RPh 14 Religion und Philosophie

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10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
I. Mythos
(1) Die mythologische Religion ist die „allem Denken zuvorkommende Religion des
Menschengeschlechts“ (M I, 245). Diese Religion entsteht nicht aus rationalen
Überlegungen, wie etwa die Ableitung eines Gottesbegriffs als ersten Bewegers oder causa
sui. Sondern diese Religion macht sich aus den unkontrollierten Bewegungen des Geistes –
und das bedeutet: aus den autark wirkenden (nicht durch uns kontrolliert in Gang gesetzten)
Inhaltsmächten, die in unserem Erleben präsent sind – selber. In genau diesem Sinn entstehen
Mythen „nicht aus der bloßen, wenn auch etwa als nothwendig vorgestellten Verwirklichung
eines Begriffs“, sondern beruhen „auf einem wirklichen, realen Verhältniß des menschlichen
Wesens zu Gott ..., aus welchem allein ein vom menschlichen Denken unabhängiger Proceß |
entstehen kann“ (M I, 244f).
(2) Gewöhnlich stellt man sich die Entstehung eines Mythos ja in etwa folgendermaßen vor
(und Schelling meint, dass es so gerade nicht geschieht): Man bildet den Begriff einer Gottheit, den man aus z. B. dem Wüten des Sturmes sich gewinnt, den man etwa als „unberechenbar, wie ein wütender Mensch“ erlebt. Das ist der Begriff: „unberechenbar, wie ein wütender Mensch“. Nun wird von den Mythenerklärern vorausgesetzt, dass der Mensch dabei
gerade nicht wirklich ein wütendes Subjekt erfährt, sondern einen Naturvorgang, von dem er
auch genau weiß, dass er nicht personal ist, bei dem er aber eine Vergleichbarkeit mit der
Unberechenbarkeit einer Person feststellt. Aufgrund dieser Vergleichbarkeit nun fasst er das
Wüten des Sturmes in ein Bild, von dem er auch genau weiß, dass es ein bloßes Bild ist.
Nicht die Unberechenbarkeit des Sturmes ist ein Bild (die erlebt er vielmehr authentisch),
aber ihre Deutung als Äußerung eines dahinterstehenden wollenden und zielgerichtet agierenden Subjekts – dies ist das mythische Bild: das dahinterstehende Subjekt wird als eine
imaginäre Person (Aeolus oder Wotan) zum Phänomen (zu den Turbulenzen des Sturmes)
hinzugedacht. Damit wird der Begriff verwirklicht, d. h. es wird ihm eine als imaginär gewusste „Wirklichkeit“, also eine bloß künstliche, eine gemachte Wirklichkeit untergeschoben: daher das Tätigkeitswort „verwirklichen“ – es ist keine als ursprünglich wirklich gegebene und erfahrende Wirklichkeit, sondern eine durch „Verwirklichung“, d. h. durch Wirklich-„Machung“ erzeugte Wirklichkeit. Damit wird die Natur (das eigentliche und authentische ursprüngliche Wirkliche) „vergöttert“ (M I, 245), was wiederum heißt, sie wird nicht
ursprünglich als Gott erfahren, sondern das erfahrende, ganz ungöttliche Phänomen wird
nachträglich zum Gott gemacht bzw. ihm wird ein Gott als Zentrum eingeschrieben. Das aber
ist nicht die ursprüngliche und authentische Erfahrung, sondern die nachträgliche, bloß sekundäre religiöse Deutung einer ursprünglich ganz profanen primären Erfahrung.
(3) Diese Unterlegung der profanen Natur mit einer religiösen Instanz geschieht (wie man
annimmt) „in Folge einer positiven Neigung, die man dem Menschen zuschreibt, überall wo
er eine Wirkung wahrnimmt, auch Willen und Freiheit vorauszusetzen, wäre es auch nur,
weil er den Begriff der Existenz, unter dem er die Dinge außer sich denkt, nur | aus sich
selbst schöpft, nur allmählich verallgemeinert und das von ihm absondern lernt, was mit diesem Begriff im menschlichen Bewußtseyn verbunden ist“ (M I, 68f). Damit ist gesagt: Was
wir bloß in uns erleben, nämlich „Wille und Freiheit“ schreiben wir den Dingen außer uns
zu, denen aber beides nicht wirklich zukommt. Dies meinen wir durch eine natürliche Täuschung, die aber durch Aufklärung, nämlich durch die Einsicht, dass Willen und Freiheit bloß
unser eigenes Selbsterleben ausmachen, beseitigt wird: Sobald wir (in einem „allmählichen“
Prozess) erkennen, dass wir Wille und Freiheit aus uns selbst erfahren, nehmen wir an, dass
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sie nur uns zukommen und nicht auch der Natur außer uns Menschen. So zweifellos es ist,
dass die Aufklärer gewöhnlich die Dinge genau so sehen, so wenig überzeugt die darin implizierte Voraussetzung, die besagt, dass das, was wir von unserem Selbsterleben (unserem Innenaspekt) her kennen, nicht auch den anderen Naturwesen zukommen kann. Mit welchem
Recht schließt der Aufklärer so, wenn er doch auf der anderen Seite weiß und zugeben muss,
dass er eine Hervorbringung derselben Natur ist, die auch alle die Dinge außer ihm hervorgebracht hat?
Zusatz: So liest man auch im „Lexikon für Theologie und Kirche“: „Übereinstimmung herrscht darin, daß
zwar die mythische Weltvorstellung u. mytholog. Redeweise wissenschaftl. überholt, also ebenfalls entmythologisiert seien, aber dennoch, weil der Anschaulichkeit der räumlichen Bestimmungen der Welt u. der ‚Stockwerkstruktur’, dem natürlichen Menschen entsprechend, dem Menschen jederzeit zu eigen neu zu gewinnen seien“1.
Der Mythos ist also objektiv („wissenschaftlich“) nicht stichhaltig, er entspricht aber der menschlichen Anschauungsweise. Der Mythos ist also in den Augen des aufgeklärten Theologen nur eine Anthropomorphisierung der Natur – d. h. eine sekundäre Deutung ursprünglich apersonaler Phänomene als personal.
(4) Aufklärerische Mythenerklärer sagen also etwa Folgendes: Wenn der Mensch die Götterbesetzteit der Naturphänomene auch ursprünglich als authentisch erlebt hat, so weiß er doch
hernach durch die Aufklärung, dass er die Dinge außer sich eben nur nach dem Muster seiner
selbst denkt – und so weiß er durch diese Aufklärung, dass das religiöse Erleben und Erfahren nur vermeintlich authentisch und in Wahrheit vielmehr bloß seine Projektion war, weil in
den Dingen tatsächlich und von ihnen selbst her nichts Persönliches ist, sondern er ihnen dies
nur zuschreibt. Aber woher weiß er, dass in den Dingen außer uns nichts Persönliches steckt?
Das setzt er einfach voraus, und stützt sich dabei darauf, dass bestimmte höhere Persönlichkeitsfunktionen wie Sprechen und Diskutieren, bei den außermenschlichen Wesen nicht vorkommen. Aber es gibt ja auch eine andere als die akademisch strukturierte Kommunikation,
eine Kommunikation ohne Worte, ein gefühltes Einverständnis oder gefühlten Dissens, eine
unausgesprochene Sicherheit des Wohlwollens oder Misswollens, die sich als authentisch
aufdrängt und von Dichtern deshalb auch so artikuliert wird, die mit Worten ausdrücken, was
uns die Dinge ohne Worte sagen. Jedes Wesen strebt nach seinem Daseinszweck in einer
unserem willentlichen Streben analogen Weise. Das ist die Erfahrung der Künstler (14.1.1 03, § 15 mit Zusatz).
(5) Sollte sich aber zeigen lassen, dass die Dinge auch auf dem aufgeklärten Standpunkt gar
nicht anders denn als persönlich gedacht werden können, dann wäre die ursprüngliche Erfahrung die richtige und wahre, authentische, und unsere aufgeklärte, einer ihrer selbst entfremdete, verfälschte Erfahrung, eine Pseudoerfahrung: authentisch wäre die archaische mythologische Erfahrung, nicht unsere aufgeklärt szientistische. Für das Erleben räumt diese
Authentizität auch die Religionswissenschaft ein: das subjektive Schema liegt in den wahrgenommenen Sachen selbst und wird nicht durch Deutung nachträglich hinzugefügt: die Erfahrung des Wütens des Sturmes selbst wird als eine personale, als die Äußerung eines zielgerichtet agierenden Willens gemacht.2 Dennoch behauptet die Religionswissenschaft, dass
diese Authentizität des Erlebens letztlich eine Projektion anthropomorpher Strukturen bleibe,
weil die anthropomorphe Größe des Willens wissenschaftlich gesehen etwas anderes sei,
nämlich naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit. Authentisch ist also nicht die Erfahrung
eines Willens, sondern einer willenslosen, d. h. unabsichtlichen Gesetzmäßigkeit. Aber diese
Auffassung übersieht, dass Gesetzmäßigkeit selbst nicht anders denn als analog zu einem
absichtlich agierenden Willen gedacht werden kann: Ist etwas ein Gesetz, dann ist der zu1
Lexikon für Theologie und Kirche, Band III (Freiburg im Breisgau: Herder 1959), 902 (Heinrich Fries)
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Dux 1982, 108. Vgl. Huber 2006, § 103.
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künftige Verlauf nicht zufällig, sondern in der Gegenwart vorab schon festgelegt. Was sind
Vorab-Festlegungen aber anderes als Absichten oder Zwecke (seien sie bewusst oder unbewusst, wie das Schlagen der unbewusst verfolgte Daseinszweck unseres Herzens ist)?3 Und
so bleibt es dabei: Die archaische mythologische Erfahrung ist authentischer als unsere
aufgeklärt szientistische. Und entsprechend muss die Entstehung der Mythen anders gedacht werden. Es werden nicht primär profane willensfreie Phänomene sekundär mit numinosen Willenssubjekten unterlegt, sondern schon primär erleben und erfahren die Menschen
numinose Willenssubjekte, die sich in den Phänomenen äußern. Die Seinsmächte, die den
Menschen ängstigen und bedrohen – die verzehrende Macht, die das Einzelwesen vernichtet,
die zeugende Kraft, die das Einzelne in orgiastischem Taumel in die verwirrende Fülle immer neuer Gestaltungen verwickelt, oder die vergötzende Macht welche ein gegebenes partikulares Ordnungsgefüge als unbedingt geltende Macht (Stammesgötter, Reichsgötter) behauptet – diese Mächte manifestieren sich dabei in unterschiedlichen sichtbaren und greifbaren Gestalten (Theophanie), unter denen sie verehrt werden. Die äußere Gestalt – atmosphärische Erscheinungen (Blitze), Tiere, Pflanzen, menschliche Figur – der Mächte ist nicht das
Primäre der Erfahrung. Primär ist der im einzelnen Erlebnis sich äußernde bedrohliche oder
wohlgesinnte, die Phänomene bestimmende Wille. Erst sekundär wird dann dieses Willenssubjekt, das in eigentlich unbekannter, unsichtbarer Gestalt den Phänomenen zugrunde liegt,
mit der äußeren Gestalt (auch nicht dieses konkreten einzelnen Gewitters, Tieres usw., sondern mit allgemeinen Zügen, die aus dem Erleben vieler Gewitter, Tiere usw. sich bildeten)
identifiziert. So erhalten die primär als unsichtbare Willenssubjekte erfahrenen numinosen
Mächte (Subjektivitäten) sekundär die aus der empirischen äußeren Welt bekannten Gestalten, in denen sich die Willenssubjekte zeigen: Pflanzen, Tiere, Menschen (vgl. M I, 76).
Zusatz 1: Der Mensch sucht das allem zugrundeliegende Willenssubjekt – den wahren Gott. Diesen kann er in
jedem einzelnen numinosen Subjekt, das er erfährt, zu finden glauben, und dadurch nimmt der als universal
geglaubte Gott auch die unterschiedlichen sicht- und rgeifbaren Gestaltungen der Gottheiten an. Durch das
Wechselnde in der Erscheinung dieser Machtwiderfahrnisse ergibt sich eine Geschichte Gottes mit den Menschen: die geschichtlichen Stadien, in denen Gottes universale Subjektivität, die hinter den Einzelsubjektivitäten steht, als solche vom Menschen nicht klar erfasst, sondern mit dieser oder jener partikularen Subjektivität
identifiziert wird (bis er dann jeweils erkennt, dass das partikulare Subjekt zu eng ist und über es hinaussteigt).
Diese geschichtlichen Stufen der Offenbarung des universalen Gottes sind „zum Stoff des Polytheismus geworden“ (M I, 85). Die Metamorphosen des universalen Gottes in den partikularen Subjekten sind die heidnischen Götter und ihre Geschichte.
