Dietrich Herzog . Politische Karrieren Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin ehemals Schriften des Instituts für politische Wissenschaft Band 25 Dietrich Herzog Politische Karrieren Selektion und Professionalisierung politischer Führungsgruppen Westdeutscher Verlag © 1975 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Satz: Klaus Grüßner, Krefeld Alle Rechte vorbehalten. Auch die fotomechanische Vervielfältigung des Werkes (Fotokopie, Mikrokopie) oder von Teilen daraus bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. ISBN 978-3-531-11275-6 ISBN 978-3-322-93821-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93821-3 Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist in zweifacher Hinsicht ein "exploratives" Unternehmen: substantiell, indem sie versucht, nicht lediglich einen Teilaspekt, sondern den Gesamtprozeß der politischen Führungsauswahl in der Bundesrepublik Deutschland unter Einbeziehung der wesentlichen Bedingungen der politischen Organisationswirklichkeit, der beruflichen Strukturen und politischen Motivationen zum Gegenstand einer systematischen Analyse zu machen; und methodisch, als eine spezielle Verfahrensweise der Informationsgewinnung und -auswertung zu entwickeln war. In beiden Gebieten befinden sich die in der politisch-soziologischen Elitenforschung bisher geleisteten Vorarbeiten noch im Anfangsstadium. Während in anderen Forschungsbereichen, wie zum Beispiel in der Parteien- oder in der Wahlforschung, bereits ein Kanon analytisch verwertbarer Grundbegriffe, Hypothesen und Theorien vorliegt, sind die Verläufe und Bedingungen personeller Auswahlprozesse ein noch weithin unerforschtes Gebiet. Eine hier ansetzende Untersuchung steht deshalb vor der Aufgabe, genauere Einsichten in den Prozeß der politischen Führungsauswahl zu gewinnen und daraus erste Ansätze zu einer allgemeineren, theoretischen Perspektive zu entwickeln. Daß die Voraussetzungen für eine nüchterne wissenschaftliche Beschäftigung mit "Führung" und "Führungsauswahl" in der deutschen "politischen Kultur" nicht gerade günstig sind, liegt auf der Hand. Schon die Begriffe sind historisch-ideologisch belastet. Zudem leisten die modernen Massenmedien einem personalisierten PolitikVerständnis Vorschub, nämlich der Vorstellung, daß politische Entscheidungen nur mehr vom "guten Willen", von der "Fortune" oder von einer sogenannten "Führungsstärke" bzw. ,,-schwäche" einzelner prominenter Politiker abhängig seien, - während doch tatsächlich die sich ständig vervielfachenden staatlichen Regulierungsaufgaben ohne ein entsprechend differenziertes System funktional spezialisierter Führungsgruppen gar nicht mehr bewältigt werden könnten. Aber auch das andere Extrem ist in den Sozialwissenschaften weit verbreitet: die Reduktion von Politik auf abstrakte "Bedingungen", "Herrschaftsstrukturen" , "ökonomische Gesetze", "Sachzwänge", unter denen politische Führung nur noch ein mechanischer Vollzug gesellschaftlicher Funktionsanforderungen zu sein scheint. Beide Aspekte, der personalistische ebenso wie der soziologistisch-ökonomistische, hemmen die Weiterentwicklung der politisch-soziologischen Elitenforschung in der Bundesrepublik und vermindern zugleich die Chance, den Anschluß an die internationalen Forschungsstandards zu gewinnen. Ein Ziel der vorliegenden Untersuchung ist daher, politische Führungsauswahl nicht nur als Summe individueller Aufstiegserfolge oder als bloßes Substrat gesellschaftlicher Bedingungen, sondern als einen Prozeß des Handeins von Personen im Kontext sozialstruktureller und organisatorischer Möglichkeiten zu verstehen und zu analysieren. 6 Vorwort Die empirischen Daten, auf denen die vorliegende Studie beruht, wurden speziell für das Forschungsprojekt erhoben. Sie stammen aus der systematischen Auswertung biographischer und organisationsgeschichtlicher Dokumente sowie aus einer Intensiv-Befragung. Die Feldforschung wurde 1968 durchgeführt. Wenn auch die Verantwortung für das gesamte Forschungsprojekt allein der Verfasser trägt, so ist er doch denjenigen Kollegen besonders verpflichtet, von denen er während der Arbeit an der Studie mannigfaltige Hilfe erfahren hat und die mit Kooperationsbereitschaft, Kritik und Anregung das Projekt wesentlich unterstützt haben; das sind in erster Linie die Kollegen aus dem Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, insbesondere der "Parteienforschungskreis" , und die Mitglieder des Committee on Political Sociology der International Sociological Association. Dank gebührt vor allem aber dem langjährigen wissenschaftlichen Leiter des Instituts, atto Stammer. Seine für die neuere politisch-soziologische Forschung im Nachkriegsdeutschland bahnbrechenden Arbeiten, insbesondere auch über die Elitenproblematik, haben die vorliegende Studie stärker beeinflußt als es durch ausdrückliche Verweise zum Ausdruck kommen kann. Zu danken ist auch den Projektmitarbeitern Sigrid Herzog, Rolf-Peter Lange, Alf Mintzel, Harald Preugschat und Annemarie Tröger, die an der methodischen Vorbereitung, an der mit vielen Mühen verbundenen Feldforschung oder an der Materialauswertung beteiligt waren. Rita Koscielski hat sich mit großer Sorgfalt und Umsicht der Schreibarbeiten angenommen. Für die redaktionelle Überarbeitung bin ich Frauke Burian zu besonderem Dank verpflichtet. Das Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung hat die notwendige organisatorische Unterstützung gegeben. Zusätzliche Forschungsmittel gewährte das Landesamt für Forschung beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen. Das Seminar für politische Wissenschaft der Universität Bonn stellte während der Interviewphase in großzügiger Weise Arbeitsmöglichkeiten und Sekretariatshilfen zur Verfügung, ohne die die schwierigen Interview-Vereinbarungen im hektischen Betrieb der Bundespolitik kaum möglich gewesen wäre. Gedankt sei schließlich allen denjenigen Politikern, die sich trotz ihrer knapp bemessenen Zeit für zum Teil ausgedehnte und freimütige Interviews bereit fanden. Berlin, im April 1975 D.H. Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 I. Probleme politischer Führungsauswahl in komplexen demokratischen Systemen ll. Zur Kritik traditioneller Ansätze in der empirischen Rekrutierungs[orschung . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4. Kandidatennominierung als Entscheidungsprozeß Die biographische Methode . . . . . . . . Der "stratifikationstheoretische" Ansatz . Der "persönlichkeitstheoretische" Ansatz lll. Eine Theorie politischer Karrieren 1. Die Dynamik personaler Entwicklungsverläufe 2. Zum Begriff der Karriere . . . . . 3. Umrisse eines analytischen Modells IV. Die Methode der Untersuchung . . . 1. 2. 3. 4. Datenerhebung für Längsschnitt-Analysen Die Erhebungsgruppe . . . . . . . . . . . Untersuchungsbogen und Interview-Leitfaden Befragung und Auswertung . . . . . . . V. Strukturmuster politischer Karriereverläu[e 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Organisationssoziologische Bedingungen Der Parteiwechsel . . . . . . . . . . . Innerparteiliche Karrieren . . . . . . . Der Weg über die Jugendorganisationen Konstanz und Richtung politischer Karrieren Parteilaufbahn und parlamentarische Karriere Karrierebedingungen der Kommunalpolitik 9 17 17 18 19 30 36 36 39 46 53 53 55 57 60 62 62 65 67 75 79 83 85 VI Zusammenhänge zwischen Beru[slaujbahn und politischer Karriere . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Der Beruf als verlaufssoziologische Kategorie 94 Inhalt 8 2. Berufsphasen und Rekrutierungsfelder 3. Biographische Profile a) Der Beamte b) Der Rechtsanwalt c) Der Verbandsfunktionär d) Der Unternehmer / Manager e) Der Landwirt f) Der Journalist g) Der Arbeiter . 4. Rekrutierung und Selbstverständnis hauptamtlicher Parteifunktionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Wechsel zwischen privat-beruflichen und politischen Spitzenpositionen (cross-over) . . . . . . . . . . . . . VJI. Drei Entwicklungsphasen I. 2. 3. 4. Analytische Probleme Politische Sozialisation Politische Rekrutierung (Parteibeitritt) Politische Professionalisierung VJII. Karriere-Erwartungen und Rollen verständnis des Berufspolitikers . . . . . . . . . . . . . . . . I. Karriere-Interpretationen . . . . . . . . . . 2. Verhaltensstil, Persönlichkeitsmerkmale und Qualifikationsanforderungen 3. Politische Vorbilder 4. Machtverständnis . . . . . . IX. Schlußfolgerungen und Perspektiven Bibliographie 97 108 108 114 119 123 127 128 133 138 150 161 161 164 175 181 191 191 196 205 209 218 228 Anhang I Erhebungsgruppe . . . . . . . . . . . . 11 Interview-Leitfaden (Fragebogen) III Glossar der "Persönlichkeitsmerkmale" 234 239 244 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 I. Probleme politischer Führungsauswahl in komplexen demokratischen Systemen Es ist sicher kein Zufall, daß die neuere politisch-soziologische Elitenforschung begonnen hat, sich zunehmend mit Fragen der politischen Führungsauswahl zu beschäftigen.) Nachdem die traditionellen Fragestellungen der aristokratischen Elitentheorie obsolet und der Ausgangspunkt der radikaldemokratischen Oligarchiekritik unrealistisch geworden sind, tritt nun die Notwendigkeit um so schärfer hervor, die Probleme politischer Führungsauswahlprozesse unter den Bedingungen der gegenwärtigen, organisatorisch komplexen, hochgradig bürokratisierten und interessenmäßig differenzierten Demokratien neu zu konzipieren. Einerseits hat der Zusammenbruch etablierter gesellschaftlicher Wertordnungen im Zuge der Wandlung zur ideologisch pluralistischen Massendemokratie der Frage nach einer aristokratischen "Auslese der Besten" schon seit langem den Boden entzogen. Andererseits aber kann auch das rousseauistische Modell einer Identität von "Herrschern" und "Beherrschten" mit seinen Prämissen der unmittelbaren Volkswahl und jederzeitigen Abberufbarkeit politischen Führungspersonals in einer durch fest strukturierte Großorganisationen charakterisierten modernen Gesellschaft nicht mehr als realistische Perspektive zur kritischen Erfassung tatsächlicher Selektionsprobleme dienen. Statt dessen hat die Ausweitung der Regulierungsfunktionen - und damit des Machtpotentials - strategischer politischer Eliten, die Spezialisierung und Verfachlichpng politischer Entscheidungsvorgänge bei gleichzeitiger Verringerung unmittelbarer Kontroll- und Einflußmöglichkeiten durch Wähler und Betroffene, der Frage nach den Mechanismen, die in einem solchen politischen System den Prozeß der Führungsauswahl steuern, eine neue demokratietheoretische Relevanz gegeben. 2 Zwei Aspekte vor allem sind dabei von Bedeutung: erstens die Diskrepanz zwischen dem Funktionswandel parlamentarischer Repräsentativorgane - in einen gewissen Sinne damit vergleichbar ist auch derjenige gewählter Führungsgruppen in Großorganisationen, wie beispielsweise in den politischen Parteien - und der Verharrschung konventioneller Muster der Personalrekrutierung; zweitens die "Offenheit" des Selektionssystems, oder genauer: die trotz formaler Chancengleichheit im politischen Auswahlprozeß tatsächlich wirksamen Restriktionen, die unter verschiedenen Sozialgruppen ungleiche Kandidaturchancen bedingen. Beide Gesichtspunkte 1 Siehe Bibliographie. 2 Über Rolle und Funktion von Eliten in demokratischen Gesellschaftsordnungen der Gegenwart siehe insbesondere Otto Stammer, "Das Elitenproblem in der Demokratie", in: Schm.Jb., 71 (1951), S. 1-28; ders., "Zum Elitenbegriff in der Demokratieforschung", in: Politische Soziologie und Demokratieforschung, Berlin 1965; ders. und Peter Weingart, Politische Soziologie, München 1972, insbes. Kap. 4, "Elitenbildung und Bürokratisierung". 10 Probleme politischer Führungsauswahl werden im folgenden mit Bezug auf die Bundesrepublik kurz behandelt. Aus ihnen ergeben sich sowohl die substantiellen als auch die methodischen Problemstellungen der vorliegenden Untersuchung. Hinsichtlich der sozialstrukturellen Analyse des Deutschen Bundestags hat Gerhard Loewenberg einen der interessantesten Versuche unternommen, Funktionsbedingungen und Rekrutierungsmuster in ihrem Wirkungszusammenhang zu erfassen. 