BUILDINGS f T Intro

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GEBAUTE UTOPIEN
Paul Cattermole
GEBAUTE UTOPIEN
Architektur für morgen
Deutsche Verlags-Anstalt
INHALT
Für Pamela und die wachsende Wölbung,
die unsere Schöne Neue Zukunft ankündigt.
Aus dem Englischen übersetzt von Wiebke Krabbe
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
‹http:dnb.ddb.de› abrufbar.
1. Auflage
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007
Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Titel der englischen Originalausgabe Buildings For Tomorrow.
Architecture That Changed Our World
© 2006 Palazzo Editions Ltd, 15 Gay Street, Bath, BA1 2PH, UK
www.palazzoeditions.com
Text © Paul Cattermole 2006
Fotos © The Photographer/Arcaid, www.arcaid.co.uk
Alle Rechte vorbehalten
Design: Bernard Higton
Bildredaktion: Paul Cattermole
Lektorat: Catherine Hall, Iona Baird
Satz der deutschen Ausgabe: Edith Mocker, Eichenau
Produktion der deutschen Ausgabe: Monika Pitterle
Printed and bound in Singapore
ISBN: 978-3-421-03637-7
www.dva.de
Einführung: Schöne Neue Zukunft 6
1
2
3
Fremde Welten 16
Das Archaische, das Organische
und das Fremde
Todessterne und TIE-Fighter 88
Das Mechanische, das Konstruierte
und das Bedrohliche
Die Rückkehr des Blob 146
Das Weiche, das Sinnliche
und das Umweltgerechte
Schlussbemerkung 186
Verzeichnis der Architekten 188
Bildnachweis 189
Bibliografie 190
Dank 192
Architektur ist ein ausgezeichnetes Medium, um Zukunftsvisionen
umzusetzen. Gebäude können vermitteln, wie die Welt der Zukunft
aussehen mag. Durch ihre Größe beeindrucken sie den Betrachter,
lösen ihn aus dem Hier und Jetzt und versetzen ihn in eine andere
Welt. Die moderne Technologie wird immer raffinierter und der
Wunsch, sie einzusetzen, immer größer. Dadurch verschwimmt die
Grenze zwischen realer und fantastischer Welt zunehmend. Projekte, die wegen Zweifeln an ihrer Umsetzbarkeit früher in den
Archiven verstaubt wären, betrachtet man heute immer öfter als
denkbare Spielarten der Architektur.
Es wäre relativ einfach, ein ganzes Buch mit den nicht realisierten Projekten der letzten 100 Jahre zu füllen. Man könnte ihre
faszinierende, skizzenhafte Pracht und ihre utopischen Ideale
bestaunen, für die weder Budgetgrenzen noch die Gesetze der
Schwerkraft zu gelten schienen. Ebenso einfach wäre es, eine
Sammlung von Filmsets zusammenzustellen, seien es nun windige Konstruktionen aus Holz und Gips aus den Asservatenkammern
Hollywoods oder raffinierte Computersimulationen. Auch dies
wären nur flüchtige Visionen, an die Kriterien wie Ergonomie oder
Wetterbeständigkeit nicht angelegt werden müssten. Dieses Buch
hingegen stellt futuristische Projekte vor, die tatsächlich verwirklicht wurden. Erstaunliche Bauten, als verwegene Idee entwickelt
und bis zur Vollendung geführt. Es sind keine skizzenhaften Entwürfe, keine architektonisch-unterhaltsamen Spielereien, sondern reale
Gebäude, in denen Science-Fiction zur Wirklichkeit geworden ist.
Einige der vorgestellten Projekte sind weltberühmt geworden,
andere sind ambitionierte Prototypen und wieder andere muss man
als »maßgeschneiderte Einzelanfertigungen« betrachten. Manche
sind so fantastisch und fotogen, dass sie die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion auf andere Weise überschritten haben, indem
sie als Filmszenerie genutzt wurden.
Es ist gar nicht verwunderlich, dass diese Versuche, die Architektur der Zukunft praktisch vorauszunehmen, in den USA ihren Anfang
nahmen. Mit ihrem Pioniergeist, der aktiven Industrie sowie dem
Reichtum an Fläche und natürlichen Rohstoffen boten die USA um
die Mitte des 20. Jahrhunderts den idealen Nährboden für Innovation
und Experimente. Ausgewählte Arbeiten von vier besonders einflussreichen Persönlichkeiten des Nachkriegs-Amerika zeigen, wie technische Fortschritte und innovative Denkweisen vom Ende der 1930er
Jahre an dazu beitrugen, Realität und Fantasie ein Stück näher zu
rücken. Frank Lloyd Wright, John Lautner, Richard Buckminster
Fuller und Eero Saarinen sind vier bahnbrechende Architekten, die
in nur etwa 30 Jahren eine Vielzahl von Gebäuden schufen, die alle
wesentlichen Merkmale einer »Architektur der Zukunft« tragen.
SCHÖNE NEUE ZUKUNFT
»Was ein Mensch sich vorzustellen vermag,
können andere verwirklichen.«
Jules Verne, Science-Fiction-Autor, 1828 –1905
6
GEBAUTE UTOPIEN
Johnson Wax Building
Wenn die doppelwandigen Streifen aus
Pyrex-Röhren, durch die gestreutes
Tageslicht in das Innere fällt, abends
erleuchtet sind, betonen sie die stromlinienförmigen Konturen des roten
Backsteinbaus.
Struktureller Einfallsreichtum, technischer Sachverstand, meisterhafte Planung und künstlerischer Ausdruck sind die Charakteristika ihrer Bauten, die sich in den Himmel recken, durch die
Landschaft schlängeln oder in den Boden kriechen.
Technik und Natur
1936 wurde mit dem Bau des Johnson Wax Building in Racine
(Wisconsin, USA) begonnen – heute ein Meisterwerk moderner
Büroarchitektur. Es zeigt, dass Frank Lloyd Wrights bemerkenswerte Schaffenskraft auch in den 30 Jahren, in welchen er bei
der Architekturgemeinde in Ungnade gefallen war, nicht gelitten
hatte. Zusammen mit Falling Water (1935–1939) trug dieser Bau
dazu bei, dass Wright in den letzten beiden Jahrzehnten seines
Lebens wieder als Amerikas bedeutendster Architekt galt.
Wright hatte jahrzehntelang Bürogebäude entworfen. Besonders berühmt war das 1904 errichtete Larkin Building, das 1950
leider zerstört wurde. In diesem Gebäude manifestieren sich viele
Neuerungen, darunter die ersten doppelt verglasten Fenster sowie zu einer zentralen, mit Tageslicht erhellten Halle orientierte
Büros. Johnson Wax stattete Wright mit einem riesigen, über
zwei Geschosse offenen Großraumbüro von 61 Metern Länge und
37 Metern Breite aus, das von einer massiven Backstein-Außen-
mauer mit einer 5 Meter breiten Galerie umgeben war. Wright
betrachtete den Arbeitsplatz als einen »geheiligten« Raum und
verzichtete darum auf Fenster in der Außenwand, deren Ausblicke
auf die Außenwelt nur ablenken würden. Um dennoch für das erforderliche Tageslicht zu sorgen, ließ er in die gesamte Außenmauer einen schmalen Streifen aus Pyrex-Röhren einbauen, die
an die im Labor des Unternehmens verwendeten Reagenzgläsern
erinnerten. Die gewellten Oberflächen der »Scheiben« aus Glasröhren, montiert in Stahlrahmen mit Gummipuffern, brechen das
einfallende Licht und verzerren jegliche Aussicht, sorgen aber für
ausreichende Helligkeit zum Arbeiten. Nach Einbruch der Dunkelheit wird das Gebäude auf eine Weise beleuchtet, dass die Benutzer den Unterschied zwischen Tag und Nacht kaum wahrnehmen.
Die ungewöhnlichsten Elemente sind hohle, pilzförmige Säulen, die den Bau über seine drei Ebenen hinweg stützen. Ihr Fuß
besteht aus Stahlrohren von 23 Zentimetern Durchmesser, eingelassen in Stahlschalen im Erdgeschoss. Nach oben erweitern
sie sich zu Scheiben von 5,6 Metern Durchmesser. Die 46 Zentimeter großen Zwischenräume der Scheiben werden an der Decke
durch Querstreben überbrückt. Dadurch wirkt der riesige Raum
wie ein magischer Wald aus stilisiert-baumförmigen Säulen, die
an die Lotus-Kapitelle der altägyptischen Tempel in Luxor und
Karnak denken lassen. Bemerkenswerterweise stellte Wright
beim Entwickeln der Profile dieser komplexen Formen keine statischen Berechnungen an, sondern verließ sich allein auf seine
Intuition und genauen Beobachtungen der Opuntien in der Umgebung seines Ateliers in Taliesin West. Die Säulen bestehen aus
verdichtetem Beton mit einer Innenversteifung aus Stahlgitter.
Um die Abnahme der Baubehörden des Staates Wisconsin zu erhalten, musste Wright in einem Pilotversuch die Tragfähigkeit seiner Säulen unter Beweis stellen. Er kam dieser Aufforderung nach
und zum Erstaunen aller Beteiligten (mit Ausnahme des Architekten) erwiesen sich die Säulen als stark genug, um eine Last
von 60 Tonnen zu tragen – das Zehnfache des vorgesehenen
Gewichts und das Fünffache dessen, was sie aus Sicherheitsgründen verkraften mussten.
Durch Wrights gelungene Verschmelzung von Bauformen,
die sich an der Natur orientierten, durch die zeitgemäß-stromlinienförmige Ästhetik, innovativen Materialien und eine menschengerechte Arbeitsumgebung ist Johnson Wax eines der gelungensten futuristischen Bürogebäude des 20. Jahrhunderts.
Etwa 50 Jahre später knüpfte Richard Rogers mit dem gewaltigen Atrium in seinem Bau für Lloyd’s of London (1986) an Wrights
weitblickende Zukunftsvision an.
Unnatürliche Interventionen
Erst mit Frank Lloyd Wrights letzten bedeutenden Werken betreten
wir das Terrain dessen, das man wirklich als »Science-FictionArchitektur« bezeichnen könnte. Während bei der Planung des
Johnson Wax Building funktionelle und rationale Aspekte im Vordergrund standen, ist das Marin County Civic Center ein faszinierendes Fantasiewerk, das eher an eine Star-Wars-Kulisse denken
lässt als an den Sitz einer Landesregierung. Der Bau wurde 1957
begonnen und 1966, sieben Jahre nach Wrights Tod, vollendet.
