Rationalität, Emotionalität und ihr Abhängigkeitsverhältnis von Samuel Tscharner 11.09.16 Schon seit Anbeginn der Philosophie besteht in derselben eine mehr oder weniger starke Ablehnung gegenüber den Gefühlen und gleichzeitig wird die Vernunft bzw. die Rationalität glorifiziert. Diese Einstellung lässt sich meines Erachtens durch die gesamte westliche Geschichte beobachten und dies nicht allein innerhalb der Philosophie, sondern ebenso im gesellschaftlichen Umgang mit Gefühlen. Durch die Technisierung und dem damit einhergehenden Effizienzdenken erhält die Rationalität gegenwärtig einen enorm hohen Stellenwert in unseren Überzeugungen und wahrscheinlich nichts wäre dem Ökonomen lieber als eine Welt, in der alle Menschen vollkommen "rational" handeln würden. Gefühle gehören, wenn in die Öffentlichkeit, dann ins Fernsehen oder auf eine Bühne. Im Alltag, sei dies während der Arbeit oder während der Freizeit, die man an öffentlichen Orten verbringt, haben Gefühle gezügelt zu werden. Wie schnell fühlt man sich heute belästigt, wenn jemand am Nachbarstisch im Restaurant in ungehemmter Freude loslacht? Dabei ist Akzeptanz gegenüber öffentlich gezeigten Gefühlen wahrscheinlich auch noch stark von Geschlechtsparadigmen abhängig, aber darüber möchte ich nicht schreiben. Ich möchte viel lieber untersuchen, ob Rationalität tatsächlich so losgelöst von Emotionen funktioniert, wie dies gemeinhin intuitiv angenommen wird. Ich möchte wissen, ob es sich bei Rationalität und Emotionalität um zwei autonome und opponierende Kräfte innerhalb des menschlichen Wesens handelt, sowie dies häufig die Meinung ist, oder ob nicht vielmehr eine grundlegende Abhängigkeit dieser beiden Kategorien besteht. Es ist letzteres, dass ich bis zum Ende dieses Textes aufzuzeigen gedenke. Damit schwindet dann aber auch die oft intuitiv angenommene Überlegenheit der Rationalität erheblich. Im vierten Buch von Platons Politeia finden wir bereits die Idee, dass die Seele gespalten sei, und zwar in drei Teile: in einen begehrenden, einen leidenschaftlichen/gefühlsbetonten und einen vernünftigen Teil (Platon, Der Staat, 436a-442a). Und genauso wie in dem dreiteiligen Staatsgefüge, das Platon in der Politeia entwirft, soll nun auch in der Seele der vernünftige Teil über die anderen Teile herrschen – Das Platon sich für eine Philosophenmonarchie, also eine Monarchie der "Vernünftigen" einsetzte, wird den meisten wohl bekannt sein. Hier lernen wir 1 die Seelenteile bereits als autonom existierende Gegenstände kennen; Sie bestehen für sich alleine und ihre Existenz kennt keine fundamentale Interdependenz, dennoch können sie sich gegenseitig beeinflussen. Die bei Platon noch eher normativ dargestellte Hierarchie der Seelenteile bekommt in Aristoteles' De anima bereits eine gewisse Eigenschaft der Naturgegebenheit. Aristoteles spricht von den verschiedenen Seelenvermögen (Ernährung, Wahrnehmung, Streben, Ortsbewegung und Denken), die aufeinander aufbauen und dadurch eine Art evolutive Hierarchie bilden: Die Pflanzen besitzen über das Ernährungsvermögen. Tiere haben dieses ebenfalls und zusätzlich weisen sie die Vermögen der Wahrnehmung, des Strebens und der Ortsbewegung auf. Die menschliche Seele verfügt schliesslich über alle diese Seelenvermögen (Aristoteles, Über die Seele, II, 3, 414a30 ff.). Hiermit könnte man wiederum eine Herrschaft des Denkens bzw. der Vernunft herleiten und Aristoteles tut dies gewissermassen auch in seiner Nikomachischen Ethik, indem er das glückselige Leben auf eine Lebensführung zurückführt, die dem menschlichen Wesen eigen ist und weil die Vernunft dem Menschen eigen ist, besteht das glückselige Leben in einer der Vernunft gemässen Tätigkeit (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1098a5 ff.). Ein signifikanter Unterschied zu Platon dürfte die Abhängigkeit der höheren Seelenvermögen sein. Durch den aufbauenden Charakter des der seelischen