Schwerpunktthema Die Psychopathologie des Selektiven Mutismus Psychopathology of Selective Mutism Der Selektive Mutismus ist eine psychische Störung, die durch konsistentes Schweigen in bestimmten Situationen, in denen Sprechen erwartet wird, bei gleichzeitig unbeeinträchtigtem Sprechverhalten in anderen Situationen gekennzeichnet ist. Das durchschnittliche Erstauftretensalter liegt im Vorschulalter. Das Störungsbild, das multikausal durch biologische, psychologische und soziale Faktoren bedingt ist, ist den Angststörungen zuzuordnen und weist große Überschneidungen, aber auch einige Unterschiede zur sozialen Phobie auf. Eine weitere häufige Komorbidität ist die Kommunikationsstörung, hinsichtlich Sozialverhaltensproblemen ist die Evidenz uneinheitlich. Prognostisch günstige Faktoren sind ein junges Alter, geringer Schweregrad der Symptomatik und ein früher Behandlungsbeginn. Ohne adäquate Behandlung besteht die Gefahr einer Chronifizierung der Symptomatik. LERNZIEL Ziel ist es, den aktuellen Kenntnisstand zum Störungsbild Selektiver Mutismus im Kindes- und Jugendalter hinsichtlich wichtiger Charakteristika wie Symptomatik, Klassifikation, Ätiologie, Epidemiologie, Komorbidität und Verlauf kennen zu lernen. Überholte Annahmen sollen dabei durch den aktuellen Stand der Forschung ersetzt werden. Geschichte der Klassifikation der Störung Beginnend mit dem 19. Jahrhundert hat sich die Sichtweise des Störungsbildes Selektiver Mutismus im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt und an den aktuellen Kenntnisstand der jeweiligen Zeit angepasst. Eine erste Erwähnung findet sich 1877 als Aphasia Voluntaria. Der Arzt und Hochschullehrer Adolph Kussmaul beschrieb damals zwei wesentliche Kernmerkmale der Störung, wie wir sie auch heute noch kennen: Das (a) Verstummen von Kindern, die (b) grundsätzlich in der Lage dazu sind zu sprechen. Allerdings legt der Begriff "voluntaria" ein willentliches Schweigen nahe, das also unter der Kontrolle des jeweiligen Kindes steht. Auch in der dritten Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA), die 72 1980 veröffentlicht wurde, ist von Elektivem Mutismus und der Weigerung zu sprechen die Rede. Danach veränderte sich die Sichtweise auf das Störungsbild kontinuierlich, in der vierten Auflage des DSM (1994) ist erstmalig die Rede von Selektivem Mutismus und dem Unvermögen zu sprechen. Hier ist die Bezeichnung des Störungsbildes mehr deskriptiv als motivational begründet und legt nahe, dass das Schweigen in umschriebenen Situationen auftritt und auf einem nicht willentlich zu beeinflussenden Unvermögen beruht. Die aktuellste Version des Klassifikationssystems, das DSM-5 [1], behält diese Einschätzung bei und verortet den Selektiven Mutismus zudem erstmalig unter den Angststörungen – eine wichtige Aktualisierung, wie im Laufe dieses Artikels gezeigt werden wird. Symptomatik Die Symptome des Selektiven Mutismus nach DSM-5 sind in der Infobox 1 dargestellt. Neben den in der Box genannten Kernkriterien ist für Kinder mit Selektivem Mutismus bezeichnend, dass das Sprechmuster von drei Faktoren beziehungsweise ihrer Kombination abhängt: Die Person Der Interaktionspartner spielt eine wichtige Rolle in Bezug auf das Sprechmuster von Kindern mit Selektivem Mutismus. In der Regel sprechen die Kinder mit vertrauten Personen, z. B. engen Familienangehörigen, eher als mit Fremden [2]. Mutistisches Verhalten Schwenck Christina et al. Die Psychopathologie des … Sprache · Stimme · Gehör 2017; 41: 72–77 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Christina Schwenck, Angelika Gensthaler Der Ort Auch der Ort, an dem das Sprechen erwartet wird, kann von entscheidender Bedeutung sein. Hier spielen ebenfalls die Vertrautheit und vor allem die Privatheit eines Ortes eine wichtige Rolle. Beispielsweise fällt es Kindern mit