Zusatz 2: „Es ist eine sehr alte Meinung, welche das Heidenthum wie alles Verderben in der Menschheit vom
Sündenfall allein ableitet. ... Der Mensch, durch die Sünde in die Attraction-Sphäre der Natur gerathen, und in
dieser Richtung immer tiefer sinkend, vermischt das Geschöpf mit dem Schöpfer, der ihm dadurch aufhört Einer
zu seyn, und Viele wird“ (M I, 205). Natur ist die Sphäre der Trennung des Einzelnen vom Ganzen. Hier sieht
der Mensch die Dinge nicht mehr, „wie sie in Gott sind“, sondern „in der geist- und einheitslosen Äußerlichkeit
des gewöhnlichen Sehens“ (M I, 206). Wären wir „in Gott“, würden wir erleben wir, wie es ist, eine Natur zu
sein, welche Löwen als selbstständige Wesen hervorbringt und sie dabei doch in das Gesamtgewebe aller Wesen
harmonisch einfügt. Diese Gesamtharmonie erleben wir nicht als unser Daseinselement, denn aus ihr, aus dem
wahren, unparteiischen „Centrum“ des universalen Ganzen haben wir uns durch den Sündenfall herausgesetzt
und erleben uns selbst unweigerlich als Zentrum der Welt (und handeln auch danach, nämlich selbstsüchtig,
parteiisch für uns selbst), obgleich wir wissen, dass wir das Zentrum nicht sind. Aber dem Menschen ist und
bleibt es dennoch „wesentlich, im Centrum zu seyn, denn nur da ist er an seinem wahren Ort“ (M I, 206). Eben
deswegen wissen wir, dass uns die Perspektive, die Raum und Zeit um uns zentriert, täuscht, und dass es ungerecht ist, ohne Rücksicht auf andere die eigenen Interessen zu verfolgen. Dadurch geschieht jetzt Folgendes:
„Indem er aber seine centrale Stellung und die damit verbundene Anschauung, während er schon an einem
anderen Orte ist, behaupten will, entsteht aus dem Streben und Ringen, im schon Gestörten und Auseinandergegangenen die ursprüngliche göttliche Einheit festzuhalten, jene mittlere Welt, die wir eine Götterwelt nennen,
und die gleichsam der Traum eines höheren Denkens ist, den der Mensch eine Zeit lang fortträumt, nachdem er
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Huber 2006, §§ 103ff
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aus demselben herabgesunken ist“ (M I, 206). Diese Spannung, wie Schelling sie sieht, die Spannung, die zwischen dem verlorenen Zentrum und der doch bleibenden Zentralität (die aber durch den Sündenfall beschädigt,
aus der Bahn gebracht, desorientiert ist) erläutere ich kurz näher:
[a] Die Einheit Gottes, die er verlassen hat, lässt den Menschen zwar nicht los, denn er kann nur existieren,
wenn die untereinander spannungsvollen Daseinskräfte, die ihn selbst und den ganzen Kosmos bilden, in der
rechten Ordnung gehalten werden. Diese Ordnung vermag der Mensch aus eigener Kraft weder zu errichten
noch zu erhalten. Dazu ist nur die allen partikularen Kräften überlegene organisierende Macht Gottes im
Stande. Nur von Gottes universaler Zentralmacht her vermag im Menschen der organisierende Mittelpunkt seines Daseins zu wirken. Diese innere bestimmende Wirklichkeit des Menschen, die in ihm wirkt, ohne dass er sie
sich selber gegeben hätte (denn er hat sich nicht selbst geschaffen), ist „jenes numen ..., von dem wir gleich
anfänglich sagten, daß es diesen ganzen Proceß leite – ... jene Macht des göttlichen Lebens und Seyns, welche
das menschliche Bewußtseyn nicht ausläßt, und das ihm entfremdete und entzogene gleichwohl durch einen
nothwendigen Proceß wieder in jenes ursprüngliche Verhältniß zurückführt“ (M II, 324). Notwendig ist der
Prozess nur insoweit, als der Mensch nicht verhindern kann, dass Gott den Sündenfall durch seine eigene
Menschwerdung korrigiert. Sowohl Gott hätte auf die Erlösung verzichten können (M II, 324), als auch Jesus
Christus die Erlösung verweigern. Die Tendenz zur Rückführung in das ursprüngliche Verhältnis von Mensch
und Gott ist notwendig, nicht aber der Erfolg derselben, welcher vielmehr der Freiheit Gottes und des menschgewordenen Gottessohnes geschuldet ist.
[b] Da der Mensch nun aber im Sündenfall die Organisationsmacht über sein Dasein sich selbst usurpiert hat,
dabei aber den Spannungen der Daseinskräfte nicht gewachsen ist, unterliegt er (statt der suspendierten Herrschaft Gottes) der Herrschaft wechselnder partikularer Kräfte, die ihn, nachdem er sie aus ihrer partikularen
Wirksamkeit, zu welcher die göttliche Ordnungsmacht sie gebändigt hatte, gelöst hat, jeweils total ihrer Herrschaft unterwerfen bis sie von anderen verdrängt werden, denen der Mensch dann weiterhin unterworfen ist und
so fort.
[c] Dies ist die Abfolge der selbstständig wirkenden (autarken) Mächte, d. h. der mythischen Götter, die der
Mensch aus der göttlichen Ordnung gelöst und in seine eigene, jedoch versagende Ordnungskraft gebracht hat
(im Sündenfall), und die jetzt den Menschen dazu treiben und zwingen, einmal alles Differenzierte zu verzehren
(Opfer vom Typ des Molochsopfers), das andere Mal aber umgekehrt jede Ordnungseinheit im Taumel des
Differenzierten auflösen (Praktiken nach dem Muster der orgiastischen Kulte) (10.10, §§ 8-14 und 10.11, §§ 25).4 Weil der Mensch die universale göttliche Zentralmacht zurückgestoßen hat, können die partikularen Mächte
so deren vakante Funktion usurpieren, die Funktion der universalen Zentralisierung, der universalen Organisierung: sie unterwerfen sich den Menschen, sie gaukeln sich ihm als wahres und einziges Zentrum vor, dem er
alles andere aufzuopfern habe.
(6) Weil die willensmäßige Aktivität der Dinge auf den Menschen nicht seiner Projektion
entstammt, sondern aus den Dingen selbst kommt, darum ist die religiöse Erfahrung „unabhängig von menschlicher Erfindung“, sondern ein „reales Verhältniß Gottes zum menschlichen Bewußtseyn“ (M I, 81). Real, weil es von den Dingen selbst (irreduzibel auf anthropomorphe Mechanismen) ausgeht statt aus menschlicher Zuschreibung zu stammen (10.10, §§
2-11). Da gibt es nun zwei unterschiedliche Weisen, in denen die objektiven göttlichen
Mächte auf das Bewusstsein wirken. Zum einen wirken die partikularen Mächte (die autarken
Mächte in der Welt, die „kosmischen Mächte“ [M I, 249]), wenn ihr Zusammenwirken nicht
von der universalen göttlichen Macht geordnet ist, naturwüchsig. Was bei ihrem Wirken
herauskommt ist naturwüchsiges Resultat der Macht des Stärkeren. Anders wirken die Mächte, wenn der universale Wille (der wahre Gott) sie ordnet, d. h. sie als einzelne bekämpft (in
der „Kelter“ [Is 62, 11 und 63, 1-3; vgl. 10.13, § 9]), ihr Übermaß also zurückdrängt, und ihr
Wirken mäßigenden Gesetzmäßigkeiten unterwirft. Das muss aber alles in den objektiven
Mächten selbst geschehen. So wenig die Vorstellungen und Berechnungen des Astronomen
es sind, welche die Himmelskörper in ihren geordneten Bahnen halten, so wenig sind es die
Vorstellungen des religiösen Menschen welche die autarken kosmischen Mächte der Natur,
4
Das sind die Grauen der mythischen Zeit, von denen Christus erlöst. In den mythischen Religionen gibt es
auch Opfer an förderliche Gottheiten (des Ackerbaus, der bürgerlichen Eintracht, der Liebe, der Gerechtigkeit
usw.), in denen sich das beständige Wirken der universalen, auf die Wohlfahrt auch des Menschen trotz des
Sündenfalls gerichteten Macht erweist, die sich, „als die Fülle der Zeit kam“ (Gal 4, 4), in ihrer Personalität als
Jesus von Nazareth offenbarte.
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10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
des Leibes und der Seele zur Harmonie zwingen, sondern es muss eine objektive Macht in
der Sphäre der partikulären Mächte selbst wirksame Macht sein, die das nur zustandebringen
kann. Die Weltordnung ist nichts Psychologisches, sondern etwas Ontologisches (bzw. Kosmologisches). Die mythischen Götter – das sind eben die ungeordnet, naturwüchsig, wirkenden, d. h. wütenden, partikularen Mächte der Natur und (nach dem Sündenfall) vor allem der
menschlichen Seele – werden nicht dadurch überwunden, dass wir uns andere Vorstellungen
von ihnen machen, sondern „nur durch einen wirklichen Vorgang, durch eine von menschlicher Vorstellung unabhängige, ja sie übertreffende That“ (M I, 247; O I, 193: „durch einen
realen Vorgang entstandene Religion“), also nicht durch eine vom Menschen ausgedachte
und vorgestellte, sondern nur durch eine wirklich außerhalb des Menschen geschehende Tat
können sie überwunden werden. Und wenn es eine solche, die schlimmen Götter besiegende
Tat in der Geschichte gibt, dann ändert sich von da an das „Vernehmen“ dessen, was die
Wirklichkeit ist, es wird etwas anderes vernommen als die alten, jetzt besiegten, Götter.
II. Offenbarung
(7) Nicht wegen eines unentdeckten Implikats der Vorstellung von Moloch verliert Moloch
irgendwann seine Schrecken, sondern nur durch eine reale Tat, welche die reale Macht des
Moloch real besiegt und niederzwingt. Die Angst vor Moloch wird nicht überwunden, indem
wir in unserer Vorstellung vom Moloch etwas entdecken, was die Angst kompensiert oder
gegenstandslos macht, sondern durch die Entdeckung, dass außerhalb unserer Vorstellung
etwas geschehen ist, was den Moloch bändigt. Die Angst verschwindet nicht dadurch, dass
wir eines Tages einsehen, dass Moloch eigentlich immer schon unschädlich war und wir uns
getäuscht und ihn als gefährlich und verzehrend bloß halluziniert haben, sondern die Angst
verschwindet, weil wir entdecken, dass er unschädlich gemacht worden, sein böser Charakter
gebändigt worden ist, dass er nicht mehr die Macht über uns hat, ohne dass wir sie ihm genommen hätten. Die Tat, welche die ungeordnet zerstörerisch wirkenden partikulargöttlichen
autarken Mächte in der „Kelter“ (§ 6) bändigt und ihren Schaden ausgleicht – diese Tat ist
„der Inhalt des Christentums“ (M I, 247), wie Schelling richtig sagt.
Zusatz: „Die erste, offenbarste und unmittelbarste Wirkung des Christenthums, die Wirkung, die es sich selbst
vorzugsweise zuschreibt, war eben die Befreiung der Menschheit von jener Macht der Finsterniß, die im Heidenthum ihre Herrschaft über die Welt erstreckte“ (O II, 20). Aufgrund dieser befreienden Wirkung des Christentums stimmt Schelling der Mission heidnischer Völker ausdrücklich zu als einer „verdienstlichen und jeder
Anerkennung werthen Unternehmung“ (O II, 21)
(8) Die natürliche Religion ist die Besetzung der menschlichen Seele, des menschlichen
Gemüts (nicht nur seines Bewusstseins) durch die ungeordnet und zerstörerisch wirkenden
partikulargöttlichen Mächte. Die geoffenbarte Religion ist die Befreiung des menschlichen
Gemütes von der zerstörerischen Macht der heidnischen Götter durch Christi Sieg über diese
Götter und ihre Unterwerfung in eine dem Menschen förderliche, harmonische Gesamtordnung. So sieht es Schelling (M I, 249f), und das entspricht durchaus dem christlichen Selbstverständnis, wie es als reale geschichtliche Macht seit zweitausend Jahren bis heute wirkt.
Neben der natürlichen und der geoffenbarten Religion (eigentlich nicht neben den beiden,
sondern über beide hinaus) kennt Schelling noch die philosophische Religion. Was ist damit
gemeint? Keineswegs der Ersatz der religiösen Inhalte durch philosophische Begriffe, also
die Ablösung des blitzeschleudernden Zeus durch die Elektrizität und des meeraufwühlenden
Poseidon durch meteorologische Gesetze. Auch die philosophische Religion müsste wirkliche
Religion sein in dem Sinn, dass sie es nicht mit bloßen Begriffen und deren Implikationsverhältnissen zu tun hat, sondern mit realen numinosen Subjektivitäten und von diesen bewirkten Geschehnissen. Auch für den Philosophen wird der Gott nicht zu einer bloßen metaphori5
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schen personal gearteten Chiffre für etwas eigentlich Apersonales, sondern er bleibt Subjekt
und kommunikatives Gegenüber.
