MathematischNaturwissenschaftliche Fakultät Fachbereich Biologie Institut für Neurobiologie Universität Tübingen · Auf der Morgenstelle 28 · 72076 Tübingen Prof. Dr. Andreas Nieder Direktor Telefon +49 7071 29-75347 Telefax +49 7071 29-2618 [email protected] Tübingen, den 13. November 2012 Wozu neurowissenschaftliche Primatenversuche? Die Wissenschaftler der Universität Tübingen sind sich der großen ethischen Verantwortung bewusst, die mit Primatenversuchen in der biologischen und medizinischen Grundlagenforschung verbunden ist. Alle hier stattfindenden Tierversuche wurden von der Tierversuchskommission sorgfältig geprüft und von der zuständigen Behörde genehmigt. Die Einhaltung der Auflagen wird regelmäßig überprüft. Grundlagenforschung beschäftigt sich mit Phänomenen und Fragestellungen, für die es bislang keine Erklärungen gibt, daher ist ihre spätere Anwendung nicht planbar. Andererseits ist aber angewandte Forschung, die schließlich als klinische Forschung sowohl dem Menschen als auch den Tieren zugute kommt, ohne die Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung undenkbar. Es gibt bislang keine Techniken, die Tierversuche vollständig ersetzen könnten. Eine grundsätzliche Übertragbarkeit der im Tiermodell gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen ist durch zahlreiche, gut dokumentierte Beispiele belegt. Die Haltung der nichthumanen Primaten in den Forschungseinrichtungen der Universität Tübingen erfolgt unter Berücksichtigung aller Bestimmungen des Tierschutzrechtes und internationaler Übereinkommen. Für die wissenschaftlichen Experimente werden die Tiere auf bestimmte Verhaltensweisen trainiert, was die konzentrierte Mitarbeit gesunder, sich wohl fühlender Tiere erfordert. Die neurobiologische Forschung an Rhesusaffen stellt an der Universität Tübingen einen wichtigen Pfeiler der biomedizinischen Forschung dar. Die Universität Tübingen unterstützt daher die verantwortungsvolle Forschung an nichthumanen Primaten. Ergebnisse von Tierversuchen sind auf den Menschen übertragbar Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass Erkenntnisse aus sorgfältig und verantwortlich durchgeführten Tierversuchen dem medizinischen Fortschritt und damit dem Menschen zugute kommen. Man denke nur an das bestens bekannte Rhesusfaktor-System des Blutes, das seinen Namen aufgrund seiner Entdeckung an Rhesusaffen trägt. Die Unverträglichkeitsreaktion zwischen den Rhesusfaktoren des Blutes hat seit ihrer Entdeckung Millionen von Neugeborenen schwere Schädigungen oder gar den Tod erspart. In den Neurowissenschaften verdeutlicht die Entdeckung der Spiegelneurone im Gehirn von Rhesusaffen exemplarisch, wie unerwartete Befunde der Grundlagenforschung unvermittelt klinische Relevanz erlangen. Inzwischen ist bekannt, dass das Spiegelneuronen-System auch beim Menschen vorkommt und wohl dafür verantwortlich ist, dass wir uns in einen anderen Menschen hineinversetzen können. Die Medizin erforscht nun auf der Basis dieser grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnisse, wie es zu schwerwiegenden Störungen zwischenmenschlicher Interaktionen wie beispielsweise beim Autismus kommen kann. Neurobiobiologische Tierversuche sind für die Diagnose und Therapie neurologischer Erkrankungen notwendig Ein wesentlicher und für das Verständnis der Arbeitsweise von Gehirnen unverzichtbarer Ansatz ist die Untersuchung der Funktion von Nervenzellen im intakten Gehirn. Er ist deshalb unentbehrlich, weil erst die Vernetzung einer ungeheuer großen Zahl von Nervenzellen unsere Fähigkeit begründet, zu denken, zu fühlen, sich anderen mitzuteilen, sich zu erinnern und Bewusstsein von sich und der Welt zu entwickeln. Nichtmenschliche Primaten sind für viele Fragestellungen, die auf den Menschen übertragbar sein sollen, das einzige realistische Modelltier. Gehirnerkrankungen können nur dann verstanden und geheilt werden, wenn die grundlegenden neurobiologischen Prinzipien erforscht werden. Ohne verlässliche Grundlagenforschung sind bestenfalls ungerichtete Ansätze denkbar, die erfahrungsgemäß mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Viele Beispiele belegen die immense Bedeutung neurobiologischer Versuche unter anderem an Affen für die Verbesserung von Diagnostik und Therapie psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen: - die Erforschung der Wirkung von Mikrostimulation am Gehirn, die „Hirnschrittmacher“ zur Behandlung der Parkinsonschen Krankheit ermöglicht hat, - die Behandlung der Taubheit durch im Tierversuch entwickelte Innenohrprothesen, die den Schall in elektrische Impulse umsetzen und so direkt den Hörnerv informieren, - die mit Nobelpreisen honorierte Erforschung der neurobiologischen Grundlagen des Sehens, die