Die Psychopathologie des Selektiven Mutismus

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Schwerpunktthema
Die Psychopathologie des Selektiven Mutismus
Psychopathology of Selective Mutism
Der Selektive Mutismus ist eine psychische Störung, die durch konsistentes
Schweigen in bestimmten Situationen, in denen Sprechen erwartet wird, bei
gleichzeitig unbeeinträchtigtem Sprechverhalten in anderen Situationen gekennzeichnet ist. Das durchschnittliche Erstauftretensalter liegt im Vorschulalter.
Das Störungsbild, das multikausal durch biologische, psychologische und soziale
Faktoren bedingt ist, ist den Angststörungen zuzuordnen und weist große Überschneidungen, aber auch einige Unterschiede zur sozialen Phobie auf. Eine weitere häufige Komorbidität ist die Kommunikationsstörung, hinsichtlich Sozialverhaltensproblemen ist die Evidenz uneinheitlich. Prognostisch günstige Faktoren sind ein junges Alter, geringer Schweregrad der Symptomatik und ein früher
Behandlungsbeginn. Ohne adäquate Behandlung besteht die Gefahr einer
Chronifizierung der Symptomatik.
LERNZIEL
Ziel ist es, den aktuellen Kenntnisstand zum Störungsbild Selektiver Mutismus im Kindes- und
Jugendalter hinsichtlich wichtiger Charakteristika wie Symptomatik, Klassifikation, Ätiologie,
Epidemiologie, Komorbidität und Verlauf kennen
zu lernen. Überholte Annahmen sollen dabei
durch den aktuellen Stand der Forschung ersetzt
werden.
Geschichte der Klassifikation
der Störung
Beginnend mit dem 19. Jahrhundert hat sich die Sichtweise des Störungsbildes Selektiver Mutismus im Laufe
der Zeit immer wieder gewandelt und an den aktuellen
Kenntnisstand der jeweiligen Zeit angepasst. Eine erste
Erwähnung findet sich 1877 als Aphasia Voluntaria.
Der Arzt und Hochschullehrer Adolph Kussmaul beschrieb damals zwei wesentliche Kernmerkmale der
Störung, wie wir sie auch heute noch kennen: Das (a)
Verstummen von Kindern, die (b) grundsätzlich in der
Lage dazu sind zu sprechen. Allerdings legt der Begriff
"voluntaria" ein willentliches Schweigen nahe, das also
unter der Kontrolle des jeweiligen Kindes steht. Auch
in der dritten Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA), die
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1980 veröffentlicht wurde, ist von Elektivem Mutismus und der Weigerung zu sprechen die Rede. Danach
veränderte sich die Sichtweise auf das Störungsbild
kontinuierlich, in der vierten Auflage des DSM (1994)
ist erstmalig die Rede von Selektivem Mutismus und
dem Unvermögen zu sprechen. Hier ist die Bezeichnung des Störungsbildes mehr deskriptiv als motivational begründet und legt nahe, dass das Schweigen in
umschriebenen Situationen auftritt und auf einem
nicht willentlich zu beeinflussenden Unvermögen beruht. Die aktuellste Version des Klassifikationssystems,
das DSM-5 [1], behält diese Einschätzung bei und verortet den Selektiven Mutismus zudem erstmalig unter
den Angststörungen – eine wichtige Aktualisierung,
wie im Laufe dieses Artikels gezeigt werden wird.
Symptomatik
Die Symptome des Selektiven Mutismus nach DSM-5
sind in der Infobox 1 dargestellt.
Neben den in der Box genannten Kernkriterien ist für
Kinder mit Selektivem Mutismus bezeichnend, dass
das Sprechmuster von drei Faktoren beziehungsweise
ihrer Kombination abhängt:
Die Person Der Interaktionspartner spielt eine wichtige Rolle in Bezug auf das Sprechmuster von Kindern mit
Selektivem Mutismus. In der Regel sprechen die Kinder
mit vertrauten Personen, z. B. engen Familienangehörigen, eher als mit Fremden [2]. Mutistisches Verhalten
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Christina Schwenck, Angelika Gensthaler
Der Ort Auch der Ort, an dem das Sprechen erwartet
wird, kann von entscheidender Bedeutung sein. Hier
spielen ebenfalls die Vertrautheit und vor allem die Privatheit eines Ortes eine wichtige Rolle. Beispielsweise
fällt es Kindern mit Selektivem Mutismus in der Regel
leichter, zu Hause zu sprechen, während sie in der Öffentlichkeit, in der die Wahrscheinlichkeit, beim Sprechen beobachtet zu werden, hoch ist, verstummen.