Wright hatte vom Marin County Board of Supervisors den Auftrag erhalten, für ein 56 Hektar großes, eindrucksvolles Hanggrundstück einen Bau zu entwerfen, in dem 13 Abteilungen der
Landesregierung unter einem Dach Platz finden sollten. Während
sich Wright mit seinen frühen Arbeiten durchaus der konstruktiven
Kritik seiner Berufskollegen gestellt hatte, zog er sich später in die
Taliesin Fellowship zurück und isolierte sich derart, dass sich kein
ausreichend kompetenter Kollege fand, um seine Ideen infrage zu
stellen. Seine dritte Frau Olgivanna, die die fast sektenhafte Verehrung des Architekten förderte, stellte sich jeglicher Kritik an seinem
Schaffen in den Weg. Die Folge war, dass seinen späten Entwürfen
die intellektuelle Klarheit und Detailsorgfalt seiner früheren Arbeiten fehlte. Das wird nirgends deutlicher als in Marin County.
Johnson Wax Building
Durch die Oberlichter zwischen den oberen Scheiben der pilzförmigen Säulen
strömt Tageslicht in das riesige Großraumbüro. Wrights von Menschenhand
geschaffener Wald könnte direkt aus
Larry »Buster« Crabbes berühmter
Serie »Buck Rogers« (1939) stammen.
Die wichtigsten Elemente des ganzen
Gebäudes sind die schlanken Säulen,
die durch den Boden des Bürobereichs
bis in die darunter liegende Tiefgarage
reichen.
8
GEBAUTE UTOPIEN
Der Entwurf, den Wright seinen Auftraggebern vorlegte, zeigte
zwei Flügel, die wie Brücken zwischen den Hügeln lagen. Die
Gebäude wirkten wie riesige, das Tal überspannende Aquädukte,
die eine Rotunde mit einer niedrigen Kuppel von 24 Metern
Durchmesser umfassten. Die Flügel wirken durch ihre Etagen
mit Arkaden, die nach oben hin kleiner werden, wie Bauelemente
von enormer struktureller Tragkraft. Doch das ist ein rein optischer Effekt, denn die Flügel haben keine tragende Funktion.
Das Gewicht der verputzten Wände ruht auf den Betonfundamenten, an denen die Bögen hängen. Wright schien sich von der »Ehrlichkeit« struktureller Funktionen und den subtilen Beziehungen
zwischen rechteckigen Flächen und Querschnitten verabschieden zu wollen, um sich stattdessen informelleren Rundungen
zuzuwenden.
Anstelle der Ziegel oder Betonblöcke, die früher die Konturen
und Proportionen seiner Bauten definiert hatten, verwendete er
hier für die Dächer riesige Beton-Fertigteile, die mit einer wasserfesten Kunststoffbeschichtung in grellem Blau überzogen sind.
(Ursprünglich hatte Wright ein noch auffälligeres Gold vorgeschlagen, doch Metalle können dem fortwährenden Einfluss der Elemente nicht ausreichend widerstehen.) Diese Abkehr von den
eigenen Doktrinen setzt sich im Inneren des Baus fort. Während
die Großraumbüros des Johnson Wax Building mit ihrer eingeschränkten Aussicht eine ruhige, fast kirchenhafte Ausstrahlung
hatten, setzte er hier Innenhöfe ein, die er als »Malls« bezeichnete
und die letztlich nur Durchgangsbereiche waren, in denen keine
bedeutungsvolle Aktivität stattfand. Die Konzentration auf den
Innenraum leidet auch dadurch, dass man durch die Fenster in
den Fassaden einen ablenkenden Ausblick über das Tal hat.
Das Marin Country Civic Center gilt allgemein als schwaches
Beispiel für die Architektur Frank Lloyd Wrights. Es zeigt jedoch,
dass selbst große Architekten ohne ein ausreichendes Regulativ
in einen Stil abgleiten können, der eher dem Bereich der Spielerei oder auch der Filmkulisse zuzuordnen wäre. Dass dieses
Gebäude eine unwirkliche Ausstrahlung hat, zeigt sich auch darin,
dass es für den Film »Gattaca« als Hauptquartier der gleichnamigen Gattaca-Corporation gewählt wurde. Es entbehrt nicht einer
gewissen Ironie, dass der Film in einer unwirklichen Welt spielt,
in der das Schicksal der Bewohner von Geburt an durch DNAAnalysen bestimmt wird und in der nur überlegene »Exemplare«
es zu etwas bringen können. Das Marin Country Civic Center mag
zwar Wrights Namen tragen, doch weil ihm der genetische Fingerabdruck seines Schöpfers fehlt, kann es sich mit dessen großen
Werken nicht messen.
Marin County Civic Center
Die Kontur des Zentrums erstreckt sich,
wie Wright es geplant hatte, quer über
das Tal und erhebt sich über die Baumwipfel wie ein futuristischer Palast aus
einer Star-Wars-Kulisse. Die rautenförmigen Öffnungen in der Mitte dienen
als Lichtschächte für die mehrstöckigen
»Malls«.
SCHÖNE NEUE ZUKUNFT
9
Erde und Luft
John Lautner war ein bemerkenswerter Architekt, der zahlreiche einzigartige Privathäuser in und um Los Angeles schuf. Seine Häuser
sind heute Ikonen der modernen Architektur – nicht zuletzt, weil sie
so oft in Filmen auftauchen. Das mag teilweise an ihrer Nähe zu den
wichtigsten Studios liegen, hauptsächlich aber an ihren ungewöhnlichen Grundstücken und dem unkonventionellen Äußeren. Lautner,
der in den Wäldern Michigans am Ufer des Oberen Sees aufgewachsen war und schon im Alter von zwölf Jahren seinen Eltern beim
Bau ihres Blockhauses geholfen hatte, besaß viel Sinn für das Praktische. Diese Handfestigkeit brachte Lautner ein, als er seine erste
»Lehrzeit« bei Frank Lloyd Wright in Taliesin East begann. Kurz darauf verlegte Lloyd sein Quartier nach Taliesin West, an dessen Bau
Lautner mit eigenen Händen mitarbeitete. 1940 kündigte Lautner die
Anstellung bei Wright, um selbstständig zu arbeiten. Wegen seines
direkten Bezugs zu Materialien und dem physischen Aspekt des
Bauens sprach seine Arbeitsweise eine bestimmte Kundengruppe
an, die oft aus ähnlichen Berufszweigen kam. Lautner arbeitete mit
seinen Auftraggebern häufig so eng am Design der Gebäude
zusammen, dass man fast von einer Kollaboration sprechen könnte.
Das Malin House (1960), auch »Chemosphere« genannt, wurde
von Lautners langjährigem Mitarbeiter John de la Vaux als Wohn-
Malin House (»The Chemosphere«)
Die »Chemosphere« schwebt über den
Hollywood Hills bei Los Angeles wie
eine fliegende Untertasse, die für einen
Moment an einem Mast angedockt hat.
Vielleicht zieht das UFO den Mast nach
dem Start wieder ein? Aus dem Inneren hat man einen grandiosen Blick
auf Los Angeles und Umgebung. Die
schrägen Fenster verhindern Spiegelungen, durch die das Gefühl, im freien
Raum zu schweben, verloren gehen
könnte. An drei Seiten der achteckigen
Kontur sind Sitzmöbel eingebaut.
haus für die Familie des Flugzeugelektronikers Leonard Malin konzipiert. Das Budget war knapp und das Grundstück mit einem
Gefälle von fast 45° nahezu unbebaubar. So entschloss sich Lautner, das Haus auf eine einzige Betonsäule von 1,5 Meter Durchmesser und 8 Meter Höhe zu stellen, die im Hang verankert ist.
Auf ihr »schwebt« das Gebäude wie eine vieleckige fliegende
Untertasse. Durch diese Herangehensweise blieb die Landschaft
unbeschädigt und es entstand eine stabile Plattform, auf der der
achteckige Bau errichtet werden konnte. Weil die gesamte Oberfläche der »Chemosphere« frei zugänglich ist, konnte Lautner an
den Aspekt der Luftzirkulation auf eine Weise herangehen, die eher
dem Flugzeugbau – der Domäne seines Auftraggebers – als dem
konventionellen Wohnhausbau zuzuordnen ist. Die Luft wird durch
unauffällige, abgeschrägte Schächte auf der flachen Unterseite ins
Gebäude gesaugt und strömt durch die doppelwandigen Seiten, um
durch Gitter direkt hinter den schrägen Fenstern wieder auszutreten. In diese Öffnungen sind Heizelemente integriert, die die Temperatur der in die Innenräume einströmenden Luft regulieren.
Durch natürliche Konvektion steigt die Luft an den geschwungenen
Decken auf und tritt durch die Unterseite einer Plexiglaskuppel an
der höchsten Stelle wieder aus. So belüftet sich das Haus nach
einem Prinzip, das dem eines Düsentriebwerks ähnelt, wirkungs-
voll selbst. Trotz der futuristischen Stahlhülle bestehen die wichtigsten Elemente im Inneren aus laminiertem Holz, mit dem sowohl
der ehemalige Schiffbauer Vaux als auch der »Hinterwäldler« Lautner gute Erfahrungen hatten. Das achteckige Gebäude entstand
drei Jahre nach dem Start des Sputnik und es ist nicht verwunderlich, dass es in der Öffentlichkeit bald den Spitznamen »fliegende
Untertasse« bekam. Tatsächlich ist es eine ausgesprochen zweckmäßige, wenn auch unkonventionelle Lösung für die Probleme, die
sich durch Kostenrahmen und Grundstück stellten.