3Auf der Grundlage verschiedener vorangegangener Untersuchungen deutscher Parlamente ist auch seine Fragestellung auf die historischen Wandlungen bzw. Beharrungstendenzen in der personellen Repräsentation sozialer Schichten gerichtet, jedoch aus einer neuen Forschungsperspektive heraus. Während in früheren Arbeiten die disproportionale Repräsentation sozialer Schichten entweder als Ausdruck unterschiedlichen politischen Engagements gedeutet oder - mehr deskriptiv - als Erklärungsgrundlage für standes-, berufs- oder klassenmäßige Bedingungen parlamentarischer Entscheidungen beschrieben wurde 4 , geht Loewenberg von dem Funktionswandel des Parlaments im politisch-administrativen System aus. Danach ist seit dem Reichstag im Verfassungssystem der konstitutionellen Monarchie eine Funktionsveränderung des Parlaments von einem Organ der sozialen Interessenrepräsentation zu einem Organ der politischen Führung und der politischen Kontrolle der Verwaltung eingetreten. Mit der Vervielfachung staatlicher Einflußbereiche in Verbindung mit der allen gegenwärtigen Demokratien offenbar innewohnenden Tendenz zur Zentralisierung mußte zwangsläufig auch eine Differenzierung von Führungsfunktionen erfolgen. Ohne eine Aufgabenverteilung, und das heißt: ohne eine Spezialisierung von Abgeordneten in jeweils einzelnen Entscheidungsbereichen wären moderne Parlamente überhaupt nicht mehr arbeitsfähig. Die Kontrolle hochgradig arbeitsteiliger Verwaltungen, voran der Ministerialbürokratie mit ihrem Primat der Entscheidungsvorbereitung, macht zudem eine entsprechende "Verfachlichung" parlamentarischer Arbeit zwingend. Die Einrichtung parlamentarischer Hilfsdienste und Expertenstäbe zur Entlastung der Politiker von Detailfragen verschiebt jenen Zusammenhang lediglich auf eine andere Ebene, ohne damit den Zwang zur fachlichen Spezialisierung parlamentarischer Mandatsträger aufzuheben. Die allgemeine, an programmatisch-ideologischen Leitlinien orientierte politische "Richtungskontrolle" kann ohne zusätzliches Fachwissen nicht mehr genügen. Die zunehmende Langfristigkeit politischer Entscheidungen, die sowohl die Zeit der Entscheidungsvorbereitungen als auch die Entscheidungsziele und die Entscheidungsfolgen mit einschließt, ist ein zusätzliches Moment, das den fachlich spezialisierten, nach Möglichkeit längerfristig amtierenden - und damit erst zur wirksamen politischen Kontrolle langfristiger Planungen befähigten - Parlamentarier erfordert. Damit ist der "Gentleman-Politiker" des 19. Jahrhunderts als Typ des Parlamentariers zur marginalen Figur geworden. Die neuen Funktionen des Parlaments bedingen den "Fachmann" und "Berufspolitiker" , dessen wichtigstes, wenn auch 3 Gerhard Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1969. 4 Vgl. L. Rosenbaum, Beruf und Herkunft der Abgeordneten 1847 - 1919, Frankfurt/M. 1923; Walther Kamm, Abgeordnetenberufe und Parlament, Karlsruhe 1927; K. Demeter, "Die soziale Schichtung des deutschen Parlaments seit 1948", in: Vjschr. f. Sozial- u. Wirtschaftsgesch., 39 (1951), S. 1-29. Probleme politischer Führungsauswahl 11 nicht einziges Arbeitsfeld der Parlamentsausschuß darstellt. Darauf hatte bereits Max Weber hingewiesen. 5 Wie Loewenberg hervorhebt, ist den Funktionswandlungen des Parlaments tatsächlich noch keine entsprechende Veränderung personeller Rekrutierungsmuster gefolgt. Noch immer stellen die "Repräsentanten von Interessengruppen" einen Großteil der Abgeordneten (zwischen 1957 und 1961 rund 30 Prozent). Ihre parlamentarischpolitische Erfahrung ist gering, ihre Teilnahme an Debatten interessenspezifisch beschränkt. Die etwa gleich große Gruppe der sogenannten nebenberuflichen Abgeordneten rekrutiert sich vornehmlich aus akademischen, insbesondere juristischen Berufen. Auch sie agieren überwiegend auf der Interessengrundlage ihrer Berufsgruppe und stellen häufig das Bindeglied zwischen den parlamentarisch-gouvernementalen Führungsgruppen und der Parteibasis dar. Wichtiger für die parlamentarische Arbeit sind die Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Entscheidend jedoch ist die relativ kleine Gruppe der Berufspolitiker, die die eigentlichen Führungspositionen besetzen. Ihrer relativen Freiheit von speziellen Interessenten-Einflüssen steht ihr Hang zur Bürokratisierung und Hierarchisierung des parlamentarischen Betriebs gegenüber. Ihre dominierende Rolle beruht nicht so sehr auf den besonderen Einflußmöglichkeiten, die durch institutionalisierte parlamentarische Führungspositionen gegeben sind; vielmehr stammt die Dominanz der Berufspolitiker aus ihrer langjährigen praktischen Erfahrung im politischen Bereich, - also aus ihrer spezifischen politischen Karriere. Folgt man dieser These Loewenbergs, so stellt sich die Frage, wie sich die Rekrutierung dieser wichtigen Gruppe von Berufspolitikern vollzieht. Dabei ist davon auszugehen, daß in einem durch freie Konkurrenz um politische Mandate gekennzeichneten - also nicht durch Ernennung oder formalisierte Laufbahnen bestimmten - personellen Auswahlprozeß der Berufspolitiker nicht schon als solcher seine politische Karriere beginnt. Vielmehr ist die Rolle des Berufspolitikers gleichsam das Ergebnis eines Rekrutierungsvorganges, dessen Strukturen, Bedingungen und Konsequenzen (für das Rollenverhalten) zum Gegenstand der empirischen Analyse zu machen sind. Das zweite, eingangs erwähnte Problem politischer Führungsauswahl in einer gegenwärtigen demokratischen Ordnung ergibt sich aus der allgemeinen Frage nach der "Offenheit" des Selektionsprozesses. Dies ist gleichsam der komplementäre Aspekt; Führungsauswahl in dieser Perspektive nicht konzipiert von "oben" her, also von der Besetzung von Führungspositionen, sondern gewissermaßen von "unten", also von den Möglichkeiten, die Angehörige der verschiedenen Sozialgruppen haben, um selbst zu kandidieren. Wie steht es also um die Partizipationschancen verschiedener sozialer Schichten, nicht nur als Wähler, sondern eben auch als Kandidaten und eventuelle politische Repräsentanten am Auswahlprozeß teilzunehmen? Verfassungsintention und Gesetzeslage sind eindeutig. Abgesehen von gewissen Mindestvoraussetzungen (Alter, Staatsangehörigkeit usw.), die jeder Kandidat- für öffentliche Wahlämter erfüllen muß, ist der Zugang prinzipiell für jedermann offen. Eindeutig ist auch das demokratische Credo: "Führungsauslese aus allen Gruppen der 5 Max Weber, "Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland" und "Politik als Beruf', in: Gesammelte Politische Schriften, München 1921. 