GEBAUTE UTOPIEN Paul Cattermole GEBAUTE UTOPIEN Architektur für morgen Deutsche Verlags-Anstalt INHALT Für Pamela und die wachsende Wölbung, die unsere Schöne Neue Zukunft ankündigt. Aus dem Englischen übersetzt von Wiebke Krabbe Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http:dnb.ddb.de› abrufbar. 1. Auflage Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Titel der englischen Originalausgabe Buildings For Tomorrow. Architecture That Changed Our World © 2006 Palazzo Editions Ltd, 15 Gay Street, Bath, BA1 2PH, UK www.palazzoeditions.com Text © Paul Cattermole 2006 Fotos © The Photographer/Arcaid, www.arcaid.co.uk Alle Rechte vorbehalten Design: Bernard Higton Bildredaktion: Paul Cattermole Lektorat: Catherine Hall, Iona Baird Satz der deutschen Ausgabe: Edith Mocker, Eichenau Produktion der deutschen Ausgabe: Monika Pitterle Printed and bound in Singapore ISBN: 978-3-421-03637-7 www.dva.de Einführung: Schöne Neue Zukunft 6 1 2 3 Fremde Welten 16 Das Archaische, das Organische und das Fremde Todessterne und TIE-Fighter 88 Das Mechanische, das Konstruierte und das Bedrohliche Die Rückkehr des Blob 146 Das Weiche, das Sinnliche und das Umweltgerechte Schlussbemerkung 186 Verzeichnis der Architekten 188 Bildnachweis 189 Bibliografie 190 Dank 192 Architektur ist ein ausgezeichnetes Medium, um Zukunftsvisionen umzusetzen. Gebäude können vermitteln, wie die Welt der Zukunft aussehen mag. Durch ihre Größe beeindrucken sie den Betrachter, lösen ihn aus dem Hier und Jetzt und versetzen ihn in eine andere Welt. Die moderne Technologie wird immer raffinierter und der Wunsch, sie einzusetzen, immer größer. Dadurch verschwimmt die Grenze zwischen realer und fantastischer Welt zunehmend. Projekte, die wegen Zweifeln an ihrer Umsetzbarkeit früher in den Archiven verstaubt wären, betrachtet man heute immer öfter als denkbare Spielarten der Architektur. Es wäre relativ einfach, ein ganzes Buch mit den nicht realisierten Projekten der letzten 100 Jahre zu füllen. Man könnte ihre faszinierende, skizzenhafte Pracht und ihre utopischen Ideale bestaunen, für die weder Budgetgrenzen noch die Gesetze der Schwerkraft zu gelten schienen. Ebenso einfach wäre es, eine Sammlung von Filmsets zusammenzustellen, seien es nun windige Konstruktionen aus Holz und Gips aus den Asservatenkammern Hollywoods oder raffinierte Computersimulationen. Auch dies wären nur flüchtige Visionen, an die Kriterien wie Ergonomie oder Wetterbeständigkeit nicht angelegt werden müssten. Dieses Buch hingegen stellt futuristische Projekte vor, die tatsächlich verwirklicht wurden. Erstaunliche Bauten, als verwegene Idee entwickelt und bis zur Vollendung geführt. Es sind keine skizzenhaften Entwürfe, keine architektonisch-unterhaltsamen Spielereien, sondern reale Gebäude, in denen Science-Fiction zur Wirklichkeit geworden ist. Einige der vorgestellten Projekte sind weltberühmt geworden, andere sind ambitionierte Prototypen und wieder andere muss man als »maßgeschneiderte Einzelanfertigungen« betrachten. Manche sind so fantastisch und fotogen, dass sie die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion auf andere Weise überschritten haben, indem sie als Filmszenerie genutzt wurden. Es ist gar nicht verwunderlich, dass diese Versuche, die Architektur der Zukunft praktisch vorauszunehmen, in den USA ihren Anfang nahmen. Mit ihrem Pioniergeist, der aktiven Industrie sowie dem Reichtum an Fläche und natürlichen Rohstoffen boten die USA um die Mitte des 20. Jahrhunderts den idealen Nährboden für Innovation und Experimente. Ausgewählte Arbeiten von vier besonders einflussreichen Persönlichkeiten des Nachkriegs-Amerika zeigen, wie technische Fortschritte und innovative Denkweisen vom Ende der 1930er Jahre an dazu beitrugen, Realität und Fantasie ein Stück näher zu rücken. Frank Lloyd Wright, John Lautner, Richard Buckminster Fuller und Eero Saarinen sind vier bahnbrechende Architekten, die in nur etwa 30 Jahren eine Vielzahl von Gebäuden schufen, die alle wesentlichen Merkmale einer »Architektur der Zukunft« tragen. SCHÖNE NEUE ZUKUNFT »Was ein Mensch sich vorzustellen vermag, können andere verwirklichen.« Jules Verne, Science-Fiction-Autor, 1828 –1905 6 GEBAUTE UTOPIEN Johnson Wax Building Wenn die doppelwandigen Streifen aus Pyrex-Röhren, durch die gestreutes Tageslicht in das Innere fällt, abends erleuchtet sind, betonen sie die stromlinienförmigen Konturen des roten Backsteinbaus. Struktureller Einfallsreichtum, technischer Sachverstand, meisterhafte Planung und künstlerischer Ausdruck sind die Charakteristika ihrer Bauten, die sich in den Himmel recken, durch die Landschaft schlängeln oder in den Boden kriechen. Technik und Natur 1936 wurde mit dem Bau des Johnson Wax Building in Racine (Wisconsin, USA) begonnen – heute ein Meisterwerk moderner Büroarchitektur. Es zeigt, dass Frank Lloyd Wrights bemerkenswerte Schaffenskraft auch in den 30 Jahren, in welchen er bei der Architekturgemeinde in Ungnade gefallen war, nicht gelitten hatte. Zusammen mit Falling Water (1935–1939) trug dieser Bau dazu bei, dass Wright in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens wieder als Amerikas bedeutendster Architekt galt. Wright hatte jahrzehntelang Bürogebäude entworfen. Besonders berühmt war das 1904 errichtete Larkin Building, das 1950 leider zerstört wurde. In diesem Gebäude manifestieren sich viele Neuerungen, darunter die ersten doppelt verglasten Fenster sowie zu einer zentralen, mit Tageslicht erhellten Halle orientierte Büros. Johnson Wax stattete Wright mit einem riesigen, über zwei Geschosse offenen Großraumbüro von 61 Metern Länge und 37 Metern Breite aus, das von einer massiven Backstein-Außen- mauer mit einer 5 Meter breiten Galerie umgeben war. Wright betrachtete den Arbeitsplatz als einen »geheiligten« Raum und verzichtete darum auf Fenster in der Außenwand, deren Ausblicke auf die Außenwelt nur ablenken würden. Um dennoch für das erforderliche Tageslicht zu sorgen, ließ er in die gesamte Außenmauer einen schmalen Streifen aus Pyrex-Röhren einbauen, die an die im Labor des Unternehmens verwendeten Reagenzgläsern erinnerten. Die gewellten Oberflächen der »Scheiben« aus Glasröhren, montiert in Stahlrahmen mit Gummipuffern, brechen das einfallende Licht und verzerren jegliche Aussicht, sorgen aber für ausreichende Helligkeit zum Arbeiten. Nach Einbruch der Dunkelheit wird das Gebäude auf eine Weise beleuchtet, dass die Benutzer den Unterschied zwischen Tag und Nacht kaum wahrnehmen. Die ungewöhnlichsten Elemente sind hohle, pilzförmige Säulen, die den Bau über seine drei Ebenen hinweg stützen. Ihr Fuß besteht aus Stahlrohren von 23 Zentimetern Durchmesser, eingelassen in Stahlschalen im Erdgeschoss. Nach oben erweitern sie sich zu Scheiben von 5,6 Metern Durchmesser. Die 46 Zentimeter großen Zwischenräume der Scheiben werden an der Decke durch Querstreben überbrückt. Dadurch wirkt der riesige Raum wie ein magischer Wald aus stilisiert-baumförmigen Säulen, die an die Lotus-Kapitelle der altägyptischen Tempel in Luxor und Karnak denken lassen. Bemerkenswerterweise stellte Wright beim Entwickeln der Profile dieser komplexen Formen keine statischen Berechnungen an, sondern verließ sich allein auf seine Intuition und genauen Beobachtungen der Opuntien in der Umgebung seines Ateliers in Taliesin West. Die Säulen bestehen aus verdichtetem Beton mit einer Innenversteifung aus Stahlgitter. Um die Abnahme der Baubehörden des Staates Wisconsin zu erhalten, musste Wright in einem Pilotversuch die Tragfähigkeit seiner Säulen unter Beweis stellen. Er kam dieser Aufforderung nach und zum Erstaunen aller Beteiligten (mit Ausnahme des Architekten) erwiesen sich die Säulen als stark genug, um eine Last von 60 Tonnen zu tragen – das Zehnfache des vorgesehenen Gewichts und das Fünffache dessen, was sie aus Sicherheitsgründen verkraften mussten. Durch Wrights gelungene Verschmelzung von Bauformen, die sich an der Natur orientierten, durch die zeitgemäß-stromlinienförmige Ästhetik, innovativen Materialien und eine menschengerechte Arbeitsumgebung ist Johnson Wax eines der gelungensten futuristischen Bürogebäude des 20. Jahrhunderts. Etwa 50 Jahre später knüpfte Richard Rogers mit dem gewaltigen Atrium in seinem Bau für Lloyd’s of London (1986) an Wrights weitblickende Zukunftsvision an. Unnatürliche Interventionen Erst mit Frank Lloyd Wrights letzten bedeutenden Werken betreten wir das Terrain dessen, das man wirklich als »Science-FictionArchitektur« bezeichnen könnte. Während bei der Planung des Johnson Wax Building funktionelle und rationale Aspekte im Vordergrund standen, ist das Marin County Civic Center ein faszinierendes