Vermögen ergibt sich, dass die Vernunft in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den animalischen und vegetativen Seelenvermögen steht; Sind jene nicht, ist die Vernunft nicht. Bei den etwas späteren Philosophen mit christlichen und griechischen Einflüssen, wie etwa Plotin oder Augustinus, wird die Vernunft explizit in göttliche Sphären erhoben und durch die Ablösung von allem Fleischlichen und Animalischen bietet die Vernunft einen direkten Draht zu Gott und zum wahren Selbst. In dieser Episode der Philosophiegeschichte kenne ich mich nicht besonders gut aus, doch erahnt man bereits hier einen Zerfall der Seelenlehre und eine Tendenz zum Leib-Seele-Dualismus, wobei alles Animalische, Begehrende, Gefühlsbetonte in den Körper verschoben wird und die Seele allein für die Vernunft reserviert ist. Bei Descartes erreicht das Drama des Gefühls-Vernunft-Antagonismus seinen Höhepunkt durch den Substanzdualismus von Res extensa und Res cogitans. Der menschliche Körper und die Gesamtheit der Tiere ordnet er der Res extensa zu, die nach den (mechanischen) Gesetzen der Physik funktionieren und damit mit Maschinen gleichzusetzen sind. Sie verdienen damit auch keine Beachtung in moralischen Überlegungen. Über solche Ansichten dürften wir heute glücklicherweise weitestgehend hinaus sein. Das Denken findet sich indes in der Res cogitans und verleiht uns Erkenntnisvermögen und einen Wert in der Welt, sodass uns moralische Rechte zustehen. Gerade bei Descartes ist der Antagonismus zwischen Gefühlen und Vernunft nur schwierig auszumachen, da er nicht explizit angibt, wo die Gefühle zu verorten wären. Anhand 2 der vorangegangenen Untersuchungen nehme ich jedoch an, dass Begehren und Gefühle auch bei Descartes unter das Animalische subsumiert werden können und da Tiere in Descartes Weltbild vollends der Res extensa angehören, ergibt die Einordung der Gefühle und Begehren in die Res extensa und die dadurch resultierende Abspaltung und Wertlosigkeit gegenüber der Vernunft durchaus Sinn. Des Weiteren sind hier Rationalität und Emotionalität absolut kategorisch voneinander getrennt; Sie teilen sich keine Seele, es gibt keinen gemeinsamen evolutiven Hintergrund und die Vernunft scheint vielmehr von aussen auf den Körper einzuwirken als in ihm verankert zu sein. In der Untersuchung über unser Erkenntnisvermögen bleiben die Gefühle in Immanuel Kants erster Kritik vollkommen aussen vor; Die Vernunft ist auch hier ein autonomes Vermögen. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten lässt Kant den moralischen Wert einer Handlung vollends von der Vernunft bestimmen. Dabei ist eine moralische Handlung allein dann wertvoll, wenn sie einzig aus der Vernunft entspringt. Jeglicher Einfluss eines Begehrens oder eines guten Gefühls zerstört den moralischen Wert der Handlung (Kant, GMS, BA 12-14). Damit setzt er, wenn nicht explizit so doch implizit, einen Imperativ, der uns mahnt Distanz zu unseren Gefühlen zu gewinnen. Nun habe ich einen rasanten Überblick über die Geschichte der gezeichneten Konkurrenz zwischen Gefühlen und Vernunft bzw. Emotionalität und Rationalität in der Philosophie dargeboten. Abseits des Mainstreams und daher auch des Öfteren in seiner Zugehörigkeit zur Philosophie infrage gestellt findet man in Nietzsches Zarathustra eine Umkehrung der Machtverhältnisse von geistiger Vernunft und Leiblichem. "Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du »Geist« nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft. »Ich« sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst – dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich." (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Reden des Zarathustra, Von den Verächtern des Leibes) Hierin kann man wieder den naturgegebenen, evolutiven Aufbau der Seele nach Aristoteles' Konzept ausmachen; Erst durch den Leib, durch das Tierische mit allen Gefühlsregungen usw. wird