Insbesondere in der Schule schweigen etwa 90 % der
Kinder mit Selektivem Mutismus teilweise oder ganz
[2, 4].
Der Inhalt Der dritte Faktor, der das Sprechmuster
von Kindern mit Selektivem Mutismus bedeutsam beeinflusst, ist der Inhalt über den, bzw. das Format, in
dem gesprochen wird. Den Kindern fällt es leichter,
auf wissensbezogene ja-nein-Fragen zu antworten als
eine freie Antwort im ganzen Satz zu formulieren, was
wiederum als einfacher empfunden wird als über Gefühle oder die eigene Meinung zu sprechen.
Merke
Das selektiv mutistische Verhalten ist bedingt durch
die Faktoren der Person, mit der gesprochen wird,
des Ortes, an dem gesprochen wird, und des Inhalts,
über den gesprochen wird, sowie der Interaktion
dieser drei Faktoren.
Die drei Faktoren sind selbstverständlich nicht unabhängig voneinander zu sehen, sondern nur in Kombination. Beispielsweise kann ein Kind mit Selektivem
Mutismus mit Schweigen reagieren, wenn es mit seiner
Mutter, mit der es zu Hause problemlos spricht, im
Klassenzimmer vor den Augen des Lehrers und der Mitschüler über seine aktuellen Gefühle reden soll. Neben
den Einschränkungen in der verbalen Kommunikation
sind auch häufig verminderte Mimik, Gestik und Körpergeräusche (Husten, Lachen etc.) zu beobachten. In
Extremfällen können Kinder auch psychomotorisch
vollkommen erstarrt wirken. Auch konnte gezeigt werden, dass Kinder mit Selektivem Mutismus verglichen
mit nicht betroffenen Kindern seltener, leiser und weniger spontan sprechen, und dies sowohl während der
akuten Symptomatik als auch bereits im Vorfeld [5].
Ätiologie
Der Selektive Mutismus ist, wie andere psychische Störungen auch, multikausal bedingt, das heißt, mehrere
biologische, psychologische und soziale Faktoren tragen zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung
bei.
INFOBOX 1: SYMP TOMATIK DES SELEK TIVEN M UTISMU S
NACH DSM - 5 ( 312.23) [ 1]
a) andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu
sprechen, in denen Sprechen erwartet wird (z. B. in der
Schule), obwohl Sprechen in anderen Situationen möglich
ist.
b) Beeinträchtigung in Ausbildung oder Beruf oder sozialer
Kommunikation durch die Störung
c) Dauer von mindestens 1 Monat (ausgeschlossen ist der
erste Monat nach Schuleintritt)
d) Die Unfähigkeit zu sprechen beruht nicht auf fehlenden
Sprachkenntnissen derjenigen Sprache, die in sozialen
Situationen benötigt wird, oder auf einem starken Unwohlsein, die Sprache zu sprechen.
e) Die Störung kann nicht besser durch eine Sprechstörung
(z. B. Stottern) erklärt werden und tritt nicht ausschließlich
in Zusammenhang mit einer Autismus-Spektrum-Störung,
Schizophrenie oder anderen psychotischen Störung auf.
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innerhalb der Kernfamilie ist ein Hinweis auf einen besonders ausgeprägten Schweregrad [3]. Weiterhin besteht bei vielen Kindern ein Unterschied darin, ob der
Interaktionspartner gleichaltrig oder erwachsen ist.
Biologische Faktoren Hinweise auf eine teilweise genetische Transmission lassen sich indirekt aus Befunden zu familiärer Häufung von Selektivem Mutismus
beziehungsweise assoziierten Störungen, Temperaments- und Persönlichkeitsmerkmalen ableiten [6, 7].
