16 TEIL EINS | ERDE UND FEUER Ägyptisch BLAU Das erste europäische Werk, das eine detaillierte Beschreibung der Pigmente enthält, wurde im 4. Jahrhundert v. Chr. von dem Philosophen und Naturforscher Theophrastos von Eresos in Athen verfasst. Es ist ein kurzes Buch in saloppem Stil, so dass manche glauben, es könnte sich dabei auch nur um die Notizen handeln, die sich einer seiner Schüler während einer Vorlesung KÖNIG TUTANCHAMUNS INFRAROT-SENDER gemacht hat. Man stelle sich vor, die eigenen Schulaufzeichnungen wären die einzigen Dokumente, aus denen die Menschen in der Zukunft erfahren würden, was wir heute über ein bestimmtes Thema denken. Dies könnte mit der Schrift Peri Lithon (Über die Steine) geschehen sein. Als frühestes Werk gibt es uns Auskunft darüber, was die antiken Griechen (oder zumindest Theophrastos) Für eine Statue angefertigtes Glasauge, Ägypten, um 1540–1070 v. Chr. TEIL EINS | ERDE UND FEUER Oben: Konservatoren des Getty Conservation Institute untersuchen die Wandmalereien im Grab des Tutanchamun. Links: Paviane an den Wänden von Tutanchamuns Grab, Ägypten, um 1300 v. Chr. Am 16. Februar 1923 durchbrach der britische Archäologe Howard Carter eine versiegelte Tür und gelangte in das Grab des ägyptischen Kindkönigs Tutanchamun, der im Alter von neun Jahren den Thron bestiegen hatte und zehn Jahre später gestorben war. Die Malereien an der westlichen Wand der inneren Grabkammer zeigten zwölf Paviane, gemalt in Ägyptischblau. Jeder von ihnen repräsentierte eine Stunde der nächtlichen Reise Tutanchamuns in die Unterwelt. „Die Versuchung, mit der Arbeit aufzuhören und hineinzuschauen, war in jedem Moment unwiderstehlich. Und als ich nach etwa zehn Minuten ein Loch geschaffen hatte, das groß genug dafür war, leuchtete ich mit der Taschenlampe hinein. In ihrem Licht bot sich mir ein erstaunlicher Anblick, denn dort, nur einen Meter von der Türschwelle entfernt, erstreckte sich, so weit das Auge reichte, eine allem Anschein nach massive goldene Wand, die den Eingang zur Grabkammer versperrte.“ über Steine und Metalle wussten. Der Verfasser beschrieb darin unter anderem, was geschah, wenn man sie erhitzte oder zerkleinerte – und ob sie sich als Farbpigmente zum Malen eigneten. Vor 2500 Jahren standen den Athener Künstlern die vielfältigsten Farben zur Verfügung. Neben den Rot-, Braun-, Schwarzund Kreidetönen, die wir bereits in der Höhle von Lascaux gesehen haben, gab es metallisches Rot, das in Silber- und Goldminen gefunden wurde, gefährliches Gelb aus Arsen, helles Grün aus Kupfer, das man über Fässern mit saurem Wein aufgehängt hatte, und das strahlendste Weiß aus korrodiertem Blei (ihnen allen werden wir später noch begegnen). Und natürlich Blau. Tatsächlich waren im antiken Griechenland drei Sorten von Blau verbreitet. Das edelste stammte aus Ägypten. Theophrastos war tief beeindruckt von diesem Blau. Er wusste, wie wertvoll es war und dass es die Phönizier – zu jener Zeit zweifellos die 17 größten Kaufleute der Welt – ihren wichtigen Handelspartnern zum Geschenk machten. Ihm war auch bekannt, dass dieses Blau nicht in der Erde zu finden war, sondern, nach einem sehr alten Verfahren, durch einen chemischen Prozess erzeugt wurde. Aus heutiger Sicht ist es leicht, die alten Römer, Griechen und Ägypter einfach über einen Kamm zu scheren, insofern sie alle für uns gleichermaßen antike Völker sind. Für Theophrastos lag das alte Ägypten jedoch fast genauso weit zurück und war ebenso schwer vorstellbar wie für uns heute das antike Griechenland. Das Ägyptischblau wurde