12 Probleme politischer Führungsauswahl Gesellschaft". 6 Doch formale Offenheit ist bekanntlich in allen demokratischen Systemen eine Fiktion, bestenfalls ein Postulat. In Wirklichkeit ist der Prozeß der politischen Führungsauswahl restriktiv. Die soziale Disproportionalität zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, ein Widerspruch, der bereits Robert Michels (mit Blick auf die sozialdemokratischen Parteien) irritierte und zu seinen Untersuchungen über das Oligarchie-Phänomen stimulierte, ist der durchgehende Tatbestand aller demokratischen Repräsentativorgane. Das belegen eindrucksvolle Statistiken 7 , die hier nicht wiederholt zu werden brauchen, auch für die deutschen Parlamente. Die (steigende) Überrepräsentation der aus dem öffentlichen Dienst kommenden Parlamentarier, die extreme Unterrepräsentation der Arbeiter, der unter 10 Prozent bleibende Anteil weiblicher Abgeordneter, der Trend zur steigenden "Akademisierung" der Parlamente und andere Tatsachen mehr gehören zur Standardkritik der politischen Publizistik und sind ständiger Beobachtungsgegenstand der sozialwissenschaftlichen Statistik. Wo also liegen aus der Sicht demokratietheoretischer Elitenforschung die Ursachen dieser "selektiven Disproportionalität"? Freilich ergibt die Frage allein noch kein theoretisch-analytisches Problem. Auch die Gegenüberstellung von (demokratischem) Anspruch und (restriktiver) Realität ist für wissenschaftliche Erkenntnisse zu simpel. "Offenheit" der Führungsrekrutierung muß als politisch-soziologisches Problem spezifiziert werden, und das ohne die Kurzschlüsse der "aristokratischen" oder der rousseauistischen Elitenphilosophie. 8 Ein historisch idealisiertes Bild politischer Repräsentation als Ausgangspunkt hilft vermutlich nicht sehr viel weiter. Arbeitsfähige Parlamente sind wohl niemals ein Aggregat von wie immer hoch-qualifizierten Individuen gewesen, die der Metaphorik einer Repräsentation "des Volkes" oder "des allgemeinen Wohls" entsprochen hätten. Selbst vor dem Entstehen der modernen Parteiorganisationen waren Parlamente Ausdruck politischer Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft. Die von Gerhard Leibholz 9 vor dem Hintergrund eines idealisierten Modells eines Honoratioren-Parlaments kritisierte Wandlung zur (plebiszitären) "parteienstaatlichen Demokratie", in der der Abgeordnete nicht mehr "freie repräsentative Persönlichkeit", sondern "Exponent der politi.schen Partei" ist, läßt sich besser als Klärungsprozeß der tatsächlichen politischen Rolle des Parlaments und seiner Fraktionen verstehen. 6 Otto Stammer hat dies als eine der wichtigsten Forderungen an die demokratische Elitenbildung besonders hervorgehoben; siehe auch F. Pfetsch, "Robert Michels als Elitentheoretiker", in: PVS, 7 (1966), S. 223. Dazu auch Otto Stammer, "Das Elitenproblem in der Demokratie", in: SchmJb., 71 (1951), S. 1-28. 7 U.a. Viola v. Bethusy-Huc, Die soziologische Struktur deutscher Parlamente. Ein Beitrag zur Theorie der politischen Elitenbildung, Diss. Bonn 1958; dies., Das politische Kräftespiel in der Bundesrepublik, Wiesbaden 1965; Klaus v. Beyme, Die politische Elite in der Bundesrepublik Deutschland, München 1971; Strukturelle Gliederung des Deutschen Bundestages 1.- VI. Wahlperiode, Dt. Bundestag, Materialien Nr. 25, Bonn 1971. 8 Die "aristokratische" Elitenphilosophie (Le Bon, Ortega y Gasset, Mannheim, Schumpeter) kritisiert den Verlust an Handlungsspielraum und Geschlossenheit strategischer Eliten im Zuge der Herausbildung der demokratischen "Massengesellschaft". Umgekehrt argumentiert die "rousseauistische" Richtung (Michels, Mills, Bottomore, Bachrach); für sie ist die Herrschaftsstruktur in modernen Demokratien durch Oligarchisierung und Machtkonzentration und von daher einer ständigen Verringerung direktdemokratischer Einflußmöglichkeiten gekennzeichnet. Siehe dazu auch William Kornhauser, The Politics of Mass Society, Glencoe 1959. 9 Gerhard Leibholz, Die Repräsentation in der Demokratie, Berlin 1973. Probleme politischer Führungsauswahl 13 Dadurch, daß die Fraktionen nicht mehr als scheinbar variable Cliquen angeblich nur selbstverantwortlicher Repräsentanten verkannt werden können, Fraktionen also in der parteienstaatlichen Demokratie nun auch offensichtlich Ausschüsse (wenn auch "leitende" Ausschüsse) ihrer Parteien sind, wird der politische, d.h. partei-programmatische und politisch-ideologische Kern parlamentarischer Entscheidungen auch institutionell klargestellt. Mit der parteilichen Bindung des Parlamentariers, und das heißt auch: mit der öffentlichen Verantwortlichkeit der Parteien für das Verhalten ihrer Parlamentarier, ist der parlamentarische Entscheidungsprozeß nicht mehr Reservat individueller, nur dem eigenen Gewissen oder dem "allgemeinen Wohl" verantwortlicher - also in praxi überhaupt nicht öffentlich kritisierbarer Entscheidungsträger. Dementsprechend ist auch der personelle Auswahlprozeß nicht mehr als individuelle "Auslese", als ein geheimnisvolles "Sich-Durchsetzen" der Besten, als eine Herauslösung besonders Qualifizierter aus der Masse der Gesellschaft zu begreifen. Es sind vielmehr die politischen Parteien, die den personellen Rekru tierungsprozeß "kanalisieren". Sie stellen in der modernen parlamentarischen Demokratie die - wie es in der anglo-amerikanischen sozial wissenschaftlichen Terminologie heißt - politischen "Rekrutierungskanäle" dar. Ihre interne Organisation in Verbindung mit ihrer externen Verkoppelung mit Verbänden und Institutionen bestimmt den Grad an "Offenheit" des politischen Führungsauswahlprozesses entscheidend. Deshalb ist es notwendig, politische Führungsauswahl zuerst und (vom Erkenntnisziel her) primär im Kontext der Parteiorganisationen zu analysieren. "Organisation" ist hier freilich differenzierter zu verstehen als etwa bei Robert Michels. Auch Michels gründete seine Parteianalysen auf dem für ihn zentralen Konzept der Organisation. 