Selektivem Mutismus in der Regel leichter, zu Hause zu sprechen, während sie in der Öffentlichkeit, in der die Wahrscheinlichkeit, beim Sprechen beobachtet zu werden, hoch ist, verstummen. Insbesondere in der Schule schweigen etwa 90 % der Kinder mit Selektivem Mutismus teilweise oder ganz [2, 4]. Der Inhalt Der dritte Faktor, der das Sprechmuster von Kindern mit Selektivem Mutismus bedeutsam beeinflusst, ist der Inhalt über den, bzw. das Format, in dem gesprochen wird. Den Kindern fällt es leichter, auf wissensbezogene ja-nein-Fragen zu antworten als eine freie Antwort im ganzen Satz zu formulieren, was wiederum als einfacher empfunden wird als über Gefühle oder die eigene Meinung zu sprechen. Merke Das selektiv mutistische Verhalten ist bedingt durch die Faktoren der Person, mit der gesprochen wird, des Ortes, an dem gesprochen wird, und des Inhalts, über den gesprochen wird, sowie der Interaktion dieser drei Faktoren. Die drei Faktoren sind selbstverständlich nicht unabhängig voneinander zu sehen, sondern nur in Kombination. Beispielsweise kann ein Kind mit Selektivem Mutismus mit Schweigen reagieren, wenn es mit seiner Mutter, mit der es zu Hause problemlos spricht, im Klassenzimmer vor den Augen des Lehrers und der Mitschüler über seine aktuellen Gefühle reden soll. Neben den Einschränkungen in der verbalen Kommunikation sind auch häufig verminderte Mimik, Gestik und Körpergeräusche (Husten, Lachen etc.) zu beobachten. In Extremfällen können Kinder auch psychomotorisch vollkommen erstarrt wirken. Auch konnte gezeigt werden, dass Kinder mit Selektivem Mutismus verglichen mit nicht betroffenen Kindern seltener, leiser und weniger spontan sprechen, und dies sowohl während der akuten Symptomatik als auch bereits im Vorfeld [5]. Ätiologie Der Selektive Mutismus ist, wie andere psychische Störungen auch, multikausal bedingt, das heißt, mehrere biologische, psychologische und soziale Faktoren tragen zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung bei. INFOBOX 1: SYMP TOMATIK DES SELEK TIVEN M UTISMU S NACH DSM - 5 ( 312.23) [ 1] a) andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, in denen Sprechen erwartet wird (z. B. in der Schule), obwohl Sprechen in anderen Situationen möglich ist. b) Beeinträchtigung in Ausbildung oder Beruf oder sozialer Kommunikation durch die Störung c) Dauer von mindestens 1 Monat (ausgeschlossen ist der erste Monat nach Schuleintritt) d) Die Unfähigkeit zu sprechen beruht nicht auf fehlenden Sprachkenntnissen derjenigen Sprache, die in sozialen Situationen benötigt wird, oder auf einem starken Unwohlsein, die Sprache zu sprechen. e) Die Störung kann nicht besser durch eine Sprechstörung (z. B. Stottern) erklärt werden und tritt nicht ausschließlich in Zusammenhang mit einer Autismus-Spektrum-Störung, Schizophrenie oder anderen psychotischen Störung auf. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. innerhalb der Kernfamilie ist ein Hinweis auf einen besonders ausgeprägten Schweregrad [3]. Weiterhin besteht bei vielen Kindern ein Unterschied darin, ob der Interaktionspartner gleichaltrig oder erwachsen ist. Biologische Faktoren Hinweise auf eine teilweise genetische Transmission lassen sich indirekt aus Befunden zu familiärer Häufung von Selektivem Mutismus beziehungsweise assoziierten Störungen, Temperaments- und Persönlichkeitsmerkmalen ableiten [6, 7]. Diese umfassen generalisierte Soziale Phobie, soziale Ängstlichkeit, Schüchternheit, Schweigsamkeit und vermeidende Persönlichkeitsstörung. Leider wurden bislang keine Zwillings- oder Adoptionsstudien durchgeführt, um eine direkte Schätzung der Heritabilität abzuleiten. Auch gibt es Hinweise darauf, dass bei etwa 70 % (Kontrollgruppe: 16 %) der Kinder mit Selektivem Mutismus eine Störung einer der auditorischen efferenten Feedbackschleifen vorliegt, die