Einleitung 13 Psychische Störungen im Alter und ihre Behandlung Tillmann Supprian, Michael Rösler Einleitung Die Diagnostik und Behandlung psychischer Erkrankungen im höheren Lebensalter wird als Teildisziplin der Psychiatrie unter dem Begriff Gerontopsychiatrie geführt. Immanenter Bestandteil dieser Disziplin ist – wie in der allgemeinen Psychiatrie – die Psychotherapie. Die Gerontopsychiatrie (mit einer eigenen Fachgesellschaft) ist eine vergleichsweise junge Disziplin. Die erste Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) fand im April 1994 in Berlin statt. Das Pendant zur Geriatrie der Inneren Medizin bildet die Gerontopsychiatrie. Geriatrie und Gerontopsychiatrie sind benachbarte Disziplinen mit einem großer Überlappungsbereich, da im höheren Lebensalter somatische und psychische Komorbidität zunehmen. Gerontopsychiatrie wird zwar an einigen psychiatrischen Einrichtungen als eigenständige Abteilung geführt, ist aber in der ärztlichen Weiterbildungsordnung weder als Gebietsbezeichnung noch als Schwerpunkt oder Zusatzbezeichnung präsent. Im Bereich der somatischen Altersmedizin wird die bislang bestehende fakultative Weiterbildung „klinische Geriatrie“ zukünftig zugunsten der Zusatzbezeichnung „Geriatrie“ aufgegeben. Offen ist noch, inwieweit sich die Gerontopsychiatrie in Zukunft in der Weiterbildungsordnung platzieren wird. Grundsätzlich sind in der Gerontopsychiatrie vorbestehende psychische Störungen, welche bis in das höhere Lebensalter andauern, von solchen psychischen Erkrankungen zu unterscheiden, die sich als altersassoziierte Krankheiten erst im höheren Lebensalter manifestieren. In beiden Fällen werden die Diagnostik und Therapie von Erkrankungen des höheren Lebensalters mit biologischen Besonderheiten des älteren Menschen, aber auch besonderen psychosozialen Rahmenbedingungen konfrontiert. Beispiele sind der demografische Wandel unserer Gesellschaft mit einem steigenden Anteil älte- 143 144 13 Psychische Störungen im Alter und ihre Behandlung rer Menschen, die sinkende Anzahl an Mehrgenerationenfamilien, die wachsende Mobilität der Gesellschaft, die knapper werdenden finanziellen Ressourcen der sozialen und öffentlichen Einrichtungen. Die Behandlung psychischer Störungen im Senium muss sich mit einer Reihe von typischen Problemen auseinander setzen, von denen einige exemplarisch in Tabelle 13.1 genannt werden. Bei einigen Medikamenten wurden nach deren Marktzulassung Bedenken gegen den Einsatz bei älteren Patienten erhoben, die sich auf mögliche nachteilige Effekte in dieser Altersgruppe beziehen. Nach einer Experteneinschätzung wurden 1991 erstmals Kriterien erarbeitet, um für ältere Patienten ungeeignete Medikamente zu identifizieren (Beers et al. 1991). Diese BeersKriterien wurden in der Zwischenzeit aktualisiert (Beers 1997, Fick et al. 2003) und weisen eine Reihe von Substanzen auf, die hierzulande im klinischen Alltag häufig bei älteren Patienten eingesetzt werden. Zu nennen sind hier u.a. Amitriptylin, Doxepin, Lorazepam und Fluoxetin. Die Beers-Kriterien spiegeln die Ansichten einer amerikanischen Expertengruppe wider, vermutlich käme eine Expertenbefragung in Deutschland zu anderen Ergebnissen. Um eine unkritische Medikamentenverordnung zu vermeiden, ist es sicher sinnvoll, die Indikation von Arzneimitteln bei älteren Menschen sorgfältig zu prüfen und mögliche Gefährdungen gegen den Nutzen kritisch abzuwägen. Zur Häufigkeit von unerwünschten Arzneimittelwirkungen liegen systematische Erhebungen vor, die durchaus Anlass zur Sorge geben. Nach einer aktuellen Untersuchung (Gurwitz et al. 2003) an älteren Patienten, die sich in ambulanter Behandlung befanden und Medikamente