Architektur Das zweite Leben einer Polizeidienststelle De Veilige Veste, Leeuwarden/NL Der Umbau ehemaliger Büro- in Wohngebäude ist in den Niederlanden seit 2009 durch den großen Büro­ leerstand, die attraktive innerstädtische Lage vieler dieser Objekte und aus finanziellen Gesichtspunkten zu einem wichtigen Teil des Bausektors und Betätigungs­ feldes von Architekten geworden. Das Projekt „Veilige Veste“ – eine Zufluchtsstätte für Opfer von häuslicher Gewalt und Menschenhandel – war 2012 das erste Bürogebäude, das nach dem niederländischen Passiv­ hausstandard von einer ehemaligen Polizeidienststelle in ein Wohn- und Betreuungszentrum für betroffene Frauen umgebaut wurde. KAW Architecten Foto: Gerard van Beek Beatrice Montesano, Johannes Klimstra 42 1101–8 KAW arbeitet in unterschiedlichen Disziplinen: Architektur, Städtebau, technische Ausarbeitung, Raumpla­ nung und Prozessmanagement. Das Architekturbüro hat Standorte in Groningen/NL, Rotterdam/NL und Eindhoven/NL sowie ein Entwurfsstu­ dio in Barcelona/ES. Beatrice Monte­ sano ist Projektarchitektin bei KAW und für den Umbau der Polizeidienst­ stelle verantwortlich. Rechts neben ihr Johannes Klimstra, Projektleiter bei KAW. Foto: Gerard van Beek DBZ 1 | 2016 DBZ.de 43 Architektur | De Veilige Veste, Leeuwarden/NL Foto: Gerard van Beek Auf Drängen von Stadt und Region, die beide aktiv das Pro­jekt unter­ stützen, kaufte WoonFriesland das Bürogebäude im März 2010. Dieses war durch den Umzug der Polizei in den benachbarten Neubau frei geworden Die Erdgeschossfassaden mit ihren großen, raumhohen Verglasungen erzeugen einen offenen, transparen­ ten Eindruck, während die Fassaden der Obergeschosse geschlossener und durch die dicken Polyesterplat­ ten, sicherer wirken Der Ausgangspunkt Auf der Suche nach einem geeigneten Gebäude für eine neue Zufluchtsstätte für Opfer von häuslicher Gewalt und Menschenhandel wandte sich die Organisation Fier Fryslân an die Wohnungsbaugesellschaft WoonFriesland. Ebenfalls früh involviert waren KAW Architecten. Sie erstellten bereits im Vorfeld eine Studie, ohne ein kon­ kretes Gebäude in Aussicht zu haben. Aus der ging hervor, dass eine Sanierung und ein Umbau eines beste­ henden Gebäudes für Fier Fryslân kostengünstiger sei als ein Neubau. Nach der Begutachtung mehrerer verschiedener Ob­ jekte wählte der Bauherr und Nutzer die leerstehende, ehemalige Polizeidienststelle am Aldlansdyk, der Ringstraße von Leeuwarden, ca. 60 km westlich von Gronin­ gen. Auf Drängen von Stadt und Region, die beide das Projekt aktiv unterstützen, kaufte WoonFriesland das Bü­ rogebäude im März 2010. Dieses war durch den Umzug der Polizei in den benachbarten Neubau frei geworden. Die Tragstruktur des Stahlbetonbaus aus den 1970erJahren zeichnet sich aus durch ein quadratisches Raster von 3,60 x 3,60 m und durch seine an der Außenseite lie­ genden Stahlbetonstützen. Die Konstruktion wurde zu einem der Ausgangspunkte des architektonischen Entwurfs. Die Bestandsfassade wies bauphysikalische Mängel wie etwa eine Vielzahl von Wärmebrücken auf, die durch eine einfache Fassadensanierung nicht hätten behoben werden können. Eine durch WoonFriesland an KAW Ar­ chitecten in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie ergab, dass ein Umbau und eine Sanierung des Bauwerks auf den niederländischen Passivhausstandard möglich wäre und dass sich die dadurch ergebenden Mehrkosten inner­ halb von 10 Jahren amortisieren würden. 