Besitzerfamilie Kienberger darauf verzichtet, die
Gesellschaftsräume lukrativ
umzunutzen zu Edelboutiquen oder Erlebnisrestaurants. Man erlebt hier kein
Erlebnis. Man ist. Man isst.
Man speist. Man parliert.
Lernt Fremde kennen. Ergeht sich in der Natur.
Geistesburg. Das «Wald-
haus» wird im Sommer 2008
genau 100 Jahre alt. Es steht
für eine Zeit vor den Weltkriegen, als Rassismus noch
nicht in Völkermord ausgebrochen war und kein Eiserner Vorhang zwischen Ost
und West die Dichter und
Denker trennte. Im «Waldhaus» konnte sich der europäische Geist mühelos finden, und wenn ein Amerikaner dabei war, wurde der als
Geldadel
eingemeindet.
Baubeginn für das «Waldhaus» war 1905. Baukosten
schon damals: 2,3 Millionen
Franken. Architekt: der junge Karl Koller. Das Gebäude
im Stil einer Burganlage
wirkt trotz Türmchen und
Zinnen überraschend nüchtern, klar. Das Treppenhaus
mit schwarz-weissen Marmorplatten und JugendstilLeuchten ist bis heute
schwindelerregend.
GÄsteburg. Die ersten Gäs-
te trafen am 15. Juni 1908
ein. Im Winter war das Hotel
geschlossen. Im Laufe der
Zeit kamen Max Liebermann
und Marc Chagall, Joseph
Beuys, Gerhard Richter. Einstein und Adorno. Paul Sacher. Rod Stewart. Schriftsteller wie Thomas Mann,
Hermann Hesse, Thomas
Bernhard oder Friedrich
Dürrenmatt. Die Verleger
Samuel Fischer, Klaus Piper,
Siegfried Unseld und Daniel
Keel. Das Nietzsche-Kolloquium ist hier ebenso gut
aufgehoben wie eine Lesung
mit Franz Hohler. Im Juni
2007 schlug der FC Basel
hier sein Trainingslager auf.
Volltreffer.
Die Bettenzahl ist seit
1908 gleich geblieben, 220
Betten; die Auslastung jedoch stieg von 51 Prozent
auf 80 Prozent. Unter den
heute 9100 Gästen im Jahr
sind immer noch viele Künst-
ler, allen voran der Schweizer Theatermacher Christoph Marthaler mit seiner
Crew. Das ist kein Zufall,
sondern einem Verbindungsmann zu verdanken. Er heisst
Jürg Kienberger.
Bei Marthaler ist Jürg
Kienberger der Mann am
Klavier oder Akkordeon, und
im «Waldhaus» ist Jürg Kienberger der Bruder von Maria
und Urs Kienberger, der Besitzerfamilie. Ein Familienmensch irgendwie, der zierliche Jürg. Aber am Theater
Basel hat er schon gewaltige
Soloprogramme bestritten.
Musik liegt in der Luft.
Musik ist zentral für Martha-
lers Theaterabende an den
grossen Bühnen zwischen
Hamburg, Berlin und Zürich,
unten im Tal. Derweil spielt
oben auf den Graubündner
Bergen im «Waldhaus» das
hauseigene Salonorchester,
das Trio Farkas, täglich,
plingklingklong.
Natürlich gibt es einen
Musiksalon; dort steht das
mechanische Klavier Welte-Mignon von 1920. Die
­Mechanik verstummte in
den Dreissigerjahren vor
Schreck: Wirtschaftskrise, die
Gäste blieben weg wie schon
1914. Inzwischen ist das
­Klavier zu neuem Leben erwacht. Und die Gäste auch.
Plingpling. Das MarthalerTheater und das KienbergerHotel pflegen den gleichen
Luxus: Sie sind sich selbst
treu geblieben. Sie sind nicht
originalgetreue
Produkte,
sondern originär. Sich zu bewahren ist anstrengend, aber
so befriedigend, dass beide,
Mar­thalers
Gross-Theater
und Kienbergers Grand Hotel,
überaus entspannt wirken.
Und nur dort, wo die Macher
unangestrengt
auftreten,
kann auch der Gast entspannen. Entschleunigung. Bei
Marthaler steht die Zeit still.
Im «Waldhaus» auch.
Wer in Marthaler-Inszenierungen sitzt, in den geni-
alen Einheitsbühnenbildern
von Anna Viebrock, in diesen
holzgetäfelten Hallen und
Sälen, der wähnt sich im
«Waldhaus». Und umgekehrt. Wie ist es zu dieser
Ähnlichkeit gekommen?
Hasenburg. Am Anfang war
die «Hasenburg» in Basel.
Holztäfelung, halbleere Biergläser, dumpfe Brüter, wache Köpfe. Dazwischen sass
ein gewisser Christoph Mar­
thaler.