Während die »Chemosphere« zum Himmel strebt, ist Lautners
Elrod House (1968) definitiv erdverbunden. Es wurde in der Wüste
auf einem Felsvorsprung mit Blick auf Palm Springs für den
Innenarchitekten Arthur Elrod gebaut und erhebt sich mit seiner
geduckten Kontur nur ganz diskret über den Horizont. Als Lautner
das Grundstück zum ersten Mal besichtigte, war es geräumt und
planiert. Weil er aber auf den benachbarten Grundstücken Gruppen großer Findlinge sah, ließ Lautner den Boden 3 Meter tief ausheben, um ähnliche Felsen freizulegen. Diese ließ er an Ort und
Stelle und baute das Haus um sie herum, sodass sie Teil des
Grundrisses wurden. Der Zufahrtsstraße wendet das Haus nur
eine geschwungene Betonwand zu, deren niedriger, überdachter
Eingang wie der Zugang zu einem Bunker aussieht. Hinter der
Mauer verbirgt sich ein geschützter Garten, der bis ans Haus
reicht. Vom Haus selbst sieht man aus dieser Richtung kaum mehr
als die niedrige, konische Kuppel. Sie ist mit sieben dreieckigen
Kupferplatten belegt, die wie die Blätter eines riesigen Ventilators
leicht schräg stehen. Dadurch entstehen zwischen ihnen und dem
Betondach keilförmige Lücken, die verglast sind. Zwei »Blätter«
zwischen den Betonelementen bestehen vollständig aus Glas und
geben den Blick frei auf ihre gitterförmige Tragekonstruktion.
Diese Oberlichter verraten wenig über den Raum, den sie mit Licht
versorgen: Wie ein Zelt überspannt die Betonkuppel von 18 Metern
Durchmesser einen kreisförmigen, offenen Wohnbereich. Ein Teil
der Außenwand ist vom Boden bis zur Decke verglast und öffnet
sich zum Swimmingpool und dem dahinter sichtbaren Panorama
der Wüstenstadt mit ihren funkelnden Lichtern. Ein ringförmiger
Betonträger von 80 Zentimeter Dicke fängt das Gewicht der Kuppel
ab. Für die besondere Sorgfalt in Betonguss und -verarbeitung
zeichnet Wally Niewiadomski verantwortlich, der auch als Subunternehmer für Frank Lloyd Wright tätig war. Das Gebäude vermittelt eine massive Kraft, ähnlich des bombensicheren Raums,
den Ken Adam für Stanley Kubricks Film »Doctor Strangelove«
(Doktor Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben, 1963)
Elrod House
Mit dem erdfarbenen Dach und den
geschwungenen Betonmauern fällt das
Haus, das zum Schutz vor sengender
Sonne und neugierigen Blicken in den
Boden versenkt wurde, kaum auf.
Vom inneren Garten aus ist seine Form
besser zu erkennen: Kupferplatten
über den schlitzförmigen Oberlichtern
im Dach und eine Betonaußenmauer,
die das Haus wie eine Festungsmauer
abschirmt.
SCHÖNE NEUE ZUKUNFT
11
entwarf. Das Haus war so ungewöhnlich, dass es als Schauplatz
für den James-Bond-Film »Diamantenfieber« (1971) verwendet
wurde: Hier nahm Sean Connery mit den Damen Bambi und Klopfer ein Bad in Elrods Swimmingpool. Lautners Häuser wurden
mehr als einmal als Kulisse für Hollywood-Filme verwendet und
es ist faszinierend, das Kippen der Grenze zwischen fantastischer
Kinoarchitektur und real bewohnbaren Häusern zu beobachten,
wenn die Handlung von Szene zu Szene fortschreitet.
Geodätisches Genie
Eine der unkonventionellsten, aber einflussreichsten Persönlichkeiten der Architektur des 20. Jahrhunderts war Richard Buckminster Fuller, dessen Karriere so abwechslungsreich ist wie die
Bauten, die er entwarf. Er brach sein Studium der Mathematik an
der Universität von Harvard ab, ging 1917 zur Armee und kommandierte während des Krieges ein Kanonenboot. Nach seinem Austritt aus der Navy im Jahre 1922 gründete er die Firma Stockade
Building, die sich auf leichte Baumaterialien spezialisierte. Als
dieses Vorhaben scheiterte, setzte er sich ans Zeichenbrett und
begann, absolut neuartige Gebäude zu entwerfen, denen das Konzept der »vier Dimensionen« zugrunde lag. Als vierte Dimension
betrachtete er dabei die Zeit – genauer die Frage der langfristigen
Auswirkungen der Bauten auf die Umwelt. Damit war er einer der
ersten Architekten, die das Umweltbewusstsein zu ihrem Anliegen
machten. Er verfolgte von Anfang an ehrgeizige Pläne. Das erste
Projekt, das er zum Patent anmeldete, war ein vierdimensionaler
Turm aus leichten, vorgefertigten Teilen, die per Luftschiff an jeden
Ort der Welt transportiert werden konnten. Daran schlossen sich
verschiedene andere leichte Bauten ähnlichen Prinzips an, und
1929 entstand das berühmte Dymaxion House. Das Haus, das im
Kaufhaus Marshall Field in Chicago vorgestellt wurde, hatte einen
sechseckigen Grundriss. Dach und Wände bestanden aus Stahl,
Duraluminium und Kunststoff und waren an einem zentralen Mast
aufgehängt. Der Begriff »Dymaxion« ist eine Synthese aus den
Wörtern »Dynamic« and »Maximum Efficiency«, die Fuller in Vorträgen über seine Arbeiten häufig verwendete. Nach diesem Projekt entwickelte er weitere leichte Konstruktionen zur kurzzeitigen
Benutzung, darunter Gebäude, die die US-Armee im Zweiten Weltkrieg als Quartiere für die Luftwaffe einsetzte. Schließlich folgte
1944 das Wichita House, Fullers erstes Projekt, das zum Dauerwohnen vorgesehen war. Das Haus, das er mit Unterstützung der
Beech Aircraft Company in Wichita konstruierte, hatte eine runde
Form, ein Kuppeldach, eine glänzende Aluminiumfassade und ein
Gewicht von gerade einmal 4 Tonnen. 38 000 Vorbestellungen gingen ein, doch durch verschiedene Verzögerungen, Design-Verbesserungen und Probleme bei der Materialbeschaffung musste
Fuller seine Pläne der Massenproduktion schließlich aufgeben und
es wurde nur der Prototyp gebaut. Fuller ließ sich davon nicht abschrecken und entwickelte die Dymaxion-Prinzipien weiter, um mit
minimalem Materialeinsatz maximale Effizienz zu erreichen. Seine
Hartnäckigkeit führte ihn schließlich zu den geodätischen Kuppeln,
die ihn weltberühmt machten.
Auf der Grundlage des Dreiecks, das die stabilste Grundform
ist, entwickelte Fuller eine Methode, die Oberfläche einer Kugel
in ein Netzwerk aus Dreieckssegmenten zu unterteilen. Diese ließ
er sich 1954 als »Geodäsie« patentieren. Die Kuppeln umschlossen ein Maximum an Raumvolumen mit einem Minimum an Oberfläche, waren selbsttragend und konnten in nahezu jeder Größe
gebaut werden. Fuller zeichnete sogar Pläne für eine Kuppel von
3,2 Kilometern Durchmesser, die für die Insel Manhattan ausgereicht hätte. Kuppeln in weniger futuristischer Größenordnung
entstanden bald in aller Welt – als Eisenbahndepots, Gewächshäuser und sogar für eine Polar-Forschungsstation (1975), denn
die Kuppelform war ideal, um die großen Schneelasten der Polregion zu tragen und starken Winden zu widerstehen.
Architekten wie Foster, Rogers und Grimshaw haben das Erbe
des vielseitigen Erfinders und Universalgenies Fuller fortgeführt,
indem sie sich von dem Dymaxion-Prinzip und einer Architektur
auf der Grundlage von Wissenschaft und Technologie, vorgefertig-
ten Teilen und Umweltbewusstsein lenken ließen. Selbst die Idee
des Transports von Gebäudeteilen per Luftschiff blieb in den Entwürfen Jan Kaplickys für futuristische Wochenendhäuser am
Leben, die er zeichnete, ehe er Future Systems gründete. Fullers
bahnbrechende Neuentwicklungen und seine Fähigkeit, Ideen
umzusetzen, haben eine wichtige Grundlage für das Entstehen
der »futuristischen« Architektur des späten 20. Jahrhunderts
geschaffen.
Freie Form
Wenn man Buckminster Fullers geodätische Kuppeln als Inbegriff
rationaler und mathematischer architektonischer Klarheit beschreiben will, muss man Eero Saarinens TWA-Terminal als eines
der eindrucksvollsten Beispiele des reinen Expressionismus betrachten. Der Bau wurde 1956 von den Trans World Airlines (TWA)
in Auftrag gegeben und sollte als privates Terminal auf dem Idlewild-Flughafen (heute John F. Kennedy) dienen. Von Anfang an war
klar, dass das Terminal eine aus Beton gestaltete Verkörperung
des Firmenimages sein sollte. Nur bei wenigen Gebäuden ist es
gelungen, die Essenz des Fliegens so überzeugend einzufangen
wie bei Saarinens prächtigen, aufragenden Kuppeln mit der zentralen Halle von etwa 15 Metern Höhe und 96 Metern Länge. Die
schwungvollen Dächer aus Spannbeton und die gerundeten Ein-
Links: Elrod House
Mit den Betonbahnen und den facettierten Oberlichtern wirkt die Decke über
diesem stattlichen Wohnraum wie ein
bombensicheres Dach. Findlinge, die
beim Ausschachten des Grundstücks zu
Tage kamen, wurden als natürliches
Landschaftselement in den Grundriss
integriert.
Rechts: Der amerikanische Pavillon
für die Weltausstellung 1967
Die ursprüngliche Verkleidung der
Kugel, die als Teil des amerikanischen
Pavillons für die Weltausstellung 1967
errichtet wurde, fiel einem Brand zum
Opfer, doch die stabile, 61 Meter hohe
und 76 Meter breite Stahlkonstruktion
aus Dreiecken und Sechsecken blieb
erhalten.
SCHÖNE NEUE ZUKUNFT
13
gänge sprechen die gleiche Formensprache wie die Metallhäute
und geräumigen Triebwerke der ersten Düsenflugzeuge, deren
Passagieren sie dienen sollten. Der Grundriss besteht aus vier
gerundeten Formelementen, deren Anordnung Saarinen seinen
Mitarbeitern mithilfe der Schale seiner Frühstückspampelmuse
erklärte. Als er auf ihre Mitte drückte, wölbten sich die Schalenränder nach außen. So entstanden die elliptischen Gewölbe der
Kuppeln, die er vom Boden bis zur Decke mit getöntem Glas ausfüllte. Weil die Hallen so transparent waren, konnten die Fluggäste während der Wartezeit am Ticketschalter den landenden
und startenden Flugzeugen im Freien zusehen, wodurch die
Flugreise schon vor dem Start zu einem Erlebnis wurde.