Zusatz: Eine Chiffre ist eine Verschlüsselung und insofern eine Verfremdung, also Ausdruck dafür, dass das
Angesprochene eigentlich etwas anderes ist als die Chiffre sagt. Die Chiffre ist nicht das Authentische der Sache. Deshalb halte ich es für falsch, Gott, den logos, bloß für eine „Chiffre“ der Seinsordnung zu halten.5 Seinsordnung ist authentischerweise logosartig (geistanalog).
1. Das reale Götterverhältnis in der natürlichen oder mythischen Religion
(9) Was hat es mit der Befreiung erst von der mythischen (natürlichen) und dann der geoffenbarten Religion auf sich? Wovon wird hier befreit und wozu? Die natürliche oder mythische Religion ist der ungeordnete Kampf aller partikularen Mächte um die Herrschaft in der
Menschensphäre. Hier siegt die jeweils stärkste Macht, und hier wechseln sich deshalb die
Götter ab – die verzehrenden mit den partikularen orgiastischen und förderlichen, und unter
den letzteren dominiert mal diese mal jene autarke numinose Macht. Religionen (auch die
mythischen) sind, Schelling zufolge, geschichtlich (O I, 194): das bedeutet, dass ihre Inhalte
nicht einfach nur in demjenigen bestehen, was uns von den Mächten bekannt ist (also z. B.
von der Elektrizität, dass sie Magnetfelder induziert oder Blitze hervorbringt), und was wir
daher aus unserem Wissen, aus unserer Vernunft, aus unseren Verstehensbeständen ableiten
können: „Ein eigenthümliches Princip der Religion kann nun aber nur ein von Vernunft, wie
von allem Wissen, unabhängiges Princip der Religion seyn, und dieses von allem Wissen unabhängige Princip der Religion setzt wieder nothwendig ein nicht bloß ideales, sondern reales Verhältniß des menschlichen Wesens zu Gott voraus“ (O I, 191; vgl. 193 [angeführt in §
6]). Das Reale des Verhältnisses besteht darin, dass Religionen Begebnisse bezeugen, die
nicht aus dem schon Bekannten des Wirkens der Mächte abgeleitet sind, in diesem schon
implizit darinnen liegen, sondern Begebnisse, welche die Mächte aus einer über die an ihnen
bekannten Wirksamkeiten hinausgehenden Intentionalität hervorbringen.
Zusatz: „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein“
(Schelling 1809, 23). Sein ist Ursein, bedeutet, dass die Kraft des Seins, kraft welcher es sich als bestimmte
Seiende setzt, Wille ist (d. h. dasjenige in analoger Gestalt ist, was wir bei uns als Wille kennen).
(10) Beispielsweise will der elektrische Strom unter bestimmten Umständen Blitze hervorrufen, das ist sein Daseinszweck (d. h. ein in seinem Dasein realisierter stabil identischer
Zweck). Nun kann es aber sein, dass dieser Zweck unter anderen als gewohnten Umständen
auftritt, weil Zeus einen Blitz schleudert um seine Absicht des Eingreifens in den Gang einer
Schlacht zu realisieren. Diese Äußerung des Blitzes ist nicht aus dem, was wir als gewöhnliches Blitzverhalten kennen, ableitbar, sondern entspringt einem über den Daseinszweck der
Elektrizität hinausgehenden Willen. Diese Willenssubjekte, die aus dem Inneren der Dinge
heraus wirken, sind die Götter (numina), und ihre Handlungen machen den Inhalt der Religionen aus. Schelling nennt diese Götterhandlungen auch das Geschichtliche (O I, 194) der
Religionen, denn, so wie wir aus dem, was wir von einem Menschen bisher wissen, nicht
sicher und eindeutig ableiten können, was er weiterhin tun wird, sondern dies aus seiner weiteren Lebensgeschichte nur a posteriori erfahren können, – ebenso wissen wir von den
Mächten, die als Subjekt den (für uns) greifbaren Äußerungen (Erscheinungen) der Dinge (an
sich) zugrunde liegen, erst aus dem Gang der Geschichte, was sie jeweils genau tun und lassen, nicht aber aus dem, was wir als gewöhnlich kennen und daher immer schon wissen und
in den Archiven des Gewöhnlichen, nämlich in den Naturgesetzen niedergelegt haben. Der
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Voegelin, zustimmend zitiert bei Jaeggi 2008, 24
6
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
eigentliche Inhalt der Religion sind daher gerade nicht „nur wissenschaftliche, z. B. naturwissenschaftliche (physikalische, kosmogonische) Begriffe“; Religion darf nicht dergestalt „in
bloße Philosophie aufgelöst werden“ (O I, 194). Götter sind reale Mächte, welche als Willenssubjekte den Menschen ihren Willen aufdrängen: So drängt ihnen z. B. die alles Differenzierte verzehren wollende Macht den Willen auf, ihre eigenen Kinder opfernd hinzuschlachten: „bekennt, daß es einer unabweislichen Autorität bedurfte, ebensowohl um diese
Opfer zu heischen, als um sie zu vollbringen, z. B. irgend einem Gott die geliebtesten Kinder
lebendig zu verbrennen! Wenn nur kosmogonische Philosophen im Hintergrund standen,
keine Erinnerung an einen realen Vorgang, der solchen Vorstellungen einen unwiderstehliche Gewalt über das Bewußtseyn verlieh, mußte da nicht sofort die Natur in ihre Rechte wieder eintreten?“ (M I, 82)6 Die heidnischen Götter zwingen die Menschen ganz real zu den
Opfern, indem sie ihnen in furchterregender Kommunikation wirksame Befehle dazu
geben (in welcher genauen und konkreten Form das geschah, wie also eine Theophanie der
alten Zeit sich für den, dem sie geschah, erlebte, das bleibt für uns unzugänglich).
Zusatz: Die poetisch gearbeiteten Mythen, wie wir sie kennen, etwa aus Homer und Hesiod oder auch aus der
Edda, sind keine ursprünglichen Dokumente der heidnischen Religionen, sondern sie entstehen, als der Druck
der Götter (durch die verborgene Wirksamkeit des präexistenten Christus) schon nachgelassen hat. Wenn uns
ein rasend wütender Feind mit gezücktem Messer verfolgt, und wir mit hängender Zunge vor ihm wegzurennen
versuchen, werden wir uns keine Rechenschaft darüber geben, welche Kleidung jener Mensch trägt, wo genau
wir gelaufen sind und an welchen Gebäuden wir unterwegs vorbeigekommen sind. Einige Zeit später jedoch,
wenn wir uns beruhigt haben und die unmittelbare Bedrohung vorüber ist, wird uns alles dies wieder in das
Gedächtnis zurückkehren und wir werden unseren Enkeln davon in einem ruhigen, farbigen und für die Zuhörer
unterhaltsamen Bericht erzählen. Auch über Moloch hat man nicht geschrieben und gedichtet, während man
seine Kinder opferte, sondern gejammert und ihn heimlich geflucht. Erst im Nachhinein, in der Rückschau derer, die schon fast in Sicherheit sich fanden – also um die Zeit kurz vor dem Manifestwerden dessen, der gegen
die zerstörerischen Mächte die Obermacht hat und auch durchsetzt, also um die Zeit kurz vor der Menschwerden
Gottes in Jesus Christus – können Mythen als jene schönen Erzählungen entstehen, wie wir sie kennen. Und
auch nur dort kann das geschehen, wo die alten Heidengötter tatsächlich schon zurückgedrängt sind, also in
Griechenland Ende des achten Jahrhunderts vor Christus bei Homer, oder in der ersten Jahrhunderten nach
Christus bei den Germanen. Daher sagt Schelling sehr treffend: „Der reine Himmel, der über den homerischen
Gedichten schwebt, konnte sich erst über Griechenland ausspannen, nachdem die dunkle und verdunkelnde
Gewalt jenes unheimlichen Princips ..., das in den früheren Religionen herrschte, in dem Mysterium niedergeschlagen war“ (M II, 649).
2. Das reale Gottverhältnis in der geoffenbarten Religion
(11) Auch die geoffenbarte Religion – das Christentum – ist „eine Geschichte, in die das
Göttliche selbst verflochten ist“ (O I, 195). Hier jetzt wirken nicht die ungeordneten partikularen Mächte, sondern der eine Deus Optimus Maximus, der das gesamte Sein und alle aus
diesem ausdifferenzierten partikularen Mächte in die Ordnung eines axiologisch optimierten
„Reiches der Zwecke“ bringt und darin erhält (10.5). Hier wirken die Mächte nicht einfach
und unmittelbar nach ihren Kräften, die ungeordnet aufeinanderprallen, sondern vermittelt
durch eine aus keiner der partikularen Mächte ableitbaren übergeordneten maßesetzenden
Macht. Diese maßesetzende Macht ist nicht ableitbar aus dem naturwüchsigen Aufeinanderprall der Mächte, sondern in ihr offenbart sich ein der Natur jener Mächte übergeordneter
Wille. In der natürlichen oder mythischen Religion ist der Mensch in dem Sinne unfrei, dass
er der Herrschaft der Mächte unterworfen ist, die nicht den Zweck des integren Daseins der
menschlichen Sphäre verfolgen, sondern welche die Menschen als Kanonenfutter für ihre
eigenen verzehrenden oder orgiastischen Zwecke Mittel instrumentalisieren: dies ist die Epoche der Menschenopfer (10.11). Jesus Christus befreit die Menschen von diesen Göttern, von
6
Müsste es im angeführten Text nicht eher heißen „kosmogonische Philosoph[i]en“?
7
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
den Mächten, welche durch Aufzehrung oder orgiastische Überdehnung das geordnet differenzierte Dasein in der menschlichen Sphäre zerstören. Diese „That“ (§ 6) Christi, mit der er
als „Kelterer“ (§ 6) die zerstörerischen Mächte bezwungen und den Fürsten des Todes überwunden hat, ist die geschichtliche Äußerung des Willens Gottes zur geordneten Welt der
menschlichen Sphäre. Christus als der diese Tat vollbringende Gottmensch – das und nichts
anderes ist der einzige und ganze Inhalt des Christentums (O I, 196f). „Die Offenbarung ist
der Vorgang, durch welchen die Menschheit von der blinden, unfreien Religion erlöst wird“
(O I, 194). Die Befreiung von den mythischen Religionen, von den heidnischen Göttern ist
also die Befreiung des Menschen von der fremden zerstörerischen Intentionalität der autarken Mächte.7 Manifestieren sich in der heidnischen Zeit viele monströse Intentionalitäten
als dominant, die auf die Vernichtung des Menschen und seiner differenzierten Welt aus sind
(die falschen Götter), manifestiert sich in Christus die universale, auf die Bewahrung und
Erhaltung des Menschen gerichtete Intentionalität des wahren Gottes. Durch Christus werden
die monströsen Mächte in eine Ordnung gebannt, innerhalb welcher wir Menschen einen
Freiraum unversehrten Daseins haben, den die Mächte zwar bedrohen und beeinträchtigen,
nicht aber mehr völlig und definitiv aufzehren und zerstören können: Was in unserem Leben
sich an Weltinhalt bildet, bleibt in seiner Integrität ewig erhalten (Auferstehung in das Reich
der ewigen göttlichen authentischen Repräsentation des Gewesenen [10.8, § 4 mit Zusatz 2]),
und die störenden unheilvollen Einflüsse der Mächte werden darin nur überwundene Teilmomente sein. Das ist die Hoffnung und Verheißung der geoffenbarten Religion, des Christentums.
Zusatz: Die mythische Religion ist „die unfreie Religion, die Religion der Superstition, des Aberglaubens,
wenn man dies Wort in seinem tiefsten Sinne nimmt“ (O I, 194). Aberglaube bedeutet für Schelling nicht, dass
man etwas als real glaubt, was gar nicht real existiert, sondern nur Fiktion des Glaubenden ist. Aberglaube ist
vielmehr der falsche Glaube an die Rechtmäßigkeit der Herrschaft eines Prinzips, das zwar real aber zur Herrschaft nicht in Wahrheit berechtigt ist: „das Superstitiöse ... beruht eben auf der noch immer fortdauernden
Gegenwart des ausschließlichen Princips, des falsch-monotheistischen“ (M II, 646). Aberglaube ist nicht der
Glaube an die Existenz des Moloch, sondern Aberglaube ist der Glaube daran, dass Moloch der wahre Herrscher
sei und man ihm gehorchen (d. h. seine Kinder opfern) müsse. Befreiung vom Aberglauben heißt nicht, nicht
mehr an die Existenz Molochs zu glauben, sondern nicht mehr an die Legitimität seiner Herrschaft zu glauben.