10 Die Tatsache der Organisation stellte für ihn das wichtigste Merkmal der gewandelten Struktur sozialistischer Parteien dar, die ehemals als soziale Bewegungen entstanden waren. In ihrer Organisierung entdeckte Michels zugleich ihre interne Funktionsdifferenzierung, die Herausbildung hierarchischer Kompetenz- und Machtverteilungen und schließlich die Ursache der Oligarchie. Seine Grundorientierung an der Mosca'schen Elitentheorie jedoch verbaute ihm den Zugang zum tatsächlichen Verständnis des neuen Phänomens der Organisation moderner Massenparteien. Wie James H. Meisel zu Recht hervorgehoben hatli, verschwand Michels' organisationssoziologischer Ansatz schließlich hinter der seinerzeit im Vordergrund stehenden Elitenproblematik, der Herrschaft kleiner, in sich "organisierter" Minderheiten über die "unorganisierte Masse". Die Konsequenz war, daß Elitenselektion dann lediglich auf Kooptation, auf die taktisch-manipulative oder durch zufälligen Druck von "unten" erzwungene Aufnahme einzelner in den oligarchischen Führungszirkel hinauslief. Der Prozeß der politischen Führungsauswahl gerinnt damit zu einer Frage nach der Macht von Eliten: Sind sie stark genug, neue Anwärter abzuweisen? Sind sie flexibel genug, personell unumgängliche Zugeständnisse zu machen? Sind sie fähig, Neuankömmlinge in ihrem Kreis zu assimilieren? 10 Rabert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 2. Aufl., Stuttgart 1957. 11 James H. Meisel, The Myth of the Ruling C1ass. Gaetano Mosca and the "elite", Ann Arbar 1962. 14 Probleme politischer Führungsauswahl Zweifellos gehören diese Fragestellungen zur gegenwärtigen Problematik politischer Führungsauswahl, jedoch nicht als einzige und nicht einmal als wesentlichste. Was bei Michels - als Komplementärbegriff zur Führungsoligarchie - als "Masse" (der Parteimitgliederschaft), wenn auch als soziologisch heterogenes "Klassengemengei" , erscheint, ist in Wirklichkeit (vom "einfachen" Parteimitglied abgesehen) ein außerordentlich differenziertes Gefüge von Positionen. Sowohl in der vertikalen Organisationsgliederung der Parteien, als auch in der horizontalen und funktionalen Dimension 1 2 existiert unterhalb der Zentrale eine Vielzahl von "Funktionären" mit jeweils eigener Legitimationsgrundlage, "Hausmacht" oder Qualifikation. Hinzu kommen Ämterverbindungen mit legislativen oder exekutiven Positionen auf den verschiedenen staatlichen Ebenen, was das Machtgefüge innerhalb einer Parteiorganisation zusätzlich differenziert. Spricht man von den Parteien als "Rekrutierungskanälen", so darf dieser Begriff also nicht zu einem simplifizierten Bild ihrer tatsächlich äußerst komplexen Organisationsstruktur verleiten. Wie dann aber strukturiert diese Organisation den personellen Auswahlprozeß? Gibt es in ihr bestimmte Aufstiegswege über bestimmte Positionen (also Karrieren als organisatorisch bedingte Aufstiegsmuster)? Wo liegen innerhalb der Parteiorganisationen die restriktiven Faktoren, die die Offenheit des politischen Selektionsprozesses insgesamt einschränken? Zu dieser organisationssoziologischen gesellt sich die sozialstrukturelle Problemstellung. Auch hier ist die soziale, insbesondere die berufliche Gliederung repräsentativer Organe als Frageansatz notwendig, reicht aber nicht aus. Von Repräsentanten und Repräsentierten zu sprechen, setzt bereits problemspezifische Kriterien für die Erfassung gesellschaftlicher Stratifikation voraus. Mit der zunehmenden Differenzierung der modernen Industriegesellschaft in zahlreiche Sozialgruppen mit zum Teil überlappenden Interessen und Bedürfnissen wäre nicht einmal auf dem Papier ein gleichsam ideal proportional zusammengesetztes Parlament zu entwerfen. Jede Kategorisierung von Sozialgruppen und -schichten setzt Maßstäbe voraus, die ihrerseits von jeweiligen theoretisch-analytischen und/oder politisch-gesellschaftlichen Wertprämissen bedingt sind. 13 Geht man also vom Konzept disproportionaler Repräsentation aus, so sind konkrete Ungleichgewichtigkeiten zwischen Wählern und Gewählten als Problem für die Untersuchung der sie verursachenden restriktiven Bedingungen zu berücksichtigen. Einer dieser konkreten Ansatzpunkte ist die starke Unterrepräsentation von Arbeitern. Selbst nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts und trotz des Anwachsens der parlamentarischen Vertretung von linken und Arbeiterparteien ist der geringe Arbeiteranteil in den deutschen/westdeutschen 12 Unter "horizontal" gegliederten Organisationseinheiten versteht man solche, die eine durchgehende Organisationsstruktur (meist mit eigener Mitgliedschaft, eigenem Beitragswesen und einer weitgehenden Satzungsautonomie) haben, wie Partei-Jugendorganisationen, Frauen-Organisationen u.a. "Funktionale" Einheiten sind z.B. Beiräte, ständige Ausschüsse oder Partei-Institutionen (Verlage, Wissenschaftliche Institute usw.). 13 In sozialstatistischen Analysen politischer Führungsgruppen (social background analysis) gehören z.B. Beruf, Alter, Konfession, Geschlecht, Gruppenzugehörigkeit zu den traditionell benutzten Variablen. Dabei wird selten begründet, weshalb gerade diese analytischen Dimensionen verwendet werden. Auch setzt deren jeweilige Aufgliederung, z.B. die Klassifikation von Berufen oder Altersgruppen, eine Theorie über die Relevanz der Klassifikation ftir das Forschungsproblem voraus. Probleme politischer Führungsauswahl 15 Parlamenten auffallend konstant geblieben: Je nachdem, ob vom erlernten oder zur Zeit der Wahl ausgeübten Beruf ausgegangen wird, geben die Statistiken für die verschiedenen Legislaturperioden einen Anteil von null bis etwa vier Prozent an, bei einem Anteil an den Berufstätigen insgesamt von knapp der Hälfte.! 