Saarinen erhielt vom Auftraggeber freie Hand bei der Gestaltung aller Details im Inneren, sodass das Gebäude und seine Einrichtung wie ein in sich geschlossenes Ganzes wirken. Die Wände
gehen nahtlos in die Böden über oder erheben sich als schwebende Fußgängerbrücken über der Abflughalle. Anzeigetafeln und
Fluglinienschalter wirken wie aus einem Guss, so als habe staubiger Wüstenwind sie im Laufe von Jahrhunderten aus weißem
Stein geschliffen. Auf der Außenfassade ist der Beton rau und un-
eben, auf den Innenwänden wurde er mit flexiblen Matten aus runden, weißen Mosaiksteinchen verkleidet, die den skulpturhaften
Formen eine fließende Kurvigkeit verleihen, die man seit dem
Jugendstil oder seit Erich Mendelsohns Einstein-Turm (1926) in
der Architektur nicht mehr gesehen hatte. Wegen seiner außergewöhnlichen Material- und Statikkenntnisse konnte Saarinen seinen Entwurf ständig weiter verfeinern und dabei doch die künstlerische Kontrolle behalten.
Obwohl das Terminal viel Beachtung fand, erwies sich die nahtlose Ästhetik dennoch als problematisch, als später allmählich
modernere »Fremdobjekte« einen Platz finden mussten, beispielsweise unverzichtbare Sicherheitseinrichtungen und Anlagen für
Aufgabe und Transport von Gepäck. Ein weiteres Problem war der
starre Grundriss. Eine Erweiterung war in keine Richtung möglich,
ohne die fein abgestimmte Symmetrie des Äußeren zu zerstören.
Saarinen starb ein Jahr vor der Fertigstellung des Projekts (1962)
und man kann das Terminal als Denkmal seiner organischen
Architektur betrachten. Fortgeführt wurden die Ansätze dieses
einflussreichen Meisterwerks in den aufstrebenden Formen des
TGV-Bahnhofs von Santiago Calatrava in Lyon (1994) und den
welligen, unregelmäßigen Oberflächen von Zaha Hadids Phæno in
Wolfsburg (2005). Beide dokumentieren überzeugend das poetische Potential der Architektur, das Saarinen in seinem letzten
Werk so meisterhaft zum Ausdruck gebracht hat.
Verborgene Tiefen
Ein gemeinsamer Aspekt der sechs bisher vorgestellten Projekte
ist das ständige Kräftespiel der natürlichen und der von Menschen
geschaffenen Welt. Die Natur liefert vielfältige Inspirationen, die
sich in schlanken Betonsäulen oder schwungvollen Kuppeln ausdrücken können. Sie ist eine Kraft, der man sich anpassen – oder
die man seinen Ideen anpassen kann. Nur ignorieren kann man
sie kaum. Architekten können Bauten schaffen, die aus der Erde
zu wachsen oder in ihr zu versinken scheinen, die einen Wald
simulieren oder die Form eines Flügels haben.
Aber die Architekten schöpfen auch aus dem Fundus der technischen Errungenschaften und lassen diese in die gebaute Umgebung einfließen. So entstehen Häuser, die wie Düsentriebwerke
»funktionieren« oder die Form gigantischer mathematischer
Modelle haben. Solche Häuser sind ein Sinnbild des menschlichen
TWA-Terminal am John-F.-KennedyFlughafen
Die eigenwilligen, fließenden Formen
der frei tragenden Kuppeln erheben
sich wie Fantasiegebäude über die ankommenden Fluggäste. Morgens und
abends sehen sie im Licht der tief
stehenden Sonne wie abstrakte Zeichnungen von Picasso aus. An der Stelle,
14
GEBAUTE UTOPIEN
wo die vier Kuppeln zusammentreffen,
neigt sich der Bau mit V-förmigen
Säulen dem Boden zu. Aufgrund ihrer
kurvigen Formen scheint es, als wüchsen die Säulen aus der Erde heraus.
Durch die strukturierte Oberfläche
wirken die Betonelemente lebendig,
fast wie von Hand behauen.
Könnens, des Triumphs über die Kräfte der Natur und der mutigen
Anwendung von Kenntnissen über Materialien.
Die 40 nachfolgend vorgestellten Gebäude unterscheiden sich
in hohem Maße voneinander und weichen auch von gängigen
Normen ab. Dennoch lassen sie sich in drei Gruppen kategorisieren: Einige ordnen sich der Natur unter, andere weisen sie zurück
und die dritte Gruppe versucht, eine Synthese aus Natur und Bauform zu finden. Dieses Buch stellt die drei Herangehensweisen
an die Architektur der Zukunft vor, beleuchtet ihren kulturellen
Hintergrund sowie die gestalterischen Prinzipien und informiert
über die Technologien und Materialien, die sich hinter den ungewöhnlichen Fassaden verbergen. Es unternimmt eine Reise in
eine Parallelwelt, die beweist, dass Gebäude, die vordergründig
nur fotogen oder auffällig wirken, durchaus etwas Subtiles und
eine verborgene Größe besitzen können. Löst man ihre sehr
unterschiedlichen Häute ab und betrachtet ihre innere Struktur,
erkennt man oft die Realitäten hinter der architektonischen
Fantasie.
In diesem Sinne sind die 40 Gebäude ein eindrucksvoller
Beweis dafür, dass die Architektur unsere Welt verändert hat.
1
FREMDE WELTEN
Tsui House, Berkeley
Obstmuseum, Yamanashi
The Shack, Northamptonshire
Temppeliaukio-Kirche, Helsinki
Guggenheim-Museum, Bilbao
Price House, Corona del Mar
Tjibaou Cultural Centre, Nouméa Cedex
Spaceship House, Sydney
Petronas Towers, Kuala Lumpur
High Desert House, Palm Springs
Ciutat de les Arts i de les Ciènces, Valencia
NEMO, Amsterdam
Busbahnhof, Casar de Cáceres
Sun Valley House, Idaho
Taipei 101, Taipei
Grabmal Brion, San Vito d’Altivole
Schottisches Parlament, Edinburgh
»Fantasie
erzeugt Realität.«
Richard Wagner, Komponist und Theoretiker, 1813 –1883
18
FREMDE WELTEN
Das Archaische, das Organische und das Fremde
Unsere Architektur ist unsere Identität. Unser tägliches Leben mit
Arbeit, Schlaf und Spiel verbringen wir in Gebäuden oder zwischen
ihnen. Sie sind der Stoff, aus dem unsere Welt besteht. Als die
Menschen die Höhlen verlassen und Unterstände gebaut haben,
haben sie die Verantwortung für die Gestaltung dieses Stoffs und
ihrer Umgebung übernommen. Und sie haben in gebaute Formen
ihr Wissen über Materialien, ihre Kreativität und ihre Wünsche
einfließen lassen. Große Kulturen sind entstanden und untergegangen und haben uns einzig ihre Architektur hinterlassen, aus
der wir etwas über ihren Alltag, ihr technisches Wissen und ihren
spirituellen Glauben erfahren können.
Es ist nicht verwunderlich, dass Filmemacher, die uns in fiktionale Welten entführen wollen, sich mit der Gestaltung der
Gebäudekulissen so viel Mühe geben. Nur so kann die Illusion
glaubwürdig werden. Seit Fritz Lang 1927 die düsteren, bedrohlichen Türme von »Metropolis« erschuf, hat sich das Genre des
Science-Fiction-Films die Gestaltung überzeugender Szenerien
in wachsendem Maß auf die Fahnen geschrieben. Die völlig künstlichen Welten von George Lucas’ »Star Wars«-Epen sind die Kulmination von Jahrzehnten technischer Verfeinerung. In ihnen hat
jede Spezies ihre klar definierte Kultur mit Zeremonien, Waffen,
Geschichte und Religion. Bei dieser Suche nach der totalen Simulation einer Parallelwelt scheint kein Detail belanglos.
Wenn aber der Abspann vorüber ist und das Licht wieder hell
wird, kehrt das Publikum zurück in die Welt mit den alltäglichen
Gebäuden und den vertrauten Landmarken, die von ausgetretenen
Pfaden verbunden werden. Oder auch nicht.
In diesem Kapitel geht es um eine weniger alltägliche Architektur,
um Bauten, die direkt von der Leinwand in unsere Welt gesprungen
zu sein scheinen. Es ist die wilde Seite der Architektur, der gewagte und experimentelle Aspekt einer Disziplin, die uns normalerweise eine eher banale Umgebung beschert. Es ist menschliche
Fantasie in gebauter Form.
Viele der Gebäude sind einzigartige, schön gestaltete Einzelstücke, die ihre Form den Visionen der Handwerker verdanken,
die an ihnen gearbeitet haben. In diesem Sinne verkörpern sie das
im 19. Jahrhundert von Richard Wagner propagierte Konzept des
»Gesamtkunstwerks«. Ihre illusionäre Wirkung beruht auf dem Verzicht vertrauter Elemente und die sorgfältige Auswahl durchdachter
Alternativen, die etwas mit den Requisiten auf einer Theaterbühne
gemein haben. Ohne Bezüge, die uns fest in die Wirklichkeit einbinden, ergreift die Illusion Besitz von uns, denn damit die Fantasie
umfassend sein kann, darf es keine Ablenkung geben. Schon ein
Riss in der Wand kann die perfekte Traumwelt ruinieren.
Früher war ein Projekt umso teurer, je detaillierter die Vision
ausgearbeitet war. Daher galt Science-Fiction traditionell als ein
Luxus der Reichen. Im 19. Jahrhundert konnten es sich nur die
Superreichen leisten, in riesigen, burgartigen Gutshäusern im mittelalterlichen Stil zu leben, umgeben von Symbolen aus der Artussage und handgefertigten Requisiten – ein vergeblicher Versuch,
sich der lauten, mechanisierten Wirklichkeit der Industriellen
Revolution zu entziehen. Solche aufwändigen Behausungen sind
ebenso weit außerhalb der Reichweite der Mehrheit wie die zeitgenössischen Gebäude von Bart Prince und Kendrick Kellogg,
die das Budget der meisten Menschen sprengen würden. Doch
Dr. Eugene Tsuis Haus ist ein Gebäude, das einerseits so weit von
der Wirklichkeit entfernt ist wie die gotisierenden Fantasien des
Viktorianischen Zeitalters, das aber andererseits wirkt, als könne
es jeder Handwerker unserer Zeit, der imstande ist, beschnitzte
Styroporblöcke und Sperrholzplatten mit der Kelle zu verputzen,
selbst bauen.