das "Ich" hervorgebracht, das zwar von der "kleinen Vernunft" benannt wird, aber doch 3 diese auch als Werkzeug verwendet. Allerdings lässt sich bei Nietzsche eine umgekehrt postulierte Machthierarchie erkennen, welche freilich deskriptiver, nicht normativer Natur ist: Nicht die Vernunft an der Spitze der evolutiven Entwicklung übt die grösste Macht über die vorangegangenen Elemente aus, sondern letztere kontrollieren die "kleine Vernunft", spielen und hantieren mit ihr. Übersetzen wir zum besseren Verständnis diese beiden Auffassungen in ein Sinnbild aus dem Bereich der Biologie – Da ich auch Biologie studiere, bietet sich dies an: Betrachten wir einen Baum und stellen uns vor wie er gewachsen ist, nämlich von unten nach oben. Setzen wir diese Wachstumsbewegung nun gleich mit dem evolutiven Aufbau der Seelenvermögen nach Aristoteles, dann stünden die Wurzelspitzen für das Ernährungsvermögen, die Wurzeln für das Wahrnehmungsvermögen, der Stamm für das Streben und das Bewegungsvermögen und die Baumkrone für das Denkvermögen. Nach der normativen Machthierarchie, die Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik formuliert, soll die Baumkrone die wichtigste Rolle für den gesunden Baum spielen. Bei Nietzsche hingegen sind es die Wurzeln und der Stamm, welche die Baumkrone tragen und dominieren. Wenn wir diese Allegorie mit biologischen Tatsachen weiterführen, ergibt sich, dass beide falsch liegen, weil ein Baum weder ohne Wurzeln und Stamm noch ohne Baumkrone auskommen könnte. Die Baumkrone entzieht konkurrierenden Pflanzen in der Umgebung das Sonnenlicht und unterstützt damit die Wurzeln, die u.a. für die Mineralien- und Wasseraufnahme zuständig sind. Ausserdem gewinnt der Baum durch die Blätter der Baumkrone Energie für den Stoffwechsel, sodass mit den aus den Wurzeln gelieferten Rohstoffen neue Stoffe hergestellt werden können, die dem Baum das Wachstum ermöglichen; Der Baum bildet eine systematische Einheit. Es versteht sich von selbst, dass dies kein Argument sein kann, um die beiden Positionen zu widerlegen oder zusammenzuführen bzw. um eine systematische Einheit von Emotionalität und Rationalität zu postulieren, denn zweifellos könnte das Sinnbild unpassend gewählt sein und die Rückübertragungen vom Sinnbild auf die abgebildeten Theorien würde deshalb nicht gelten. Es wird mir nun im Folgenden daran liegen, aufzuzeigen, dass zwischen Vernunft und Gefühlen keine asymmetrische Abhängigkeit besteht, sondern vielmehr eine fundamentale Interdependenz vorherrscht. Ich werde insbesondere die Begriffe der Emotionalität und der Gefühle in einer sehr weiten Bedeutung verwenden für alle direkt körperlichen, instinktiven Einflüsse, die mit bewussten kognitiven Fähigkeiten nur wenig gemeinsam haben. Der Begriff der Rationalität bzw. der Vernunft wird in seiner intuitiven Bedeutung als kategorisch Verschiedenes vom 4 Emotionalen geprüft. Aus der vorangengenen Ausführung sollte ungefähr verständlich sein, wie die zentralen Begrifflichkeiten aufzufassen sind. Dass sowohl die Gefühle auf die Vernunft und die Vernunft auf die Gefühle Einfluss nehmen können (und dies zuweilen mit Dominanzcharakter), dürfte kein Geheimnis und kein grosses Mysterium mehr sein. Schon in der Eruierung der drei Seelenteile in der Politeia durchdenkt Sokrates Beispiele mit seinem Gesprächspartner Glaukon, die den Einfluss und Widerstreit der Seelenteile sichtbar machen. Weiterhin kennen wir Theorien aus der Psychoanalyse, die diese Einflüsse beschreiben und eigene Erfahrungen aus dem Alltag, die uns diese Zusammenhänge aufdecken. Um zu zeigen, wie simpel diese Kämpfe mit ihren Triumphen und Niederlagen zwischen Gefühlen und Vernunft sind, ziehen wir rasch zwei Beispiele heran: Es scheint vor allem bei männlichen Neulenkern das mehr oder weniger starke Bedürfnis zu existieren, ihr neues Auto in Geschwindigkeiten zu versetzen, die deutlich über den zugelassenen