bewirkt, dass die eigene Stimme verändert wahrgenommen wird [8]. Psychologische Faktoren Im Zusammenhang mit Selektivem Mutismus, aber auch anderen Angststörungen, insbesondere der Sozialen Phobie, wird ein Temperamentsmerkmal, die Behaviorale Inhibition (BI) diskutiert [9]. Dieses Persönlichkeitsmerkmal ist gekennzeichnet durch Schüchternheit, Ängstlichkeit und Zurückhaltung neuen Situationen, Personen oder Reizen gegenüber. Kleinkinder mit ausgeprägter BI zeigen ein geringeres Explorationsverhalten und eine starke Zurückhaltung, was Kontaktaufnahme mit neuen Reizen angeht (z. B. unbekannte Gegenstände in den Mund nehmen). Physiologisch ist eine erhöhte BI mit einer geringen Erregungsschwelle bestimmter Gehirnregionen (Limbisches System, Hypothalamus) und des Sympathikus verbunden. Es konnte gezeigt werden, dass das Ausmaß an BI negativ mit der Anzahl gesprochener Worte im Alter von 3 – 6 Jahren korreliert [10], während ein auf längsschnittlich erhobenen Daten beruhender Nachweis für den Kausalzusammenhang noch aus- Schwenck Christina et al. Die Psychopathologie des … Sprache · Stimme · Gehör 2017; 41: 72–77 73 Schwerpunktthema Merke Behaviorale Inhibition ist ein Temperamentsmerkmal, das durch Schüchternheit, Ängstlichkeit und Zurückhaltung gekennzeichnet ist und in ätiologischer Verbindung mit Selektivem Mutismus sowie weiteren Angststörungen steht. Weiterhin müssen im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung des mutistischen Verhaltens Prozesse der operanten Konditionierung in Betracht gezogen werden, wie beispielsweise kurzfristig positive Verstärkung durch Aufmerksamkeitszuwendung im Falle des Schweigens und negative Verstärkung durch den Wegfall von Anspannung oder unangenehmen Aufgaben. Langfristig bleibt eine positive Lern- und Selbstwirksamkeitserfahrung aus, und unangemessene Reaktionen aus dem sozialen Umfeld wie etwa Hänseleien können als Bestrafung erlebt werden. Soziale Faktoren Über verschiedene Studien hinweg ergeben sich Hinweise darauf, dass Selektiver Mutismus häufiger bei Kindern mit Migrationshintergrund und Bilingualität auftritt. Populationsbasierte Schätzungen gehen von einem vierfach gehäuften Vorkommen aus [12, 13]. In einer Studie aus Israel wurde bei Kindern mit Migrationshintergrund eine Prävalenz des Selektiven Mutismus von 2,20 % gefunden, während die Prävalenz bei den in Israel geborenen Kindern bei nur 0,76 % lag [14]. Studienergebnisse zu Elternverhalten hingegen sind widersprüchlich: Zwei Untersuchungen zeigen keinen abweichenden Erziehungsstil der Eltern von Kindern mit Selektivem Mutismus im Vergleich zu dem von Eltern ängstlicher und gesunder Kinder, während eine experimentelle Studie verstärkte Kontrolle und Überbehütung findet [15, 16]. Im Vorschulalter wurden in der Eltern-Kind-Interaktion bei Familien mit Kindern mit Selektivem Mutismus weniger durch die Eltern initiierte Episoden geteilter Aufmerksamkeit beobachtet als bei Eltern von Kindern mit anderen Angststörungen und gesunden Kindern [17]. Uneindeutige Evidenz Einige Faktoren, die in der Vergangenheit als ätiologisch relevant für den Selektiven Mutismus diskutiert wurden, können dem aktuellen Forschungsstand nach nicht mit diesem Störungsbild in Verbindung gebracht werden: So konnte eine erhöhte Prävalenz an traumatischen Erlebnissen als Ursache für Selektiven Mutismus nicht empirisch bestätigt werden [18]. Abgesehen von der oben beschriebenen familiären Häufung an Symptomen aus dem Formenkreis 74 des Selektiven Mutismus gibt es nur vereinzelt Hinweise auf eine vermehrte Anzahl psychischer Störungen bei den Eltern von Kindern mit Selektivem Mutismus [3, 19]. Insgesamt scheint das Ausmaß der kindlichen Symptomatik insbesondere mit der väterlichen, nicht jedoch der mütterlichen, assoziiert zu sein [15]. Epidemiologie und Verlauf Mit einer