Fantasiewerk, das eher an eine Star-Wars-Kulisse denken lässt als an den Sitz einer Landesregierung. Der Bau wurde 1957 begonnen und 1966, sieben Jahre nach Wrights Tod, vollendet. Wright hatte vom Marin County Board of Supervisors den Auftrag erhalten, für ein 56 Hektar großes, eindrucksvolles Hanggrundstück einen Bau zu entwerfen, in dem 13 Abteilungen der Landesregierung unter einem Dach Platz finden sollten. Während sich Wright mit seinen frühen Arbeiten durchaus der konstruktiven Kritik seiner Berufskollegen gestellt hatte, zog er sich später in die Taliesin Fellowship zurück und isolierte sich derart, dass sich kein ausreichend kompetenter Kollege fand, um seine Ideen infrage zu stellen. Seine dritte Frau Olgivanna, die die fast sektenhafte Verehrung des Architekten förderte, stellte sich jeglicher Kritik an seinem Schaffen in den Weg. Die Folge war, dass seinen späten Entwürfen die intellektuelle Klarheit und Detailsorgfalt seiner früheren Arbeiten fehlte. Das wird nirgends deutlicher als in Marin County. Johnson Wax Building Durch die Oberlichter zwischen den oberen Scheiben der pilzförmigen Säulen strömt Tageslicht in das riesige Großraumbüro. Wrights von Menschenhand geschaffener Wald könnte direkt aus Larry »Buster« Crabbes berühmter Serie »Buck Rogers« (1939) stammen. Die wichtigsten Elemente des ganzen Gebäudes sind die schlanken Säulen, die durch den Boden des Bürobereichs bis in die darunter liegende Tiefgarage reichen. 8 GEBAUTE UTOPIEN Der Entwurf, den Wright seinen Auftraggebern vorlegte, zeigte zwei Flügel, die wie Brücken zwischen den Hügeln lagen. Die Gebäude wirkten wie riesige, das Tal überspannende Aquädukte, die eine Rotunde mit einer niedrigen Kuppel von 24 Metern Durchmesser umfassten. Die Flügel wirken durch ihre Etagen mit Arkaden, die nach oben hin kleiner werden, wie Bauelemente von enormer struktureller Tragkraft. Doch das ist ein rein optischer Effekt, denn die Flügel haben keine tragende Funktion. Das Gewicht der verputzten Wände ruht auf den Betonfundamenten, an denen die Bögen hängen. Wright schien sich von der »Ehrlichkeit« struktureller Funktionen und den subtilen Beziehungen zwischen rechteckigen Flächen und Querschnitten verabschieden zu wollen, um sich stattdessen informelleren Rundungen zuzuwenden. Anstelle der Ziegel oder Betonblöcke, die früher die Konturen und Proportionen seiner Bauten definiert hatten, verwendete er hier für die Dächer riesige Beton-Fertigteile, die mit einer wasserfesten Kunststoffbeschichtung in grellem Blau überzogen sind. (Ursprünglich hatte Wright ein noch auffälligeres Gold vorgeschlagen, doch Metalle können dem fortwährenden Einfluss der Elemente nicht ausreichend widerstehen.) Diese Abkehr von den eigenen Doktrinen setzt sich im Inneren des Baus fort. Während die Großraumbüros des Johnson Wax Building mit ihrer eingeschränkten Aussicht eine ruhige, fast kirchenhafte Ausstrahlung hatten, setzte er hier Innenhöfe ein, die er als »Malls« bezeichnete und die letztlich nur Durchgangsbereiche waren, in denen keine bedeutungsvolle Aktivität stattfand. Die Konzentration auf den Innenraum leidet auch dadurch, dass man durch die Fenster in den Fassaden einen ablenkenden Ausblick über das Tal hat. Das Marin Country Civic Center gilt allgemein als schwaches Beispiel für die Architektur Frank Lloyd Wrights. Es zeigt jedoch, dass selbst große Architekten ohne ein ausreichendes Regulativ in einen Stil abgleiten können, der eher dem Bereich der Spielerei oder auch der Filmkulisse zuzuordnen wäre. Dass dieses Gebäude eine unwirkliche Ausstrahlung hat, zeigt sich auch darin, dass es für den Film »Gattaca« als Hauptquartier der gleichnamigen Gattaca-Corporation gewählt wurde. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Film in einer unwirklichen Welt spielt, in der das Schicksal der Bewohner von Geburt an durch DNAAnalysen bestimmt wird und in der nur überlegene »Exemplare« es zu etwas bringen können. Das Marin Country Civic Center mag zwar Wrights Namen tragen, doch weil ihm der genetische Fingerabdruck seines Schöpfers fehlt, kann es sich mit dessen großen Werken nicht messen. Marin County Civic Center Die Kontur des Zentrums erstreckt sich, wie Wright es geplant hatte, quer über das Tal und erhebt sich über die Baumwipfel wie ein futuristischer Palast aus einer Star-Wars-Kulisse. Die rautenförmigen Öffnungen in der Mitte dienen als Lichtschächte für die mehrstöckigen »Malls«. SCHÖNE NEUE ZUKUNFT 9 Erde und Luft John Lautner war ein bemerkenswerter Architekt, der zahlreiche einzigartige Privathäuser in und um Los Angeles schuf. Seine Häuser sind heute Ikonen der modernen Architektur – nicht zuletzt, weil sie so oft in Filmen auftauchen. Das mag teilweise an ihrer Nähe zu den wichtigsten Studios liegen, hauptsächlich aber an ihren ungewöhnlichen Grundstücken und dem unkonventionellen Äußeren. Lautner, der in den Wäldern Michigans am Ufer des Oberen Sees aufgewachsen war und schon im Alter von zwölf Jahren seinen Eltern beim Bau ihres Blockhauses geholfen hatte, besaß viel Sinn für das Praktische. Diese Handfestigkeit brachte Lautner ein, als er seine erste »Lehrzeit« bei Frank Lloyd Wright in Taliesin East begann. Kurz darauf verlegte Lloyd sein Quartier nach Taliesin West, an dessen Bau Lautner mit eigenen Händen mitarbeitete. 1940 kündigte Lautner die Anstellung bei Wright, um selbstständig zu arbeiten. Wegen seines direkten Bezugs zu Materialien und dem physischen Aspekt des Bauens sprach seine Arbeitsweise eine bestimmte Kundengruppe an, die oft aus ähnlichen Berufszweigen kam. Lautner arbeitete mit seinen Auftraggebern häufig so eng am Design der Gebäude zusammen, dass man fast von einer Kollaboration sprechen könnte. Das Malin House (1960), auch »Chemosphere« genannt, wurde von Lautners langjährigem Mitarbeiter John de la Vaux als Wohn- Malin House (»The Chemosphere«) Die »Chemosphere« schwebt über den Hollywood Hills bei Los Angeles wie eine fliegende Untertasse, die für einen Moment an einem Mast angedockt hat. Vielleicht zieht das UFO den Mast nach dem Start wieder ein? Aus dem Inneren hat man einen grandiosen Blick auf Los Angeles und Umgebung. Die schrägen Fenster verhindern Spiegelungen, durch die das Gefühl, im freien Raum zu schweben, verloren gehen könnte. An drei Seiten der achteckigen Kontur sind Sitzmöbel eingebaut. haus für die Familie des Flugzeugelektronikers Leonard Malin konzipiert. Das Budget war knapp und das Grundstück mit einem Gefälle von fast 45° nahezu unbebaubar. So entschloss sich Lautner, das Haus auf eine einzige Betonsäule von 1,5 Meter Durchmesser und 8 Meter Höhe zu stellen, die im Hang verankert ist. Auf ihr »schwebt« das Gebäude wie eine vieleckige fliegende Untertasse. Durch diese Herangehensweise blieb die Landschaft unbeschädigt und es entstand eine stabile Plattform, auf der der achteckige Bau errichtet werden konnte. Weil die gesamte Oberfläche der »Chemosphere« frei zugänglich ist, konnte Lautner an den Aspekt der Luftzirkulation auf eine Weise herangehen, die eher dem Flugzeugbau – der Domäne seines Auftraggebers – als dem konventionellen Wohnhausbau zuzuordnen ist. Die Luft wird durch unauffällige, abgeschrägte Schächte auf der flachen Unterseite ins Gebäude gesaugt und strömt durch die doppelwandigen Seiten, um durch Gitter direkt hinter den schrägen Fenstern wieder auszutreten. In diese Öffnungen sind Heizelemente integriert, die die Temperatur der in die Innenräume einströmenden Luft regulieren. Durch natürliche Konvektion steigt die Luft an den geschwungenen Decken auf und tritt durch die Unterseite einer Plexiglaskuppel an der höchsten Stelle wieder aus. So belüftet sich das Haus nach einem Prinzip, das dem eines Düsentriebwerks ähnelt, wirkungs- voll selbst. Trotz der futuristischen Stahlhülle bestehen die wichtigsten Elemente im Inneren aus laminiertem Holz, mit dem sowohl der ehemalige Schiffbauer Vaux als auch der »Hinterwäldler« Lautner gute Erfahrungen hatten. Das achteckige Gebäude entstand drei Jahre nach dem Start des Sputnik und es ist nicht verwunderlich, dass es in der Öffentlichkeit bald den Spitznamen »fliegende Untertasse« bekam. Tatsächlich ist es eine ausgesprochen zweckmäßige, wenn auch unkonventionelle Lösung für die Probleme, die sich durch Kostenrahmen und Grundstück stellten. Während die »Chemosphere« zum Himmel strebt, ist Lautners Elrod House (1968) definitiv erdverbunden. Es wurde in der Wüste auf einem Felsvorsprung mit Blick auf Palm Springs für den Innenarchitekten Arthur Elrod gebaut und erhebt sich mit seiner geduckten Kontur nur ganz diskret über den Horizont. Als Lautner das Grundstück zum ersten Mal besichtigte, war es geräumt und planiert. Weil