Diese umfassen generalisierte Soziale Phobie, soziale
Ängstlichkeit, Schüchternheit, Schweigsamkeit und
vermeidende Persönlichkeitsstörung. Leider wurden
bislang keine Zwillings- oder Adoptionsstudien durchgeführt, um eine direkte Schätzung der Heritabilität
abzuleiten. Auch gibt es Hinweise darauf, dass bei
etwa 70 % (Kontrollgruppe: 16 %) der Kinder mit Selektivem Mutismus eine Störung einer der auditorischen
efferenten Feedbackschleifen vorliegt, die bewirkt,
dass die eigene Stimme verändert wahrgenommen
wird [8].
Psychologische Faktoren Im Zusammenhang mit Selektivem Mutismus, aber auch anderen Angststörungen, insbesondere der Sozialen Phobie, wird ein Temperamentsmerkmal, die Behaviorale Inhibition (BI) diskutiert [9]. Dieses Persönlichkeitsmerkmal ist gekennzeichnet durch Schüchternheit, Ängstlichkeit und Zurückhaltung neuen Situationen, Personen oder Reizen
gegenüber. Kleinkinder mit ausgeprägter BI zeigen ein
geringeres Explorationsverhalten und eine starke Zurückhaltung, was Kontaktaufnahme mit neuen Reizen
angeht (z. B. unbekannte Gegenstände in den Mund
nehmen). Physiologisch ist eine erhöhte BI mit einer
geringen Erregungsschwelle bestimmter Gehirnregionen (Limbisches System, Hypothalamus) und des Sympathikus verbunden. Es konnte gezeigt werden, dass
das Ausmaß an BI negativ mit der Anzahl gesprochener
Worte im Alter von 3 – 6 Jahren korreliert [10], während
ein auf längsschnittlich erhobenen Daten beruhender
Nachweis für den Kausalzusammenhang noch aus-
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Schwerpunktthema
Merke
Behaviorale Inhibition ist ein Temperamentsmerkmal, das durch Schüchternheit, Ängstlichkeit und
Zurückhaltung gekennzeichnet ist und in ätiologischer Verbindung mit Selektivem Mutismus sowie
weiteren Angststörungen steht.
Weiterhin müssen im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung des mutistischen Verhaltens Prozesse
der operanten Konditionierung in Betracht gezogen
werden, wie beispielsweise kurzfristig positive Verstärkung durch Aufmerksamkeitszuwendung im Falle des
Schweigens und negative Verstärkung durch den Wegfall von Anspannung oder unangenehmen Aufgaben.
Langfristig bleibt eine positive Lern- und Selbstwirksamkeitserfahrung aus, und unangemessene Reaktionen aus dem sozialen Umfeld wie etwa Hänseleien können als Bestrafung erlebt werden.
Soziale Faktoren Über verschiedene Studien hinweg
ergeben sich Hinweise darauf, dass Selektiver Mutismus häufiger bei Kindern mit Migrationshintergrund
und Bilingualität auftritt. Populationsbasierte Schätzungen gehen von einem vierfach gehäuften Vorkommen aus [12, 13]. In einer Studie aus Israel wurde bei
Kindern mit Migrationshintergrund eine Prävalenz des
Selektiven Mutismus von 2,20 % gefunden, während
die Prävalenz bei den in Israel geborenen Kindern bei
nur 0,76 % lag [14]. Studienergebnisse zu Elternverhalten hingegen sind widersprüchlich: Zwei Untersuchungen zeigen keinen abweichenden Erziehungsstil der Eltern von Kindern mit Selektivem Mutismus im Vergleich zu dem von Eltern ängstlicher und gesunder Kinder, während eine experimentelle Studie verstärkte
Kontrolle und Überbehütung findet [15, 16]. Im Vorschulalter wurden in der Eltern-Kind-Interaktion bei Familien mit Kindern mit Selektivem Mutismus weniger
durch die Eltern initiierte Episoden geteilter Aufmerksamkeit beobachtet als bei Eltern von Kindern mit anderen Angststörungen und gesunden Kindern [17].