Die Moderne mit ihrer Neigung zur Mechanisierung bescherte
uns den Baustil des 20. Jahrhunderts, der auf unnötigen Zierrat
verzichtet und stattdessen auf klare, weiße Betonwände und präzise, maschinell bearbeitete Oberflächen aus Chrom und Stahl
setzt. Der Stil wird noch immer geschätzt, doch allmählich wenden
sich die Menschen von der sterilen geometrischen Perfektion der
weißen Kästen ab und wünschen sich eine Welt, die wie die Natur
selbst voller Farben, Muster und Strukturen ist. Architekten können heute mithilfe moderner Technologie nahezu alle denkbaren
Formen gestalten und müssen sich nicht auf Quadrate und Rechtecke beschränken. Organische Kuppeln, verzerrte Kugeln und
fließende Linien sind realisierbar geworden; Balken können zu
Knochen werden, Dächer zu Muschelschalen und Galerien zu
fremdartigen Metallblüten. Selbst Wolkenkratzer, traditionell eine
besonders geradlinige Bauform, zeigen nun weiche Rundungen,
baumähnliche Formelemente und dekorative Details, während sie
sich gleichzeitig immer höher aufrecken.
Aber woher beziehen all diese Projekte ihre Inspiration, ihre
innere Logik, ihre Existenzberechtigung? Sind sie nur verrückte
Ideen und willkürliche Formen, die mithilfe moderner Technologie
zusammengefügt werden? Nein. Es wäre falsch, sie als Spielerei
und Fantasie abzutun, denn unter ihren schwungvollen Kurven
und fremdartigen Fassaden verbergen sich technische Zaubereien,
kulturelle Hintergründe und eine zukunftsträchtige Logik.
Es sind Beispiele für echte Architektur – nur anders, als wir
sie bisher kennen.
FREMDE WELTEN
19
Fragen Sie einen zeitgenössischen Architekten, ob ein Gebäude
auf seine Umgebung abgestimmt sein, aus nachwachsenden Materialien gebaut und die immer drängender werdenden Umweltprobleme berücksichtigen sollte – und Sie werden garantiert eine
positive Antwort bekommen. Immerhin gelten diese Vorgaben in
der Branche heutzutage als selbstverständlich.
Das Tsui House beweist eindrucksvoll, dass diese Vorgaben
nicht unbedingt in konventioneller Form umgesetzt werden müssen und das umweltbewusste Design erheblich freier sein kann
als nüchterne Berechnungen der optimalen Oberflächen, der Ausnutzung von Sonnenenergie und der thermischen Masse. Es ist
reichlich Raum für intuitive Experimente und künstlerischen
Ausdruck in Farbe, Form und Struktur vorhanden.
Das Haus, das Dr. Eugene Tsui für seine Eltern entworfen hat,
sieht eher wie eine modellierte Skulptur aus. Es liegt an einer ganz
normalen Straße, rechts und links umgeben von weißen rechteckigen Betonbauten, und ist gerade dort ein visuelles Erlebnis aus
schwungvollen Rundungen und taktilen Oberflächen. Es ist kein
Zufall, dass es wie ein Meeresgeschöpf wirkt. Seine Grundform
orientiert sich am Bärtierchen, einem winzigen, wirbellosen Meereslebewesen, das 1773 entdeckt wurde und in allen Lebensräumen der Welt – von der Arktis bis zu den Tropen – leben kann. Die
Wände bestehen aus »Rastrablocks« aus recyceltem Styropor und
Zement, die verklebt, mit Verstärkungsstreben versehen und dann
mit Beton ausgefüllt sind. Für das gerundete Dach wurden mehrere
Schichten aus Holzplatten verarbeitet, mit Beton besprüht und dann
strukturiert und bemalt. Durch diese Materialkombination entstand
ein Gebäude, das gut isoliert ist und wegen des ovalen Grundrisses
und der um 4° abgeschrägten Wände auch Erdbeben widersteht.
Mit dem rundlichen Grundriss und dem durchgehenden Paraboldach wirkt das Haus wie eine gewaltige Muschelschale, in der
TSUI HOUSE
Oben: Von der Straße aus sieht das Tsui
House aus wie Aqua Marinas Wochenendhaus mit Commander Troy Tempests
Stingray in der Garage. Der Hauptturm
erhebt sich mit seinem goldfarbenen
Verputz und den Bullaugen wie ein
organischer Taucherhelm über dem
weiß verputzten Bau.
ARCHITEKT
Dr. Eugene Tsui
LAGE
Berkeley, Kalifornien,
USA
BAU
1993–1995
20
FREMDE WELTEN
Rechts: Von der Seite ist die Rillenstruktur der Rohre unter dem Verputz,
die sich wie Rippen über das Dach
ziehen, deutlich zu sehen. Auch die
Flossen am Okulus sind zu erkennen.
Das Vordach erhebt sich schützend wie
der Knochenkragen eines Triceratops
über dem Eingang. Das Wasser in den
Rohren, die die ausgeprägten Rippen
bilden, erwärmt sich auf der großen
Fläche bei Sonnenschein schnell.
TSUI HOUSE
21
einmal ein prähistorisches Lebewesen hauste, ehe es in einer ruhigen kalifornischen Vorstadt angespült wurde. Die prähistorischen
Parallelen sind nicht nur oberflächlich. Der Architekt ließ sich auch
vom Dimetrodon inspirieren, einem Dinosaurier aus dem Perm,
dessen auffälligstes Merkmal eine segelartige Flosse entlang der
Wirbelsäule war. Paläontologen vermuten, dass diese Flosse der
Regulierung der Körpertemperatur des Reptils diente, weil sie
einerseits eine große Oberfläche zur Aufnahme von Sonnenwärme
darstellte und andererseits durch Verdunstungskälte auch für Kühlung sorgen konnte. Tsui hat dieses Prinzip übernommen, indem er
das Dach mit flexiblen, mit Wasser gefüllten Kunststoffrohren belegt
hat, die sich unter dem goldfarbenen Verputz klar abzeichnen. Das
Wasser erwärmt sich tagsüber langsam und gibt die gespeicherte
Wärme in der Nacht wieder ab. Auch die ringsherum 1,5 Meter hoch
gegen die Wände angeschüttete Erde erhöht die Stabilität und die
thermische Masse des Hauses. Der Garten ist mit robusten kalifornischen Gewächsen bepflanzt, die kaum bewässert werden müssen,
weil sie an das trockene Klima angepasst sind. Tsui betrachtet das
Haus nicht im Sinne Corbusiers als »Maschine zum Wohnen«, sondern als lebenden Organismus, der seine Körpertemperatur mit
einem über 150 Millionen Jahre alten System selbst reguliert.
Oben: Die gerundete Sitzbank in der
Rotunde bildet das Herzstück des
Hauses. Umgeben von der Spiralrampe
und mit dem Fußboden unter dem
Erdniveau ist dies ein kühler, ruhiger
und geschützter Platz.
Gegenüber: Der Okulus in der Plexiglaskuppel mit einem mit Stahl verstärkten Rahmen aus Fiberglas ragt
über der verputzten Brüstung der
Rampe auf. Nachts wird der Innenraum von einem Kranz aus versenkten Deckenstrahlern beleuchtet.
Das auffälligste Merkmal im Inneren ist die 10 Meter hohe Rotunde
mitten im Haus, wo eine spiralförmige Rampe ins Obergeschoss
führt – vorbei an einem Okulus mit 5 Meter Durchmesser, durch
den Tageslicht ins Haus flutet. Auf der Außenfassade ist der Okulus
mit einem Kranz aus blauen und goldenen Strahlen dekoriert, die
aussehen, als wollten sie sich im nächsten Moment wie organische
Turbinenflügel drehen, um das Haus zurück ins Meer zu befördern.
Die Rampe hat eine Unterkonstruktion aus Douglasienholz, die an
Stahlseilen mit goldfarbenen Enden an der Decke aufgehängt ist.
In der Rotunde sind wie andernorts im Haus Sitzgelegenheiten
eingebaut. Sie bestehen aus dem gleichen Material wie die Wände
und verleihen dem Haus dadurch eine Einheitlichkeit, durch die es
wirkt, als sei es um seine Bewohner herum gewachsen.
Tsui hat eine ausführliche schriftliche Erklärung über die
gestalterische Logik des Hauses verfasst, in der er auf die strukturelle und symbolische Bedeutung der einzelnen Elemente eingeht.
Dennoch fällt das Haus weniger durch seine Logik auf als durch
die lebendigen, fließenden Formen und die verspielten Details. Es
beweist eindrucksvoll, dass Architektur ein Ausdrucksmittel sein
kann, ein Triumph der Fantasie über das Alltägliche. Es funktioniert, es ist langlebig und es schenkt Freude.
Rechts: Wie eine Ranke schlängelt sich
die Rampe um den geborgenen Sitzplatz
in der Mitte. In die ansprechenden, von
Hand gestalteten Oberflächen sind auch
Industrieprodukte eingearbeitet, beispielsweise Durchschläge aus Stahl als
Unterbau der sternförmigen Lüftungsöffnungen.
TSUI HOUSE
23
Normalerweise werden in Museen wertvolle Kunstwerke oder Objekte von kultureller oder historischer Bedeutung verwahrt, deren
Zeit längst vergangen ist, die aber mit Sorgfalt behandelt und erhalten werden, damit spätere Generationen sie kennen lernen können. Das Obstmuseum in der japanischen Präfektur Yamanashi ist
eine Ausnahme von dieser Regel, denn die Ausstellungsstücke
dieses Hauses können nicht in ihrer Originalform erhalten bleiben,
da ihr Fleisch im Lauf des Jahres anschwillt und dann vertrocknet
und verrottet, wenn es nicht geerntet und verzehrt wird. Gewiss
kann man Früchte mit Zucker oder Alkohol konservieren, doch diese Produkte sind nur Schatten ihrer früheren, sinnlichen Erscheinungsformen. Nur die Samen bleiben unverändert und ruhen, bis
sich die Gelegenheit zum Keimen ergibt. So hat es eine gewisse
Logik, dass Japans führende Architektin Itsuko Hasegawa die Form
der langlebigen Samen als Ausgangspunkt für ihren Museumsentwurf wählte.