4 Nun hängt die Vertretung sozialer Interessen im Parlament nicht unbedingt von der Stärke der personellen Repräsentation ab. Der Einfluß von Interessengruppen auf parlamentarische Entscheidungen ist bekanntlich nicht unbedingt eine mathematische Funktion der Zahl ihrer Vertreter im Parlament.! 5 Auf der anderen Seite kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sozioökonomische Interessen und kulturelle Werte sozialer Gruppen und Klassen über deren personelle Repräsentanz in politischen Führungsorganen auch in die Entscheidungen eingehen, die durch diese Organe getroffen werden. Insofern hängt die demokratische Legitimität namentlich von Parlamenten (aber auch von anderen Führungsgremien) mit davon ab, ob in solchen Organen nicht einseitig nur bestimmte - zumal gesellschaftlich ohnehin bereits privilegierte - Sozialgruppen vertreten, andere vielleicht überhaupt nicht repräsentiert sind. Jedoch würde man die Funktion moderner Repräsentativorgane grundlegend verkennen, wollte man die soziale Zusammensetzung ihrer Mitglieder zum einzigen oder auch nur wichtigsten Kriterium ihrer demokratischen Legitimität machen. Die negativen Erfahrungen mit sogenannten Wirtschaftsparlamenten zeigen dies eindringlich. Wenn man deshalb die Frage nach der "Offenheit" des Führungsauswahlprozesses demokratietheoretisch stellt, so ist dieser Prozeß unter dem Gesichtspunkt der politischen Partizipation zu thematisieren. Woran liegt es, so wäre zu fragen, daß Angehörige verschiedener Sozialgruppen offensichtlich unterschiedliche Chancen der Kandidatur für politische Führungspositionen haben? Dabei ist vorausgesetzt, daß der Erfolg eines Mandatsbewerbers von seinen politischen Fähigkeiten, eine Vertrauensbasis in seiner jeweiligen Wählerschaft zu gewinnen, sowie von der jeweiligen parteipolitischen oder parlamentarischen Konstellation abhängt. Führungsauswahl vollzieht sich insofern in einem öffentlichen Wettbewerb um Wählermehrheiten, und es wäre absurd zu erwarten, daß in einem demokratischen Auswahlprozeß jeder Kandidat gleichsam dasselbe Anrecht haben müsse, in Spitzenpositionen delegiert zu werden. Worum es bei dem Problem der "Offenheit" des Führungsauswahlprozesses in einer demokratischen Ordnung geht, ist vielmehr die Frage, ob und inwiefern nicht-politische Gründe die Teilnahme an der Konkurrenz um Mandate von vornherein ausschließen oder jedenfalls erheblich erschweren, beispielsweise Bildungsvoraussetzungen, beruflicher Status, Einkommen, soziale Sicherheit usw. Darüber hinaus ist "Offenheit" der politischen Führungsauswahl ein allgemeines Problem in modernen Gesellschaften, das nicht allein die Kandidaturchancen dieser oder jener Sozialgruppe betrifft. Grob formuliert, läßt es sich als ein Auseinanderklaffen von Politik und Beruf kennzeichnen. Auf der einen Seite sind die Anforderungen an den politischen Funktionär seit den Zeiten des Honora1iorenParlaments und der noch lockeren Parteigruppierungen beträchtlich gestiegen. Während die bloße Teilnahme an Parteiveranstaltungen oder auch die Aktivität in Repräsentativorganen in kleinen Gemeinden für den Einzelnen keine besonders 14 Vgl. Strukturelle Gliederung d. Dt. Bundestages. 15 Siehe hienu u.a. Dtto Stammer et al., Verbände und Gesetzgebung, Köln und Dpladen 1965. 16 Probleme politischer Führungsauswahl hohen zeitlichen Belastungen (oder finanzielle Kosten) verursachen, weil es sich dabei gleichsam um "Politik nach Feierabend" handelt, erfordert die Kandidatur für - und die Ausfüllung von - Führungspositionen ein beträchtliches Maß an kontinuierlicher, zeitlich über den ganzen Arbeitstag verstreuter politischer Aktivitäten. Vorbereitende Besprechungen, Kontakte mit der Presse, Verhandlungen mit Verbänden, Recherchen bei Verwaltungsstellen, offizielle Reisen und zahlreiche andere Verpflichtungen politischer Mandatsinhaber sind nur bei einem hohen Maß beruflicher Abkömmlichkeit möglich. Auf der anderen Seite setzt die Routinisierung zahlreicher Berufstätigkeiten vor allem dort, wo in wirtschaftlichen Großorganisationen ein weitgehend fremdbestimmter Arbeitsrhythmus eingehalten werden muß, der politischen Abkömmlichkeit enge Grenzen. Das trifft zunehmend auch auf selbständige Gewerbetreibende zu, die angesichts ihrer schwachen Konkurrenzsituation gegenüber den sich ausbreitenden Großfirmen kaum Gelegenheit zu intensiverer politischer Mitarbeit haben. Demgegenüber sind in den freien Berufen mit beschränkter Konkurrenz (z.B. bei Rechtsanwälten) oder geregelter Abkömmlichkeit (z.B. Verbandsgeschäftsführern oder öffentlich Bediensteten) zumindest von einer höheren Leitungsposition an die politischen Partizipations- und damit Karrierechancen vermutlich groß. Insgesamt kann man hypothetisch davon ausgehen, daß die Bedingungen der modernen Berufswelt und die Anforderungen an den politischen Aktivbürger, insbesondere an den politischen Mandatsträger, eine Schere bilden, durch die die "Offenheit" des Zugangs zu politischen Mandaten beträchtlich vermindert wird. Damit stellt sich für die Forschung das Problem, welcher Art diese Hindernisse sind und wie sie jene "disproportionale Selektivität" im Prozeß der politischen Führungsauswahl bedingen. Soweit die zentralen inhaltlichen Problemstellungen der vorliegenden Untersuchung. Um sie in einem kohärenten Zusammenhang empirisch bearbeiten zu können, ist ein theoretischer Bezugsrahmen zu entwickeln, der den Gesamtprozeß politischer Führungsauswahl analytisch erfaßbar macht. 11. Zur Kritik traditioneller Ansätze in der empirischen Rekrutierungsforschung Für die Analyse politischer Personalauswahlprozesse bieten sich unterschiedliche Vorgehensweisen an. Jede dieser Methodologien geht von speziellen F~agestellungen aus und bedarf spezieller empirischer Forschungstechniken. Wichtig ist, welche Ausschnitte der Wirklichkeit jeweils erfaßt und welche theoretischen Einsichten in die Bedingungen politischer Führungsrekrutierung dabei gewonnen werden können. Da jeder methodische Ansatz den Erkenntnisgegenstand strukturiert und damit zwangsläufig auch begrenzt, ist eine kritische Durchsicht bisheriger Vorgehensweisen notwendig, bevor der für die Problemstellung der vorliegenden Untersuchung entwickelte Forschungsansatz begründet werden kann. 1. Kandidatennominierung als E1ltscheidungsprozeß Namentlich von politikwissenschaftlicher Seite wird ein starkes Gewicht auf die Analyse von Entscheidungsprozessen gelegt, die hinsichtlich bestimmter Sachentscheidungen oder Personalentscheidungen forschungsrelevant sein können. Häufig sind beide Aspekte miteinander verbunden, wie beispielsweise bei der Analyse kommunaler Machtstrukturen. Speziell für die Auswahl von Parlamentskandidaten hat sich die Entscheidungsprozeßanalyse als ein Verfahren bewährt, das detaillierte Einsichten in intra- und interorganisatorische Vorgänge erlaubt. 