Auch für den aufgeklärten Menschen ohne Aberglauben ist Moloch eine Realität, eine real wirksame „übergewaltige Macht“ (Goethe), aber er besitzt über den aufgeklärten Menschen keine Befehlsgewalt mehr, weil der
Aufgeklärte weiß, dass Moloch durch Christus besiegt wurde und daher er, der aufgeklärte Mensch von Molochs Herrschaft befreit ist.
III. Philosophische Religion oder vollendete Philosophie
(12) Durch die Offenbarung, d. h. durch die erlösende Tat Christi, wird erst freie Erkenntnis
möglich, weil erst jetzt der Blick ruhig auf den Dingen in der Welt, ihren Eigenschaften und
Wirkungen ruhen kann, ohne dass der Mensch vor den Mächten, die sich in den Dingen und
deren Eigenschaften und Wirkungen Ausdruck verschaffen, Angst haben müsste – Angst,
welche das Forschen und Beobachten unmöglich macht, weil sie nicht erlaubt, die Dinge zu
betrachten, sondern dazu zwingt, den Mächten opfernd zu dienen und sich im Übrigen möglichst vor der Berührung mit ihnen zu hüten. Wo der forschende Zugriff auf die Natur die den
Menschen feindlichen zerstörerischen Mächte wachruft, da lässt man die Finger von der Forschung. Erst wenn die Mächte sicher bezähmt sind, wird man es wagen, ihre Äußerungen zu
reinen Beobachtungs- und Forschungszwecken (im Experiment) zu provozieren. Später wird
7
Der mythische Aeon kann „als heteronome Bedingtheit des geschichtlich existierenden Menschen verstanden
werden“ (Danz 1996, 124). Dass Christus aktiv gegen die monströsen Mächte wirken und sie zum Heil der
Menschen überwinden muss, kommt bei Danz nicht zur Sprache.
8
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
man dann aus dieser sicheren Gewissheit von der verlässlichen Gebundenheit der Mächte
heraus sogar dahin gelangen, nun umgekehrt die Mächte zum Dienst an menschlichen Zwecken (Profit) zu zwingen (Technik) – inzwischen in solchem Maß, dass die Zerstörung der
eigenen Wirklichkeit solcher Mächte in Kauf genommen wird (Ausrottung von Arten, Veränderung des Haushalts der Klimakräfte, gentechnischer Umbau von Arten).
(13) Die Religion mündet so in Philosophie. Religion eröffnet so erst in Wahrheit die Möglichkeit der Philosophie, des ungezwungenen, von der das Verstehen verzerrenden Angst
freien Verstehens. Erst mit der Befreiung von den Monstermächten durch die Offenbarung
des Erlösers, Jesus Christus, kann der Mensch sich unbelastet den Bemühungen hingeben, zu
vernehmen, was ist. Diese Sicht der Dinge mag für viele heutige Zeitgenossen befremdlich
wirken, aber man muss sich darüber klar sein, dass es genau diese Sicht ist, welche geschichtlich im Abendland für annähernd zweitausend Jahre wirkmächtig war. Das Mittelalter und
die Neuzeit bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein wurde von den Trägern der Hauptströmung der Geistesgeschichte als glaubwürdig überlieferte Erfahrung akzeptiert, dass erst
durch die christliche Erlösung der Mensch in den Stand gesetzt wurde, sich selbst als Vernunftwesen – als das Wesen, welches das Sein, alles Sein vernimmt – unbehindert durch die
Furcht vor den alten Göttern zu realisieren. So wird, geschichtlich gesehen, die Religion zu
Wissenschaft und Philosophie. Die Vollendung des Verstehens liegt, Schelling zufolge, in der
„philosophischen Religion“, welche zugleich die „vollendete Philosophie selbst“ ist (M I
250). Wichtig ist, dass die philosophische Religion oder vollendete Philosophie in genuinem
Sinn Religion bleibt. Das bedeutet, dass die philosophische Religion nicht etwa die Götter als
eigenständige Mächte zum Verschwinden bringt, indem sie sie als Projektionen der menschlichen Vernunft entlarvt (worin die Religionskritik die Funktion der Philosophie erblickt),
sondern nur in ein neues, tieferes Verstehensverhältnis zu ihnen eintritt. „Die philosophische
Religion, weit entfernt durch ihre Stellung zur Aufhebung der vorausgegangenen berechtigt
zu seyn, würde also durch eben diese Stellung die Aufgabe und durch ihren Inhalt die Mittel
haben, jene von der Vernunft unabhängigen Religionen, und zwar als solche, demnach in
ihrer ganzen Wahrheit und Eigentlichkeit, zu begreifen“ (M I, 250). Die „Unabhängigkeit“
von der Vernunft bedeutet, dass die göttlichen Mächte nicht bloß Setzungen oder notwendige
Folgerungen der menschlichen Vernunft darstellen, sondern als Urheber geschichtlicher, d. h.
nicht aus Vernunftnotwendigkeit ableitbarer Taten erfahren, d. h. von der Vernunft vernommen werden (O I, 193ff).
Zusatz: Die vollendete Philosophie oder philosophische Religion hat zum Gegenstand, den sie verstehen oder
vernehmen will, dasselbe, wie die mythische und die geoffenbarte Religion: die partikularen Intentionalitäten,
die als autarke Mächte der Natur, der Kultur, des menschlichen Seelenlebens, der Geschichte, als die Mächte,
die sich in Kunst und Religion selbst bekunden und zum Ausdruck bringen – und schließlich als die eine universale Intentionalität, die hinter all diesen Partikularmächten steht und das Universum zu der Einheit webt, als
die es sich zeigt. Vor der Befreiung durch Christus ließ sich das alles nicht richtig (weil nur unter dem Schleier
der Angst) verstehen. Jetzt lässt es sich besser verstehen, weil unvoreingenommen von der Angst, aber immer
noch gebrochen durch den Verlust der universalen Verstehensperspektive im Sündenfall. Erst in der philosophischen Religion oder vollendeten Philosophie wird ein unverkürztes Verstehen gegeben sein.
1. Paradoxe Einheit von Ansich und Füruns
(14) Die philosophische Religion oder vollendete Philosophie will also die Religionen „in
ihrer ganzen Wahrheit und Eigentlichkeit ... begreifen“. Da Religion das Vernehmen der
Wirklichkeit göttlicher Mächte ist, hat sie ihre ganze Wahrheit und Eigentlichkeit da erreicht,
wo die Götter in ihrer Eigentlichkeit verstanden werden. Die Eigentlichkeit einer Sache aber
ist das Eigene der Sache selbst, d. h. die Sache nicht, wie sie sich für mich zeigt, sondern wie
sie an und für sich selber ist. Die vollendete Philosophie oder philosophische Religion ist
9
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
folglich genau da gegeben, wo die göttlichen Mächte (die sich in dem manifestieren, was uns
als Wirklichkeit gegeben ist) nicht mehr nur so verstanden werden, wie sie sich für uns in
ihrem Außenaspekt (als Erscheinung) zeigen, sondern so, wie sie sich an und für sich selber
selbst verstehen. Der Mensch aber kann die Gottheit nicht so verstehen, wie sich selber versteht. Deshalb muss man von der philosophischen Religion offenbar mit Schelling sagen:
„Aber diese philosophische Religion existirt nicht“ (M I, 250). Die philosophische Religion
oder vollendete Philosophie, wie sie Schelling meint, ist daher nicht mit irgendeiner real existierenden Philosophie identisch. Ja, mit keiner je existieren könnenden Philosophie, sie mag
so vollendet sein, wie sie nur will, ist sie identisch, weil Philosophie prinzipiell nicht vollendet sein kann. Der prinzipiell unüberwindbare Mangel des Verstehens besteht darin, dass das
verstehende Subjekt den Innenaspekt anderer Wesen nicht aus dessen eigener
Innenperspektive selbst erleben und verstehen kann, sondern nur von außen: wir vermögen
nur zu verstehen, wie es für uns ist, ein Löwe zu sein, nicht aber, wie es für den Löwen selbst
(und „an sich“) ist, Löwe zu sein (14.1.1-02, §§ 11 und 15-19). Von prinzipieller Natur ist
diese Grenze, weil durch sie die Eigenwirklichkeit der Wesen konstituiert ist: Wenn ein
Wesen im Selbstvollzug eines anderen Wesens in seiner eigenen Wirklichkeit vollkommen
erfasst werden kann – dann handelt es sich nicht um ein anderes Wesen. Dass ein Wesen ein
anderes so versteht, als wäre es selbst dieses andere, ist paradox, weil nicht ersichtlich ist, wie
das zum Anderen gewordene Selbst noch Selbst sein kann: so verstehe ich das andere, wenn
ich zum anderen geworden bin – aber eben dann verstehe ich es nicht mehr, weil ich nicht
mehr bin (ich wurde ja zum anderen). Vollendetes Verstehen wäre die paradoxe Einheit des
Füruns und des Ansich: Das andere Wesen wäre für uns in seinem Außenaspekt so gegeben,
als wären wir an seiner Stelle.
Zusatz: Das gilt auch für Gott. Gott ist in seiner allzeitlichen und allräumlichen Ewigkeit die paradoxe Einheit
seines Selbst und des anderen. Er ist gleichzeitig und am selben Ort sich in sich selbst erlebend und das Andere
als anderes erlebend (das Andere sind die endlichen Wesen, die „Was“, welche den Inhalt seiner Weisheit ausmachen [10.7, besonders §§ 10-18]). So ist das endliche Andere aber immer nur als Moment der alles universal
vereinigenden göttlichen Wirklichkeit erlebt und verstanden, nicht in seiner eigenen endlichen, vom Ganzen
auch getrennten Wirklichkeit. Das eigene Selbsterleben der Wesen kommt nur dadurch zustande, dass Gott sich
am Orte derselben gewissermaßen vergessen will (10.6, §§ 9f und 10.7, §§ 2-9). Dadurch, dass Gott sich aus
dem Selbsterleben und Selbstverstehen des endlichen Wesens sozusagen heraushält, bzw. sich nur soweit hineinbegibt, als die Freiheit des endlichen Wesens selbst auf ihn hin „durchsichtig“8 sein will (10.9, §§ 2-5), –
eben dadurch konstituiert Gott die eigene Wirklichkeit des endlichen Wesens; eben dadurch konstituiert er das
Geschöpf, während in seinem ewigen Selbsterleben das endliche Wesen sein Gottesgedanke, seine ewige Idee
ist (10.6, § 11 Zusatz ad [b]).
2. „unmittelbare Vernunftberührung“ (M I, 359)
(15) Das vollendete Verstehen in der philosophischen Religion oder vollendeten Philosophie
geschieht nicht mehr durch die Vermittlung von Äußerungen des fremden Wesens, in denen
es für uns erscheint und greifbar wird, sondern es geschieht, wie Schelling es ausdrückt,
durch „unmittelbare Vernunftberührung“ (M I, 359), d. h. also dadurch, dass das verstehende
Wesen „unmittelbar“ das andere berührt, also ohne Dazwischentreten einer Wirkung des
anderen auf es versteht. Verstanden wird durch unmittelbare „Berührung“, d. h. durch ein
Erleben und Verstehen, das an die Stelle des fremden Erlebens und Verstehens selber tritt.
Das verstehende Wesen steht in Berührung unmittelbar mit dem Innenaspekt des anderen
Wesen selbst, nicht bloß vermittelt über dessen Außenaspekt. Unser Denken, sagt Schelling,
gelangt „nur bis zum Princip“, nicht aber in „die Natur des Princips selbst“ hinein (M I,
359). Das Prinzip, um das es hier geht, ist das Prinzip, der Urgrund aller Wirklichkeit, Gott
8
Kierkegaard, vgl. Huber 2006, §§ 229f
10
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
(M I, 367). Kämen wir „in“ dieses Prinzip hinein, so verstünden wir es, Sein zu setzen da,
wo sonst Nichts wäre. Über diese Art von „vollendeter Philosophie“ verfügen wir aber gerade
nicht. Die geschichtlichen Philosophien gelangen nicht zu dieser prinzipiellen Seinsmacht:
die real existierende Philosophie ist und bleibt „stets nur ein menschliches Werk“, und wird
jederzeit, „also mehr im Streben nach der höchsten Wissenschaft festgehalten, als ganz erreicht seyn“ (M I, 367). Das Ziel der Philosophie liegt jenseits des menschlich Erreichbaren in der paradoxen „Vernunftberührung“ des verstehenden Subjekts mit dem verstandenen Wesen.