er aber auf den benachbarten Grundstücken Gruppen großer Findlinge sah, ließ Lautner den Boden 3 Meter tief ausheben, um ähnliche Felsen freizulegen. Diese ließ er an Ort und Stelle und baute das Haus um sie herum, sodass sie Teil des Grundrisses wurden. Der Zufahrtsstraße wendet das Haus nur eine geschwungene Betonwand zu, deren niedriger, überdachter Eingang wie der Zugang zu einem Bunker aussieht. Hinter der Mauer verbirgt sich ein geschützter Garten, der bis ans Haus reicht. Vom Haus selbst sieht man aus dieser Richtung kaum mehr als die niedrige, konische Kuppel. Sie ist mit sieben dreieckigen Kupferplatten belegt, die wie die Blätter eines riesigen Ventilators leicht schräg stehen. Dadurch entstehen zwischen ihnen und dem Betondach keilförmige Lücken, die verglast sind. Zwei »Blätter« zwischen den Betonelementen bestehen vollständig aus Glas und geben den Blick frei auf ihre gitterförmige Tragekonstruktion. Diese Oberlichter verraten wenig über den Raum, den sie mit Licht versorgen: Wie ein Zelt überspannt die Betonkuppel von 18 Metern Durchmesser einen kreisförmigen, offenen Wohnbereich. Ein Teil der Außenwand ist vom Boden bis zur Decke verglast und öffnet sich zum Swimmingpool und dem dahinter sichtbaren Panorama der Wüstenstadt mit ihren funkelnden Lichtern. Ein ringförmiger Betonträger von 80 Zentimeter Dicke fängt das Gewicht der Kuppel ab. Für die besondere Sorgfalt in Betonguss und -verarbeitung zeichnet Wally Niewiadomski verantwortlich, der auch als Subunternehmer für Frank Lloyd Wright tätig war. Das Gebäude vermittelt eine massive Kraft, ähnlich des bombensicheren Raums, den Ken Adam für Stanley Kubricks Film »Doctor Strangelove« (Doktor Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben, 1963) Elrod House Mit dem erdfarbenen Dach und den geschwungenen Betonmauern fällt das Haus, das zum Schutz vor sengender Sonne und neugierigen Blicken in den Boden versenkt wurde, kaum auf. Vom inneren Garten aus ist seine Form besser zu erkennen: Kupferplatten über den schlitzförmigen Oberlichtern im Dach und eine Betonaußenmauer, die das Haus wie eine Festungsmauer abschirmt. SCHÖNE NEUE ZUKUNFT 11 entwarf. Das Haus war so ungewöhnlich, dass es als Schauplatz für den James-Bond-Film »Diamantenfieber« (1971) verwendet wurde: Hier nahm Sean Connery mit den Damen Bambi und Klopfer ein Bad in Elrods Swimmingpool. Lautners Häuser wurden mehr als einmal als Kulisse für Hollywood-Filme verwendet und es ist faszinierend, das Kippen der Grenze zwischen fantastischer Kinoarchitektur und real bewohnbaren Häusern zu beobachten, wenn die Handlung von Szene zu Szene fortschreitet. Geodätisches Genie Eine der unkonventionellsten, aber einflussreichsten Persönlichkeiten der Architektur des 20. Jahrhunderts war Richard Buckminster Fuller, dessen Karriere so abwechslungsreich ist wie die Bauten, die er entwarf. Er brach sein Studium der Mathematik an der Universität von Harvard ab, ging 1917 zur Armee und kommandierte während des Krieges ein Kanonenboot. Nach seinem Austritt aus der Navy im Jahre 1922 gründete er die Firma Stockade Building, die sich auf leichte Baumaterialien spezialisierte. Als dieses Vorhaben scheiterte, setzte er sich ans Zeichenbrett und begann, absolut neuartige Gebäude zu entwerfen, denen das Konzept der »vier Dimensionen« zugrunde lag. Als vierte Dimension betrachtete er dabei die Zeit – genauer die Frage der langfristigen Auswirkungen der Bauten auf die Umwelt. Damit war er einer der ersten Architekten, die das Umweltbewusstsein zu ihrem Anliegen machten. Er verfolgte von Anfang an ehrgeizige Pläne. Das erste Projekt, das er zum Patent anmeldete, war ein vierdimensionaler Turm aus leichten, vorgefertigten Teilen, die per Luftschiff an jeden Ort der Welt transportiert werden konnten. Daran schlossen sich verschiedene andere leichte Bauten ähnlichen Prinzips an, und 1929 entstand das berühmte Dymaxion House. Das Haus, das im Kaufhaus Marshall Field in Chicago vorgestellt wurde, hatte einen sechseckigen Grundriss. Dach und Wände bestanden aus Stahl, Duraluminium und Kunststoff und waren an einem zentralen Mast aufgehängt. Der Begriff »Dymaxion« ist eine Synthese aus den Wörtern »Dynamic« and »Maximum Efficiency«, die Fuller in Vorträgen über seine Arbeiten häufig verwendete. Nach diesem Projekt entwickelte er weitere leichte Konstruktionen zur kurzzeitigen Benutzung, darunter Gebäude, die die US-Armee im Zweiten Weltkrieg als Quartiere für die Luftwaffe einsetzte. Schließlich folgte 1944 das Wichita House, Fullers erstes Projekt, das zum Dauerwohnen vorgesehen war. Das Haus, das er mit Unterstützung der Beech Aircraft Company in Wichita konstruierte, hatte eine runde Form, ein Kuppeldach, eine glänzende Aluminiumfassade und ein Gewicht von gerade einmal 4 Tonnen. 38 000 Vorbestellungen gingen ein, doch durch verschiedene Verzögerungen, Design-Verbesserungen und Probleme bei der Materialbeschaffung musste Fuller seine Pläne der Massenproduktion schließlich aufgeben und es wurde nur der Prototyp gebaut. Fuller ließ sich davon nicht abschrecken und entwickelte die Dymaxion-Prinzipien weiter, um mit minimalem Materialeinsatz maximale Effizienz zu erreichen. Seine Hartnäckigkeit führte ihn schließlich zu den geodätischen Kuppeln, die ihn weltberühmt machten. Auf der Grundlage des Dreiecks, das die stabilste Grundform ist, entwickelte Fuller eine Methode, die Oberfläche einer Kugel in ein Netzwerk aus Dreieckssegmenten zu unterteilen. Diese ließ er sich 1954 als »Geodäsie« patentieren. Die Kuppeln umschlossen ein Maximum an Raumvolumen mit einem Minimum an Oberfläche, waren selbsttragend und konnten in nahezu jeder Größe gebaut werden. Fuller zeichnete sogar Pläne für eine Kuppel von 3,2 Kilometern Durchmesser, die für die Insel Manhattan ausgereicht hätte. Kuppeln in weniger futuristischer Größenordnung entstanden bald in aller Welt – als Eisenbahndepots, Gewächshäuser und sogar für eine Polar-Forschungsstation (1975), denn die Kuppelform war ideal, um die großen Schneelasten der Polregion zu tragen und starken Winden zu widerstehen. Architekten wie Foster, Rogers und Grimshaw haben das Erbe des vielseitigen Erfinders und Universalgenies Fuller fortgeführt, indem sie sich von dem Dymaxion-Prinzip und einer Architektur auf der Grundlage von Wissenschaft und Technologie, vorgefertig- ten Teilen und Umweltbewusstsein lenken ließen. Selbst die Idee des Transports von Gebäudeteilen per Luftschiff blieb in den Entwürfen Jan Kaplickys für futuristische Wochenendhäuser am Leben, die er zeichnete, ehe er Future Systems gründete. Fullers bahnbrechende Neuentwicklungen und seine Fähigkeit, Ideen umzusetzen, haben eine wichtige Grundlage für das Entstehen der »futuristischen« Architektur des späten 20. Jahrhunderts geschaffen. Freie Form Wenn man Buckminster Fullers geodätische Kuppeln als Inbegriff rationaler und mathematischer architektonischer Klarheit beschreiben will, muss man Eero Saarinens TWA-Terminal als eines der eindrucksvollsten Beispiele des reinen Expressionismus betrachten. Der Bau wurde 1956 von den Trans World Airlines (TWA) in Auftrag gegeben und sollte als privates Terminal auf dem Idlewild-Flughafen (heute John F. Kennedy) dienen. Von Anfang an war klar, dass das Terminal eine aus Beton gestaltete Verkörperung des Firmenimages sein sollte. Nur bei wenigen Gebäuden ist es gelungen, die Essenz des Fliegens so überzeugend einzufangen wie bei Saarinens prächtigen, aufragenden Kuppeln mit der zentralen Halle von etwa 15 Metern Höhe und 96 Metern Länge. Die schwungvollen Dächer aus Spannbeton und die gerundeten Ein- Links: Elrod House Mit den Betonbahnen und den facettierten Oberlichtern wirkt die Decke über diesem stattlichen Wohnraum wie ein bombensicheres Dach. Findlinge, die beim Ausschachten des Grundstücks zu Tage kamen, wurden als natürliches Landschaftselement in den Grundriss integriert. Rechts: Der amerikanische Pavillon für die Weltausstellung 1967 Die ursprüngliche Verkleidung der Kugel, die als Teil des amerikanischen Pavillons für die Weltausstellung 1967 errichtet wurde, fiel einem Brand zum Opfer, doch die stabile, 61 Meter hohe und 76 Meter breite Stahlkonstruktion aus Dreiecken und Sechsecken blieb erhalten. SCHÖNE NEUE ZUKUNFT 13 gänge sprechen die gleiche Formensprache wie die Metallhäute und geräumigen Triebwerke der ersten Düsenflugzeuge, deren Passagieren sie dienen sollten. Der Grundriss besteht aus vier gerundeten Formelementen, deren Anordnung Saarinen seinen Mitarbeitern mithilfe der Schale seiner Frühstückspampelmuse erklärte. Als er auf ihre Mitte drückte, wölbten sich die Schalenränder nach außen. So entstanden die elliptischen Gewölbe der