44 15 15 15 15 15 15 15 16 15 14 18 5 17 22 1 Windfang 2 Wartezimmer 3 Information 4 Rezeption 5 Büro 6 Konferenzraum 7 Behandlungszimmer 8 Therapiezimmer 9 Familien-/Therapie/Beratungszimmer 10 Sprechzimmer 11 Gruppenraum 12 Beobachtungsraum 13 Duschen/Toiletten 14 Lager 15 Zimmer 16 Küche 17 Gemeinschaftsraum 18 Nachtdienst 19 Wintergarten 20 Saal 21 Aufzug 22 Innenhof 15 14 15 15 19 18 16 15 21 17 19 Grundriss Erdgeschoss, M 1 : 750 13 22 13 19 16 15 17 5 18 14 15 15 15 15 15 20 15 15 15 15 15 15 Grundriss 1. Obergeschoss, M 1 : 750 Grundriss 1. Obergeschoss, M 1 : 750 Foto: Gerard van Beek 20 5 Foto: Gerard van Beek DBZ 1 | 2016 DBZ.de 45 Architektur | De Veilige Veste, Leeuwarden/NL Schnitt AA, M 1 : 750 Die Ansprüche Schon im Zuge der Vorgespräche wurde sowohl seitens des Eigentü­ mers als auch von Linda Terpstra, Direktorin von Fier Fryslân, der Wunsch nach einer hochwertigen, nachhaltigen und umfassenden Sanierung geäußert. Auch Sigrid Hoekstra, Geschäftsführerin von WoonFriesland, verstand unter Nachhaltigkeit einen ganzheitlichen Ansatz: erstens die akute und wirkungsvolle Versorgung und Be­ handlung von Opfern, zweitens eine zeitlose Architektur und drittens ein Gebäude mit einem minimalen Energieverbrauch zur Senkung der Betriebskosten und des damit garantierten Fortbestands der Einrichtung. Anke van Dijke, ebenfalls Direktorin von Fier Fryslân, sieht in der ‚Veilige Veste‘, zu Deutsch: Sichere Festung, eine große symbolische Bedeutung: „Mit der ‚Veiligen Veste‘ setzen wir ein Statement. Früher versteckten wir unsere Mädchen, jetzt ist das nicht mehr notwendig. Die ‚Veilige Veste‘ macht das Unsichtbare sichtbar. Wir hoffen damit, die Mauer des Geheimhaltens und des Schweigens durchbrechen zu können.“ Den Wunsch des ‚Sichtbar Werdens‘ übersetzen die Archi­ tekten in eine extrovertierte Fassade. Die Fassade Das Relief wird durch tra­pez­för­mige und versetzt angeordnete Holz­ träger erzeugt. Die davor gesetzte Hülle besteht aus weißen und diagonal gekanteten Polyesterkompositplatten. Die neuen, an den Stahlbetonstützen montierten Fassadenelemente des 1. und 2. Ober­ geschosses bestehen aus drei vorgefertigten Schichten: An der In­ nenseite befindet sich eine mit Zellulosewolle gefüllte Vorsatzwand, in der die gesamte technische Gebäudeausrüstung flexibel integriert werden kann und die den Dämmwert, die Luftdichtheit und den Feu­ erwiderstand der Fassade zusätzlich verbessert. Davor liegen die 35 cm dicken und mit ökologischer Zellulose-Dämmung (U-Wert 0,12 W/m²K) gefüllten Fertigteilplatten. In dieser Dämmschicht wur­ den die aus Deutschland importierten und als Passivhausfenster zerti­ fizierten Fenster, bestehend aus einer Fixverglasung und einem Kipp­ fenster, integriert (U-Wert 0,5 W/m²K). Die Kippfenster wurden als Schutz vor Selbstmordversuchen der Bewohnerinnen vorgesehen. Die dritte und äußerste Schicht sind die vorgefertigten, gegossenen und bis zu 50 cm tiefen Polyesterplatten. Ihr Auskragen kreiert eine natürliche Beschattung der Gemeinschaftsräume im Erdgeschoss. Die Architekten versuchten, ökologische Baumaterialien zu verwen­ den, wo es finanziell möglich war. Durch die Vorfertigung der Bau­ 46 teile konnten sowohl die Kosten als auch die Bauzeit entscheidend verringert werden, ohne dabei qualitative Abstriche zu machen. Die Holzfassade im Erdgeschoss und die Holzschalung im Innen­ hof bestehen aus dem in den Niederlanden häufig verwendeten Louro Preto-Holz. Im Gegensatz zur unbehandelten Innenhoffassade wurde das Holz im Erdgeschoss lackiert, wodurch die dunkle Holzäs­ thetik erhalten blieb. So wurde das Erdgeschoss visuell klar von der strahlenden „Krone“, der Obergeschosse, getrennt. Dieser Eindruck wird zusätzlich