Uneindeutige Evidenz Einige Faktoren, die in der Vergangenheit als ätiologisch relevant für den Selektiven
Mutismus diskutiert wurden, können dem aktuellen
Forschungsstand nach nicht mit diesem Störungsbild
in Verbindung gebracht werden: So konnte eine erhöhte Prävalenz an traumatischen Erlebnissen als Ursache
für Selektiven Mutismus nicht empirisch bestätigt werden [18]. Abgesehen von der oben beschriebenen familiären Häufung an Symptomen aus dem Formenkreis
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des Selektiven Mutismus gibt es nur vereinzelt Hinweise auf eine vermehrte Anzahl psychischer Störungen bei den Eltern von Kindern mit Selektivem Mutismus [3, 19]. Insgesamt scheint das Ausmaß der kindlichen Symptomatik insbesondere mit der väterlichen,
nicht jedoch der mütterlichen, assoziiert zu sein [15].
Epidemiologie und Verlauf
Mit einer Prävalenz von ca. 1 % gehört der Selektive Mutismus zu den eher selten auftretenden psychischen
Störungen im Kindes- und Jugendalter [12]. Das durchschnittliche Erstauftretensalter liegt mit zwei bis fünf
Jahren im Vorschulalter, wobei die Mehrheit der Kinder
erst im Laufe der Grundschulzeit psychologisch oder
ärztlich vorgestellt wird und Aggravierungen der
Symptomatik mit Eintritt in den Kindergarten und/
oder die Grundschule beobachtet werden können [3,
18].
Eine Katamnesestudie aus Deutschland [3] untersucht
41 Kinder, die ehemals aufgrund eines Selektiven
Mutismus kinder- und jugendpsychiatrisch vorgestellt
worden waren, nach durchschnittlich zwölf Jahren erneut. Bei 39 % dieser Kinder konnte eine vollständige
Remission festgestellt werden, alle übrigen zeigten
weiterhin Störungen in der Kommunikation. Gleichzeitig beschrieben die vormals mutistischen Patienten
eine geringere psychosoziale Anpassung als die Teilnehmer der gesunden Vergleichsgruppe. Ein höheres
Alter, höherer Schweregrad und lange Onset-Behandlungs-Latenz sind prognostisch ungünstige Faktoren
für die Entwicklung von Kindern mit Selektivem Mutismus [20]. Ohne Behandlung ist mit einem chronischen
Verlauf mit weit reichenden psychosozialen Einschränkungen bei der Mehrheit der Kinder mit Selektivem
Mutismus zu rechnen [21].
Komorbidität und Differenzialdiagnose
Mit Abstand am häufigsten gemeinsam mit Selektivem
Mutismus treten weitere Angststörungen auf [13].
Neben den Angststörungen sind noch weitere psychische Störungen mit dem Selektiven Mutismus assoziiert:
Entwicklungsverzögerungen/-störungen Man kann
davon ausgehen, dass Kinder mit Selektivem Mutismus
sowohl gegenüber sozial ängstlichen Kindern als auch
gesunden sprachliche Defizite bezüglich Wortschatz,
Grammatik und phonologischer Bewusstheit aufweisen und bei etwa einem Drittel der Kinder im Vorfeld
der Störung Sprech- und/oder Sprachstörungen und
-verzögerungen auftreten [2, 13]. Vereinzelt zeigen
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steht. Nach den Ergebnissen einer retrospektiven Untersuchung weisen Kinder mit Selektivem Mutismus
eine höhere BI insgesamt und bezüglich des Teilaspekts der Schüchternheit auf als Kinder mit sozialer
Ängstlichkeit, Kinder mit anderen internalisierenden
Störungen und gesunde Kinder [11].
INFO BOX 2: SELEK TIVER M UTISMUS U ND SOZIAL E P HOBIE: EIN SPEZIELLES V ERHÄLT NIS
Studien auch Hinweise auf über den sprachlichen Bereich hinaus gehende Entwicklungsverzögerungen bei
Kindern mit Selektivem Mutismus. Daneben gibt es
Hinweise auf eine erhöhte Prävalenz an Ausscheidungsstörungen [18].