Zusatz 1: Dieses Erleben und Verstehen nennt Schelling die „Vernunftberührung“. Früher sagte er dazu „intellektuelle Anschauung“ (Schelling 1804, 609). Diese Anschauung ist nichts Psychologisches, kein subjektiver
besonderer Zustand der Seele, sondern das Wesen der Seele als unmittelbares Verhältnis zum Absoluten und
seiner authentischen Repräsentation (Schelling 1804, 609): bei der intellektuellen Anschauung sei das Absolute,
d. h. das unabhängig von mir in sich Selbstständige sei es als solches oder in den einzelnen von ihm gesetzten
eigenwirklichen und selbstständig existierenden Wesen, in der Seele, unmittelbar präsent, d. h. die Seele schaut
hier die Dinge an in dem Sinne, dass sie alles, auch dass Selbstsein des anderen aus dessen eigener Perspektive
erlebt. Wie Spinoza das ausdrückte und was Schelling zustimmend zitiert: scitque se in Deo esse et per Deum
concipi (Schelling 1804, 610). Dahin aber kommt erst die „vollendete Philosophie“, also eine Philosophie, die
keine Philosophie mehr ist, sondern zur sophia geworden ist – eine sophia, welche als theoretische Schau das
Ansich der anderen Wesen selbst erlebt und als praktisches Dasein die Partikularität des Einzelnen als Manifestation des Universalwillens selbst lebt und erlebt.
Zusatz 2: Die „contemplative Wissenschaft“, d. h. die Philosophie, „berührt das um seiner selbst willen Seyende“ (M I, 558). Diese Berührung ist jedoch nicht die „unmittelbare Vernunftberührung“ der vollendeten Philosophie oder philosophischen Religion, denn diese Berührung hier in der „contemplativen Wissenschaft“ ist
nicht unmittelbar, sondern vermittelt: In der kontemplativen Wissenschaft nämlich „erhebt sich das Ich über
das praktische und das bloß natürliche (dianoetische) Wissen, und berührt das um seiner selbst willen Seyende“
(M I, 558). Die (gewöhnliche) Philosophie ist diese vermittelte Berührung, die aus einer langen Erhebungsbewegung hervorgeht, während die vollendete Philosophie oder philosophische Religion schon primär in der Berührung mit dem „Selbstsein Gottes“ (M I, 559, Fußnote) besteht. In der vollendeten Philosophie würde das
verstehen wollende Subjekt das Ansich selbst erleben und von diesem selbsterlebten Ansich ausgehen können.
In der vollendeten Philosophie wäre der Ausgangspunkt das „Subjekt-Objekt“ (M I, 559, Fußnote), also die
paradoxe Einheit von Ansich und Füruns. Die Philosophie ist eine doppelte: Die erste ist die „auf das Princip
(zu) gehende Philosophie“ (M I, 561), die zweite ist die, welche „vom Princip ausgeht und von diesem alles
andere ableitet“ (M I, 561). Die erste ist rationale oder negative Philosophie, die zweite positive Philosophie
(M I, 562f). Aber die „setzende“ (positive) Philosophie ist doch immer noch Philosophie, d. h. unvollendet.
Denn das Setzen versteht der Mensch nicht wirklich und an sich. Indem wir aus dem „Herrn des Seyns“ (M I,
564) alle Seienden ableiten, verstehen wir diesen Prozess, wie aus dem undifferenzierten reinen „Dass“ bestimmte, differenzierte „Was“ sich herausbilden, doch nicht so, dass wir diesen Prozess aus eigener Einsicht
selber vollziehen könnten. Insofern ist der Prozess und das ihn beherrschende und steuernde „Princip“ nur für
uns, wir erfassen es aber nicht in seinem Ansich, wir erfassen und erleben nicht von innen heraus, wie es ist,
wirkliche Seiende aus dem Nichtseienden (d. h. aus dem Undifferenzierten, das so viel ist als Nichts – nämlich
nichts Bestimmtes) herauszubilden. Auch die in den Augen Schellings höchste Stufe der Philosophie (die positive) ist noch Philosophie, nicht aber sophia – auch die höchste Stufe der Philosophie ist unvollendetes Verstehen (d. h. nicht in das Ansich eindringendes, mit ihm nicht unmittelbar in Berührung stehendes Verstehen) und
also keineswegs die philosophische Religion, welche auf die Epoche der Offenbarung folgt (§ 15). Das Kontemplative versucht, „über das Allgemeine zur Persönlichkeit durchzudringen“ (M I, 566). Der Außenaspekt
der Dinge zeigt dem Verstehen nur Allgemeines, nämlich Eigenschaften, welche das untersuchte Ding mit anderen Dingen teilt. Es selbst ist das Ding nur in dem, wo es diese Eigenschaften auf seine eigene unverwechselbare und für kein anderes Wesen zugängliche Weise ist, also in seinem Innenaspekt und Selbsterleben.
Da wo das Ding sich selbst so erlebt und versteht, wie wir unsere Persönlichkeit verstehen, da ist es Es-selbst,
denn dies Erleben teilt es mit keinem anderen (das Erlebte, die Eigenschaften, teilt es schon mit anderen, darin
sind diese allgemein). „Person sucht Person“ (M I, 566) genau in dem Sinn, dass der Mensch das „Princip“ so
von innen heraus erleben und verstehen möchte, wie er sich selbst von innen heraus versteht und erlebt. Und
zwar will er sowohl Gott (das Prinzip aller Wesen), wie auch jedes bestimmte Selbstsein, jede bestimmte forma
substantialis, jede bestimmte essentia (das jeweilige Prinzip der einzelnen bestimmten Wesen) auf diese Weise
verstehen.
11
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
3. „Gott alles in allem“ (O II, 333)
(16) Vollendet wäre die Philosophie, wenn der Philosoph jedes Wesen so erleben und verstehen würde, wie es sich in sich selbst erlebt und versteht. Auch damit aber wäre das Verstehen
noch nicht vollendet. Da, Schelling zufolge, durch den Sündenfall die universale Zentralität
(der Gottesstandpunkt) verlassen ist, können die Dinge nicht in ihrem wahren Selbstsein,
sondern nur gebrochen durch die partikulare Perspektive des verstehenden Subjekts wie des
zu verstehenden Wesens verstanden werden. Vollendet wäre das Verstehen, und damit die
Philosophie daher erst dann, wenn die Wesen im Lichte der universalen Zentralität, also sub
specie aeternitatis verstanden würden. Da kein Wesen sich selbst gemacht hat, erschließt sich
das wahre Selbstsein im Verstehen derjenigen Intentionalität, welche der Universalwille
(Gott) in ihnen ursprünglich – d. h. vor dem Sündenfall – zum Ausdruck bringen wollte. In
dieser Perspektive würden die Dinge so verstanden, wie sie vom Zentrum aller Wirklichkeit
ursprünglich gedacht worden sind, während sie sich jetzt in der falschen endlichen Zentralität
erleben, die ihrer Partikularität entspricht, die sie durch den Sündenfall zu ihrer bestimmenden conditio existendi gemacht haben. Dieser freiheitsinduzierte und durch die dadurch freigesetzten dämonischen Mächte fixierte Zwang der Gottesverweigerung wurde durch Christus
zwar von den Wesen genommen, und so ist durch ihn der Weg zum ursprünglichen Selbstund Weltverstehen des Menschen – zum Selbst- und Weltverstehen im Lichte des Universalwillens – wieder offen. Die Realisierung der Perspektive des Universalwillens geht aber mit
der Aufhebung der partikularen Perspektive einher und setzt deren Aufhebung in der Ewigkeit voraus, in der allein die universale Perspektive als gleichzeitige Präsenz aller partikularen Perspektiven realisiert sein kann.
(17) Schelling kennzeichnet das vollendete Verstehen in der philosophischen Religion oder
vollendeten Philosophie mittels einer religiösen, neutestamentlichen, Formel genau entsprechend als Gottesstandpunkt: „Auch der Apostel bezeichnet als das Ende jene Zeit, wo auch
der Sohn unterthan seyn wird dem, der ihm alles untergethan hat, und wo Gott alles in allem
seyn wird, also diese äußere Veranstaltung, die mit dem außer Gott, unabhängig von ihm
gesetzten Sohn gegeben ist, aufhören wird“ (O II, 332f). Erst in diesem Zustand, in welchem die von Gott unabhängige Existenz der Geschöpfe aufgehoben ist, wäre das „Höchste“
– die vollendete Philosophie oder die philosophische Religion – erreicht. Oder, nach der alten
Formel, ist dann „Gott alles in allem“ (O II, 333). Diese Formel stammt vom Apostel Paulus: ut sit Deus omnia in omnibus (1 Cor 15, 28: „auf dass Gott sei alles in allem“). Sie besagt, dass jedes einzelne Wesen an seinem eigenen Ort auch alle anderen Einzelnen in
deren (ursprünglicher, wahrer) Innenperspektive und damit den Gesamtzusammenhang aller Wesen in der Perspektive des Universalwillens erlebt.
Zusatz 1: Die Unabhängigkeit von Gott ist erst die geschöpfliche Selbstständigkeit in wirklicher Freiheit (10.9,
§§ 2-5). Diese Freiheit konstituiert das Reich des Sohnes: durch diesen und in diesem ist die Welt als außer der
göttlichen Ewigkeit liegendes „Reich der Zwecke“ geschaffen (10.7, § 3) (1 Cor 8, 6 und Col 1, 16f). Diese
Freiheit nützt der Mensch zum Sündenfall: Er erlebt und praktiziert seine partikulare Perspektive nicht mehr
(wie Adam vor dem Sündenfall) in freier Übereinstimmung mit der göttlich universalen Perspektive, sondern er
macht seine partikulare Perspektive zum Prinzip seines Welterlebens und Handelns (10.9, § 11 und 10.7, § 9). In
diese böse Unabhängigkeit ist Christus menschwerdend eingetreten, ohne mit seinem Willen am Bösen teilzuhaben. So steht in Christus das Schicksal der Schöpfung auf der Spitze der Entscheidung. Er hätte die Schöpfung unterwerfen können, die Freiheiten aufheben, sie zu Marionetten degradieren und sie in die universale
göttliche Herrschaft eingliedern können – so hätte er der Versuchung durch Satan nachgegeben, wie Dostojewski sie im Großinquisitor versteht. Er hätte dann auch nicht das Sühneleid zur Opferung seines restituierenden
Blutes auf sich nehmen müssen, denn Marionetten sind Wesen ohne eigene Wirklichkeit, deren restitutio in
integrum hätte unterbleiben und Gott hätte stattdessen einfach neue machen können, denn Marionetten haben
keine unverwechselbare und unersetzliche Individualität. Christus aber lässt sein Blut vergießen aus Liebe zu
den geschaffenen freien, aber gefallenen und böse gewordenen Personen und erlöst sie zu neuer Gemeinschaft
12
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
mit Gott. Wer im irdischen Leben sich würdig macht, an dieser Erlösung teilzuhaben, der wird, wenn er die
irdische Daseinsbedingung verlässt, in die göttliche ewige Allräumlichkeit und Allzeitlichkeit (10.7, §§ 2-5) und
damit in die paradoxe Einheit von Ansich und Füruns (§ 14) eintreten. Damit ist die Unabhängigkeit von Gott
nicht aufgehoben, sondern sie ist wieder eingebunden in die göttliche Universalität (so gesehen hört nicht Unabhängigkeit schlechthin auf, sondern die abstrakt und gegen die Universalitätseinbindung festgehaltene Unabhängigkeit der Geschöpfe). Erst in diesem Zustand jenseits der irdischen Daseinsbedingung ist das universale
Ganze in jedem Einzelnen präsent.
Zusatz 2: Fraglich ist, ob es wünschenswert wäre, dass die philosophische Religion des „alles-in-allem“ und
vollendeten Verstehens von allem und jedem existiert. Wenn es nicht gäbe, was anderen an mir und mir an anderen unverständlich wäre, dann wäre die offene Unberechenbarkeit des Einzelnen und seine Privatheit verschwunden. Jeder wäre durch und durch öffentlich. Aber wäre dies problematisch unter der Voraussetzung, dass
in jedem die Partikularität mit der Universalität wirklich vollkommen versöhnt ist? Denn dann gäbe es im Privaten ja nichts mehr, was dem einen dem anderen gegenüber peinlich sein müsste. Klar ist jedenfalls, dass das
„alles in allem“ nicht unter den Bedingungen irdischer Existenz, für welche die Trennung von partikularer und
universaler Perspektive konstitutiv ist, realisiert werden kann.