Kuppeln, die er vom Boden bis zur Decke mit getöntem Glas ausfüllte. Weil die Hallen so transparent waren, konnten die Fluggäste während der Wartezeit am Ticketschalter den landenden und startenden Flugzeugen im Freien zusehen, wodurch die Flugreise schon vor dem Start zu einem Erlebnis wurde. Saarinen erhielt vom Auftraggeber freie Hand bei der Gestaltung aller Details im Inneren, sodass das Gebäude und seine Einrichtung wie ein in sich geschlossenes Ganzes wirken. Die Wände gehen nahtlos in die Böden über oder erheben sich als schwebende Fußgängerbrücken über der Abflughalle. Anzeigetafeln und Fluglinienschalter wirken wie aus einem Guss, so als habe staubiger Wüstenwind sie im Laufe von Jahrhunderten aus weißem Stein geschliffen. Auf der Außenfassade ist der Beton rau und un- eben, auf den Innenwänden wurde er mit flexiblen Matten aus runden, weißen Mosaiksteinchen verkleidet, die den skulpturhaften Formen eine fließende Kurvigkeit verleihen, die man seit dem Jugendstil oder seit Erich Mendelsohns Einstein-Turm (1926) in der Architektur nicht mehr gesehen hatte. Wegen seiner außergewöhnlichen Material- und Statikkenntnisse konnte Saarinen seinen Entwurf ständig weiter verfeinern und dabei doch die künstlerische Kontrolle behalten. Obwohl das Terminal viel Beachtung fand, erwies sich die nahtlose Ästhetik dennoch als problematisch, als später allmählich modernere »Fremdobjekte« einen Platz finden mussten, beispielsweise unverzichtbare Sicherheitseinrichtungen und Anlagen für Aufgabe und Transport von Gepäck. Ein weiteres Problem war der starre Grundriss. Eine Erweiterung war in keine Richtung möglich, ohne die fein abgestimmte Symmetrie des Äußeren zu zerstören. Saarinen starb ein Jahr vor der Fertigstellung des Projekts (1962) und man kann das Terminal als Denkmal seiner organischen Architektur betrachten. Fortgeführt wurden die Ansätze dieses einflussreichen Meisterwerks in den aufstrebenden Formen des TGV-Bahnhofs von Santiago Calatrava in Lyon (1994) und den welligen, unregelmäßigen Oberflächen von Zaha Hadids Phæno in Wolfsburg (2005). Beide dokumentieren überzeugend das poetische Potential der Architektur, das Saarinen in seinem letzten Werk so meisterhaft zum Ausdruck gebracht hat. Verborgene Tiefen Ein gemeinsamer Aspekt der sechs bisher vorgestellten Projekte ist das ständige Kräftespiel der natürlichen und der von Menschen geschaffenen Welt. Die Natur liefert vielfältige Inspirationen, die sich in schlanken Betonsäulen oder schwungvollen Kuppeln ausdrücken können. Sie ist eine Kraft, der man sich anpassen – oder die man seinen Ideen anpassen kann. Nur ignorieren kann man sie kaum. Architekten können Bauten schaffen, die aus der Erde zu wachsen oder in ihr zu versinken scheinen, die einen Wald simulieren oder die Form eines Flügels haben. Aber die Architekten schöpfen auch aus dem Fundus der technischen Errungenschaften und lassen diese in die gebaute Umgebung einfließen. So entstehen Häuser, die wie Düsentriebwerke »funktionieren« oder die Form gigantischer mathematischer Modelle haben. Solche Häuser sind ein Sinnbild des menschlichen TWA-Terminal am John-F.-KennedyFlughafen Die eigenwilligen, fließenden Formen der frei tragenden Kuppeln erheben sich wie Fantasiegebäude über die ankommenden Fluggäste. Morgens und abends sehen sie im Licht der tief stehenden Sonne wie abstrakte Zeichnungen von Picasso aus. An der Stelle, 14 GEBAUTE UTOPIEN wo die vier Kuppeln zusammentreffen, neigt sich der Bau mit V-förmigen Säulen dem Boden zu. Aufgrund ihrer kurvigen Formen scheint es, als wüchsen die Säulen aus der Erde heraus. Durch die strukturierte Oberfläche wirken die Betonelemente lebendig, fast wie von Hand behauen. Könnens, des Triumphs über die Kräfte der Natur und der mutigen Anwendung von Kenntnissen über Materialien. Die 40 nachfolgend vorgestellten Gebäude unterscheiden sich in hohem Maße voneinander und weichen auch von gängigen Normen ab. Dennoch lassen sie sich in drei Gruppen kategorisieren: Einige ordnen sich der Natur unter, andere weisen sie zurück und die dritte Gruppe versucht, eine Synthese aus Natur und Bauform zu finden. Dieses Buch stellt die drei Herangehensweisen an die Architektur der Zukunft vor, beleuchtet ihren kulturellen Hintergrund sowie die gestalterischen Prinzipien und informiert über die Technologien und Materialien, die sich hinter den ungewöhnlichen Fassaden verbergen. Es unternimmt eine Reise in eine Parallelwelt, die beweist, dass Gebäude, die vordergründig nur fotogen oder auffällig wirken, durchaus etwas Subtiles und eine verborgene Größe besitzen können. Löst man ihre sehr unterschiedlichen Häute ab und betrachtet ihre innere Struktur, erkennt man oft die Realitäten hinter der architektonischen Fantasie. In diesem Sinne sind die 40 Gebäude ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass die Architektur unsere Welt verändert hat. 1 FREMDE WELTEN Tsui House, Berkeley Obstmuseum, Yamanashi The Shack, Northamptonshire Temppeliaukio-Kirche, Helsinki Guggenheim-Museum, Bilbao Price House, Corona del Mar Tjibaou Cultural Centre, Nouméa Cedex Spaceship House, Sydney Petronas Towers, Kuala Lumpur High Desert House, Palm Springs Ciutat de les Arts i de les Ciènces, Valencia NEMO, Amsterdam Busbahnhof, Casar de Cáceres Sun Valley House, Idaho Taipei 101, Taipei Grabmal Brion, San Vito d’Altivole Schottisches Parlament, Edinburgh »Fantasie erzeugt Realität.« Richard Wagner, Komponist und Theoretiker, 1813 –1883 18 FREMDE WELTEN Das Archaische, das Organische und das Fremde Unsere Architektur ist unsere Identität. Unser tägliches Leben mit Arbeit, Schlaf und Spiel verbringen wir in Gebäuden oder zwischen ihnen. Sie sind der Stoff, aus dem unsere Welt besteht. Als die Menschen die Höhlen verlassen und Unterstände gebaut haben, haben sie die Verantwortung für die Gestaltung dieses Stoffs und ihrer Umgebung übernommen. Und sie haben in gebaute Formen ihr Wissen über Materialien, ihre Kreativität und ihre Wünsche einfließen lassen. Große Kulturen sind entstanden und untergegangen und haben uns einzig ihre Architektur hinterlassen, aus der wir etwas über ihren Alltag, ihr technisches Wissen und ihren spirituellen Glauben erfahren können. Es ist nicht verwunderlich, dass Filmemacher, die uns in fiktionale Welten entführen wollen, sich mit der Gestaltung der Gebäudekulissen so viel Mühe geben. Nur so kann die Illusion glaubwürdig werden. Seit Fritz Lang 1927 die düsteren, bedrohlichen Türme von »Metropolis« erschuf, hat sich das Genre des Science-Fiction-Films die Gestaltung überzeugender Szenerien in wachsendem Maß auf die Fahnen geschrieben. Die völlig künstlichen Welten von George Lucas’ »Star Wars«-Epen sind die Kulmination von Jahrzehnten technischer Verfeinerung. In ihnen hat jede Spezies ihre klar definierte Kultur mit Zeremonien, Waffen, Geschichte und Religion. Bei dieser Suche nach der totalen Simulation einer Parallelwelt scheint kein Detail belanglos. Wenn aber der Abspann vorüber ist und das Licht wieder hell wird, kehrt das Publikum zurück in die Welt mit den alltäglichen Gebäuden und den vertrauten Landmarken, die von ausgetretenen Pfaden verbunden werden. Oder auch nicht. In diesem Kapitel geht es um eine weniger alltägliche Architektur, um Bauten, die direkt von der Leinwand in unsere Welt gesprungen zu sein scheinen. Es ist die wilde Seite der Architektur, der gewagte und experimentelle Aspekt einer Disziplin, die uns normalerweise eine eher banale Umgebung beschert. Es ist menschliche Fantasie in gebauter Form. Viele der Gebäude sind einzigartige, schön gestaltete Einzelstücke, die ihre Form den Visionen der Handwerker verdanken, die an ihnen gearbeitet haben. In diesem Sinne verkörpern sie das im 19. Jahrhundert von Richard Wagner propagierte Konzept des »Gesamtkunstwerks«. Ihre illusionäre Wirkung beruht auf dem Verzicht vertrauter Elemente und die sorgfältige Auswahl durchdachter Alternativen, die etwas mit den Requisiten auf einer Theaterbühne gemein haben. Ohne Bezüge, die uns fest in die Wirklichkeit einbinden, ergreift die Illusion Besitz von uns, denn damit die Fantasie umfassend sein kann, darf es keine Ablenkung geben. Schon ein Riss in der Wand kann die perfekte Traumwelt ruinieren. Früher war ein Projekt umso teurer, je detaillierter die Vision ausgearbeitet war. Daher galt Science-Fiction traditionell als ein Luxus der Reichen. Im 19. Jahrhundert konnten es sich nur die Superreichen leisten, in riesigen, burgartigen Gutshäusern im mittelalterlichen Stil zu leben, umgeben von Symbolen aus der Artussage und handgefertigten Requisiten – ein vergeblicher Versuch, sich der lauten, mechanisierten Wirklichkeit der Industriellen