Prävalenz von ca. 1 % gehört der Selektive Mutismus zu den eher selten auftretenden psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter [12]. Das durchschnittliche Erstauftretensalter liegt mit zwei bis fünf Jahren im Vorschulalter, wobei die Mehrheit der Kinder erst im Laufe der Grundschulzeit psychologisch oder ärztlich vorgestellt wird und Aggravierungen der Symptomatik mit Eintritt in den Kindergarten und/ oder die Grundschule beobachtet werden können [3, 18]. Eine Katamnesestudie aus Deutschland [3] untersucht 41 Kinder, die ehemals aufgrund eines Selektiven Mutismus kinder- und jugendpsychiatrisch vorgestellt worden waren, nach durchschnittlich zwölf Jahren erneut. Bei 39 % dieser Kinder konnte eine vollständige Remission festgestellt werden, alle übrigen zeigten weiterhin Störungen in der Kommunikation. Gleichzeitig beschrieben die vormals mutistischen Patienten eine geringere psychosoziale Anpassung als die Teilnehmer der gesunden Vergleichsgruppe. Ein höheres Alter, höherer Schweregrad und lange Onset-Behandlungs-Latenz sind prognostisch ungünstige Faktoren für die Entwicklung von Kindern mit Selektivem Mutismus [20]. Ohne Behandlung ist mit einem chronischen Verlauf mit weit reichenden psychosozialen Einschränkungen bei der Mehrheit der Kinder mit Selektivem Mutismus zu rechnen [21]. Komorbidität und Differenzialdiagnose Mit Abstand am häufigsten gemeinsam mit Selektivem Mutismus treten weitere Angststörungen auf [13]. Neben den Angststörungen sind noch weitere psychische Störungen mit dem Selektiven Mutismus assoziiert: Entwicklungsverzögerungen/-störungen Man kann davon ausgehen, dass Kinder mit Selektivem Mutismus sowohl gegenüber sozial ängstlichen Kindern als auch gesunden sprachliche Defizite bezüglich Wortschatz, Grammatik und phonologischer Bewusstheit aufweisen und bei etwa einem Drittel der Kinder im Vorfeld der Störung Sprech- und/oder Sprachstörungen und -verzögerungen auftreten [2, 13]. Vereinzelt zeigen Schwenck Christina et al. Die Psychopathologie des … Sprache · Stimme · Gehör 2017; 41: 72–77 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. steht. Nach den Ergebnissen einer retrospektiven Untersuchung weisen Kinder mit Selektivem Mutismus eine höhere BI insgesamt und bezüglich des Teilaspekts der Schüchternheit auf als Kinder mit sozialer Ängstlichkeit, Kinder mit anderen internalisierenden Störungen und gesunde Kinder [11]. INFO BOX 2: SELEK TIVER M UTISMUS U ND SOZIAL E P HOBIE: EIN SPEZIELLES V ERHÄLT NIS Studien auch Hinweise auf über den sprachlichen Bereich hinaus gehende Entwicklungsverzögerungen bei Kindern mit Selektivem Mutismus. Daneben gibt es Hinweise auf eine erhöhte Prävalenz an Ausscheidungsstörungen [18]. Sozialverhaltensstörungen Als stark uneinheitlich ist die Evidenz bezüglich des gemeinsamen Auftretens von Selektivem Mutismus und Sozialverhaltensstörungen, wie zum Beispiel der Störung mit oppositionellem AU S DER P R A XIS Das konstante Schweigen eines Gesprächspartners kann Hilflosigkeit auslösen oder den Eindruck erwecken, das Gegenüber spreche absichtlich nicht und wolle provozieren. Kinder und Jugendliche im Schulalter sind manchmal dem Problem ausgesetzt, dass ihr Schweigen in der Schule nicht auf Angst und Unvermögen zurückgeführt wird, sondern auf Oppositionalität und Unwillen. Dementsprechend wird wenig Verständnis für die besonderen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen aufgebracht. Folgen sind unter anderem negative Bewertungen der mündlichen Leistungen und Motivationsverlust des Schülers. Eine frühzeitige Psychoedukation des sozialen Umfeldes eines Kindes mit Selektivem Mutismus kann das Verständnis und die Bereitschaft, die Intervention zu unterstützen, fördern. zögerung oder leicht oppositionellen Verhaltensweisen auf, jedoch unterschieden sich die drei Gruppen nicht