4. visio beatifica
(18) Vollendete Philosophie ist daher – scholastisch gesprochen – erst in der visio beatifica
realisiert, sie ist kein durch kontemplative Anstrengung erreichbarer innergeschichtlicher
Zustand. Erst in der visio beatifica ist dem verstehenden Subjekt (erstens) das ursprüngliche
Selbstsein der Wesen erschlossen (also ohne die durch die Erbsünde entstandenen perspektivischen Verzerrungen). Und dieses Verstehen wird (zweitens) die erste Wahrheit so zeigen,
wie sie in sich selbst ist, d. h. es wird dem Verstehen der eigene Innenaspekt des zu verstehenden Wesens erschlossen sein, es wird im Füruns das Ansich selber präsent sein: visio
patriae erit veritatis primae secundum quod in se est9.Dieses Verstehen wird nicht auf diskursive (d. h. die einzelnen Momente je für sich und unterschieden feststellende und artikulierende) Weise stattfinden, sondern als einfaches In-der-Sache-Lesen: Et ideo visio illa erit
non per modum enuntiabilis, sed per modum simplicis intelligentiae10. Hier wird also nicht,
was z. B. ein Löwe ist, aus den Eigenschaften zusammengefügt, in denen er sich für andere
zeigt, sondern das Löwesein wird in seiner einfachen Beschaffenheit erlebt und verstanden,
also so, wie es vom Löwen selbst erlebt wird, der sich ja nicht als aus Eigenschaften zusammengesetzt erlebt, sondern als primäre Einheit, welche Eigenschaften hat bzw. sich in diesen
manifestiert. Thomas beruft sich dabei auf den ersten Johannesbrief: Cum apparuerit, similes
ei erimus et videbimus eum sicuti est (1 Ioan 3, 2). Wenn Gott offenbar werden wird, werden
wir ihm ähnlich sein, sodass wir ihn, aufgrund dieser Anähnlichung an ihn und sein Selbstverstehen und Selbsterleben, so schauen werden, wie er in sich selber ist und wie alle Dinge
in ihm sind (Gott alles in allem). Das endzeitliche Offenbarwerden Gottes besteht gerade in
dieser paradoxen Einheit des Erlebens seiner selbst und des anderen als solchen. Das ist die
homoiosis theo, von welcher schon Platon spricht.11 In dieser Linie der Überlieferung bewegt
sich Schelling.
5. Hegel
(19) Für die geoffenbarte Religion, wie auch für die geschichtlichen Philosophien ist das Gegenüber von verstehendem Subjekt und zu verstehender Sache (Gott als „alles in allem“)
konstitutiv: das zu Verstehende ist nur in seinen Äußerungen „für uns“ zugänglich, nicht so,
9
Sth II-II, 1, 2, ad 3
10
Ebd.
11
Platon: Theaitetos 176 b
13
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
wie es „an und für sich selber“ sich erlebt und versteht. Diese Trennung wird in der philosophischen Religion (der vollendeten Philosophie) aufgehoben sein, weil dort der Mensch in
paradoxer Einheit sich selbst im Anderen und alles sub specie aeternitatis erlebt und versteht.
Dergestalt wird die Äußerlichkeit der „Vorstellung“, welche Hegel der Religion zuschreibt,
verschwunden sein. Es war Hegels Irrtum, zu glauben, dass die geschichtliche Philosophie,
die Philosophie als Menschenwerk, die Trennung zwischen dem verstehenden Geist und dem
zu verstehenden logos, wie er im All der autarken Mächte lebendig ist, überwinden könnte.
Der „Begriff der Philosophie ist die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit“12. Philosophie ist also nicht die von außen gewusste Wahrheit, die Wahrheit, wie sie sich für uns zeigt,
sondern die sich selbst denkende und wissende Wahrheit, das sich selbst wissende Ansich
der Dinge. Dieser Anspruch Hegels überzieht die Fähigkeit des Menschen und der Philosophie. Auch Hegels „Begriff“ beispielsweise des Feuers, lehrt uns nicht und kann uns nicht
lehren, wie das Feuer es anstellt, brennen zu machen. Auch nach Studium des hegelschen
„Begriffs des Feuers“ können wir nicht selbst und ohne Feuer zu Hilfe zu nehmen, brennen
machen. Wenn Hegel behauptet, in seiner Philosophie sei „das Logische ... aus der Erscheinung ... in sein reines Princip ... erhoben“13, dann übersieht er, was Schelling begreift: dass
wir nämlich „nur bis zum Princip“ (M I, 359), aber nicht in dieses hinein gelangen können;
dass wir das „Princip“ – die Eigenwirklichkeit des Wesens, das wir verstehen wollen – nur
in seinen Äußerungen für uns, nicht aber in seinem inneren Selbsterleben, Selbertätigsein
und Selbstverstehen an sich zu erreichen vermögen. Die „einfache geistige Anschauung“14 –
die simplex intelligentia des Thomas von Aquin (§ 18) –, welche Hegel für seine Philosophie
in Anspruch nimmt, ist nicht zu erreichen: Was es heißt, Feuer zu sein, können wir nur von
außen, durch Verbindung (complexio) für uns greifbarer Äußerungen des Feuers, analog erschließen, nicht aber dadurch, dass wir uns in das Feuer versetzten und unmittelbar (also an
uns selbst) „anschauen“, d. h. anfühlen, erleben würden, wie es ist, Feuer zu sein. Dass unser
Denken die Sache an sich selbst repräsentiere, wie Hegel behauptet (10.0, § 11-b), ist dann
richtig, wenn man folgendermaßen präzisiert: Der Gedanke ist die Sache, insoweit sie ihr
Ansich für uns zur Erscheinung bringt. Er ist aber nicht das Ansich der Sache, insoweit sie es
selbst erlebt und versteht. Die Erscheinung bringt das Ansich der Sache selbst zum Ausdruck,
nicht bloß unsere Fiktion: die Erscheinung der Sache ist keine Fiktion unsererseits. Aber die
Erscheinung bringt die Sache nicht als selbsterlebte und selbstverstandene zum Ausdruck,
sondern als von anderen erlebte und verstandene. Hierin liegt Hegels Grenze im Verständnis
dessen, was Religion ist: es ist zweifelhaft, ob bei Hegel das Selbsterleben und Selbstverstehen der Gottheit bzw. der Gottheiten (numina) sich als Ansich findet, oder doch nur als Füruns stattfindet.15 Zwar heißt es: „Gott ist Gott nur in sofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewußtseyn im Menschen, und das Wissen des Menschen von
Gott, das fortgeht zum Sich-wissen des Menschen in Gott“16. Hier wird Gott ein Selbstwissen
seines Ansich zugeschrieben und zusätzlich dazu („ferner“) ein Gewusstwerden für uns. Erst
das Dritte ist dann das „Sich-wissen des Menschen in Gott“: Hier wird das menschliche Wissen von Gott zu einem Wissen „in“ Gott, d. h. zu einem auf dem Standpunkt Gottes selbst
vollzogenen Wissen. Damit scheint die paradoxe Einheit des menschlichen Wissens von Gott
mit dem göttlichen Selbstwissen seines Ansich erreicht. Aber wo findet diese paradoxe Einheit statt? Erst im Reich Gottes oder schon in der Philosophie Hegels? Letzteren Anspruch
12
Hegel X, 474 (Enzyklopädie, § 574). – Zu Hegels Reduktionismus vgl. auch Häußler 2008.
13
Hegel X, 474 (Enzyklopädie, § 574)
14
Hegel X, 458 (Enzyklopädie, § 572)
15
Huber 2006, § 147
16
Hegel X, 454 (Enzyklopädie, § 564 Anmerkung)
14
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
scheint Hegel zu erheben, wie die oben in diesem § angeführten Texte belegen: Die Philosophie – die hegelsche Philosophie – will „die sich denkende Idee“ sein, also das Selbstwissen
des Ansich. Aber diese Vindizierung des Gottesstandpunkts für menschliche Philosophie ist
absurd.
(20) Auch Schelling geht über die Religion, die Offenbarung, hinaus. Das nennt er den Übergang zur vollendeten Philosophie oder philosophischen Religion. Daraus hat Axel Hutter den
Schluss gezogen, „daß Schelling mit dem Begriff der Befreiung nicht nur auf die christliche
Offenbarung zugeht, sondern auch von ihr wegzukommen strebt, da ihre geschichtliche Stunde vorbei ist“17. Das klingt so, als wäre die geschichtliche Gestalt der Offenbarung abzulösen
von der geschichtlichen Gestalt einer neuen, eben der vollendeten Philosophie (oder philosophischen Religion). Ich halte dies für ein Missverständnis. Der historische Ort, die „geschichtliche Stunde“ der Offenbarungsreligion ist erst mit dem Ende der Geschichte selbst
vorbei, dann nämlich, wenn das Verstehen der Dinge vollendet sein wird in der paradoxen
Einheit von Füruns und Ansich. Eben diese Einheit aber ist nur sub specie aeternitatis (in
Allgleichzeitlichkeit und Allräumlichkeit) realisierbar. Die philosophische Religion (oder
vollendete Philosophie) ist daher keine mögliche geschichtliche Gestalt, sondern die Gestalt
des Reiches Gottes. Hutters Missverständnis liegt darin, dass er Schellings Hinweis darauf,
dass die philosophische Religion oder vollendete Philosophie nicht existiert (M I, 250 [§ 10]),
nicht ernst genug nimmt. Er übersieht, dass die Philosophie niemals zur sophia werden kann
(M I, 367), außer sie verlöre ihren menschlich geschichtlichen Charakter.
IV. Freie philosophische Erkenntnis
(21) Die geschichtlichen Philosophien (einschließlich derjenigen Schellings) sind also nicht
die „vollendete Philosophie“, nicht die „philosophische Religion“. Zwischen der geoffenbarten Religion und der philosophischen Religion oder vollendeten Philosophie gibt es für
Schelling aber noch ein Drittes: die „Religion der freien philosophischen Erkenntniß“,18 und
dies ist die Zeit der geschichtlichen Philosophien, in der wir leben. Die freie philosophische
Erkenntnis entwickelt sich auf der Grundlage der geoffenbarten Religion, sie steht ihrem Gegenstand, Gott als dem Urgrund und „Herrn des Seyns“ (M I, 564), aber so gegenüber, dass
sie nicht dessen Ansich selber schaut (visio beatifica), sondern nur dessen Selbstbekundung
für uns. Gott ist ihr nicht „alles in allem“, sondern Gegenstand vermittelter Erkenntnis. Über
den Hellenismus, die Scholastik, den Rationalismus, die Transzendentalphilosophie und den
Deutschen Idealismus hat die geoffenbarte Religion geschichtlich die „Religion der freien
philosophischen Erkenntniß“ begründet. Sie darf nicht mit der vollendeten Philosophie verwechselt werden, denn sie ist, wie Schelling ausdrücklich sagt, „nicht unmittelbar identisch
mit Vernunfterkenntniß“ – also nicht identisch mit der vollendeten Philosophie der „unmittelbaren Vernunftberührung“ (§ 15). Im Unterschied zur vollendeten Philosophie, die eine
eschatologische Gestalt ohne Ort in der Geschichte bleibt, ist die freie philosophische Erkenntnis die geschichtliche Philosophie.
Zusatz: Von der geschichtlichen Philosophie unterscheidet Schelling deutlich die vollendete Philosophie:
„Denn der große Punkt ist eben, daß es auch eine philosophische Erkenntniß gibt, welche über die Natur hinausgeht“ (O I, 192). Dies, was jenseits der Natur und der Vernunfterkenntnis, wie wir sie als geschichtliche
Wissenschaft und Philosophie kennen, liegt, ist eine von Schelling zwar noch „philosophisch“ genannte Erkenntnis, die aber eben „über der Natur“, also über dem, was wir von uns aus philosophisch erreichen können,
liegt. Erst diese über der Natur liegende Philosophie wäre die Philosophie, die nicht existiert, wäre die vollende17
Hutter 1996, 357
18
O I, 192
15
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
te Philosophie, die philosophische Religion. Die „Religion der freien philosophischen Erkenntniß“ hingegen ist
bloß die Religion, in welcher wir die Erkenntnis so weit treiben, wie das uns möglich ist, also eben nicht über
die Schranke des Füruns hinaus, nicht in den Standpunkt der paradoxen Einheit von Füruns und Ansich hinein.
1. Bleibende Unfreiheit
(22) Die Epoche der freien philosophischen Erkenntnis, also die geschichtliche Epoche zwischen der Offenbarung des Erlösers Christus und dem Eschaton, beginnt mit der Befreiung
von den monströsen Mächten. Dies ist unsere Situation und Epoche, deren Bedingungen die
Bedingungen unseres Philosophierens bilden. Diese Bedingungen bestehen darin, dass der
Mensch nach der ergangenen und geschehenen Offenbarung in doppelter Weise befreit ist
und ebenso in doppelter Weise unfrei bleibt. Die doppelte Freiheit besteht in Folgendem:
[a]
Er ist frei gegenüber dem Partikularwillen der zerstörerisch herrschenden Mächte,
d. h. der heidnischen Götter, die ihn jetzt (nach Christi Keltertreten und Höllenfahrt19) nicht mehr endgültig zerstören können. Dies ist die Freiheit des Menschen von
den dämonischen Mächten.