Normen liegen. Nicht allzu wenige geben diesem Bedürfnis nach, obwohl sie mithilfe der Vernunft durchaus den Sinn hinter den Geschwindigkeitsbeschränkungen einsehen können. Im Falle des Nachgebens siegen die Gefühle, im Fall des regelkonformen Fahrens trotz existierendem Bedürfnis die Vernunft. Ein anderes Beispiel kann anhand von Diät- oder Fitnessplänen gemacht werden. Die Vernunft gebietet zum Zweck einer besseren Gesundheit, sich an den entsprechenden Plan zu halten. Doch wenn der "innere Schweinehund" durchdringt und uns verleitet das Training sausen zu lassen oder sich trotzdem Schokolade oder ein Feierabendbier zu gönnen, dann unterliegt die Vernunft den Gefühlen. Es gibt sicherlich unzählige Beispiele, doch ich möchte es damit bewenden lassen und gehe fest davon aus, dass mir nun alle zustimmen, wenn ich behaupte, dass diese Mechanismen für das Verständnis keiner feineren Erörterung mehr bedürfen. Meine nachfolgenden Überlegungen möchte ich als tiefgehender begreifen. In der modernen Philosophie wird den Emotionen langsam aber sicher mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht. Es wird untersucht, was sie auszeichnet und wie sie zustande kommen und anhand dessen werden Anstrengungen unternommen, sie zu klassifizieren. Für diese Unterfangen gibt es verschiedene Ansätze. In den älteren Gefühlstheorien von Karl Lange und William James werden Gefühle durch die Wahrnehmung von Körperzuständen erzeugt. Ob diese Wahrnehmungen immer bewusst sein müssen, wird nicht geklärt (Newen 2013, S.96-97). In den kognitiven Theorien 5 der Emotionen werden Gefühle durch Inhalte kognitiver Einstellungen (also Inhalte des Denkens) bestimmt und in den integrativen Emotionstheorien finden sich sowohl körperliche als auch kognitive Einflüsse zur Generierung von Gefühlen (Newen 2013, S.98-101). Albert Newen und Alexandra Zinck haben sich daraufhin das Ziel gesetzt, eine Klassifikation der Emotionen vorzunehmen, wobei sie diese in vier Stufen unterteilen. Die Emotionen der höheren beiden Stufen hängen gemäss Newen und Zinck in ihrer Existenz von kognitiven Fähigkeiten ab; darunter Zufriedenheit, Liebe, Beklemmung, Eifersucht, Frustration, Zorn, Enttäuschung und Trauer (Newen 2013, S.107 ff.). Dass zwischen der Vorstellung der Autoren von kognitiven Fähigkeiten und der gängigen Vorstellung von Vernunft einige Diskrepanzen bestehen, soll hierbei nicht verheimlicht werden; Kognitive Einstellungen wie Hoffnungen oder Befürchtungen scheinen ohne emotionales Einwirken nicht in allen Facetten denkbar. Es liegt mir hier auch nichts daran, diese Theorien akkurater zu besprechen. Diese kurzen Bemerkungen sollten einen Punkt ersichtlich machen, nämlich dass man sich dem Thema der Gefühle angenommen hat und dabei feststellte, dass gewisse Gefühle ohne spezifische Fähigkeiten des Denkens nicht existieren könnten. Keineswegs wird dabei eine vollkommene Abhängigkeit der Gefühle vom Denken postuliert, sondern vielmehr eine Entfaltung im Potenzial der Emotionalität durch kognitives Zutun. Aus basalen Ansätzen von Emotionen wird erst mittels Involvierung kognitiver Fähigkeiten die reiche Bandbreite an Gefühlen, die unser Lebenserlebnis einfärben. Gilt dasselbe auch entgegengesetzt? Die Vernunft scheint seit Kant immer noch unangetastet, eine autonome Kraft des Menschen zu sein. Kant war meines Wissens der letzte, der eine gründliche Überprüfung der Vernunft vollzog und wahrscheinlich wegen der Einbettung in die Paradigmen seiner Zeit die Emotionen vollends ausser Acht liess. Ich bin der festen Überzeugung, dass Rationalität ohne Emotionalität ins Bodenlose fällt und dass die Grenzen zwischen Rationalität und Irrationalität nur schwierig auszumachen sind. Ob diese Gedanken neu sind, vermag ich nicht zu sagen (wahrscheinlich ist es nicht), doch ich möchte sie nun darlegen, um die Allmachts- und Autonomieillusionen betreffs Rationalität zu brechen. Worin