hinsichtlich der sozialen Ängstlichkeit per se [22]. Dass eine Abgrenzung der Störungsbilder wohl doch gerechtfertigt ist, zeigen neben dem unterschiedlichen mittleren Onsetalter Unterschiede hinsichtlich des weiteren Komorbiditätsprofils und des Profils an assoziierten Verhaltensproblemen [23]. Ein Vergleich der auftretenden Lifetime-Diagnosen zwischen Kindern mit Selektivem Mutismus und solchen mit sozialer Phobie im standardisierten Interview zeigt, dass erstere häufiger von einer Trennungsangst und Störung mit oppositionellem Trotzverhalten betroffen sind, während letztere häufiger Depressionen und generalisierte Angststörungen aufweisen. Im Hinblick auf durch die Eltern und Jugendlichen selbst eingeschätzte Verhaltensprobleme werden bei Kindern mit Selektivem Mutismus mehr soziale Probleme und sozialer Rückzug angegeben als bei Kindern mit sozialer Phobie. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Die Koinzidenz zwischen Selektivem Mutismus und anderen Angststörungen, insbesondere der sozialen Phobie, ist so hoch, dass darüber diskutiert werden kann, ob es sich beim Selektivem Mutismus um eine eigenständige Entität oder vielmehr eine Extremausprägung der sozialen Phobie handelt [18]. Über eine verhältnismäßig große Anzahl von Studien zeigte sich, dass bei 50 – 100 % der Kinder mit Selektivem Mutismus eine weitere Angststörung, zumeist eine soziale Phobie, vorlag, und vergleichende Studien konnten ein vergleichbares bzw. sogar stärker ausgeprägtes Niveau an sozialen Ängsten bei Kindern mit Selektivem Mutismus im Vergleich zu gesunden Kindern und solchen mit anderen Angststörungen feststellen [6, 10]. Eine Analyse zur Identifikation von Subgruppen innerhalb einer Stichprobe von 130 Kindern mit Selektivem Mutismus zeigte ausgeprägte soziale Ängstlichkeit der Kinder aller Subgruppen. Die soziale Ängstlichkeit war entweder alleiniges Merkmal der Subruppe oder trat in Kombination mit anderen Charakteristika wie Sprachver- Trotzverhalten, zu bewerten [18]. Hinweise auf ein vermehrtes Auftreten entsprechender Symptome im Vergleich zur Kontrollgruppe wurden nur teilweise in Studien gefunden, und selbst in diesen lagen die Werte im klinisch unauffälligen Bereich. Denkbar als Ursache für die Überschätzung dieser Symptomatik sind einerseits die in der Regel starken Protestreaktionen, die Kinder mit Selektivem Mutismus zu Hause bei Ankündigung einer möglichen Konfrontation mit angstbesetzten Situationen zeigen, sowie die Fehlattribution der Symptomatik auf Provokation, die bei vielen Interaktionspartnern (vermutlich aus Hilflosigkeit angesichts der Situation) entsteht. Allerdings wird auch in Betracht gezogen, dass eine distinkte Subgruppe innerhalb der Gesamtgruppe von Kindern mit Selektivem Mutismus vermehrte oppositionelle, aggressive und delinquente Verhaltensweisen aufzeigt [15, 24]. Differenzialdiagnosen Aufgrund der oben beschriebenen häufigen Komorbidität und Überschneidung hinsichtlich eines Teils der Symptomatik ist der Selektive Mutismus zunächst von der Sozialen Phobie und weiteren Angststörungen abzugrenzen. Hier stellt das konstante Schweigen in bestimmten Situationen das differenzielle Merkmal zwischen den Störungsbildern dar. Von oppositionellem Verhalten bzw. einer Sozialverhaltensstörung sollte der Selektive Mutismus dadurch abzugrenzen sein, dass mögliche oppositionelle Symptome vorwiegend in Situationen auftreten, in denen die Kinder mit Situationen, die Angst in ihnen auslösen, Schwenck Christina et al. Die Psychopathologie des … Sprache · Stimme · Gehör 2017; 41: 72–77 75 Schwerpunktthema Interessenkonflikt FA ZIT konfrontiert sind. In diesem Fall dient das oppositionelle Verhalten der Vermeidung angstbesetzter Situationen. Ein situationsübergreifendes oppositionelles Verhaltensmuster inklusive labiler Emotionalität, dissozialen