um 2200 v. Chr. erfunden, als die großen Pyramiden erbaut wurden, also etwa 1900 Jahre bevor Theophrastos in Athen darüber schrieb. Dieses Blau wurde auf ähnliche Weise wie Glas hergestellt, so dass die Materialien relativ leicht zu beschaffen waren. Man benötigte lediglich Kalk (kalzinierter Kalkstein) und Sand sowie ein kupferhaltiges Mineral (wie den Schmuckstein Malachit, blauen Azurit oder auch Bronzespäne). Die Herausforderung bestand darin, dass die Mengen genau aufeinander abgestimmt sein und der Schmelzofen auf 800 bis 900 Grad Celsius erhitzt werden musste. Wenn er zu heiß oder nicht heiß genug war, entstand ein glasig-grünes, unbrauchbares Gemisch. Wenn sie aber die richtige Temperatur trafen, erhielten die alten Ägypter ein opak-blaues, kristallines Material. Die Künstler konnten es zu Pulver zermahlen, mit Eiweiß, Leim oder Gummiarabikum vermischen und damit eine wunderschöne blaue Farbe erzeugen – wie die eines Schwimmbeckens im Sommer. „Es ist das älteste synthetische Pigment“, erläutert der Farbhistoriker Philip Ball, „ein Blau aus der Bronzezeit.“ Ägyptischblau wurde bis in die römische Zeit verwendet und geriet danach in Vergessenheit. Vielleicht ist das auch nicht verwunderlich: Das Herstellungsverfahren war derart kompliziert, dass es, als die 18 TEIL EINS | ERDE UND FEUER Technik verloren ging, nahezu unmöglich war, diese zu rekonstruieren. Und später, als die Wissenschaftler im 19. Jahrhundert erneut in der Lage waren, es herzustellen, gab es bereits andere exzellente Blautöne, so dass Ägyptischblau nur noch eine Kuriosität war – bis ein Wissenschaftler eine zufällige Entdeckung machte. An einem Septembermorgen des Jahres 2006 untersuchte der Konservator Giovanni Verri im Röntgenlabor der Getty-Villa in Malibu, Kalifornien, eine 2500 Jahre alte griechische Marmorschale. Darauf waren Achilles’ strahlende Mutter und andere Nereiden abgebildet, wie sie Achilles vor dem Kampf die Waffen überreichen. Mithilfe von Infrarotaufnahmen wollte Verri herausfinden, ob der Künstler vor der farbigen Ausarbeitung den Entwurf in Schwarz skizziert hatte. (Ruß absorbiert Infrarotstrahlen, so dass eine darunterliegende Zeichnung manchmal unter Infrarotlicht sichtbar wird.) „Meine Wolfram-Infrarot-Strahlungsquelle funktionierte nicht, also musste ich die fluoreszierenden Röhren an der Decke verwenden“, erinnert sich Verri. „Sie werden eigentlich nie für Infrarotaufnahmen eingesetzt, weil sie relativ wenig Infrarotlicht aussenden.“ Als er die Abbildung auf der Schüssel betrachtete, erschien der größte Teil, wie erwartet, dunkelgrau. Als er sich jedoch die Meereswesen ansah, traute er seinen Augen kaum: „Sie waren von glänzendem Licht überzogen“, erinnert er sich. Und als er noch genauer hinsah, stellte er fest, dass der Glanz von der blauen Farbe herrührte. Verri rief seine Kollegen herbei. Auch sie waren sehr erstaunt. Die Bilder bewiesen, dass Ägyptischblau die fast einzigartige Eigenschaft hat, Infrarotstrahlen abzugeben. Wenn man also grünes oder rotes Licht darauf fallen lässt, wird es von dem blauen Pigment absorbiert und dann als Infrarotstrahlung wieder ausgesendet, ähnlich, wie es die Fernbedienung eines Fernsehers tut. „Dank dieser natürlichen Eigenschaft des Pigments kann man auf jedem Gemälde sehen, wo Ägyptischblau eingesetzt wurde“, erklärt Verri. Selbst wenn auf einem Gegenstand nur eine winzige Menge dieser Farbe haftet und sogar wenn er lange Zeit unter Wasser gelegen hat und mit Verkrustungen überzogen ist, werden die Spuren des alten Blautons unverkennbar