besteht die Rechtfertigung meiner Annahme, Rationalität falle ohne Emotionalität ins Bodenlose? Rationalität kann als Mittel zur rationalen Lebensführen verstanden werden. Eine rationale Lebensführung orientiert sich in seiner Entscheidungsfindung sowohl in praktischen als auch theoretischen Belangen an logischen Argumenten. Es liegt allerdings im Wesen logischer Begründungen, dass sie bei konsequenter Durchführung die Form eines infiniten Regresses annehmen, da jede Prämisse wiederum durch ein logisches Argument gestützt werden 6 müsste. Diese Gedanken sind bereits seit den frühgriechischen (phyrronischen und akademischen) Skeptikern bekannt. Wenn man davon ausgeht, dass jeder logischen Konklusion zwei Prämissen vorangehen, denen je wieder mit einem Argument begegnet werden muss, so hat man nach n-maliger Begründung der nächsten Prämissen bereits 2n+1 Prämissen, die wiederum zu begründen wären. Führt man sich nun vor Augen, dass die meisten Argumente aus weit mehr als zwei Prämissen aufgebaut sind, wird bald augenscheinlich, dass die Anzahl zu begründenden Prämissen mit enormem Wachstum in Richtung Unendlich strebt. Die Logik als grundlegendes Element der Rationalität vermag allein also nicht hervorzubringen, was wir im Allgemeinen unter Rationalität verstehen, denn ein analytisch logisches Vorgehen in aller Konsequenz, welches eine endlose Begründungskaskade lostreten würde, sodass wir niemals zum Handeln kämen, empfänden wir wahrscheinlich als irrational. Was tut man dagegen? Man setzt Anfangspunkte. Gewisse Prämissen werden als unfragwürdig festgelegt, sodass eine Begründung wegfällt, solange niemand auf die Idee kommt, sie zu hinterfragen. Als "Grund" für die Festlegung dieser Anfangsprämissen wird gemeinhin der gesunde Menschenverstand benannt. Damit bleibt diese Setzung scheinbar im Rahmen der Rationalität und ein Moment des Denkens. Zweifellos kann man die Setzung auch anders rechtfertigen, zum Beispiel durch Empirie: "Wir haben beobachtet, also…". Nichtsdestotrotz sind sowohl Beobachtungen als auch der sogenannte gesunde Menschenverstand hinterfragbare Quellen von Prämissen, wodurch mittels derselben gesetzte Anfangsprämissen ebenfalls nicht als unantastbar gelten können. Würde man das Hinterfragen, das Verlangen nach der Erklärung derselben als irrational bewerten und dadurch tabuisieren wollen, käme dies einem neuen Dogmatismus gleich, welcher keine rationale Rechtfertigung im Sinne der Wissenserweiterung zulassen würde. Jede durch Hinterfragung erzwungene Begründung der Anfangsprämissen, stellte wiederum um ein Argument in logischer Form dar, womit die obigen Bedenken der Skepsis erneut einsetzen. Ich denke, dies könnte ein enormes Streitfeld werden, doch ich behaupte, dass es allein eine plausible Lösung für dieses Dilemma geben kann: Die Setzungen der Anfangsprämissen und insbesondere unsere Akzeptanz derselben sind Resultate emotionaler Einflüsse, von Stimmungen, Launen, Intuitionen, Ahnungen. An einem Tag präsentieren sich Prämissen als hervorragend für den Anfang einer Argumentationskette, an einem anderen Tag zeigen sie sich schon weniger solide und selbstverständlich und an einem weiteren Tag wirken sie dringend erklärungsbedürftig. Diese Willkürlichkeit auf irgendeinen logischen Denkakt zurückzuführen, scheint mir absolut unmöglich. 7 Mein Anliegen ist keinesfalls das skeptische, die Rationalität zu unterminieren, sondern aufzuzeigen, dass Rationalität, wie sie intuitiv verstanden wird, ohne Emotionseinflüsse nicht denkbar ist; Ich stelle die Autonomie, nicht den Wert der Vernunft infrage. Es könnte vielversprechend sein, diese Einflüsse zu untersuchen, um unser Lieblingswerkzeug besser verstehen zu lernen. Die letzte Behauptung, die ich oben geäussert hatte und jetzt beleuchten möchte, war, dass die Grenzen zwischen Rationalität und Irrationalität aufgrund der emotionalen Einflüsse sehr verschwommen sind. Um diese