Das Museum liegt im Tiefland von Kofu, dem wichtigsten Obstanbaugebiet Japans. Es scheint vordergründig seltsam, ein Lebensmittel in ähnlicher Weise wie ein altes Kulturgut zu würdigen, doch
wenn man die Bedeutung des Anbaus für die örtliche Wirtschaft
bedenkt, relativiert sich dieser Gedanke. Immerhin zuckt auch
niemand mit der Wimper, wenn man in anderen Museen Sammlungen von Keramik und Porzellan findet.
OBSTMUSEUM
ARCHITEKTIN Itsuko Hasegawa
LAGE
Yamanashi, Japan
BAU
1993–1996
24
FREMDE WELTEN
Links: Das kahle, abschüssige Grundstück am Ufer des Fuefuki-Flusses
verleiht dem neuen Museum eine fremdartige Ausstrahlung. Die deformierten
Formen der verschiedenen Bauten
erheben sich wie Außerirdische über
dem fruchtbaren Boden.
Oben: Das von Glasflächen umschlossene Gewächshaus wirkt, als sei es
halb in der Erde vergraben – wie ein
Samen, der keimen will.
OBSTMUSEUM
25
Die Dachterrasse mit dem Restaurant
befindet sich im obersten Stockwerk des
Werkstatt-»Käfigs« unter den gekrümmten Streben. Durch die erhöhte Lage auf
den Hängen der Weingärten hat man
einen großartigen Blick auf den Fujijama
in der Ferne.
26
FREMDE WELTEN
Das Obstmuseum sieht aus wie eine Space-Age-Kolonie auf dem
Mars. Es ist eine Sammlung von zerbrechlichen Kapseln aus Stahl
und Glas und skelettartigen Ammoniten in einer kargen Landschaft.
Bei der Fertigstellung des Baus wirkte die direkte Umgebung wie
die Oberfläche eines feindlichen Planeten – doch das war nur eine
vorübergehende Erscheinung, denn bald verwandelten sich die verschiedenen Pflanzenarten auf dem Grundstück in eine lebendige
Ausstellung.
Das erste der drei Museumsgebäude ist das Gewächshaus, eine
moderne Hightech-Kuppel mit einer verglasten Stahlkonstruktion,
die sich vom Fundament auf Bodenhöhe in immer größer werdenden Bögen bis zu einer Höhe von 20 Metern aufreckt und dann auf
der anderen Seite im Bogen wieder abfällt. Im Profil sieht der Bau
aus wie eine verzerrte Kugel. Eine Seite ist annähernd halbkugelförmig, die andere abgeflacht. Durch die Unregelmäßigkeit wirkt
das Gebäude organischer, denn perfekte Symmetrie trifft man in
der Natur kaum an. Im Inneren des Glashauses befindet sich eine
üppige Sammlung aus tropischen Obstpflanzen und -bäumen,
ein urzeitlicher Garten Eden, eingefangen in einer Glaskugel des
21. Jahrhunderts.
Aus dem Gewächshaus gelangt man durch eine unterirdische
Galerie in einem Tunnel in den zweiten Bau, die abgeflachte Kuppel des Event Space. Aus dem unterirdischen Ausstellungsbereich
werden die Besucher in einen abgestuften Veranstaltungsbereich
geleitet, in dessen Mitte sich ein Wald von Säulen aufreckt, die in
stählernen »Baumkronen« auslaufen. Die Kronen münden in komplett verglaste Wände, die aussehen, als würden sie schweben.
Der Raum hat etwas Theatralisches. Es könnte der Thronsaal
eines fernen Königreichs sein, in dem der Früchtekönig Hof hält.
Der dritte Bau ist das Werkstattgebäude mit vier Stockwerken,
dessen rechteckiger Grundriss von elliptischen Balkons umgeben
ist, die ihn umhüllen wie die Blätter einen schwellenden Salatkopf.
Auch dies ist eine deformierte Grundform, die aber nicht verglast
ist, sodass sie eine riesige Pergola bildet, an der von Früchten
schwer beladene Kletterpflanzen wachsen. In diesem Gebäude
sind Verwaltungsräume und eine Lehrküche untergebracht, im
obersten Stockwerk befindet sich ein Restaurant.
Beim Bau aller Elemente wurden spezifische Vorschriften berücksichtigt, um Schäden durch Erdbeben, die in dieser Region häufig vorkommen, zu vermeiden. Die Ingenieurfirma Ove Arup nutzte
die Gelegenheit zur Anwendung der neuesten GSA Dynamic Stress
Modelling Software, um die Stabilität zu prüfen und den Glasbruch
bei seismischer Aktivität auf ein Minimum zu reduzieren. Mit dieser
Unterstützung ist es Hasegawa gelungen, eine langlebige und futuristische Anlage zu gestalten, in der fruchtbaren, jungen Geistern
die Bedeutung des Obstanbaus nahegebracht werden kann.
Die präzise gearbeiteten Rippen des
Gewächshauses korrespondieren mit
den Formen der Palmwedel unter
dem Glasdach.
Wie ein nach oben anschwellender
Stamm wirkt der Mittelpfeiler des Event
Space, in dem Vorträge und andere
Veranstaltungen stattfinden.
OBSTMUSEUM
27
Gebäude können mit der Geschichte eines Orts ebenso viel zu tun
haben wie mit dem Hier und Jetzt. Dieses kleine, aber ausdrucksstarke Projekt zeigt deutlich, wie ein Architekt einen Bau auf vielschichtige Weise in seine Umgebung einbinden kann.
Niall McLaughlin wurde von einer Fotografin, die sich auf Aufnahmen von Wasserinsekten spezialisiert hat, beauftragt und
gestaltete mit ihr gemeinsam diese originelle Variante eines Ateliers im Grünen. Der Bauplatz befand sich im Garten der Klientin
am Ufer eines Teichs. Auf dem angerenzenden Ackerland befand
sich im Zweiten Weltkrieg ein Stützpunkt der US-Luftwaffe. Die
geschwärzten B-24-Bomber, die zur Unterstützung der Widerstandskämpfer eingesetzt wurden, machten nach dem Krieg
massiven Betonbauten Platz, die als Basis für Atomwaffen dienen
sollten. In den 1960er Jahren wurde das Grundstück geräumt,
doch es blieben allerlei militärische Hinterlassenschaften zurück,
darunter ein zerlegter Bomber knapp unter der Oberfläche. Es war
die Widersprüchlichkeit der beiden Ebenen, die zur Wahl dieses
Platzes führte. Einerseits ist da die vom Krieg geschundene Landschaft im Stil der düsteren Bilder des deutschen Künstlers Anselm
Kiefer (den McLaughlin bewundert), andererseits der Teich, dem
sich die Fotografin mit ihren Objektiven widmet.
Die scheinbar freien Formen des Gebäudes ergaben sich während des Gestaltungsprozesses. Der Bauunternehmer Simon
Storey erklärte sich zur Übernahme des Auftrags nur bereit, wenn
Links: Der ehemals trübe Teich wurde
mit einer Filter- und Sauerstoffanlage
ausgestattet, um Tiere anzulocken, die
der Fotografin als Modelle dienen. The
Shack ist mit einer Leseecke und einer
Sauna ausgestattet und wird als Atelier
und Rückzugsort genutzt.
Unten: Wie ein Vogel mit ausgestreckten Flügeln, der gerade zu einer kurzen
Rast gelandet ist, kauert The Shack am
Teichufer. Der vorspringende »Schnabel« dient zugleich als Oberlicht und
Beobachtungsturm.
THE SHACK
ARCHITEKTEN Niall McLaughlin
Architects
LAGE
Northamptonshire,
England
BAU
1996
28
FREMDE WELTEN
THE SHACK
29
er ohne exakte Zeichnungen arbeiten durfte. So hatte er ausreichend Spielraum, die Modelle und Collagen umzusetzen, die Architekt und Klientin im Maßstab 1:10 gestaltet hatten. Der Bau aus
verputzten Porenbetonsteinen steht auf einem Betonfloß, von dem
ein Holzdeck ausgeht, das über dem Wasser schwebt. Das Dach
bildet eine komplexe Flügelkonstruktion aus Sperrholz und Fiberglas auf einer dünnen Stahl-Unterkonstruktion. Es erinnert verblüffend an die bedrohliche Bumerang-Form eines B-2 Spirit StealthBombers. Während aber die US-Regierung ungefähr 23 Milliarden
US-Dollar für die geheime Konstruktion des Bombers ausgab,
genügte für das Haus am Teichufer ein wesentlich bescheideneres
Budget von £ 15,000.
Abgesehen von den aeronautischen Assoziationen kann man in
dem Gebäude aber auch Ähnlichkeiten mit Insekten und Vögeln
finden. Das ausladende Dach erinnert an die Gewohnheit von Watvögeln, ihre Flügel auszubreiten, um Schatten auf das Wasser zu
werfen und so ihre Beute leichter zu entdecken. Die auf der Ostseite überstehenden Bauteile bestehen aus dünnen, perforierten
Stahlplatten aus verzinktem Stahl. Kurz vor der Spitze werden sie
von schlanken Stahlstangen gehalten, die bis ins Wasser neben
den Trittsteinen am Eingang zur Sauna reichen. Diese abgestufte
Reihe aus Stahlplatten schattiert das Glasdach des Hauptraums
und wirkt wie ein untergliedertes Rückgrat, so zerbrechlich wie der
Schwanz einer Libelle.
Unter dem Glas befinden sich Lamellen aus Polykarbonat, mit
denen sich der Lichteinfall noch feiner regulieren lässt. Weil die
Dachkonstruktion so leicht ist, bewegt sie sich im Wind und erzeugt
interessante Licht- und Schattenmuster im Inneren des Gebäudes.