[b]
Er ist aber auch weiterhin frei gegenüber dem Universalwillen des wahren Gottes, d.
h. des „Herrn des Seyns“ (M I, 564 [10.4, § 9-a und 10.5]), der das axiologisch optimierte „Reich der Zwecke“ bildet und erhält: diesem kann er sich böse verweigern.
Es bleibt aber auch eine doppelte Unfreiheit. Zum einen der Eigennatur der partikularen Götter, und zum anderen der sittlichen Universalität gegenüber:
[a]
Wir sind der verzehrenden Macht und den partikularen Mächten in ihrer Maßlosigkeit
gegenüber nach dem Ende des mythologischen Aeons nicht mehr deswegen unfrei
weil sie uns zerstören würden, sondern wir sind ihnen gegenüber in dem Sinn unfrei, dass wir ihr Zustandekommen und ihr Wirken nicht völlig begreifen. Daher
stellen sie zwar nicht mehr prinzipiell feindliche (weil aus der Gesamtordnung
heraus- und freigesetzte), aber doch immer noch fremde, unbegriffene Mächte
dar. Krankheiten, Monstrositäten der Geschichte, das Scheitern und Brechen von
Biographien – das alles hängt von Mächten ab, die nicht völlig unter unserer Regie
stehen, sondern die nach eigenen Gesetzen agieren. Dieses Agieren können wir beschreiben, aber wir können uns nicht in sein Zentrum setzen und es sicher nach unserem Willen lenken. Hier sind wir von einem fremden Willen abhängig (wenngleich
wir heute derartiges Geschehen eher nicht mehr als willensanalog zu denken bereit
sind. Ich habe in dieser Vorlesung für die Willensanalogheit alles Agieren der Natur
argumentiert).
[b]
Und wir sind der Universalität des „Reiches der Zwecke“ gegenüber unfrei, weil diese Universalität unserer Partikularität fremd und unheimlich bleibt, da sie ja
doch unseren partikularen Zwecken bedrohlich scheint und wir Angst davor haben, im Universalen unsere Identität, die sich in partikularen Zwecken konkretisiert, zu verlieren.20
Zusatz: Die Eigenwirklichkeit der partikularen Mächte ist dem Menschen nicht mehr prinzipiell feindlich, habe
ich gesagt. Diese Feindlichkeit besteht nicht mehr prinzipiell, weil die durch den Sündenfall geschehene Heraus19
Zur Höllenfahrt Christi vgl. Huber 2004-a, §§ 35f
20
Huber 2007-b, §§ 20-95
16
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
lösung der Partikularitäten aus der göttlichen Universalordnung durch die Erlösung in Christus prinzipiell aufgehoben ist (d. h. nicht mehr definitiv zur Herrschaft über die menschliche Sphäre gelangen kann). Wenn die
Feindlichkeit und Zerstörungskraft der partikularen Mächte (weil sie zur Maßlosigkeit tendieren, darum sind sie
gefährlich und Zerstörung drohend) – wenn diese Zerstörungskraft auch prinzipiell aufgehoben ist, so sind die
Mächte in ihrer Partikularität und drohenden Maßlosigkeit doch nicht vernichtet, und können daher immer wieder, wenn einzelne Freiheitsakte von Menschen sie aus dem Maß setzen, vorübergehend zerstörerische Übel –
und zwar sehr weit ausgreifende Übel – bewirken.
(23) Solange der Mensch theoretisch und praktisch nicht zur Einheit von Füruns und Ansich
gelangt ist, unterliegt er einem doppelten Zwang. Zum einen dem natürlichen Zwang, Welt
und Mensch als sittlich indifferent anzusehen und zu behandeln, weil er die Dinge nur von
außen zu erfassen vermag (§ 14): So bedrohen seine theoretischen Kategorien seine sittliche
Integrität. Und zum anderen unterliegt er dem ebenso unauslöschlichen Zwang, Welt und
Mensch sittlich verstehen und behandeln zu müssen, weil seine sittlichen Gewissheiten sich
praktisch gegen jede theoretische Destruktion affirmieren: So machen seine sittlichen Kategorien ihm Angst um seine Partikularität, d. h. Angst vor dem Verlust seiner konkreten Identität.
Zusatz 1: Dieser Zwang des „unbegriffenen Erkenntnisvermögens“ (M I, 260) oder der „unbegriffenen natürlichen Erkenntnis“ (M I, 266)21 entsteht, weil die Einheit und Harmonie des naturgesetzlich Notwendigen mit der
sittlichen Freiheit nicht geschaut, nicht eingesehen werden kann. Wir begreifen nicht, wie eine sittlich indifferente Evolution Sittlichkeit (Freiheit und Verantwortlichkeit) hervorbringen kann, ebensowenig, wie wir begreifen, wie sich in den naturkausal lückenlosen Ketten des Neuronenfeuers ausgerechnet sittliche Freiheit (die wir
aber unbezweifelbar leben, d. h. praktisch in Anspruch nehmen und realisieren) realisieren kann. Da wir die
Welt und ihre Wesen nur von außen verstehen (also für uns), nicht aber aus ihrem Innenaspekt heraus (an sich),
ist uns im Letzten theoretisch immer undurchsichtig, wie es dazu kommt und warum es so sein muss, dass die
Dinge überhaupt sind und dass sie gerade so sind, wie sie sind. Warum tritt alles als Ding mit Eigenschaften
auf? Warum als Ganzes aus Teilen? Warum als Äußerung von Kraft? Warum muss alles eine Ursache haben?
Warum können wir das nicht alles anders denken? Und praktisch ist uns undurchsichtig, warum von den Dingen
ein sittlicher Imperativ zur Achtung vor ihrem Selbstsein ausgeht. Die theoretischen Bestimmungen und die
Tatsache praktischer Verantwortlichkeit bilden einen immanenten Zwang des Denkens, den wir nur hinnehmen können, von dem wir aber nicht wissen, wie er entsteht, wie das Sein es anstellt, die Wesen gerade als
logisch bestimmte und sittlich bedeutsame Wesen hervorzubringen.
Zusatz 2: Vermutlich unterliegt Gott selbst der Notwendigkeit dieses Denkens: logische Strukturen sind ewige
Wahrheiten. Wie ist es diejenige Instanz zu sein, die Ursache dafür ist, dass die logischen Bestimmungen existieren, statt dass nichts wäre? Das wissen wir nicht, weil wir nicht selber diese Instanz sind, ihren Innenaspekt
nicht kennen und so nicht nachzuvollziehen im Stande sind, wie sie es anstellt, als Urgrund von Sein tätig zu
sein. Die Idee der axiologisch optimierten Welt ist notwendig, bildet sich notwendig als eine der Möglichkeiten
im Raum der möglichen Welten (10.6, § 11 Zusatz ad [b]). Wie es aber dazu kommt und wie es geschieht, dass
gerade diese axiologische Welt, die über Zufall und Notwendigkeit hinausgeht (10.5, §§ 1-7), Realität (aktive
Wirklichkeit [10.2, § 2]) annimmt, das bleibt uns dunkel, weil wir nicht an der Stelle der Macht erleben und
verstehen, welche die Entscheidung zu dieser Welt getroffen hat. Wir sind nicht das Seinsprinzip, das die
Wesen evolviert. Wären wir es, wüssten wir, wie das Prinzip, die bewegende Kraft, die bestimmende Macht,
dazu kommt und es anstellt, gerade solche Wesen zu evolvieren, wie es der Fall ist. Zwar erleben wir an uns
selbst, wie es ist, weder aus Zufall noch aus Notwendigkeit, sondern aus freier Liebe etwas zu tun, aber wir
wissen nicht, wie man Wesen in’s Daseins setzt, welche zu freier Liebe fähig sind und wir könnten unsere Aktivitäten nicht so koordinieren, dass sie auf lange Sicht und in die Weite des Alls einander nicht über kurz oder
länger lahmlegen, – welche Koordination der Natur offensichtlich in allen einzelnen Bereichen wie im Ganzen
zugrunde liegt. So können wir uns zwar gewisse Vorstellungen machen, wie es ist, ästhetisch bewegt zu sein,
aber wir vermögen nicht wirklich zu erleben, wie es ist, ästhetisch bewegter Urgrund von allem zu sein (wie ihn
Nietzsche in der Tragödienschrift und in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen postuliert).
2. Bedrohung durch szientistischen Reduktionismus
21
„Die Pointe der Schellingschen Kritik besteht darin, daß sie die ‚Natur’ gerade dort annimmt, wo das neuzeitliche Subjekt sie niemals vermuten würde: im reinen Denken“ (Hutter 1996, 371).
17
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
(24) Weil der Mensch die Dinge nur von außen sehen kann und nicht in ihrem Innenaspekt,
ihrem Ansich selbsterlebend steht, ist er immer der Versuchung ausgesetzt, den Außenaspekt für die einzig wahre, tragfähige und maßgebende Wirklichkeit der Wesen um sich
herum und schließlich sogar seiner selbst zu halten. Der Mensch unterliegt so dem natürlichen Zwang der sittlich indifferenten Kategorien seines Welterlebens, da ihm die conditio
humana nur gestattet die Dinge von außen, nicht aber von innen aus deren eigener Perspektive zu erleben und zu verstehen. In der Folge dessen ist er nahezu unwiderstehlich dazu gedrängt, die Welt und schließlich auch sich selbst einzig als Hervorbringung einer völlig teleologiefreien, d. h. nicht willensanalogen Kausalität zu verstehen (und zu behandeln). Die Gefahr besteht dabei darin, dass wir aufgrund der zwingenden Plausibilität der empirisch greifbaren Naturkausalität die innerlich erlebte und praktisch in Anspruch genommene Freiheit für
eine bloße Illusion und Täuschung halten, und uns selbst als Menschen abschaffen unter
Berufung darauf, dass das, was wir eigentlich sind (unser inneres Selbsterleben als freie und
verantwortliche Wesen) sich in der empirisch greifbaren, d. h. messbaren und palpablen
Wirklichkeit z. B. des Gehirns nicht findet. So glauben wir, uns davon überzeugen zu können, dass es in Wirklichkeit keine Freiheit, keine Verantwortlichkeit, keine Achtungswürdigkeit der Dinge gibt (nichts Wahres, Gutes, Schönes). Dieser Drang zu einem szientistischen
Reduktionismus ist so stark aufgrund der zwingenden Plausibilität, mit der sich das empirisch
Greifbare als Wirkliches aufdrängt und alles weniger „Palpable“ als Sache von minderem
Realitätsgehalt erscheinen lässt. So kann dieser Zwang so unüberwindbar erscheinen wie
einst die Herrschaft der alten Götter war, von denen uns die Offenbarung befreit hat.22 Die
Herrschaft des Logischen und Empirischen ist der verbleibende Zwang, in einer Welt, die
man nur von außen erleben kann. Dies ist die theoretische Unfreiheit des Geistes, der Vernunft, des Menschen, die nach der Offenbarung besteht: Das Sein scheint bloße Faktizität
ohne transfaktische Orientierung in sittlichem Sollen. Werturteile (nicht nur sittlicher Art,
auch ästhetische und Wahrheitsurteile) erscheinen als subjektive und beliebige Zutat zum
wertneutralen „objektiven“ Sein.
3. Angst vor sittlicher Nötigung
(25) Der Mensch unterliegt aber andererseits immer und unvermeidlich auch dem vernünftigen Zwang der sittlichen Kategorien. In der Folge dessen ist er ebenso unwiderstehlich dazu
gedrängt, sich und die Welt als Hervorbringung einer axiologisch orientierten Intentionalität
zu verstehen (und zu behandeln): Es gibt in Wirklichkeit Freiheit, Verantwortlichkeit, Achtungswürdigkeit jedes eigenwirklichen Wesens (es gibt Wahres, Gutes, Schönes). Auch dieser Drang ist unüberwindlich stark, er ist durch theoretische Destruktionen nicht zu erschüttern. Es ist der Zwang, die Sittlichkeit lebenspraktisch als die einzig wahre und maßgebende Wirklichkeit anzusehen zu leben. Dies ist die praktische Unfreiheit des Geistes, der
Vernunft, des Menschen, die auch in der Zeit nach geschehener Offenbarung noch besteht:
Das Sollen ist nicht automatisch auch mein faktisches Wollen. Und deshalb verursacht uns
unser sittliches Sollen Angst vor der Aufhebung unseres faktischen Wollens.