1 Die Kandidaturchancen werden vornehmlich als Resultat formaler und informaler Machtbeziehungen innerhalb der politischen Parteien untersucht. Aber auch die Rolle von Interessengruppen und ihr Einfluß auf den Nominierungsprozeß sind gerade für demokratietheoretische Fragestellungen von wesentlicher Bedeutung. Andererseits wird die Entscheidungsanalyse dadurch begrenzt, daß sie sich auf eine einzelne Phase im Gesamtprozeß der Führungsauswahl konzentriert. Bodo Zeuner weist in diesem Zusammenhang auf die sowohl "unterhalb" als auch "oberhalb" der Kandidatenaufstellung wirksamen Bedingungen hin. 2 Bereits vor der eigentlichen Nominierung findet ein Auswahlprozeß statt, der sich nicht nur im Parteibeitritt und in der Aktivierung des Parteimitgliedes äußert, sondern bereits in der Phase der 1 Siehe hierzu u.a. Karlheinz Kaufmann, Helmut Kohl und Peter Molt, Die Auswahl der Bundestagskandidaten 1957 in zwei Bundesländern, Köln/Beriin 1961; Bodo Zeuner, Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl 1965. Untersuchungen zur innerparteilichen Willensbildung und zur politischen Führungsauslese (Studien zur Regierungslehre und Internationaler Politik, Bd. 2), Den Haag 1970. 2 Vgl. Zeuner, Kandidatenaufstellung, S.4. 18 Zur Kritik traditioneller Ansätze politischen Sozialisation des Jugendlichen, in der die Einflüsse der Familie, des Ausbildungssystems oder politischer Jugendgruppen von beträchtlicher Bedeutung fiir die politische Motivation sein können. "Oberhalb" der Kandidatennominierung stellt sich unter anderem die Frage, unter welchen Bedingungen, mit welchen Methoden und aufgrund welcher Qualifikationen (gewählte) Abgeordnete nunmehr in einzelne Führungspositionen gelangen. Dieser Teil des Rekrutierungsprozesses findet formell im Parlament statt, aber zweifellos spielen dabei Parteigruppen, Interessenverbände und andere außerparlamentarische Einflußgruppen eine Rolle. Zudem sind die beruflichen Voraussetzungen von Abgeordneten eine der wichtigsten Determinanten politischer Karrierechancen. 3 Somit erfaßt die Analyse der N 0minierung von Parlamentskandidaten lediglich einen bestimmten Punkt im Gesamtprozeß politischer Führungsrekrutierung. 2. Die biographische Methode Anders verhält es sich mit der biographischen Methode. Hier bilden die Lebensläufe insgesamt den Forschungsgegenstand. Politische Lebenswege werden als zusammenhängende Prozesse erfaßt. Obwohl auf individuelle Karrieren bezogen, stellt die biographische Methode grundsätzlich einen wichtigen Forschungsansatz fiir die Untersuchung politisch-gesellschaftlicher Bedingungen der Führungsauswahl dar, sofern die individuelle Biographie in diesen Kontext sozialer Klassen, Organisationen und Machtstrukturen gestellt wird. Ein Beispiel dafiir aus jüngerer Zeit ist Arnold J. Heidenheimers Adenauer-Biographie. 4 Freilich mangelt es der biographischen Methode noch weitgehend an theoretischen Grundlagen, die sie fiir eine mehr systematisch-generalisierende denn literarischindividualisierende, politisch-soziologische Elitenforschung geeignet machen könnten. 5 Gerade das gleichsam natürliche Interesse des wissenschaftlichen Biographen an Lebensläufen exzeptioneller Personen erschwert die Möglichkeit, allgemeine Aussagen über Selektionsprozesse zu treffen; die Untersuchung weniger prominenter Mitglieder politischer Führungsgruppen würde vermutlich eher generalisierbare Erkenntnisse einbringen 6 , ist aber naturgemäß für den Forscher von geringerem Reiz. Davon abgesehen steht die biographische Methode in besonderem Maße vor der Schwierigkeit, individuelles Verhalten und sozialen Kontext in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Da er nur einen einzelnen Akteur und keine "Kontroll-Personen" von anderer sozialer Herkunft, anderer Ausbildung, anderem Berufsweg, anderer Motivation usw. zum Thema hat, ist es für den Biographen schwer, hinlänglich zu begründen, was diesen politischen Lebenslauf bedingt hat: die gesellschaftliche Situation oder die individuellen Fähigkeiten, um nur die beiden extremen Erklärungsmodelle zu erwähnen. Ansätze wie die von Lewis 3 Vgl. Kaufmann, Auswahl, S. 205 ff. 4 Amold J. Heidenheimer, Adenauer and the CDU, Den Haag 1960. 5 Siehe dazu Lewis J. Edinger, "Political Science and Political Biography", in: J. Pol., 26 (1964), S. 423-439, 648-676. 6 Als Beispiel daftir siehe J.T. Salter, Boss Rule. Portraits in City Politics, New York/London 1935. Der "stratifikationstheoretische" Ansatz 19 J. Edinger 7 , mit Hilfe einer psychologisch gefaßten Rollentheorie der biographischen Methode einen Platz in der systematischen politikwissenschaftlichen Forschung zu verschaffen, verdienten zweifellos eine kritische Rezeption. Doch führt die von ihm vorgeschlagene Hereinnahme gesellschaftlicher Strukturen in die biographische Analyse qua deren Perzeption durch den Akteur eher auf den Weg psychologischer Erklärung, denn zu einer soziologischen Theorie politischer Führungsrekrutierung. Neben diesen beiden Forschungsmethoden verdienen zwei weitere Ansätze eine ausführlichere Kritik, bei denen Führungsrekrutierung als Gesamtprozeß verstanden und dafür generelle theoretische Erklärungen angewendet werden. Der eine wird als "stratifikationstheoretischer Ansatz" bezeichnet, weil hier von einem Zusammenhang zwischen sozialer Schichtung und Elitenzusammensetzung ausgegangen wird. Dieser Ansatz unterliegt der "Herkunftsanalyse" (im Englischen als social background analysis bekannt). Er stellt gleichsam