Viele Gestaltungsentscheidungen ergaben sich aus dem
Wunsch, die vielfältigen Lichteffekte einzufangen und die Fotografin ihrem Motiv näher zu bringen. Die quadratischen Fenster mit
den tiefen Rahmen in der Hauptwand dienen als Mini-Studios, in
denen die Fotografin im Licht, das vom Wasser draußen reflektiert wird, kleine Objekte arrangieren und fotografieren kann.
The Shack ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch kleine
Gebäude mit bescheidenem Budget Platz für künstlerische Experimente lassen. Statt sich auf eine konventionelle Lösung im
Stil eines Schuppens oder einer Laube zu beschränken, hat der
Architekt hier die Gartenarchitektur um ein durchaus zeitgemäßes
Kapitel bereichert. McLaughlin hatte an dem kleinen Projekt viel
Freude und hat inzwischen einen ebenso gelungenen, frei gestalteten Orchesterpavillon für den berühmten De La Warr Pavilion in
Bexhill on Sea (2001) sowie mehrere preisgekrönte Privathäuser
gestaltet.
Die perforierten Stahlplatten, die das
Haus beschatten, sehen wie die architektonische Umsetzung der Struktur von
Libellenflügeln aus und knüpfen damit
an das Spezialgebiet der Fotografin an.
30
FREMDE WELTEN
Gegenüber: Die Stahlkonstruktion und
die Polykarbonat-Lamellen in der Decke
produzieren reizvolle Licht- und Schatteneffekte an der Wand. Das Licht fällt
auf die immer neuen Kompositionen
aus Fundstücken, die die Fotografin auf
den Fensterbänken arrangiert.
ARCHITEKTEN Timo & Tumamo
Suomalainen
LAGE
Temppeliaukio-Platz,
Helsinki, Finnland
BAU
1968–1969
TEMPPELIAUKIO-KIRCHE
Man sollte nicht vergessen, dass das Christentum einmal eine
Religion im Untergrund war, deren Anhänger erbittert verfolgt
wurden und deren Andachtsorte aus Angst vor Entdeckung versteckt waren. Von den Tiefen der römischen Katakomben bis zu
den in Hügeln versenkten Kirchen von Lalibela in Äthiopien hatten
die Gläubigen gelernt, ihre Religion still und oft unter der Erde
verborgen auszuüben.
Im Helsinki des 20. Jahrhunderts muss man keine Repressalien fürchten, dafür haben hier Sorgen um den Charakter der
Stadt dazu geführt, dass die Architektur unterirdischer Kirchen
neues Terrain beschritten hat. Der Entwurf der Brüder Suomalainen für die Temppeliaukio-Kirche, die oft als »Felsenkirche«
bezeichnet wird, gewann bei einem offenen Wettbewerb im Jahre
1960 den ersten Preis, doch wegen interner Debatten über die
Notwendigkeit einer neuen Kirche in der Region konnte mit dem
Bau erst 1968 begonnen werden.
Über dem freien Platz von länglich-rechteckigem Zuschnitt
ragt eine Felsformation von 8 bis 13 Metern Höhe auf, umgeben
von Straßen und Wohnblocks, von denen viele acht Stockwerke
haben. Den Architekten war daran gelegen, dass die Kirche
weder die Häuser noch den offenen Platz dominieren sollte. So
entschlossen sie sich, den Bau im Boden zu versenken. Der
Bau wurde aus dem Fels heraus bis auf Straßenniveau gehauen.
Die anfallenden Bruchsteine verwendete man zum Bau einer
umlaufenden Mauer, die als Lärmschutz dient. Sie stellt sicher,
dass der Gottesdienst nicht durch Geräusche vom offenen Platz
gestört wird – und dass, wie gefordert, den Bewohnern ihr öffentlicher Freiraum erhalten bleibt.
Die Felswände sorgen allein durch ihre Masse für Isolierung.
Allerdings mussten an ihrem Fuß kleine Gräben geschaffen werden, durch die das langsam austretende Wasser abfließen kann.
Die Architekten beschlossen, den Stein nicht akkurat behauen
zu lassen, sondern seine raue Oberfläche zu erhalten.
Gegenüber: Geistliche, die aus dem
Sakristei-Tunnel treten, werden von
der attraktiven Kuppel und dem Strahlenkranz der Betonträger über der
wartenden Gemeinde begrüßt.
Oben: Von der Straße aus gesehen erhebt sich die Kuppel nur wenig über die
äußere Ringmauer aus grob behauenen
Steinen. Im Gegensatz zu den Innenwänden ist diese Mauer nicht mit Mörtel
aufgesetzt, sondern mit einer Stahlkonstruktion abgestützt, damit sie
natürlicher wirkt.
32
FREMDE WELTEN
Rechts: Von unten ist die Kuppel aus
Spannbeton mit einer schalldichten
Membran überzogen. Darüber liegen
20 Millimeter breite Kupferstreifen, die
auf die Konstruktion genagelt sind. Die
schimmernde Decke wirft wie eine
Sonnenscheibe einen warmen Schimmer auf den Innenraum.
Aus dem Technikraum kann man die
dramatische Struktur bestaunen. In der
Mitte ist das gestreifte Schattenmuster
zu erkennen, das die Konstruktion aus
Betonträgern wirft.
Diese unregelmäßige Struktur gibt ihm nicht nur Charakter, sondern kommt auch der Akustik in der Kirche, in der Konzerte stattfinden, zugute. Die inneren Felsmauern sind mit verborgenen
Mörtelfugen versehen und wirken wie eine natürliche Erweiterung
des Gesteins.
Die 180 Betonträger, die das Kuppeldach stützen, bilden einen
Strahlenkranz von 360°, durch den Tageslicht einfällt. Im Sinne
der Steinkreise des Neolithikums wurde die Inneneinrichtung so
gestaltet, dass die Sonne zur üblichen Zeit des Morgengottesdiens-
34
FREMDE WELTEN
Der Blick zum Altar zeigt die interessante Vielfalt der natürlichen und von
Menschen hergestellten Materialien.
Unter der Kupferdecke befindet sich
auch der Eingang zum Tunnel, der zum
Pfarrbüro neben der Kirche führt.
tes direkt auf die Altarwand fällt. Um eine Verbindung zwischen
der exakt geometrischen Kuppel von 24 Metern Durchmesser und
der unregelmäßigen Oberfläche der natürlichen Felswände zu
bilden, haben die Betonträger unterschiedliche Längen. Durch
die Synthese aus der schalenförmigen Kuppel auf den verwitterten,
uralten Felsen erscheint der Bau gleichzeitig futuristisch und
traditionell.
Von der Straße aus wirkt das niedrige Portal auf den ersten
Blick wie der Eingang in einen Bunker, doch dieses Bild relativiert
sich, sobald der Besucher das mit Kupfer ausgekleidete Innere
betritt. Die Reflexion der violetten Polster auf dem Gestühl im
Kupfer, mit dem die Unterseite der Galerie beschlagen ist, lässt
die rauen Felsen, die strahlenförmigen Betonträger und den
Altar sehr warm wirken.
Weil die Kirche in einer dicht besiedelten Gegend liegt, wird sie
nicht nur als Andachtsstätte benutzt, sondern auch als Veranstaltungsort. Links vom Altar befindet sich ein Podest für den Chor,
davor ein Bereich für das Orchester. Ein schalldichter Technik-
raum am Ende der oberen Galerie wird für Rundfunk- und Fernsehaufzeichnungen benutzt, um den Gottesdienst in die Haushalte
zu übertragen.
Die Lösung der Brüder Suomalainen hat diesen Vorort um einen
Andachtsort und ein Kulturzentrum bereichert, ohne den großen
Platz zu opfern. Mit der durchdachten Konstruktion der Temppeliaukio-Kirche ist das Christentum diesmal freiwillig in den Untergrund gegangen.
TEMPPELIAUKIO-KIRCHE
35
Die 1937 gegründete Solomon R. Guggenheim-Stiftung ist eine
amerikanische Institution mit unterschwellig europäischer Prägung. Die Sammlung enthält vorwiegend Werke von AvantgardeKünstlern aus der »Alten Welt«, die in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts entstanden. Obwohl Stiftungsdirektor Thomas
Krens selbst Amerikaner ist, brachte er einen beträchtlichen Teil
der Guggenheim-Sammlung zurück auf den Kontinent, wo ihre
Wurzeln liegen. Damit tat er einiges für den Wohlstand von Spaniens viertgrößter Stadt, kurbelte aber auch die internationale
Nachfrage nach spektakulärer Architektur an.
Die Küstenstadt Bilbao war lange Zeit ein Zentrum des Schiffbaus gewesen, doch weil die Fischereiflotte sich verkleinerte und
die Nachfrage nach Segel-Trawlern stetig sank, unternahm die
Provinzregierung radikale Schritte, um die Diversifizierung und damit das Überleben der städtischen Wirtschaft zu fördern. Zunächst
wurden hochkarätige Architekten beauftragt, die Infrastruktur zu
modernisieren. Norman Foster entwarf die U-Bahn, Santiago
Calatrava das Flughafengebäude und Michael Wilford den Bahnhof.
Nun fehlte nur noch eine kulturelle Attraktion, die Touristen veranlasste, ihre Reise in Bilbao zu unterbrechen. Aus diesem Grund
nahm die Stadt 1991 Kontakt zu Thomas Krens auf und bot ihm an,
eine ehemalige Wein-Abfüllanlage im Stadtzentrum in ein Museum
GUGGENHEIM-MUSEUM
Oben: Durch das längliche Oberlicht über
dem Raum für wechselnde Ausstellungen
überblickt man die Stadt. Es ist mit gebörtelten Titanplatten von nur 0,38 Millimeter
Stärke verkleidet.
ARCHITEKT
Frank O. Gehry
LAGE
Bilbao, Spanien
BAU
1991–1997
Links: Die schwungvollen Rundungen der
Gebäude mit Titanverkleidung sind direkte
Umsetzungen von Gehrys Originalmodellen – als hätte der Architekt das Gebäude
mit seinen eigenen Händen modelliert.