(26) Nach der Erlösung von der Herrschaft der zerstörerischen partikularen Mächte ist der
Mensch nicht automatisch in Harmonie mit dem Universalwillen, sondern er muss diese
Harmonie auch aus seiner eigenen Freiheit heraus wollen, weil er sonst nicht als er selbst
(sondern vermöge fremder Bestimmung über ihn) in der Harmonie wäre. Deshalb erscheint
dem Menschen der Universalwille immer auch als fremde Intentionalität, als eine seiner Par22
Hutter 1996, 369. – Zur Befreiung vom Mythos und der neuen Unfreiheit vgl. ebd. 354-359 und 365-371.
18
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
tikularität gegenüber fremde Intentionalität, deren Absichten mit seinen partikularen immer
auch in Spannung stehen. Das eigentlich von Menschen in seiner Freiheit Gewollte – der sittliche Mensch im „Reich der Zwecke“ – ist daher, wie Kant deutlich gesehen hat, Nötigung.
Kant nennt die Sittlichkeit (die Autonomie als das eigene Wollen des Allgemeingültigen
[Kant IV, 431, 450, 452], d. h. das eigene Wollen des unparteiischen Standpunkts, auf dem
ich mir keinen Vorrang vor anderen anmaße) die „moralische Nöthigung“ (Kant IV, 439).
Und weiter: „Das moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen als Gliedes einer
intelligiblen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie
ein Glied der Sinnenwelt betrachtet“ (Kant IV, 455). Andererseits findet er sich selbst in der
sittlichen Nötigung mehr als im Verfolg seiner Neigungen: nur als sittlich handelnde Wesen
sind wir bei „unserem eigentlichen Selbst“ (Kant IV, 461). Die Offenbarung lässt also den
Menschen – notwendigerweise, weil er ja frei ist – in der Spannung zwischen seinem partikularen und seinem eigentlichen, mit dem universalen Willen harmonierenden Selbst.
(28) Der durch die Offenbarung befreite Mensch ist frei gegenüber den zerstörerischen Göttern, er bleibt aber auch frei der befreienden Instanz gegenüber. Solange er sich als einzelner
dem Universalwillen verweigert, solange er in der Trennung der Partikularität vom Universalen verharrt (verharren will), erlebt und realisiert er in seiner Existenz das Sittliche immer
auch als Last und Verpflichtung, insoweit er von ihm nämlich seiner Partikularität Abbruch
tun lassen soll. Das Partikulare ist das in sich sittlich Indifferente: ob es gut oder schlecht ist,
was ich will, zählt in der partikularen Perspektive nicht, sondern was zählt ist nur, dass es
eben nun einmal mein Wille ist. Die Faktizität meines Wollens zählt im Partikularen, nicht
seine sittliche Qualität. Indem der Partikulare so die sittlichen Kategorien ausblendet,
reduziert er die Wirklichkeit seiner selbst und der Welt auf die Kategorien der Faktizität. Die Harmonie zwischen den Kategorien der Naturnotwendigkeit und den Kategorien der
Zweckmäßigkeit – also zwischen der Wirklichkeit apersonaler blinder Notwendigkeit, die
sich ohne Rücksicht auf ihn exekutiert (der es nicht auf ihn und überhaupt auf das „Reich der
Zwecke“ ankommt), und der Wirklichkeit eines auf das axiologisch qualifizierte „Reich der
Zwecke“ gerichteten Willens –, liegt im universalen Urgrund, also in Gott als dem „intelligibelen Urheber der Natur“ (Kant V, 115 [KpV]), wie Kant argumentiert hat. Solange der
Mensch nicht „durchsichtig“ geworden ist auf den Universalwillen, die Universalwirklichkeit, hin, solange erlebt er die Naturnotwendigkeit auf der einen Seite und die teleologische
Intentionalität, die als Sittlichkeit auf das „Reich der Zwecke“ aus ist, auf der anderen Seite
nur als disharmonische Antipoden, und hat vor dem Sittlichen Angst, weil er es für den Untergang seiner Partikularität, seiner konkreten Identität hält.
4. „Durchsichtigkeit“
(29) Das eigentliche Selbst des Menschen als theoretischen Wesens bestünde im vollendeten
Verstehen und Schauen der Wesen und ihres Gesamtzusammenhangs. „Daß ich erkenne, was
die Welt / Im Innersten zusammenhält, / Schau alle Wirkungskraft und Samen / Und tu nicht
mehr in Worten kramen“23. Nicht mehr das von außen nur gesehene und in Worten niedergelegte Füruns der Dinge, sondern ihre eigene innere Wirklichkeit selbst, ihr Ansich, will Faust
in sich erleben und verstehen („schauen“). Zu diesem Zweck hatte er sich „der Magie ergeben“24, die ja dem Magier verheißt, dass er sich die eigene Wirklichkeit der Dinge so anverwandeln könne, dass er mit seinem Willen in und aus den Dingen selber heraus handeln könne – ohne technische Hilfsmittel, einfach nur durch seinen (im Zauberspruch) ausgesproche23
Faust 382-385
24
Faust 377
19
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
nen Willen.
(30) Sein eigentliches Selbst als praktisches Wesen besteht für den Menschen in der Harmonie mit dem universalen Willen: nur die Achtung vor dem Selbstsein der anderen Wesen bewahrt ihm diese als erfüllende Inhalte seines Schauens, in welchem seine Glückseligkeit liegt.
Nur in der Begrenzung seiner Partikularität, lässt er Raum für andere Wesen, für das „Reich
der Zwecke“, ohne welches sein Leben arm oder gar leer an Inhalt wäre. Das Handeln des
einzelnen Menschen müsste geprägt sein durch „die hingebende Liebe an alles Gewordene
und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet“25.
(31) So bleibt in der Epoche der geoffenbarten Religion – in unserer Epoche – eine theoretisch intellektuelle und eine praktisch moralische Fremdheit oder Unfreiheit bestehen. Diese
Fremdheit oder Unfreiheit könnte nur überwunden werden, indem der Mensch die paradoxe
Einheit von Füruns und Ansich im Theoretischen und die paradoxe Einheit seiner partikularen Intentionalität mit dem Universalwillen erreicht. Bis er also selbst im Inneren der fremden
Mächte wirken könnte und bis er die Rücksicht auf andere Wesen nicht mehr als Beeinträchtigung seiner selbst erleben und fürchten müsste. Die in der geoffenbarten Religion weiterbestehende Unfreiheit kann also nicht durch eine Weiterentwicklung unserer Philosophie aufgehoben werden, sondern durch eine radikale Veränderung unserer conditio existendi. Die
Vollendung des menschlichen Selbst besteht letztlich darin, dass das einzelne Selbst sich theoretisch und praktisch „durchsichtig“ (Kierkegaard26) macht bzw. machen lässt für das durch
ihn tönende Ganze (es tönt durch ihn: personat, und dadurch ist er eben Person), dass es sein
eigene Wirklichkeit und die der anderen Wesen als Manifestationen des Urgrunds (Gottes)
erlebt und versteht: Diese theoretische und praktische „Durchsichtigkeit“ des Einzelnen auf
das Ganze und des Ganzen im Einzelnen ist für Schelling das „Höchste“ (O II, 332), die
vollendete Philosophie oder die philosophisch, d. h. vollkommen verstehend gewordene Religion:
Zusatz 1: Von der doppelten Unfreiheit, die innerhalb der Epoche der geoffenbarten Religion besteht, wird der
Mensch also befreit durch die „Durchsichtigkeit“ auf den universalen Urgrund hin, aus dem, als der urgründenden autarken Macht, alle Naturnotwendigkeit und alle Sittlichkeit ihren einen Ursprung hat. Wer am Ort des
universalen Urgrunds – am Orte Gottes – verstehen könnte, der würde auch verstehen, wie aus dem einen Urgrund sich eine sittlich indifferente Natur und Sittlichkeit evolvieren konnten, und wie die Spannung zwischen
beiden doch nur die Verwirklichung ihrer Harmonie und wechselseitigen Zueinanderstimmigkeit ist. Wenn der
Mensch nicht mehr partikular für sich, dem Universalen gegenüber, sondern im Universalen selbst leben würde,
sodass er am Orte seiner eigenen Partikularität zugleich auch die Partikularität aller anderen und deren
harmonischen Gesamtzusammenhang erleben würde – wenn der Mensch so nicht mehr im Irdischen, sondern im Ewigen leben würde, dann (und nur dann, nicht aber innerhalb seiner irdischen Daseinskondition) wäre
er von der Spannung zwischen Partikularität und Universalität wirklich (nicht nur in der Vorstellung, im Gedanken, in der – nicht platonisch verstandenen – Idee) befreit. Das Bild der Durchsichtigkeit ist Schelling nicht
fremd: „So wie der Demant ,,, gleichsam nur für das Licht da ist, damit dieses in ihm durchleuchte und spiegle,
und etwas sey, worin es sich fassen könne“ (Schelling 1810, 496). Dies der Zielzustand. Worin besteht er genauer? Der Diamant ist nur für das Licht da, dennoch hat er in seiner abgegrenzten Partikularität (gegen die
grenzenlose Universalität des reinen Lichts) eine Eigenbedeutung, die nicht auf das Licht reduzierbar ist: er ist
das, worin es leuchten, widerscheinen, „sich fassen könne“. Nur wo das Licht sich in bestimmte Grenzen – in
die Grenzen eines Strahls, eines Funkelns im Kontrast gegen das Dunklere („Trübe“ bei Goethe) – bindet, wird
es sichtbar. Das reine Licht, das Licht ohne Dunkelheit und ohne durch die Schattierung gegebene Gestalt, ist
leer und man sieht in ihm nichts: das reine Licht ist soviel als Nichts. Aber das Bestimmte, die einzelne Gestalt
ist ebenfalls nichts ohne das ganze Gefüge der Bestimmtheiten, die einander bedingen und hervorbringen und so
25
Keller 1879/1880, 356 (Der grüne Heinrich, Dritter Teil, Erstes Kapitel: Arbeit und Beschaulichkeit)
26
Huber 2006, §§
20
10. Religion – Kapitel 14. Religion und Philosophie
jeweils das Ganze im Einzelnen spiegeln.
Zusatz 2: Die Befreiung von der Spannung zwischen Selbst und Anderem, zwischen Partikularität und Universalität, ist es, die der Mensch (wie Schelling zurecht sagt) sucht. Statt seiner eigenen Vernunft, die in der Spannung von Partikularität und Universalität verharrt, sucht er den „Gott, der außer und über der Vernunft ist“ (M
I, 567) – außer und über der menschlichen, in der Spannung gefangenen Vernunft. Der göttlichen Vernunft, die
Partikulares und Universales harmonisch vereint (welche Harmonie ja den eigentlichen Inhalt des Kantischen
Gottes-Postulats ausmacht), ist dasjenige möglich, was der menschlich gespaltenen Vernunft unmöglich ist:
Gottes aktive weltschaffende Vernunft (statt unserer passiven weltrezipierenden Vernunft) kann jeden von uns
partikularen Einzelnen „dem Gesetz gleich, d. h. von ihm frei machen“ (M I, 567). Dem Gesetz gleich geworden zu sein, bedeutet mit dem Universalen (nichts anderes ist das Gesetz ja, als die Universalität) in Harmonie
zu sein. Ist der partikulare Einzelne dem allgemeinen – universalen – Gesetze gleich geworden, dann ist er in
Harmonie mit ihm, er ist mit ihm „in’s Gleiche gesetzt“, nach jenem schönen Ausdruck Goethes. Sittlichkeit
wäre dann keine unserem partikularen Triebe fremde Leistung mehr, die wir gegen unsere naturwüchsige partikulare Tendenz uns abringen müssen, sondern es wäre dann so, dass die Sittlichkeit „unverdient und aus Gnaden uns zu Theil“ (M I, 567) würde, weil wir sie nicht mehr aus eigener Kraft herausarbeiten müssten, sondern
ihre ursprüngliche Verbundenheit mit dem Faktischen automatisch in uns wirken würde, sobald wir im universalen Urgrund statt in unserer endlichen Vereinzelung leben würden. Dann wäre Sittlichkeit nicht mehr das, was
der Glückseligkeit Abbruch tut, sondern es gilt für die menschliche Seele dann, dass „die Sittlichkeit für sie
zugleich die absolute Seligkeit ist“ (Schelling 1804, 641). Aber das eben ist ein Zustand, den wir nicht erreichen
können. Für unser irdisches Dasein ist die disharmonische Trennung und Spannung zwischen faktisch partikularem Wollen und sittlich universalem Wollen konstitutiv. Diese Philosophie existiert nicht. Sie existiert weder in
dem Sinn, dass wir erkennen würden, wie partikulares, aus dem faktischen Naturprozess resultierendes Wollen
und universale Sittlichkeit harmonieren, noch existiert sie in dem Sinn, dass wir unsere faktisches Wollen und
unser sittliches Sollen als harmonisch erleben würden.
21
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