Revolution zu entziehen. Solche aufwändigen Behausungen sind ebenso weit außerhalb der Reichweite der Mehrheit wie die zeitgenössischen Gebäude von Bart Prince und Kendrick Kellogg, die das Budget der meisten Menschen sprengen würden. Doch Dr. Eugene Tsuis Haus ist ein Gebäude, das einerseits so weit von der Wirklichkeit entfernt ist wie die gotisierenden Fantasien des Viktorianischen Zeitalters, das aber andererseits wirkt, als könne es jeder Handwerker unserer Zeit, der imstande ist, beschnitzte Styroporblöcke und Sperrholzplatten mit der Kelle zu verputzen, selbst bauen. Die Moderne mit ihrer Neigung zur Mechanisierung bescherte uns den Baustil des 20. Jahrhunderts, der auf unnötigen Zierrat verzichtet und stattdessen auf klare, weiße Betonwände und präzise, maschinell bearbeitete Oberflächen aus Chrom und Stahl setzt. Der Stil wird noch immer geschätzt, doch allmählich wenden sich die Menschen von der sterilen geometrischen Perfektion der weißen Kästen ab und wünschen sich eine Welt, die wie die Natur selbst voller Farben, Muster und Strukturen ist. Architekten können heute mithilfe moderner Technologie nahezu alle denkbaren Formen gestalten und müssen sich nicht auf Quadrate und Rechtecke beschränken. Organische Kuppeln, verzerrte Kugeln und fließende Linien sind realisierbar geworden; Balken können zu Knochen werden, Dächer zu Muschelschalen und Galerien zu fremdartigen Metallblüten. Selbst Wolkenkratzer, traditionell eine besonders geradlinige Bauform, zeigen nun weiche Rundungen, baumähnliche Formelemente und dekorative Details, während sie sich gleichzeitig immer höher aufrecken. Aber woher beziehen all diese Projekte ihre Inspiration, ihre innere Logik, ihre Existenzberechtigung? Sind sie nur verrückte Ideen und willkürliche Formen, die mithilfe moderner Technologie zusammengefügt werden? Nein. Es wäre falsch, sie als Spielerei und Fantasie abzutun, denn unter ihren schwungvollen Kurven und fremdartigen Fassaden verbergen sich technische Zaubereien, kulturelle Hintergründe und eine zukunftsträchtige Logik. Es sind Beispiele für echte Architektur – nur anders, als wir sie bisher kennen. FREMDE WELTEN 19 Fragen Sie einen zeitgenössischen Architekten, ob ein Gebäude auf seine Umgebung abgestimmt sein, aus nachwachsenden Materialien gebaut und die immer drängender werdenden Umweltprobleme berücksichtigen sollte – und Sie werden garantiert eine positive Antwort bekommen. Immerhin gelten diese Vorgaben in der Branche heutzutage als selbstverständlich. Das Tsui House beweist eindrucksvoll, dass diese Vorgaben nicht unbedingt in konventioneller Form umgesetzt werden müssen und das umweltbewusste Design erheblich freier sein kann als nüchterne Berechnungen der optimalen Oberflächen, der Ausnutzung von Sonnenenergie und der thermischen Masse. Es ist reichlich Raum für intuitive Experimente und künstlerischen Ausdruck in Farbe, Form und Struktur vorhanden. Das Haus, das Dr. Eugene Tsui für seine Eltern entworfen hat, sieht eher wie eine modellierte Skulptur aus. Es liegt an einer ganz normalen Straße, rechts und links umgeben von weißen rechteckigen Betonbauten, und ist gerade dort ein visuelles Erlebnis aus schwungvollen Rundungen und taktilen Oberflächen. Es ist kein Zufall, dass es wie ein Meeresgeschöpf wirkt. Seine Grundform orientiert sich am Bärtierchen, einem winzigen, wirbellosen Meereslebewesen, das 1773 entdeckt wurde und in allen Lebensräumen der Welt – von der Arktis bis zu den Tropen – leben kann. Die Wände bestehen aus »Rastrablocks« aus recyceltem Styropor und Zement, die verklebt, mit Verstärkungsstreben versehen und dann mit Beton ausgefüllt sind. Für das gerundete Dach wurden mehrere Schichten aus Holzplatten verarbeitet, mit Beton besprüht und dann strukturiert und bemalt. Durch diese Materialkombination entstand ein Gebäude, das gut isoliert ist und wegen des ovalen Grundrisses und der um 4° abgeschrägten Wände auch Erdbeben widersteht. Mit dem rundlichen Grundriss und dem durchgehenden Paraboldach wirkt das Haus wie eine gewaltige Muschelschale, in der TSUI HOUSE Oben: Von der Straße aus sieht das Tsui House aus wie Aqua Marinas Wochenendhaus mit Commander Troy Tempests Stingray in der Garage. Der Hauptturm erhebt sich mit seinem goldfarbenen Verputz und den Bullaugen wie ein organischer Taucherhelm über dem weiß verputzten Bau. ARCHITEKT Dr. Eugene Tsui LAGE Berkeley, Kalifornien, USA BAU 1993–1995 20 FREMDE WELTEN Rechts: Von der Seite ist die Rillenstruktur der Rohre unter dem Verputz, die sich wie Rippen über das Dach ziehen, deutlich zu sehen. Auch die Flossen am Okulus sind zu erkennen. Das Vordach erhebt sich schützend wie der Knochenkragen eines Triceratops über dem Eingang. Das Wasser in den Rohren, die die ausgeprägten Rippen bilden, erwärmt sich auf der großen Fläche bei Sonnenschein schnell. TSUI HOUSE 21 einmal ein prähistorisches Lebewesen hauste, ehe es in einer ruhigen kalifornischen Vorstadt angespült wurde. Die prähistorischen Parallelen sind nicht nur oberflächlich. Der Architekt ließ sich auch vom Dimetrodon inspirieren, einem Dinosaurier aus dem Perm, dessen auffälligstes Merkmal eine segelartige Flosse entlang der Wirbelsäule war. Paläontologen vermuten, dass diese Flosse der Regulierung der Körpertemperatur des Reptils diente, weil sie einerseits eine große Oberfläche zur Aufnahme von Sonnenwärme darstellte und andererseits durch Verdunstungskälte auch für Kühlung sorgen konnte. Tsui hat dieses Prinzip übernommen, indem er das Dach mit flexiblen, mit Wasser gefüllten Kunststoffrohren belegt hat, die sich unter dem goldfarbenen Verputz klar abzeichnen. Das Wasser erwärmt sich tagsüber langsam und gibt die gespeicherte Wärme in der Nacht wieder ab. Auch die ringsherum 1,5 Meter hoch gegen die Wände angeschüttete Erde erhöht die Stabilität und die thermische Masse des Hauses. Der Garten ist mit robusten kalifornischen Gewächsen bepflanzt, die kaum bewässert werden müssen, weil sie an das trockene Klima angepasst sind. Tsui betrachtet das Haus nicht im Sinne Corbusiers als »Maschine zum Wohnen«, sondern als lebenden Organismus, der seine Körpertemperatur mit einem über 150 Millionen Jahre alten System selbst reguliert. Oben: Die gerundete Sitzbank in der Rotunde bildet das Herzstück des Hauses. Umgeben von der Spiralrampe und mit dem Fußboden unter dem Erdniveau ist dies ein kühler, ruhiger und geschützter Platz. Gegenüber: Der Okulus in der Plexiglaskuppel mit einem mit Stahl verstärkten Rahmen aus Fiberglas ragt über der verputzten Brüstung der Rampe auf. Nachts wird der Innenraum von einem Kranz aus versenkten Deckenstrahlern beleuchtet. Das auffälligste Merkmal im Inneren ist die 10 Meter hohe Rotunde mitten im Haus, wo eine spiralförmige Rampe ins Obergeschoss führt – vorbei an einem Okulus mit 5 Meter Durchmesser, durch den Tageslicht ins Haus flutet. Auf der Außenfassade ist der Okulus mit einem Kranz aus blauen und goldenen Strahlen dekoriert, die aussehen, als wollten sie sich im nächsten Moment wie organische Turbinenflügel drehen, um das Haus zurück ins Meer zu befördern. Die Rampe hat eine Unterkonstruktion aus Douglasienholz, die an Stahlseilen mit goldfarbenen Enden an der Decke aufgehängt ist. In der Rotunde sind wie andernorts im Haus Sitzgelegenheiten eingebaut. Sie bestehen aus dem gleichen Material wie die Wände und verleihen dem Haus dadurch eine Einheitlichkeit, durch die es wirkt, als sei es um seine Bewohner herum gewachsen. Tsui hat eine ausführliche schriftliche Erklärung über die gestalterische Logik des Hauses verfasst, in der er auf die strukturelle und symbolische Bedeutung der einzelnen Elemente eingeht. Dennoch fällt das Haus weniger durch seine Logik auf als durch die lebendigen, fließenden Formen und die verspielten Details. Es beweist eindrucksvoll, dass Architektur ein Ausdrucksmittel sein kann, ein Triumph der Fantasie über das Alltägliche. Es funktioniert, es ist langlebig und es schenkt Freude. Rechts: Wie eine Ranke schlängelt sich die Rampe um den geborgenen Sitzplatz in der Mitte. In die ansprechenden, von Hand gestalteten Oberflächen sind auch Industrieprodukte eingearbeitet, beispielsweise Durchschläge aus Stahl als Unterbau der sternförmigen Lüftungsöffnungen. TSUI HOUSE 23 Normalerweise werden in Museen wertvolle Kunstwerke oder Objekte von kultureller oder historischer Bedeutung verwahrt, deren Zeit längst vergangen ist, die aber mit Sorgfalt behandelt und erhalten werden, damit spätere Generationen sie kennen lernen können. Das Obstmuseum in der japanischen Präfektur Yamanashi ist eine Ausnahme von dieser Regel, denn die Ausstellungsstücke dieses Hauses können nicht in ihrer Originalform