GUGGENHEIM-MUSEUM
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umzubauen. In dem verwinkelten, unflexiblen Gebäude mit den
niedrigen Decken und den störenden Pfeilern sah Krens allerdings
kein Potential. Doch schon am nächsten Morgen entdeckte er beim
Joggen das ideale Grundstück: ein verfallenes Gelände mit Lagerhäusern am Fluss Nervion, gleich neben einer Straßenbrücke und
einer Eisenbahnlinie. Krens hielt es für den idealen Platz für ein
Museum, das einen Bezug zur Stadt haben und eine Brücke zwischen den Geschäftsbezirken und den historischen Stadtvierteln
bilden sollte. Binnen einer einzigen Woche nahm die Stadtverwaltung seinen Vorschlag an. Wenige Monate nach Krens’ Entdeckung
wurde ein geschlossener Wettbewerb veranstaltet, an dem Frank
Gehry, Arata Isozaki und Coop Himmelblau teilnahmen. Gehry
gewann und erhielt den Auftrag, das neue europäische Flaggschiff
der Guggenheim-Stiftung zu bauen.
Zunächst stellte sich Gehry an das Flussufer mit Blick auf das
Gelände und zeichnete einige Freihand-Skizzen. In seinem Atelier
verwandelte er die kraftvollen Striche in hunderte, wenn nicht
tausende von Modellen. Er faltete, drehte und knüllte Papier und
Pappe, um die anscheinend zufälligen Formen zu erhalten, aus
denen sich das Gebäude herauskristallisierte. Der nächste Schritt,
ein Quantensprung im Bauwesen, war nur durch den ausgiebigen
Einsatz des französischen Computerprogramms CAITA möglich,
das eigentlich in der Flugzeugindustrie zur Entwicklung des
Mirage-Kampfflugzeugs und der Boeing 777 eingesetzt wurde.
Gehrys Papiermodelle wurden mithilfe eines Lasers, der die Formen abtastete und digitalisierte, in die virtuelle Welt übertragen
und in dreidimensionale Computermodelle verwandelt, die sich auf
die endgültigen Originalmaße vergrößern ließen. Aus diesen Daten
konnten die Ingenieure und Baufirmen relativ einfach Pläne und
Querschnitte herstellen. Digitale Verknüpfungen zwischen den
einzelnen Komponenten machten es möglich, einzelne Elemente
zu verändern und dem Computer die Anpassung der übrigen zu
überlassen.
Das Grundgerüst besteht aus Stahl-I-Trägern, aus denen ein
Gitter mit etwa 3 Meter großen, quadratischen Feldern konstruiert
wurde. Alle Komponenten wurden per CNC-Technik direkt anhand
der Daten aus den Modellen des Architekten zugeschnitten. Die
Teile sind nicht verschweißt, sondern verschraubt, weil das Vorbohren der Schraublöcher größere Genauigkeit sicherstellte. Die
Konstruktion wurde in einzelnen Ebenen hergestellt, die nummeriert und an den Standort des Museums gebracht wurden – wie
ein riesiger Metallbaukasten. Dann befestigte man eine abschließende Lage aus gebogenen Stahlrohren an dem Trägerskelett,
wodurch seine Ecken und Kanten in elegant geschwungene Formen verwandelt wurden. An den Rohren verankerte man senkrechte Stahlstreben und an diesen wiederum die schimmernde
Außenhaut des Gebäudes aus Titanplatten, die mit Edelstahlschrauben fixiert sind. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen
Architekt, Ingenieur und Bauunternehmen, die alle Daten gemeinsam nutzten, konnte das Gebäude im Rahmen des Zeit- und
Budgetplans (44 Millionen Britische Pfund) fertig gestellt werden,
ohne etwas von seinem skulpturhaften Reiz einzubüßen.
Mit dieser innovativen Herangehensweise an die Architektur
gestaltete Gehry einen Bau, der unverkennbar seine Handschrift
trägt. Gleichzeitig regte er damit eine unerwartet hohe Nachfrage
nach weiteren solcher ungewöhnlichen Bauten an, um auch anderen Städten einen ähnlichen Aufschwung zu bescheren, wie ihn
Bilbao durch das Guggenheim-Museum erfuhr. Dass dieses Phänomen heute als »Bilbao-Effekt« bezeichnet wird, ist vielleicht die
größte Auszeichnung für das Projekt, das durch Krens Weitblick
als Kurator und Gehrys einzigartiges kalifornisches Flair möglich
werden konnte.
Links: Das Innere der Galerie ist nicht
minder unkonventionell. Hier wiederholen sich die Wölbungen der Außenwände, allerdings aus Kalkstein und
weißem Verputz.
Gegenüber: Wie ein futuristisches
Gespenst aus Metall erhebt sich das
Museum am Flussufer und erinnert
durch seine verschiedenen, Schiffsrümpfen gleichenden Elemente an
Bilbaos Vergangenheit als Zentrum
des Schiffbaus.
An Amerikas Westküste findet man einige der ungewöhnlichsten
Privathäuser der Welt. Die Kombination aus reichlich Bauland und
gut betuchten Klienten bietet Architekten die Möglichkeit, mit Entwürfen zu experimentieren, für die sie andernorts keine Möglichkeit fänden.
Bart Prince formuliert es so: »Wir leben in einer Zeit, in der
im Hinblick auf das Design fast alles machbar ist.« (Architectural
Digest, Januar 2002). Das Price House ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie man mit künstlerischem Einfallsreichtum das
Briefing des Auftraggebers erfüllen kann, ohne auf traditionelle
Klischees zurückzugreifen oder die Klarheit der Struktur zu opfern.
Das Anwesen besteht aus drei »Kapseln« in locker halbkreisförmiger Anordnung, die hintereinander in einer überlappenden Linie
arrangiert sind und sich hinter einer frei geformten Außenhülle
erheben. Diese Hülle schützt die »Kapseln« vor neugierigen
Blicken von der Straße vor dem Haus. Sie besteht aus einer HolzUnterkonstruktion mit Verstärkungen aus Stahl und ist mit unregelmäßigen Zedernschindeln verkleidet, die ihr eine organisch
wirkende Oberfläche aus kurvigen Linien und Wölbungen geben.
Als Bedachungsmaterial sind Schindeln in der Region üblich, aber
Prince setzt sie hier nicht als glatte Oberflächenverkleidung ein,
sondern als dreidimensionales Medium. Der Bau des ungewöhnlichen Anwesens begann mit handgezeichneten Skizzen (mit Bleistift auf Mylar, ganz ohne Computerunterstützung), auf denen das
Erscheindungsbild der Schindelmuster bereits zu erkennen war.
Wöchentlich flog Prince zur Baustelle, um mit Vorarbeiter Eric
Johnson die Anordnung der Schindeln in den einzelnen Bereichen
zu besprechen. Er ließ dem Handwerker Spielraum für eigene
Ideen, behielt sich aber die letzte Entscheidung vor. Stellenweise
liegen die Schindeln in 10 bis 15 Lagen übereinander, sodass die
Fläche wie eine riesige Stoffbahn mit Holzmuster wirkt, die sich
im frischen Seewind bauscht.
Im Inneren wird das Haus durch die Strukturelemente beherrscht, die ihm seine Form geben. Um das Erdgeschoss offen
zu halten, stützte Prince die drei »Wohnkapseln« mit Pfeilern ab,
die man mit Bäumen vergleichen könnte. Da sie in separaten
Betonfundamenten verankert sind, können sie sich im Fall eines
Erdbebens unabhängig voneinander bewegen. Sie recken sich zur
Decke, wo sie sich in alle Richtungen verzweigen und den Boden
der darüber liegenden Räume tragen. Die Träger setzen sich an
den Seitenwänden der Räume fort und biegen sich dann wieder
zum Stamm, um das Dach des Gebäudes zu halten. Alle KompoIm Licht der Spätnachmittagssonne
schimmern die Zedernschindeln der
Verkleidung wie Blattgold und ihr Farbton geht fließend in die Rottöne der
Kupferdächer der »Kapseln« über.
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FREMDE WELTEN
ARCHITEKT
Bart Prince
LAGE
Corona Del Mar,
Kalifornien, USA
BAU
1984–1989
PRICE HOUSE
Das U-förmige Erdgeschoss umgibt
einen nach Süden gerichteten Swimmingpool – ein privates Märchenland mit zwei
Brücken, über die man bequem in die
Wohnräume gelangt.
Links: Prince hat nicht nur für die
Gebäudekonstruktion laminiertes Holz
verwendet, sondern auch für die maßgeschneiderten Möbel im Inneren, hier
der schwungvolle Schreibtisch mit
integrierter Lampe.
Unten: Die Kombination aus der Treppe
mit den von innen beleuchteten Stufen
aus blau-transparentem Kunststoff
und der gewellten Schindelwand zeigt,
wie gekonnt Prince moderne und traditionelle Materialien in seinem künstlerischen Vokabular in Einklang bringt.
nenten bestehen aus 2 Zentimeter breiten Fichtenstreifen, die zu
Balken mit einem Querschnitt von 7,5 x 23 Zentimetern verleimt
sind. Durch diese Methode können längere Balken produziert und
der Verschnitt minimiert werden. Das Holz trägt fast das gesamte
Gewicht, nur die nahezu rechtwinkligen Verbindungen der Träger
sind mit Stahlplatten verstärkt. Als Verbindungselemente dienen
Schrauben und Muttern aus Edelstahl, die durch Holzkappen vor
der salzhaltigen Seeluft geschützt sind. Besonders eindrucksvoll
ist die Wendeltreppe, die in das Arbeitszimmer führt. Es ist eine
so raffinierte Konstruktion, dass sie sich auch in Kapitän Nemos
»Nautilus« 20 000 Meilen unter dem Meer gut machen würde.
Obwohl die Treppe fast vollständig aus Holz besteht, vermitteln
die abgewinkelten Träger und die gelochten Winkelversteifungen
etwas Solides, das an den viktorianischen Metallbau mit seinen
zahllosen Schraubenköpfen erinnert.
Jedes von Princes Häusern ist ein Einzelstück. Hier hat er für
seinen Auftraggeber ein Schmuckstück mit Blick auf den Ozean
geschaffen. Bei oberflächlichem Hinsehen mag man es für ein
Fantasiegebilde halten – doch die Fantasie hat sich als statisch
solide und technisch umsetzbar erwiesen.
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FREMDE WELTEN
Die laminierten Holzstufen der Wendeltreppe wirken durch Kupferstreifen in
ihren Vorderkanten leichter. Im hohlen
»Stamm«, der mit Stahlwinkeln an
seinem Betonfundament verankert ist,
sind Rohre und Kabel untergebracht.
PRICE HOUSE
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