die Standardmethode der Elitenforschung dar, ist am weitesten verbreitet und hat auch die längere wissenschaftsgeschichtliche Tradition. Der zweite Ansatz stellt den Prozeß der Elitenrekrutierung in einen psychologischen Bezugsrahmen. Hier sind es vor allem Persönlichkeitsmerkmale, die als bestimmende Variablen zur Erklärung politischer Mobilität gelten. Er wird deshalb "Persönlichkeitstheoretischer Ansatz" genannt. Auch sein Ursprung liegt in den Anfängen der Elitentheorie, namentlich bei Vilfredo Pareto, läßt sich aber sogar bis zu Machiavelli zurückverfolgen. Als analytische Theorie ist er jedoch erst von Harold D. LassweIl und seine Schule zu einem Instrument systematischer Forschung entwickelt worden. Größere Bedeutung erlangte er bisher nur in der amerikanischen Po litik wissenscha ft. 3. Der "stratifikationstheoretische" Ansatz Donald R. Matthews hat als erster versucht, die social background analysis in der Elitenforschung zu systematisieren; er hebt drei Anwendungsmöglichkeiten hervor: I. Einstellungen und Verhaltensweisen von Angehörigen politischer Führungsgruppen können mit Hilfe dieses Ansatzes auf persönliche Lebenserfahrungen zurückgeführt werden, die ihrerseits von dem sozialen Kontext (soziale Schicht, kulturelles Milieu, Ausbildungsniveau, Beruf usw.) geprägt sind, aus denen die Elitenmitglieder jeweils stammen. 2. Die soziale Zusammensetzung politischer Führungsgruppen läßt Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Bedingungen des politischen Auswahlprozesses zu. 3. Veränderungen des SozialprofiJs von Eliten indizieren bestimmte Wandlungen der Sozialstruktur und des gesellschaftlich-politischen Systems. 8 Hieraus wird deutlich, daß für Matthews Merkmale der sozialen Herkunft für sich allein keinen Aussagewert haben. Sie stellen vielmehr kritische Variablen zur Analyse 7 Lewis J. Edinger, Kurt Schu1TUJcher (deutsche Ausgabe), Köln-Opladen 1967. Diese Studie erklärt das politische Handeln und die politische Karriere Schumachers vornehmlich aus den Erfahrungen seiner Jugendzeit. Zur Kritik dieses Ansatzes siehe Susanne Miller, "Ein Amerikaner zeichnet das Bild Schumachers", in: Vorwärts vom 25.5.1966, S. 13. 8 Donald R. Matthews, The Socüzl Background o[ Political Decision·Makers, Garden City 1954, S. 2 ff. 20 Zur Kritik traditioneller Ansätze des Zusammenhanges zwischen Sozialstruktur und Elitenstruktur dar, d.h. sie sollen der Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen des Prozesses der Elitenauswahl und öamit auch des Elitenwandels dienen. Tun sie dies aber wirklich? Sind die von Matthews formulierten Annahmen hinreichend begründet? Und kann die social background analysis tatsächlich den mit ihr verknüpften Erwartungen gerecht werden? Unter den zitierten drei Anwendungsmöglichkeiten haben die beiden letztgenannten die bisher wohl größte Rolle in der Forschung gespielt. 9 Die außerordentlich reichhaltige Literatur um faßt Untersuchungen insbesondere über Parlamente, Regierungen, Parteiführungsgremien und gesamte Führungsschichten.' 0 Dabei wurde die social background analysis entweder allein oder in Verbindung mit der Analyse organisatorischer Strukturen und Ideologien von Eliten angewandt. In jedem Fall liegt der Untersuchung sozialer Herkunftsmerkmale die Absicht zugrunde, Elitenbildung und Gesellschaftsstruktur in Zusammenhang zu bringen. Die Frage ist, wie der vermutete, Zusammenhang theoretisch gefaßt werden kann. Tatsächlich ist die theoretische Grundlage der social background analysis trotz ihrer weiten Verbreitung noch immer recht vage. Läßt man für den Augenblick die spezielle Frage nach dem Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und politischen Einstellungen von Elitenangehörigen außer Betracht, so findet man in den verschiedenen Untersuchungen über die sozialstrukturellen Bedingungen der Führungsrekrutierung zwei unterschiedliche Modelle, die freilich nicht immer explizit deutlich gemacht sind. Das eine Modell ist kausal, das andere final konstruiert. Anknüpfend an Kenneth Prewitt'l kann man das eine als "Stratifikationsmodell" , das zweite als "Funktionsmodell" bezeichnen. Beide erscheinen unmittelbar plausibel, weisen jedoch bei näherer Betrachtung nicht unwesentliche Mängel auf. Mit dem Stratifikationsmodell wird angenommen, daß die politischen Aufstiegschancen einer Person abhängig sind von ihrer Herkunft aus einer bestimmten sozialen Schicht, Subkultur, Religionsgemeinschaft, Berufskategorie, Altersgruppe usw. Dementsprechend sind Individuen sozial - und folglich auch politisch - unterschiedlich privilegiert. Sie haben - um mit Max Weber zu sprechen - unterschiedliche "Lebenschancen" , die auch die politischen Partizipationsmöglichkeiten umschließen. Herkunftsmerkmale von Eliten indizieren also privilegierte Gruppen oder Schichten. 9 Diese zwei Punkte können zusammengefaßt diskutiert werden: Bei beiden geht es um die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Elitenauswahl - lediglich im ersten Fall unter einer strukturellen, im zweiten unter einer historischen Perspektive. 10 Siehe dazu u.a. v. Bethusy-Huc, Soziologische Struktur; Philip W. Buck, Amateurs and Professionals in British Politics 1918-1959, Chicago 1963; Mattei Dogan, "Les filieres de la carriere politique en France", in: Rev.[r. soc io I. , 8 (1967), S. 468-492; Lewis J. Edinger, "Continuity and Change in the Background of German Decision-Makers", in: West.Pol. Quart. , 14 (1961), S. 17-36; W.L. Guttsman, The British Political Elite, London 1963; Harold D. Lasswell/D. Lerner (Hrsg.), World Revolutionary Elites, Cambridge/Mass. 1965; Peter C. Ludz, Parteielite im Wandel, Köln-Opladen 1968; F.G. Moquette, "Het Nederlandse parlemtmt", in: Acta polit., 1 (1965/66), S. 112-153; Stein RokkanlK. Salhus, "Changes in the Channels of Recruitment to Parliament", UNESCO, 1968; Giovanni Sartori, "Italy: Members of Parliament", in: Decisions and Decision-Makers in the Modem State, UNESCO, Paris 1967. 11 Siehe Kenneth Prewitt, "Political Socialization and Leadership Selection", in: Annals Am.Ac.Pol.Soc.Sc., 361 (1965), S. 96-111.