erhalten bleiben, da ihr Fleisch im Lauf des Jahres anschwillt und dann vertrocknet und verrottet, wenn es nicht geerntet und verzehrt wird. Gewiss kann man Früchte mit Zucker oder Alkohol konservieren, doch diese Produkte sind nur Schatten ihrer früheren, sinnlichen Erscheinungsformen. Nur die Samen bleiben unverändert und ruhen, bis sich die Gelegenheit zum Keimen ergibt. So hat es eine gewisse Logik, dass Japans führende Architektin Itsuko Hasegawa die Form der langlebigen Samen als Ausgangspunkt für ihren Museumsentwurf wählte. Das Museum liegt im Tiefland von Kofu, dem wichtigsten Obstanbaugebiet Japans. Es scheint vordergründig seltsam, ein Lebensmittel in ähnlicher Weise wie ein altes Kulturgut zu würdigen, doch wenn man die Bedeutung des Anbaus für die örtliche Wirtschaft bedenkt, relativiert sich dieser Gedanke. Immerhin zuckt auch niemand mit der Wimper, wenn man in anderen Museen Sammlungen von Keramik und Porzellan findet. OBSTMUSEUM ARCHITEKTIN Itsuko Hasegawa LAGE Yamanashi, Japan BAU 1993–1996 24 FREMDE WELTEN Links: Das kahle, abschüssige Grundstück am Ufer des Fuefuki-Flusses verleiht dem neuen Museum eine fremdartige Ausstrahlung. Die deformierten Formen der verschiedenen Bauten erheben sich wie Außerirdische über dem fruchtbaren Boden. Oben: Das von Glasflächen umschlossene Gewächshaus wirkt, als sei es halb in der Erde vergraben – wie ein Samen, der keimen will. OBSTMUSEUM 25 Die Dachterrasse mit dem Restaurant befindet sich im obersten Stockwerk des Werkstatt-»Käfigs« unter den gekrümmten Streben. Durch die erhöhte Lage auf den Hängen der Weingärten hat man einen großartigen Blick auf den Fujijama in der Ferne. 26 FREMDE WELTEN Das Obstmuseum sieht aus wie eine Space-Age-Kolonie auf dem Mars. Es ist eine Sammlung von zerbrechlichen Kapseln aus Stahl und Glas und skelettartigen Ammoniten in einer kargen Landschaft. Bei der Fertigstellung des Baus wirkte die direkte Umgebung wie die Oberfläche eines feindlichen Planeten – doch das war nur eine vorübergehende Erscheinung, denn bald verwandelten sich die verschiedenen Pflanzenarten auf dem Grundstück in eine lebendige Ausstellung. Das erste der drei Museumsgebäude ist das Gewächshaus, eine moderne Hightech-Kuppel mit einer verglasten Stahlkonstruktion, die sich vom Fundament auf Bodenhöhe in immer größer werdenden Bögen bis zu einer Höhe von 20 Metern aufreckt und dann auf der anderen Seite im Bogen wieder abfällt. Im Profil sieht der Bau aus wie eine verzerrte Kugel. Eine Seite ist annähernd halbkugelförmig, die andere abgeflacht. Durch die Unregelmäßigkeit wirkt das Gebäude organischer, denn perfekte Symmetrie trifft man in der Natur kaum an. Im Inneren des Glashauses befindet sich eine üppige Sammlung aus tropischen Obstpflanzen und -bäumen, ein urzeitlicher Garten Eden, eingefangen in einer Glaskugel des 21. Jahrhunderts. Aus dem Gewächshaus gelangt man durch eine unterirdische Galerie in einem Tunnel in den zweiten Bau, die abgeflachte Kuppel des Event Space. Aus dem unterirdischen Ausstellungsbereich werden die Besucher in einen abgestuften Veranstaltungsbereich geleitet, in dessen Mitte sich ein Wald von Säulen aufreckt, die in stählernen »Baumkronen« auslaufen. Die Kronen münden in komplett verglaste Wände, die aussehen, als würden sie schweben. Der Raum hat etwas Theatralisches. Es könnte der Thronsaal eines fernen Königreichs sein, in dem der Früchtekönig Hof hält. Der dritte Bau ist das Werkstattgebäude mit vier Stockwerken, dessen rechteckiger Grundriss von elliptischen Balkons umgeben ist, die ihn umhüllen wie die Blätter einen schwellenden Salatkopf. Auch dies ist eine deformierte Grundform, die aber nicht verglast ist, sodass sie eine riesige Pergola bildet, an der von Früchten schwer beladene Kletterpflanzen wachsen. In diesem Gebäude sind Verwaltungsräume und eine Lehrküche untergebracht, im obersten Stockwerk befindet sich ein Restaurant. Beim Bau aller Elemente wurden spezifische Vorschriften berücksichtigt, um Schäden durch Erdbeben, die in dieser Region häufig vorkommen, zu vermeiden. Die Ingenieurfirma Ove Arup nutzte die Gelegenheit zur Anwendung der neuesten GSA Dynamic Stress Modelling Software, um die Stabilität zu prüfen und den Glasbruch bei seismischer Aktivität auf ein Minimum zu reduzieren. Mit dieser Unterstützung ist es Hasegawa gelungen, eine langlebige und futuristische Anlage zu gestalten, in der fruchtbaren, jungen Geistern die Bedeutung des Obstanbaus nahegebracht werden kann. Die präzise gearbeiteten Rippen des Gewächshauses korrespondieren mit den Formen der Palmwedel unter dem Glasdach. Wie ein nach oben anschwellender Stamm wirkt der Mittelpfeiler des Event Space, in dem Vorträge und andere Veranstaltungen stattfinden. OBSTMUSEUM 27 Gebäude können mit der Geschichte eines Orts ebenso viel zu tun haben wie mit dem Hier und Jetzt. Dieses kleine, aber ausdrucksstarke Projekt zeigt deutlich, wie ein Architekt einen Bau auf vielschichtige Weise in seine Umgebung einbinden kann. Niall McLaughlin wurde von einer Fotografin, die sich auf Aufnahmen von Wasserinsekten spezialisiert hat, beauftragt und gestaltete mit ihr gemeinsam diese originelle Variante eines Ateliers im Grünen. Der Bauplatz befand sich im Garten der Klientin am Ufer eines Teichs. Auf dem angerenzenden Ackerland befand sich im Zweiten Weltkrieg ein Stützpunkt der US-Luftwaffe. Die geschwärzten B-24-Bomber, die zur Unterstützung der Widerstandskämpfer eingesetzt wurden, machten nach dem Krieg massiven Betonbauten Platz, die als Basis für Atomwaffen dienen sollten. In den 1960er Jahren wurde das Grundstück geräumt, doch es blieben allerlei militärische Hinterlassenschaften zurück, darunter ein zerlegter Bomber knapp unter der Oberfläche. Es war die Widersprüchlichkeit der beiden Ebenen, die zur Wahl dieses Platzes führte. Einerseits ist da die vom Krieg geschundene Landschaft im Stil der düsteren Bilder des deutschen Künstlers Anselm Kiefer (den McLaughlin bewundert), andererseits der Teich, dem sich die Fotografin mit ihren Objektiven widmet. Die scheinbar freien Formen des Gebäudes ergaben sich während des Gestaltungsprozesses. Der Bauunternehmer Simon Storey erklärte sich zur Übernahme des Auftrags nur bereit, wenn Links: Der ehemals trübe Teich wurde mit einer Filter- und Sauerstoffanlage ausgestattet, um Tiere anzulocken, die der Fotografin als Modelle dienen. The Shack ist mit einer Leseecke und einer Sauna ausgestattet und wird als Atelier und Rückzugsort genutzt. Unten: Wie ein Vogel mit ausgestreckten Flügeln, der gerade zu einer kurzen Rast gelandet ist, kauert The Shack am Teichufer. Der vorspringende »Schnabel« dient zugleich als Oberlicht und Beobachtungsturm. THE SHACK ARCHITEKTEN Niall McLaughlin Architects LAGE Northamptonshire, England BAU 1996 28 FREMDE WELTEN THE SHACK 29 er ohne exakte Zeichnungen arbeiten durfte. So hatte er ausreichend Spielraum, die Modelle und Collagen umzusetzen, die Architekt und Klientin im Maßstab 1:10 gestaltet hatten. Der Bau aus verputzten Porenbetonsteinen steht auf einem Betonfloß, von dem ein Holzdeck ausgeht, das über dem Wasser schwebt. Das Dach bildet eine komplexe Flügelkonstruktion aus Sperrholz und Fiberglas auf einer dünnen Stahl-Unterkonstruktion. Es erinnert verblüffend an die bedrohliche Bumerang-Form eines B-2 Spirit StealthBombers. Während aber die US-Regierung ungefähr 23 Milliarden US-Dollar für die geheime Konstruktion des Bombers ausgab, genügte für das Haus am Teichufer ein wesentlich bescheideneres Budget von £ 15,000. Abgesehen von den aeronautischen Assoziationen kann man in dem Gebäude aber auch Ähnlichkeiten mit Insekten und Vögeln finden. Das ausladende Dach erinnert an die Gewohnheit von Watvögeln, ihre Flügel auszubreiten, um Schatten auf das Wasser zu werfen und so ihre Beute leichter zu entdecken. Die auf der Ostseite überstehenden Bauteile bestehen aus dünnen, perforierten Stahlplatten aus verzinktem Stahl. Kurz vor der Spitze werden sie von schlanken Stahlstangen gehalten, die bis ins Wasser neben den Trittsteinen am Eingang zur Sauna reichen. Diese abgestufte Reihe aus Stahlplatten schattiert das Glasdach des Hauptraums und wirkt wie ein untergliedertes Rückgrat, so zerbrechlich wie der Schwanz einer Libelle. Unter dem Glas befinden sich Lamellen aus Polykarbonat, mit denen sich der Lichteinfall noch feiner regulieren lässt. Weil die Dachkonstruktion so leicht ist, bewegt sie sich im Wind und erzeugt interessante Licht- und Schattenmuster im Inneren des Gebäudes. Viele Gestaltungsentscheidungen ergaben sich aus dem Wunsch, die vielfältigen Lichteffekte einzufangen und die Fotografin ihrem Motiv näher zu bringen. Die quadratischen Fenster mit