verstärkt durch die mit grau-schwarzen Steinen ge­ füllten Gabionen. Um eine simple Lochfassade im Innenhof zu vermeiden, wurden diese um leicht nach innen versetzte Metallelemente ergänzt. Optisch wird der Unterschied zwischen dem Metall und dem Holz durch das natürliche Vergrauen des unbehandelten Holzes mit der Zeit ver­ schwinden. Der Bauprozess Nach dem Ankauf des Gebäudes erstellte Dirk Horjus, Projektleiter bei WoonFriesland, auf der Basis des Entwurfs von KAW und den all­ gemeinen Nutzererwartungen ein vorläufiges Raumprogramm, das bis Oktober 2010 im Rahmen intensiver Gespräche mit Fier Fryslân genau ausgearbeitet wurde. Diese Phase, in der alle Details bezüglich der Raumausstattung, der Materialien und der (sicherheits-)technischen Anforderungen besprochen wurden, war nach Meinung von Dirk Horjus besonders wichtig, weil dadurch späteren Unklarheiten während der Ausfüh­ rung vorgegriffen werden konnte. In der Folge wurden zwischen Oktober 2010 und Ende April 2011 die Ausschreibungstexte und die Bauzeichnungen in enger Zusammenarbeit von KAW Architecten, WoonFriesland und der Haustechnikberaterfirma Technion vorberei­ tet. Wobei die Arbeiten aus prozesshaften Überlegungen in drei Aus­ führungsgruppen unterteilt wurden: die Abrissarbeiten, die tech­ nische Gebäudeausrüstung und die Hochbaugewerke. Unter den vier bietenden Generalunternehmen für die Bauausführung erhielt die Bouwgroep Dijkstra Draisma Ende April den Zuschlag, wodurch An­ fang Juni die Bauarbeiten beginnen konnten. In einem ersten, nur neun Monate dauernden Bauabschnitt, wurde das gesamte Gebäude eingepackt, asbesthaltige Bauteile entsorgt und bis auf seine primäre Tragstruktur abgetragen. Die Geschoss­ flächen, die Flachdächer, die Lage der vertikalen Erschließung und die Toiletten wurden für den Umbau nicht verändert. Durch die Renovierung auf Passiv­ hausstandard entstandenen Mehrko­ sten von rund 700 000 €. Sie wurden durch private Sponsoren, Crowdfun­ ding, Zuschüsse der Stadt Leeuwar­ den und der Provinz Friesland, sowie mit Hilfe der niederländischen Post­ codeloterij finanziert Fassade: U = 0,12 W/m²K Heizung: 2 Gastherme Warmwasser: Sonnenboiler Gründach Winter Qv10 = 0,6 W/m²K Das bestehende Flachdach des Innenhofes wurde generalsaniert, isoliert und als begehbares Grün­ dach ausgebildet. Dabei wurde ein ca. 100 m² großes Sedum-Moos-Dach angelegt, das auch eine Regenwasserrückhaltefunktion erfüllt, um bei starken Regenfällen das öffentliche Kanalnetz zu entlasten. Aufgrund von Spannungen zwi­ schen den Bewohnerinnen der einzelnen Wohn­ gruppen ist dieser geschützte Innenhof aller­ dings vorläufig nicht zugänglich Sommer Fensterrahmen U< _ 0,8 W/m²K Glas U = 0,6 W/m²K Fassadenelement Bodenplatte U = 0,1 W/m²K Vorsatzwand Verkleidungsplatte Technische Gebäudeausrüstung Zellulosewolle Polyesterkomposit Vorgefertigtes Holzsklettelement: Wasserabweisende dampfdurchlässige Folie Wasserabweisende Holzfaserplatte I-Träger Wandplatte Foto: Gerard van Beek DBZ 1 | 2016 DBZ.de 47 Foto: Gerard van Beek Architektur | De Veilige Veste, Leeuwarden/NL Durch das Auslagern der Kantine in den ehema­ ligen Zellenblock – eine Zelle wurde als Anschau­ ungsbeispiel im Originalzustand erhalten – konn­ te im Hauptgebäude Raum für die notwendigen Zimmer gewonnen werden Durch die lange Produktionszeit der vor­ gefertigten Polyesterelemente konnte erst im Dezember mit der Montage der Fassaden an­ gefangen werden. De Facto wurde zuerst mit dem Innenausbau begonnen und erst in den letzten drei Monaten die Hülle montiert. Bis zu diesem Zeitpunkt blieben