Verschwommenheit zu illustrieren, ziehe ich ein Spiel heran, das häufig als Widerlegung des Homo oeconomicus-Modells interpretiert wird. Die Idee des Modells war, dass der Mensch ein vollkommen rationales Wesen sei, das stets den grössten Gewinn anstrebt. Mit einem simplen Spiel lässt sich in gewissen Situation fast immer zeigen, dass das menschliche Verhalten keineswegs mit dem Modell des Homo oeconomicus übereinstimmt. Das Spiel funktioniert folgendermassen: Es gibt zwei Teilnehmer und einen Spielleiter. Letzterer überreicht Spieler A einen für beide Spieler bekannten Geldbetrag (beispielsweise 100 Franken) und gibt ihm den Auftrag, einen willkürlich wählbaren Betrag an Spieler B zu übergeben. Ist Spieler B mit seinem Anteil am totalen Betrag einverstanden, dürfen die Spieler das Geld im aufgeteilten Verhältnis behalten, lehnt er hingegen ab, bekommen beide Spieler nichts. Es zeigt sich, dass nur die wenigsten Menschen einen Anteil von bspw. einem Prozent akzeptieren würden. Wären sie jedoch Homini oeconomici, würden sie jeden Anteil annehmen, da ein Prozent mehr ist als nichts. Dieses Verhalten wird von Ökonomen als irrational gewertet, da man dahinter Neid, ein Ungerechtigkeitsgefühl oder gar eine Lust zur Rache zu verorten meint. Doch tatsächlich lassen sich auch diese Gefühle durch logische Überlegungen unterlegen. Freilich wird dabei die Prämisse der Höchstpriorität des monetären Gewinns ausser Acht gelassen, aber deswegen müssen die Argumente der Ablehnenden nicht ungültig, ihr Verhalten nicht zwangsweise irrational sein. Ausserdem könnte man einwerfen, dass hinter der Prämisse der Ökonomen, doch auch nur Begierde oder das emotionale Konzept der Gier steht. Ein letzter interessanter Punkt, den ich noch anfügen möchte: Trotz der üblicherweise positiven Konnotation des Begriffs des "rationalen Handelns" scheint rationales Handeln und moralisch gutes Handeln mitnichten identisch zu sein, schliesslich kann auch eine böse Tat eine rationale Handlung sein; Man denke an geplante Raubüberfalle, durchdachte Manipulationen oder vorsätzliche Morde. 8 Meines Erachtens weisen diese Überlegungen eklatant darauf hin, dass die Rationalität genauso wie die Emotionen der akkurateren Untersuchung bedarf. Offenbar bringt die Involvierung von Emotionen allein noch keine Irrationalität hervor, sondern vielmehr scheint Emotionalität konsitutiv für das Konzept der Rationalität zu sein, wie wir es gemeinhin anwenden. Womöglich müssen die Begriffe von Irrationalität und Rationalität nochmals gründlich revidiert werden, um die zwischen ihnen verlaufende Grenze luzid zu machen. Ich bin der Meinung, dass Rationalität und Emotionalität als systematische Einheit und weniger als opponierende Kräfte begriffen werden müssen, wenn man ihre Natur verstehen möchte. So tobt zuweilen wohl eher eine unbändige, komplexe Einheit als zwei Seelen in unserer Brust. Literatur: - Albert Newen, Philosophie des Geistes. Eine Einführung, C.H. Beck, München 2013. - Aristoteles, Über die Seele, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2011. - Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt von Olof Gigon, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998. - Friedrich Nietzsche, Also Sprach Zarathustra, in Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Band 2, München 1954. Internetquelle: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche,+Friedrich/Also+sprach+Zarathustra (11.09.16). - Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 20. Auflage, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2012. - Platon, Der Staat, in Platons Werke. Zehn Bücher vom Staate, übersetzt von Wilhelm Siegmund Teuffel und Wilhelm Wiegand, Stuttgart 1855. Internetquelle: http://www.opera-platonis.de/Politeia.html (11.09.16). - Renè Descartes, Meditationen. Abhandlung über die Methode, 2. Auflage, Hrsg.: Frank Schweizer, marixverlag, Wiesbaden 2011. 9