den tiefen Rahmen in der Hauptwand dienen als Mini-Studios, in denen die Fotografin im Licht, das vom Wasser draußen reflektiert wird, kleine Objekte arrangieren und fotografieren kann. The Shack ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch kleine Gebäude mit bescheidenem Budget Platz für künstlerische Experimente lassen. Statt sich auf eine konventionelle Lösung im Stil eines Schuppens oder einer Laube zu beschränken, hat der Architekt hier die Gartenarchitektur um ein durchaus zeitgemäßes Kapitel bereichert. McLaughlin hatte an dem kleinen Projekt viel Freude und hat inzwischen einen ebenso gelungenen, frei gestalteten Orchesterpavillon für den berühmten De La Warr Pavilion in Bexhill on Sea (2001) sowie mehrere preisgekrönte Privathäuser gestaltet. Die perforierten Stahlplatten, die das Haus beschatten, sehen wie die architektonische Umsetzung der Struktur von Libellenflügeln aus und knüpfen damit an das Spezialgebiet der Fotografin an. 30 FREMDE WELTEN Gegenüber: Die Stahlkonstruktion und die Polykarbonat-Lamellen in der Decke produzieren reizvolle Licht- und Schatteneffekte an der Wand. Das Licht fällt auf die immer neuen Kompositionen aus Fundstücken, die die Fotografin auf den Fensterbänken arrangiert. ARCHITEKTEN Timo & Tumamo Suomalainen LAGE Temppeliaukio-Platz, Helsinki, Finnland BAU 1968–1969 TEMPPELIAUKIO-KIRCHE Man sollte nicht vergessen, dass das Christentum einmal eine Religion im Untergrund war, deren Anhänger erbittert verfolgt wurden und deren Andachtsorte aus Angst vor Entdeckung versteckt waren. Von den Tiefen der römischen Katakomben bis zu den in Hügeln versenkten Kirchen von Lalibela in Äthiopien hatten die Gläubigen gelernt, ihre Religion still und oft unter der Erde verborgen auszuüben. Im Helsinki des 20. Jahrhunderts muss man keine Repressalien fürchten, dafür haben hier Sorgen um den Charakter der Stadt dazu geführt, dass die Architektur unterirdischer Kirchen neues Terrain beschritten hat. Der Entwurf der Brüder Suomalainen für die Temppeliaukio-Kirche, die oft als »Felsenkirche« bezeichnet wird, gewann bei einem offenen Wettbewerb im Jahre 1960 den ersten Preis, doch wegen interner Debatten über die Notwendigkeit einer neuen Kirche in der Region konnte mit dem Bau erst 1968 begonnen werden. Über dem freien Platz von länglich-rechteckigem Zuschnitt ragt eine Felsformation von 8 bis 13 Metern Höhe auf, umgeben von Straßen und Wohnblocks, von denen viele acht Stockwerke haben. Den Architekten war daran gelegen, dass die Kirche weder die Häuser noch den offenen Platz dominieren sollte. So entschlossen sie sich, den Bau im Boden zu versenken. Der Bau wurde aus dem Fels heraus bis auf Straßenniveau gehauen. Die anfallenden Bruchsteine verwendete man zum Bau einer umlaufenden Mauer, die als Lärmschutz dient. Sie stellt sicher, dass der Gottesdienst nicht durch Geräusche vom offenen Platz gestört wird – und dass, wie gefordert, den Bewohnern ihr öffentlicher Freiraum erhalten bleibt. Die Felswände sorgen allein durch ihre Masse für Isolierung. Allerdings mussten an ihrem Fuß kleine Gräben geschaffen werden, durch die das langsam austretende Wasser abfließen kann. Die Architekten beschlossen, den Stein nicht akkurat behauen zu lassen, sondern seine raue Oberfläche zu erhalten. Gegenüber: Geistliche, die aus dem Sakristei-Tunnel treten, werden von der attraktiven Kuppel und dem Strahlenkranz der Betonträger über der wartenden Gemeinde begrüßt. Oben: Von der Straße aus gesehen erhebt sich die Kuppel nur wenig über die äußere Ringmauer aus grob behauenen Steinen. Im Gegensatz zu den Innenwänden ist diese Mauer nicht mit Mörtel aufgesetzt, sondern mit einer Stahlkonstruktion abgestützt, damit sie natürlicher wirkt. 32 FREMDE WELTEN Rechts: Von unten ist die Kuppel aus Spannbeton mit einer schalldichten Membran überzogen. Darüber liegen 20 Millimeter breite Kupferstreifen, die auf die Konstruktion genagelt sind. Die schimmernde Decke wirft wie eine Sonnenscheibe einen warmen Schimmer auf den Innenraum. Aus dem Technikraum kann man die dramatische Struktur bestaunen. In der Mitte ist das gestreifte Schattenmuster zu erkennen, das die Konstruktion aus Betonträgern wirft. Diese unregelmäßige Struktur gibt ihm nicht nur Charakter, sondern kommt auch der Akustik in der Kirche, in der Konzerte stattfinden, zugute. Die inneren Felsmauern sind mit verborgenen Mörtelfugen versehen und wirken wie eine natürliche Erweiterung des Gesteins. Die 180 Betonträger, die das Kuppeldach stützen, bilden einen Strahlenkranz von 360°, durch den Tageslicht einfällt. Im Sinne der Steinkreise des Neolithikums wurde die Inneneinrichtung so gestaltet, dass die Sonne zur üblichen Zeit des Morgengottesdiens- 34 FREMDE WELTEN Der Blick zum Altar zeigt die interessante Vielfalt der natürlichen und von Menschen hergestellten Materialien. Unter der Kupferdecke befindet sich auch der Eingang zum Tunnel, der zum Pfarrbüro neben der Kirche führt. tes direkt auf die Altarwand fällt. Um eine Verbindung zwischen der exakt geometrischen Kuppel von 24 Metern Durchmesser und der unregelmäßigen Oberfläche der natürlichen Felswände zu bilden, haben die Betonträger unterschiedliche Längen. Durch die Synthese aus der schalenförmigen Kuppel auf den verwitterten, uralten Felsen erscheint der Bau gleichzeitig futuristisch und traditionell. Von der Straße aus wirkt das niedrige Portal auf den ersten Blick wie der Eingang in einen Bunker, doch dieses Bild relativiert sich, sobald der Besucher das mit Kupfer ausgekleidete Innere betritt. Die Reflexion der violetten Polster auf dem Gestühl im Kupfer, mit dem die Unterseite der Galerie beschlagen ist, lässt die rauen Felsen, die strahlenförmigen Betonträger und den Altar sehr warm wirken. Weil die Kirche in einer dicht besiedelten Gegend liegt, wird sie nicht nur als Andachtsstätte benutzt, sondern auch als Veranstaltungsort. Links vom Altar befindet sich ein Podest für den Chor, davor ein Bereich für das Orchester. Ein schalldichter Technik- raum am Ende der oberen Galerie wird für Rundfunk- und Fernsehaufzeichnungen benutzt, um den Gottesdienst in die Haushalte zu übertragen. Die Lösung der Brüder Suomalainen hat diesen Vorort um einen Andachtsort und ein Kulturzentrum bereichert, ohne den großen Platz zu opfern. Mit der durchdachten Konstruktion der Temppeliaukio-Kirche ist das Christentum diesmal freiwillig in den Untergrund gegangen. TEMPPELIAUKIO-KIRCHE 35 Die 1937 gegründete Solomon R. Guggenheim-Stiftung ist eine amerikanische Institution mit unterschwellig europäischer Prägung. Die Sammlung enthält vorwiegend Werke von AvantgardeKünstlern aus der »Alten Welt«, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden. Obwohl Stiftungsdirektor Thomas Krens selbst Amerikaner ist, brachte er einen beträchtlichen Teil der Guggenheim-Sammlung zurück auf den Kontinent, wo ihre Wurzeln liegen. Damit tat er einiges für den Wohlstand von Spaniens viertgrößter Stadt, kurbelte aber auch die internationale Nachfrage nach spektakulärer Architektur an. Die Küstenstadt Bilbao war lange Zeit ein Zentrum des Schiffbaus gewesen, doch weil die Fischereiflotte sich verkleinerte und die Nachfrage nach Segel-Trawlern stetig sank, unternahm die Provinzregierung radikale Schritte, um die Diversifizierung und damit das Überleben der städtischen Wirtschaft zu fördern. Zunächst wurden hochkarätige Architekten beauftragt, die Infrastruktur zu modernisieren. Norman Foster entwarf die U-Bahn, Santiago Calatrava das Flughafengebäude und Michael Wilford den Bahnhof. Nun fehlte nur noch eine kulturelle Attraktion, die Touristen veranlasste, ihre Reise in Bilbao zu unterbrechen. Aus diesem Grund nahm die Stadt 1991 Kontakt zu Thomas Krens auf und bot ihm an, eine ehemalige Wein-Abfüllanlage im Stadtzentrum in ein Museum GUGGENHEIM-MUSEUM Oben: Durch das längliche Oberlicht über dem Raum für wechselnde Ausstellungen überblickt man die Stadt. Es ist mit gebörtelten Titanplatten von nur 0,38 Millimeter Stärke verkleidet. ARCHITEKT Frank O. Gehry LAGE Bilbao, Spanien BAU 1991–1997 Links: Die schwungvollen Rundungen der Gebäude mit Titanverkleidung sind direkte Umsetzungen von Gehrys Originalmodellen – als hätte der Architekt das Gebäude mit seinen eigenen Händen modelliert. GUGGENHEIM-MUSEUM 37 umzubauen. In dem verwinkelten, unflexiblen Gebäude mit den niedrigen Decken und den störenden Pfeilern sah Krens allerdings kein Potential. Doch schon am nächsten Morgen entdeckte er beim Joggen das ideale Grundstück: ein verfallenes Gelände mit Lagerhäusern am Fluss Nervion, gleich neben einer Straßenbrücke und einer Eisenbahnlinie. Krens hielt es für den idealen Platz für ein Museum, das einen