leuchten, wenn man eine Kamera mit Infrarotfilter darauf richtet. Und diese außergewöhnliche Eigenschaft kann dazu genutzt werden, herauszufinden, wie antike Kunstwerke einst tatsächlich ausgesehen haben. Oft ist das die einzige Möglichkeit, da alles, was zum Beispiel auf Marmorskulpturen von dem Pigment noch vorhanden ist, mit dem bloßen Auge nicht mehr wahrgenommen werden kann. clone circle out Bemalte Marmorschale, griechisch, spätes 4. Jahrhundert v. Chr. Infrarotaufnahme derselben Schale, mit fluoreszierendem Ägyptischblau TEIL EINS | ERDE UND FEUER 19 DER MYTHOS DER WEISSEN STADT Als die Gründerväter der neu entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika mit dem französisch-amerikanischen Architekten Pierre Charles L’Enfant 1791 ihre neue Hauptstadt planten, entschieden sie, dass diese einer antiken Stadt ähneln sollte. Sie wollten ihr Land als eine Demokratie gestalten, welche ihren Ursprung in Griechenland hatte, und einige ihrer Politiker sollten in Anknüpfung an die römische Tradition als „Senatoren“ bezeichnet werden. So sollte auch die neue Hauptstadt – nach dem Vorbild der griechischen und römischen Städte der Antike – gitterförmig angelegt werden. Das Kongressgebäude als Ort der Gesetzgebung sowie der Amts- und Wohnsitz des Präsidenten als des höchsten Repräsentanten sollten mit Säulen, Kapitellen, Sockeln und Marmorstatuen ausgestattet werden, gerade so wie die Akropolis in Athen und das Pantheon in Rom. Und natürlich sollten diese Gebäude wie ihre antiken Vorbilder vollständig in Das Weiße Haus, entworfen von James Hoban, 1792–80 Für die Malerarbeiten am Weißen Haus benötigte man im Jahr 1800 zwei Tonnen Bleiweiß für das innere Holzwerk und 100 Tonnen Kalkweiß für das äußere Mauerwerk. Heute wird der Amts- und Wohnsitz des US Präsidenten jedes Jahr mit etwa 2160 Litern strahlend weißer Farbe aufgefrischt. 20 TEIL EINS | ERDE UND FEUER Weiß gehalten sein. Die meisten wichtigen Bauten im antiken Griechenland und Rom waren allerdings gar nicht weiß. Heute wissen wir, dass fast alle von ihnen einst bunt geschmückt waren, manche sogar mit reinem Blattgold. Aber das passte nicht zu dem, was die Menschen in späteren Jahrhunderten sehen wollten. Sie hielten Farben für frivol und prahlerisch und stellten sich lieber eine idealisierte klassische Welt in makellosem Weiß vor. Seit man im 15. Jahrhundert begonnen hatte, die antiken Marmorschätze in Griechen- land und Italien auszugraben, kratzten die Händler die Stücke mit Skalpellen ab (oder, was noch schlimmer war, reinigten sie in einem Säurebad), um jede Spur von Farbe zu entfernen und den reinen, weißen Marmor darunter freizulegen. Und wenn wohlhabende Mäzene in der Renaissance und in späteren Zeiten neue Skulpturen in einem Stil in Auftrag gaben, den sie für den „klassischen“ hielten, wollten sie darauf keinerlei Farben sehen. „Bildhauer ... brauchen sich nicht um Farben zu kümmern“, verkündete der große Leonardo da Vinci am Ende des Phidias zeigt seinen Freunden den Fries im Parthenon von Sir Lawrence Alma-Tadema, 1868–69 Im Jahr 1868 stellte sich der niederländischbritische Maler Sir Lawrence Alma-Tadema vor, wie es gewesen sein mag, als die Marmorschnitzereien an der Spitze des Parthenon-Tempels in Athen vor 2500 Jahren erstmals dem Publikum gezeigt wurden. Alma-Tademas Farbwahl war absichtlich provokativ; denn zu seiner Zeit hielt man den Fries mit seinen Figuren für das Musterbeispiel einer klassischen weißen Skulptur. Rechts: Statuette von Apollo, des griechischen Gottes der Musik, um 300 v. Chr.