Danach, Silvester 1990,
kam der Badische Bahnhof,
Schweizer Buffet. Und wieder: Holztäfelung, halbleere
Biergläser, dumpfe Brüter,
böse Zoten, dann und wann
ein Gesang, dass es einem in
die Seele riss. So sah das erste grössere Theaterprojekt
von Marthaler in Basel aus:
wie eine Beiz, nur eben gespielt. Das Stück hiess «Stägeli uf, Stägeli ab, juhee!».
Mit dabei: Jürg Kienberger.
1991 stiess die Bühnenbildnerin Anna Viebrock zu
Marthaler. Und erneut: Holztäfelung, viele Tische, viele
Gläser. Egal ob für Pessoa,
Canetti, Shakespeare oder
Goethes «Faust»: Räume wie
Bahnhofshallen oder Hotelfoyers; keine Fenster, funzlige Wandleuchten, durchgesessene Sofas, Bettenburgen.
Information
Preise FÜRS HOTEL (8. Juni
bis 21. Oktober 2008): Das
Einzelzimmer: Fr. 250.– bis
410.–. Doppelzimmer: Fr. 485.–
bis 820.–. Suiten: Fr. 1000.–
bis 1410.–. Süd oder West: Aufschlag von Fr. 20.– bis 130.–,
je nach Kategorie. Die Preise
verstehen sich pro Tag und
Zimmer mit Abendessen und
Frühstücksbuffet.
Programm. Uraufführung von «Marthaler-Familie»
im Hotel Waldhaus: 11. Juni.Weitere Aufführungen
am 12., 13. und 14. Juni. Mit Claudia Carigiet, Olivia
­Grigolli, Rosemary Hardy, Christoph Homberger,
Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Josef Ostendorf,
Sasha Rau, Nic Rosat, Bettina Stucky, Graham
Valentine. Regie: Christoph Marthaler. Produktion:
Josephine Lischer.
Langsame Heimkehr. Der Schweizer Theatermann Christoph Marthaler in besonderer
Kulisse – dem «Waldhaus». Aus Klaus Dermutz: Christoph Marthaler – die einsamen Menschen sind die besonderen Menschen.
Ein paar Einbauten, Lifte ins
Nirgendwo, Schaltkästen,
die man früher für praktisch
hielt und die heute zwecklos
sind, also komisch und schön
wirken. Wie in alten Hotels.
So sehen Anna Viebrocks
Bühnenbilder aus. Immer
ähnlich, oft nach Bahnhofbuffet, «Hasenburg», Theaterfoyer, Wartesaal oder
eben «Waldhaus». Wie in der
Halle, dem «Wohnzimmer»
vom «Waldhaus»: kassetierte
Wandtäfer, auffällige Türrahmen, Parkettböden. Gekonnt kombiniertes Mobiliar, dass es wie zusammengestoppelt wirkt, hässlichschön. Räume, in denen viele
Geister spuken können.
Viele
Theaterkritiker
spürten: In Anna Viebrocks
Theaterräumen geistert das
Fin de Siècle, marode, morbid, müde. Die Besitzer vom
«Waldhaus» haben den Geist
von einst lebendig gehalten
– welche Aufgabe!
Während Anna Viebrocks
Bühnenräume einen versifften Charme verströmen, ist
im Grand Hotel Waldhaus alles edel, gepflegt, hochglanzpoliert. Kastanienholz auf
den Zimmern, Bergeller Granit im Bad, zwischendrin ein
schräges Lämpchen. Die Aussicht vom Balkon auf See und
Bergnatur ist ein Traum zum
Irrewerden (Friedrich Nietzsche war hier).
Einmal im Leben muss
jeder im Halbrund der wei-
ten Hotelhalle sitzen und vor
den
hohen
Panoramafenstern den Schnee flocken
sehen. Schauen, wie die Sonne das Grüngrau der Berge
zum Leuchten bringt. Hören
zur Teestunde, wie die Hauskapelle aufspielt. Im Lesesaal
lesen, im Hochzeitssaal…
nein, eher nicht. Aber schnabulieren im langen Speisesaal, der mit seinen Kabinetteinteilungen verdächtig einem Firstclass-Bahnhofsbuffet von Marthaler ähnelt.
Oder ist es umgekehrt?
Alles
dreht sich. In der imposanten Bar (Umbau Miller & Maranta, Basel) kommt man
leicht ins Grübeln. Nimmt einen Drink, aufrecht, mit Haltung, auf richtigen Stühlen,
nicht hingefläzt in LümmelLounge-Sesseln. Denkt. Brütet. Schwebt. Wartet. Stille.
Hört ferne Musik. Plätschern, Plaudern, Selbstvergessenheit. Sind wir noch im
«Waldhaus» oder schon bei
Marthaler? Egal.
Das «Waldhaus»: seit
­Beginn in Familienbesitz.
Das Marthaler-Theater: eine
Bühnenfamilie seit Beginn.
Man weiss, was man am
­anderen hat. Zum 100. Geburtstag des «Waldhauses»
ist im Juni grosse Familienzusammenführung.
Der
Marthaler-Clan kommt mit
Programm. Bonjour, altes
Haus.
Burgschwindel.
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