den Boden für das Verständnis der kindlichen Sehstörungen beim Schielen und der Entwicklung der Kurzsichtigkeit bereitet hat, - die Erforschung der Arbeitsweise des Stirnhirns von Rhesusaffen, die wesentliche Impulse für die Behandlung psychiatrischer Erkrankungen gegeben hat, - die wesentlichen Fortschritte in der Entwicklung von Neuroprothesen zur Rehabilitation von Patienten mit Lähmungen nach Rückenmarksquerschnitten oder Schlaganfällen basieren auf Experimenten an Rhesusaffen, - Untersuchungen an Affen sind eine zunehmend wichtigere Grundlage der Altersforschung und der Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen wie der Huntingtonschen Chorea. - die mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Erforschung der Übertragungsmechanismen von Prionenkrankheiten wie Kuru, Scrapie und der Creutzfeldt-Jakob Erkrankung mit erheblichen Implikationen für das Verständnis des auch auf den Menschen übertragbaren Rinderwahns (BSE). Weil die Behandlung von Erkrankungen der Sinnessysteme und die psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen Erkenntnisse über die Arbeitsweise des gesunden Gehirns auf der Ebene von Nervenzellen voraussetzt und diese Erkenntnisse nur im Tierversuch zu gewinnen sind, sind Tierversuche ethisch vertretbar und notwendig. 2 In der neurowissenschaftlichen Forschung gibt es bestimmte Fragestellungen, für die nichthumane Primaten als Versuchstiere unerlässlich sind Affen stehen dem Menschen stammesgeschichtlich näher als Mäuse, Ratten oder Schweine. Im Laufe der Evolution von Säugetiergehirnen haben sich Strukturen und Funktionsprinzipien herausgebildet, die alle Primaten, zu denen der Mensch, Menschenaffen und andere Affen gehören, teilen und deshalb nur an Mitgliedern dieser Säugetiergruppe untersucht werden können. Affen werden in den Neurowissenschaften - wie auch in anderen Bereichen der Biomedizin - nur dann eingesetzt, wenn es um diese Besonderheiten geht, wenn also dem Menschen weniger nahestehende Arten keine Antworten auf die gestellten Fragen versprechen. So entschlüsselt beispielsweise die Neurobiologie an konkreten Fragestellungen wie dem Zahlenverständnis allgemeine Verarbeitungsprinzipien des Gehirns. Höhere geistige Leistungen, wie z.B. Abstraktionsvermögen, Regelverständnis und Entscheidungsfindung, müssen an konkreten Beispielen erforscht werden. Der Umgang mit Zahlen erfordert solche Fähigkeiten in hohem Maße. Der Zahlensinn bietet sich deshalb besonders an, um abstrakte Hirnvorgänge am Tiermodell zu untersuchen. Zahlen werden im Gehirn in speziellen Regionen verarbeitet, die auch bei vielen Gehirnerkrankungen, wie z.B. der Schizophrenie, in Mitleidenschaft gezogen werden. Für Menschen, die an solchen Erkrankungen leiden, ist eine Störung des abstrakten Denkvermögens besonders beeinträchtigend. Wenn es gelingt, die Hirnmechanismen solcher Fähigkeiten zu entschlüsseln, ist damit der Grundstein gelegt für medizinische Behandlungen in der Zukunft. Alternative Methoden reichen beim jetzigen Stand der Wissenschaft nicht aus Alternative Methoden sind wertvoll, hochwillkommen und werden in der biomedizinischen Forschung wenn immer möglich eingesetzt und weiter entwickelt. Allerdings können Tierversuche beim jetzigen Stand der Wissenschaft nicht durch alternative Methoden ersetzt, sondern lediglich ergänzt werden. Zwar erlauben nicht-invasive bildgebende Verfahren wie die funktionelle Kernspinoder Magnetresonanztomographie (fMRT) einen Blick in das Gehirn und sind eine wesentliche Bereicherung des Methodenspektrums in der Hirnforschung. Allerdings werden die Möglichkeiten dieser Technologie weit überschätzt. Die funktionelle Magnetresonanztomographie misst den Blutfluss im Gefäßsystem des Gehirns als indirektes Maß der Aktivität von Nervenzellen und nicht deren Aktivität selbst, die sich auf einer Zeitskala ändert, die viel zu schnell ist, als dass sie vom Kernspintomographen erkannt werden könnte. Die tierexperimentellen Arbeiten an Rhesusaffen am Max-Planck-Institut in Tübingen zeigen, dass die üblich gewordene schlichte Gleichsetzung von fMRT-Signal und Nervenzellaktivität zu schwerwiegenden Fehlinterpretationen führen kann. Die getreue Registrierung der elektrischen Signale von Nervenzellen erfordert vielmehr die Einführung von Mikroelektroden in das Gehirn. Da das Gehirn schmerzunempfindlich ist, stellt dies keine Belastung dar, eine Feststellung die durch die Tatsache, dass neurochirurgische Eingriffe am Hirn des Menschen ohne Narkose durchgeführt werden, belegt wird. Nur wenn die bildgebenden Verfahren mit tierexperimentellen Studien gekoppelt werden, ist es möglich, verlässliche Erkenntnisse über die Funktion des Gehirns zu erhalten und die bildgebenden Verfahren zu verbessern. 3