Bezug zur Stadt haben und eine Brücke zwischen den Geschäftsbezirken und den historischen Stadtvierteln bilden sollte. Binnen einer einzigen Woche nahm die Stadtverwaltung seinen Vorschlag an. Wenige Monate nach Krens’ Entdeckung wurde ein geschlossener Wettbewerb veranstaltet, an dem Frank Gehry, Arata Isozaki und Coop Himmelblau teilnahmen. Gehry gewann und erhielt den Auftrag, das neue europäische Flaggschiff der Guggenheim-Stiftung zu bauen. Zunächst stellte sich Gehry an das Flussufer mit Blick auf das Gelände und zeichnete einige Freihand-Skizzen. In seinem Atelier verwandelte er die kraftvollen Striche in hunderte, wenn nicht tausende von Modellen. Er faltete, drehte und knüllte Papier und Pappe, um die anscheinend zufälligen Formen zu erhalten, aus denen sich das Gebäude herauskristallisierte. Der nächste Schritt, ein Quantensprung im Bauwesen, war nur durch den ausgiebigen Einsatz des französischen Computerprogramms CAITA möglich, das eigentlich in der Flugzeugindustrie zur Entwicklung des Mirage-Kampfflugzeugs und der Boeing 777 eingesetzt wurde. Gehrys Papiermodelle wurden mithilfe eines Lasers, der die Formen abtastete und digitalisierte, in die virtuelle Welt übertragen und in dreidimensionale Computermodelle verwandelt, die sich auf die endgültigen Originalmaße vergrößern ließen. Aus diesen Daten konnten die Ingenieure und Baufirmen relativ einfach Pläne und Querschnitte herstellen. Digitale Verknüpfungen zwischen den einzelnen Komponenten machten es möglich, einzelne Elemente zu verändern und dem Computer die Anpassung der übrigen zu überlassen. Das Grundgerüst besteht aus Stahl-I-Trägern, aus denen ein Gitter mit etwa 3 Meter großen, quadratischen Feldern konstruiert wurde. Alle Komponenten wurden per CNC-Technik direkt anhand der Daten aus den Modellen des Architekten zugeschnitten. Die Teile sind nicht verschweißt, sondern verschraubt, weil das Vorbohren der Schraublöcher größere Genauigkeit sicherstellte. Die Konstruktion wurde in einzelnen Ebenen hergestellt, die nummeriert und an den Standort des Museums gebracht wurden – wie ein riesiger Metallbaukasten. Dann befestigte man eine abschließende Lage aus gebogenen Stahlrohren an dem Trägerskelett, wodurch seine Ecken und Kanten in elegant geschwungene Formen verwandelt wurden. An den Rohren verankerte man senkrechte Stahlstreben und an diesen wiederum die schimmernde Außenhaut des Gebäudes aus Titanplatten, die mit Edelstahlschrauben fixiert sind. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen Architekt, Ingenieur und Bauunternehmen, die alle Daten gemeinsam nutzten, konnte das Gebäude im Rahmen des Zeit- und Budgetplans (44 Millionen Britische Pfund) fertig gestellt werden, ohne etwas von seinem skulpturhaften Reiz einzubüßen. Mit dieser innovativen Herangehensweise an die Architektur gestaltete Gehry einen Bau, der unverkennbar seine Handschrift trägt. Gleichzeitig regte er damit eine unerwartet hohe Nachfrage nach weiteren solcher ungewöhnlichen Bauten an, um auch anderen Städten einen ähnlichen Aufschwung zu bescheren, wie ihn Bilbao durch das Guggenheim-Museum erfuhr. Dass dieses Phänomen heute als »Bilbao-Effekt« bezeichnet wird, ist vielleicht die größte Auszeichnung für das Projekt, das durch Krens Weitblick als Kurator und Gehrys einzigartiges kalifornisches Flair möglich werden konnte. Links: Das Innere der Galerie ist nicht minder unkonventionell. Hier wiederholen sich die Wölbungen der Außenwände, allerdings aus Kalkstein und weißem Verputz. Gegenüber: Wie ein futuristisches Gespenst aus Metall erhebt sich das Museum am Flussufer und erinnert durch seine verschiedenen, Schiffsrümpfen gleichenden Elemente an Bilbaos Vergangenheit als Zentrum des Schiffbaus. An Amerikas Westküste findet man einige der ungewöhnlichsten Privathäuser der Welt. Die Kombination aus reichlich Bauland und gut betuchten Klienten bietet Architekten die Möglichkeit, mit Entwürfen zu experimentieren, für die sie andernorts keine Möglichkeit fänden. Bart Prince formuliert es so: »Wir leben in einer Zeit, in der im Hinblick auf das Design fast alles machbar ist.« (Architectural Digest, Januar 2002). Das Price House ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie man mit künstlerischem Einfallsreichtum das Briefing des Auftraggebers erfüllen kann, ohne auf traditionelle Klischees zurückzugreifen oder die Klarheit der Struktur zu opfern. Das Anwesen besteht aus drei »Kapseln« in locker halbkreisförmiger Anordnung, die hintereinander in einer überlappenden Linie arrangiert sind und sich hinter einer frei geformten Außenhülle erheben. Diese Hülle schützt die »Kapseln« vor neugierigen Blicken von der Straße vor dem Haus. Sie besteht aus einer HolzUnterkonstruktion mit Verstärkungen aus Stahl und ist mit unregelmäßigen Zedernschindeln verkleidet, die ihr eine organisch wirkende Oberfläche aus kurvigen Linien und Wölbungen geben. Als Bedachungsmaterial sind Schindeln in der Region üblich, aber Prince setzt sie hier nicht als glatte Oberflächenverkleidung ein, sondern als dreidimensionales Medium. Der Bau des ungewöhnlichen Anwesens begann mit handgezeichneten Skizzen (mit Bleistift auf Mylar, ganz ohne Computerunterstützung), auf denen das Erscheindungsbild der Schindelmuster bereits zu erkennen war. Wöchentlich flog Prince zur Baustelle, um mit Vorarbeiter Eric Johnson die Anordnung der Schindeln in den einzelnen Bereichen zu besprechen. Er ließ dem Handwerker Spielraum für eigene Ideen, behielt sich aber die letzte Entscheidung vor. Stellenweise liegen die Schindeln in 10 bis 15 Lagen übereinander, sodass die Fläche wie eine riesige Stoffbahn mit Holzmuster wirkt, die sich im frischen Seewind bauscht. Im Inneren wird das Haus durch die Strukturelemente beherrscht, die ihm seine Form geben. Um das Erdgeschoss offen zu halten, stützte Prince die drei »Wohnkapseln« mit Pfeilern ab, die man mit Bäumen vergleichen könnte. Da sie in separaten Betonfundamenten verankert sind, können sie sich im Fall eines Erdbebens unabhängig voneinander bewegen. Sie recken sich zur Decke, wo sie sich in alle Richtungen verzweigen und den Boden der darüber liegenden Räume tragen. Die Träger setzen sich an den Seitenwänden der Räume fort und biegen sich dann wieder zum Stamm, um das Dach des Gebäudes zu halten. Alle KompoIm Licht der Spätnachmittagssonne schimmern die Zedernschindeln der Verkleidung wie Blattgold und ihr Farbton geht fließend in die Rottöne der Kupferdächer der »Kapseln« über. 40 FREMDE WELTEN ARCHITEKT Bart Prince LAGE Corona Del Mar, Kalifornien, USA BAU 1984–1989 PRICE HOUSE Das U-förmige Erdgeschoss umgibt einen nach Süden gerichteten Swimmingpool – ein privates Märchenland mit zwei Brücken, über die man bequem in die Wohnräume gelangt. Links: Prince hat nicht nur für die Gebäudekonstruktion laminiertes Holz verwendet, sondern auch für die maßgeschneiderten Möbel im Inneren, hier der schwungvolle Schreibtisch mit integrierter Lampe. Unten: Die Kombination aus der Treppe mit den von innen beleuchteten Stufen aus blau-transparentem Kunststoff und der gewellten Schindelwand zeigt, wie gekonnt Prince moderne und traditionelle Materialien in seinem künstlerischen Vokabular in Einklang bringt. nenten bestehen aus 2 Zentimeter breiten Fichtenstreifen, die zu Balken mit einem Querschnitt von 7,5 x 23 Zentimetern verleimt sind. Durch diese Methode können längere Balken produziert und der Verschnitt minimiert werden. Das Holz trägt fast das gesamte Gewicht, nur die nahezu rechtwinkligen Verbindungen der Träger sind mit Stahlplatten verstärkt. Als Verbindungselemente dienen Schrauben und Muttern aus Edelstahl, die durch Holzkappen vor der salzhaltigen Seeluft geschützt sind. Besonders eindrucksvoll ist die Wendeltreppe, die in das Arbeitszimmer führt. Es ist eine so raffinierte Konstruktion, dass sie sich auch in Kapitän Nemos »Nautilus« 20 000 Meilen unter dem Meer gut machen würde. Obwohl die Treppe fast vollständig aus Holz besteht, vermitteln die abgewinkelten Träger und die gelochten Winkelversteifungen etwas Solides, das an den viktorianischen Metallbau mit seinen zahllosen Schraubenköpfen erinnert. Jedes von Princes Häusern ist ein Einzelstück. Hier hat er für seinen Auftraggeber ein Schmuckstück mit Blick auf den Ozean geschaffen. Bei oberflächlichem Hinsehen mag man es für ein Fantasiegebilde halten – doch die Fantasie hat sich als statisch solide und technisch umsetzbar erwiesen. 42 FREMDE WELTEN Die laminierten Holzstufen der Wendeltreppe wirken durch Kupferstreifen in ihren Vorderkanten leichter. Im hohlen »Stamm«, der mit Stahlwinkeln an seinem Betonfundament verankert ist, sind Rohre und Kabel untergebracht. PRICE HOUSE 43