Sozialverhaltensstörungen Als stark uneinheitlich ist
die Evidenz bezüglich des gemeinsamen Auftretens
von Selektivem Mutismus und Sozialverhaltensstörungen, wie zum Beispiel der Störung mit oppositionellem
AU S DER P R A XIS
Das konstante Schweigen eines Gesprächspartners kann Hilflosigkeit auslösen oder den Eindruck erwecken, das Gegenüber spreche absichtlich nicht und wolle provozieren. Kinder und
Jugendliche im Schulalter sind manchmal dem
Problem ausgesetzt, dass ihr Schweigen in der
Schule nicht auf Angst und Unvermögen zurückgeführt wird, sondern auf Oppositionalität und
Unwillen. Dementsprechend wird wenig Verständnis für die besonderen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen aufgebracht. Folgen sind
unter anderem negative Bewertungen der
mündlichen Leistungen und Motivationsverlust
des Schülers. Eine frühzeitige Psychoedukation
des sozialen Umfeldes eines Kindes mit Selektivem Mutismus kann das Verständnis und die Bereitschaft, die Intervention zu unterstützen, fördern.
zögerung oder leicht oppositionellen Verhaltensweisen auf, jedoch unterschieden sich die drei
Gruppen nicht hinsichtlich der sozialen Ängstlichkeit
per se [22]. Dass eine Abgrenzung der Störungsbilder wohl doch gerechtfertigt ist, zeigen neben dem
unterschiedlichen mittleren Onsetalter Unterschiede hinsichtlich des weiteren Komorbiditätsprofils
und des Profils an assoziierten Verhaltensproblemen
[23]. Ein Vergleich der auftretenden Lifetime-Diagnosen zwischen Kindern mit Selektivem Mutismus
und solchen mit sozialer Phobie im standardisierten
Interview zeigt, dass erstere häufiger von einer
Trennungsangst und Störung mit oppositionellem
Trotzverhalten betroffen sind, während letztere
häufiger Depressionen und generalisierte Angststörungen aufweisen. Im Hinblick auf durch die Eltern
und Jugendlichen selbst eingeschätzte Verhaltensprobleme werden bei Kindern mit Selektivem Mutismus mehr soziale Probleme und sozialer Rückzug
angegeben als bei Kindern mit sozialer Phobie.
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Die Koinzidenz zwischen Selektivem Mutismus und
anderen Angststörungen, insbesondere der sozialen
Phobie, ist so hoch, dass darüber diskutiert werden
kann, ob es sich beim Selektivem Mutismus um eine
eigenständige Entität oder vielmehr eine Extremausprägung der sozialen Phobie handelt [18]. Über
eine verhältnismäßig große Anzahl von Studien
zeigte sich, dass bei 50 – 100 % der Kinder mit Selektivem Mutismus eine weitere Angststörung, zumeist
eine soziale Phobie, vorlag, und vergleichende Studien konnten ein vergleichbares bzw. sogar stärker
ausgeprägtes Niveau an sozialen Ängsten bei Kindern mit Selektivem Mutismus im Vergleich zu gesunden Kindern und solchen mit anderen Angststörungen feststellen [6, 10]. Eine Analyse zur Identifikation von Subgruppen innerhalb einer Stichprobe
von 130 Kindern mit Selektivem Mutismus zeigte
ausgeprägte soziale Ängstlichkeit der Kinder aller
Subgruppen. Die soziale Ängstlichkeit war entweder
alleiniges Merkmal der Subruppe oder trat in Kombination mit anderen Charakteristika wie Sprachver-
Trotzverhalten, zu bewerten [18]. Hinweise auf ein vermehrtes Auftreten entsprechender Symptome im Vergleich zur Kontrollgruppe wurden nur teilweise in Studien gefunden, und selbst in diesen lagen die Werte
im klinisch unauffälligen Bereich. Denkbar als Ursache
für die Überschätzung dieser Symptomatik sind einerseits die in der Regel starken Protestreaktionen, die
Kinder mit Selektivem Mutismus zu Hause bei Ankündigung einer möglichen Konfrontation mit angstbesetzten Situationen zeigen, sowie die Fehlattribution der
Symptomatik auf Provokation, die bei vielen Interaktionspartnern (vermutlich aus Hilflosigkeit angesichts
der Situation) entsteht. Allerdings wird auch in Betracht gezogen, dass eine distinkte Subgruppe innerhalb der Gesamtgruppe von Kindern mit Selektivem
Mutismus vermehrte oppositionelle, aggressive und
delinquente Verhaltensweisen aufzeigt [15, 24].
Differenzialdiagnosen Aufgrund der oben beschriebenen häufigen Komorbidität und Überschneidung
hinsichtlich eines Teils der Symptomatik ist der Selektive Mutismus zunächst von der Sozialen Phobie und
weiteren Angststörungen abzugrenzen. Hier stellt das
konstante Schweigen in bestimmten Situationen das
differenzielle Merkmal zwischen den Störungsbildern
dar.