und aggressiven Verhaltensweisen sollte sich dagegen nicht zeigen. Retrospektive kann bei Kindern mit Selektivem Mutismus ein durchgängig inhibiertes Temperament durch die Eltern berichtet werden, während Kinder mit Sozialverhaltensproblemen ein gegenteiliges Temperament gezeigt haben sollten. Eine oft schwierig abzugrenzende Störung stellt die Autismus-Spektrumstörung (ASS) dar: Bei beiden Störungsbildern weisen die Kinder und Jugendlichen Schwierigkeiten im sozialen Kontakt auf, der zumindest bei einem Teil der Kinder mit ASS zu sozialem Rückzug und schüchternem Interaktionsstil führt. Daneben zeigen auch Kinder mit ASS Schwierigkeiten damit, ihre eigenen Gefühle differenziert zu berichten. Da die aktuelle Diagnostik der ASS beim Patienten selbst durch das Schweigen beeinträchtigt sein kann, empfiehlt sich in einem ersten Schritt die Durchführung eines diagnostischen Interviews mit den Eltern sowie eine strukturierte Verhaltensbeobachtung des Kindes oder Jugendlichen nach Besserung der mutistischen Symptomatik. Auf diese Weise kann differenziert werden, ob es sich um eine Primärdiagnose einer der beiden Störungen oder ein komorbides Auftreten beider Störungen, das selbstverständlich auch vorkommen kann, handelt. 76 Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Über die Autoren Christina Schwenck Prof. Dr. Christina Schwenck ist Diplom-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Supervisorin. Derzeit hat sie eine Professur für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Universität in Kiel inne. Angelika Gensthaler Dr. Angelika Gensthaler ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik. Sie arbeitet als Oberärztin an der Universitätsklinik Frankfurt/ Main. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Christina Schwenck Christian-Albrecht-Universität zu Kiel Abteilung für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters Olshausenstr. 75 24118 Kiel E-Mail: [email protected] Literatur [1] American Psychiatric Association. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5). 5th edition Arlington, VA: American Psychiatric Association Publishing; 2013 [2] Steinhausen HC, Juzi C. Elective mutism: An analysis of 100 cases. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 1996; 35: 606 – 614 [3] Remschmidt H, Poller M, Herpertz-Dahlmann B et al. A follow-up study of 45 patients with elective mutism. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2001; 251: 284 – 296 [4] Bergman RL, Piacentini J, McCracken JT. Prevalence and description of selective mutism in a school-based sample. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2002; 41: 938 – 946 [5] Ford MA, Sladeczek IE, Carlson J et al. Selective mutism: Phenomenological characteristics. 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Die Sichtweise des Selektiven Mutismus in Assoziation mit Sozialverhaltensproblemen kann dagegen allenfalls für eine Subgruppe vermutet werden. Bezüglich der Genese der Störung konnten einzelne biologische, psychologische und soziale Faktoren in den Ergebnissen der Wissenschaft Bestätigung finden, für andere Ursachen dagegen, wie zum Beispiel traumatische Erfahrungen, gibt es keine Evidenz. Auch wenn Längsschnittstudien zur Erfassung genauer Entwicklungsverläufe noch ausstehen, ist davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Teil der Kinder mit SM im weiteren Entwicklungsverlauf psychische und soziale Beeinträchtigungen entwickeln und eine frühzeitige Intervention essenziell für einen positiven Verlauf ist. [8] Henkin Y, Bar-Haim Y. An auditory-neuroscience perspective on the development of selective mutism. Dev Cogn Neurosci 2015; 12: 86 – 93 [18] Viana AG, Beidel DC, Rabian B. Selective mutism: A review and integration of the last 15 years. 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