die Öffnungen zwischen den Stahlbetonstützen mit Plastik abgedeckt, um unerwünschten Feuchtigkeits­ eintritt ins Innere des Bauwerks zu verhindern. Die Gesamtinvestitionen beliefen sich inklusive der Entwicklungskosten und des Gebäude- und Grundstücksankaufs auf gera­ demal 1 100 €/m² BGF (exkl. MwSt.). Die Bau­ kosten selbst begrenzten sich auf 750 €/m² BGF (exkl. MwSt.). Reimar von Meding, Part­ ner bei KAW, erklärt diese niedrigen Bauko­ sten mit der guten Projektabwicklung und dem hohen Aufwand, der in der Vorbereitung stattgefunden hatte – Abstimmung des Ent­ wurfs, des Programms, der Mittel und der Technik –, wodurch es so gut wie zu keinen Mehrkosten kam. Als weitere Zeitersparnis 48 führt er die intelligente Planungs- und Bau­ prozesssteuerung sowie eine gute Logistik an, aus der eine intensive und gute Zusam­ menarbeit erwuchs. Kostensenkend wirkte sich außerdem die gezielte Vorfertigung ein­ zelner Bauteile aus. Er betont zudem die Qualität des Entwurfsansatzes, bei dem die technischen Erwartungen und Anforderun­ gen die Grundlagen waren und nicht die Technik die Ästhetik bestimmte. KAW behielt während der Bauarbeiten die künstlerische Oberleitung. Entscheidend wa­ ren neben den Baustellensitzungen die zwei­ wöchentlich stattfindenden Besprechungen mit Linda Terpstra, um diese über alle Bauab­ schnitte zu informieren. Dirk Horjus meint rückblickend: „Die zeitgemäße Fertigstellung und Übergabe des Gebäudes an Fier Fryslân Ende Februar 2012 war nur durch die pro­ak­ tive Haltung, den Enthusiasmus und die aus­ gezeichnete Zusammenarbeit aller Partner und Baufirmen möglich.“ Michael Koller, Den Haag Baudaten Objekt: Veilige Veste Standort: Leeuwarden/NL Typologie: Umbau – Zentrum für Opfer von Gewalt Bauherr: Fier Fryslan, Leeuwarden/NL Nutzer: Fier Fryslan, Leeuwarden/NL Architekt: KAW Rotterdam, 3044 BC Rotterdam/NL, www.kaw.nl Mitarbeiter: Beatrice Montesano, Johannes Klim­ stra, Kasper Niezen, Annette Barelds, Reinier Buisman, Dennis Hofman, Paul van Moorsel Generalunternehmer: Bouwgroep Dijkstra Draisma Bauzeit: Juni 2011 – Februar 2012 Fachplaner Tragwerk: EconStruct, Leeuwarden/NL, www.econstruct.nl Techn. Gebäudeausrüstung/Licht: Technion, Heerenveen/NL, www.technion.nl Foto: Gerard van Beek Projektdaten Grundstücksgröße: 13 500 m² Nutzfläche: gesamt 5 350 m² Brutto-Rauminhalt: 20 330 m³ Baukosten gesamt: 4,1 Mio. € Hauptnutzfläche: 766 €/m² Brutto-Rauminhalt: 202 €/m³ Die neuen, an den Stahlbetonstüt­ zen montierten Fassadenteile des 1. und 2. Obergeschosses bestehen aus drei vorgefertigten Schichten: Vor­ satzwand, Zellulose-Dämmung und Polyesterplatten Hersteller Vorgefertigte Holzwände: Oldenboom Meinesz BV, www.oldenboom.nl Dämmung: Saint-Gobain Isover G+H AG, www.isover.de Dachdämmung: EcoTherm Austria GmbH, www.ecotherm.com/de Dach: Sika Schweiz AG, www.sika.com Fenster: Kneer GmbH, www.kneer-suedfenster.de Fensterglas: Saint-Gobain Glass Netherlands, www.saint-gobain-glass.com 1 Kunststofffenster 2 Sonnenschutz 3 Aluminiumband 4 Abklebung 5 Abdichtung 6 Mineralwolle 7 Wandaufbau: Innenraumplatte 12,5 mm Zwischenraum für Leitungen, gefüllt mit Mineralwolle Beplankung, 12 mm dampfundurchlässige Schicht Dämmung, 350 mm I-Träger Wasserabweisende Hartfaserplatte, 20 mm diffusionsoffene Schicht 8 Polyesterplatte, Komposit Fassadenelemente: Polux BV, www.flexipol.nl Aluminiumpaneel: Mitsubishi Plastics, www.alpolic.com Aufzüge: Schindler Group, www.schindler.com Decken: Rockwool Rockfon GmbH, www.rockfon.de Fliesen: Mosa, www.mosa.nl/de Detail Fassadenanschluss, M 1 : 15 DBZ 1 | 2016 DBZ.de 49