Von oppositionellem Verhalten bzw. einer Sozialverhaltensstörung sollte der Selektive Mutismus dadurch abzugrenzen sein, dass mögliche oppositionelle Symptome vorwiegend in Situationen auftreten, in denen die
Kinder mit Situationen, die Angst in ihnen auslösen,
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Schwerpunktthema
Interessenkonflikt
FA ZIT
konfrontiert sind. In diesem Fall dient das oppositionelle Verhalten der Vermeidung angstbesetzter Situationen. Ein situationsübergreifendes oppositionelles Verhaltensmuster inklusive labiler Emotionalität, dissozialen und aggressiven Verhaltensweisen sollte sich dagegen nicht zeigen. Retrospektive kann bei Kindern mit
Selektivem Mutismus ein durchgängig inhibiertes Temperament durch die Eltern berichtet werden, während
Kinder mit Sozialverhaltensproblemen ein gegenteiliges Temperament gezeigt haben sollten.
Eine oft schwierig abzugrenzende Störung stellt die
Autismus-Spektrumstörung (ASS) dar: Bei beiden Störungsbildern weisen die Kinder und Jugendlichen
Schwierigkeiten im sozialen Kontakt auf, der zumindest
bei einem Teil der Kinder mit ASS zu sozialem Rückzug
und schüchternem Interaktionsstil führt. Daneben zeigen auch Kinder mit ASS Schwierigkeiten damit, ihre eigenen Gefühle differenziert zu berichten. Da die aktuelle Diagnostik der ASS beim Patienten selbst durch das
Schweigen beeinträchtigt sein kann, empfiehlt sich in
einem ersten Schritt die Durchführung eines diagnostischen Interviews mit den Eltern sowie eine strukturierte Verhaltensbeobachtung des Kindes oder Jugendlichen nach Besserung der mutistischen Symptomatik.
Auf diese Weise kann differenziert werden, ob es sich
um eine Primärdiagnose einer der beiden Störungen
oder ein komorbides Auftreten beider Störungen, das
selbstverständlich auch vorkommen kann, handelt.
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Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt
besteht.
Über die Autoren
Christina Schwenck
Prof. Dr. Christina Schwenck ist Diplom-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Supervisorin. Derzeit hat sie
eine Professur für Entwicklungspsychologie
und Klinische Psychologie des Kindes- und
Jugendalters an der Universität in Kiel inne.
Angelika Gensthaler
Dr. Angelika Gensthaler ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik. Sie
arbeitet als Oberärztin an der Universitätsklinik Frankfurt/
Main.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Christina Schwenck
Christian-Albrecht-Universität zu Kiel
Abteilung für Entwicklungspsychologie und
Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters
Olshausenstr. 75
24118 Kiel
E-Mail: [email protected]
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Zusammenfassend wurden in den vergangenen
Jahren zahlreiche ältere Erkenntnisse hinsichtlich
des meist vor Schuleintritt auftretenden Störungsbildes des Selektiven Mutismus durch neue
abgelöst. Die Störung wird inzwischen den
Angststörungen zugeordnet und weist große
Ähnlichkeiten, aber auch einige Unterschiede, zur
sozialen Phobie auf. Die Sichtweise des Selektiven
Mutismus in Assoziation mit Sozialverhaltensproblemen kann dagegen allenfalls für eine Subgruppe vermutet werden. Bezüglich der Genese
der Störung konnten einzelne biologische, psychologische und soziale Faktoren in den Ergebnissen der Wissenschaft Bestätigung finden, für
andere Ursachen dagegen, wie zum Beispiel
traumatische Erfahrungen, gibt es keine Evidenz.
Auch wenn Längsschnittstudien zur Erfassung
genauer Entwicklungsverläufe noch ausstehen,
ist davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Teil
der Kinder mit SM im weiteren Entwicklungsverlauf psychische und soziale Beeinträchtigungen
entwickeln und eine frühzeitige Intervention
essenziell für einen positiven Verlauf ist.
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Bibliografie
DOI https://doi.org/10.1055/s-0043-102517
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
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