erhielten, sind ca. 27% der in einem 1-Jahres-Zeitraum beobachteten unerwünschten Arzneimittelwirkungen vermeidbar. Tab. 13.1 Schwierigkeiten bei der Behandlung älterer Menschen mit psychischen Erkrankungen Typische Probleme bei älteren Patienten Einsatz falscher Medikamente, die zur Behebung der Störung nicht geeignet sind Insuffizient dosierte Medikamente aufgrund der Angst vor möglichen Nebenwir- kungen Vorurteil, dass psychotherapeutische Interventionen bei älteren Menschen wir- kungslos sind Polypharmazie erhöht die Gefahr von Arzneimittelinteraktionen Generelle Abneigung gegen psychopharmakologische Behandlungen (oft aus Angst vor Abhängigkeitsentwicklung), die zu einer häufig unerkannten NonCompliance führt Veränderte pharmakodynamische und pharmakokinetische Bedingungen ge- genüber jüngeren Menschen Demenzerkrankungen Neben den oben skizzierten Schwierigkeiten bei der Psychopharmakotherapie im höheren Lebensalter ergeben sich oft ganz praktische Probleme, die häufig nicht ausreichend berücksichtigt werden. So ist für viele ältere und multimorbide Patienten die oft große Anzahl verordneter Medikamente an sich beunruhigend. Bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil haben ältere Menschen einen überproportional großen Anteil an Arzneiverordnungen (Curtis et al. 2004). Nur eine Minderheit der gerontopsychiatrischen Patienten kann die verordneten Präparate namentlich richtig benennen. Die zum Teil wenig einprägsamen Handelsnamen tragen dazu bei, dass Patienten eine Vertrautheit mit ihrer Medikation gar nicht erst aufbauen können. Kleine Tabletten sind sicherlich leichter einzunehmen, aber für motorisch beeinträchtigte ältere Patienten oftmals schwer handhabbar, besonders dann, wenn sie geteilt werden sollen. Insofern ist es zu begrüßen, wenn von der pharmazeutischen Industrie auch Lösungen mit leicht zu handhabenden Dosierhilfen zur Verfügung gestellt werden. Die in den vergangenen Jahren eingeführten Schmelztabletten, die eine sublinguale Applikation ermöglichen, sind für einige Patienten eine echte Erleichterung, für einige andere hingegen sind es „keine echten Tabletten“ und gewöhnungsbedürftig. Im Folgenden werden typische gerontopsychiatrische Erkrankungen und aktuelle Aspekte der Diagnostik und Therapie skizziert. Demenzerkrankungen Während in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Therapiestudien bei Demenz vom Alzheimer-Typ unternommen worden sind, erscheint die öffentliche Aufmerksamkeit für andere Demenzformen nur gering. Neben den Alzheimer-Gesellschaften und einer Fülle von Forschungsinitiativen, wie dem bundesweiten Kompetenznetz Demenzen und anderen Kooperationsinitiativen entwickelte sich für seltenere Demenzformen, wie den frontotemporalen Demenzerkrankungen oder den Demenzen mit Lewy-Körperchen kaum eine äquivalente Aufmerksamkeit. Die rasanten Fortschritte im Verständnis der molekularen Vorgänge bei der Alzheimer-Demenz haben zahlreiche klinische Untersuchungen initiiert, wohingegen bei den übrigen demenziellen Erkrankungen vergleichsweise wenig klinische Studien gestartet wurden, was durch die niedrigere Prävalenz allein nicht zu erklären ist. Bei der beginnenden Demenz vom Alzheimer-Typ und bei mittelschweren Krankheitsstadien gelten derzeit Acetylcholinesterasehemmer (AChEHemmer) als Mittel der ersten Wahl (Kessler et al. 2003). Entsprechende Empfehlungen finden sich in der Leitlinie der Gesellschaft für Neurologie (Wallesch et al. 2002) und den Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Für die in Deutschland zugelassenen AChE-Hemmer Donepezil, Galantamin und Rivastigmin liegen CochraneReviews vor (Birks u. Harvey 2003, Birks et al. 2004, Olin u. Schneider 145