Schlaraffenland mit dunklen Seiten

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SCHWEIZ 15
Neuö Zürcör Zäitung
Dienstag, 17. Januar 2017
Schlaraffenland mit dunklen Seiten
Deutsche Mediziner zögern vor einem Wechsel in die Schweiz – aus Angst vor Anfeindungen durch Einheimische
Die Löhne sind hier höher,
das Arbeitsklima ist besser –
dennoch kehren viele deutsche
Ärzte der Schweiz den Rücken
oder kommen gar nicht erst. Das
verschärft den Fachkräftemangel.
Julia Balensiefen. Sie arbeitet für die
Schweizer Firma B-plus, die sich auf die
Rekrutierung von Ärzten spezialisiert
hat. «Es ist für uns deutlich schwieriger
geworden, Deutsche zu finden, die bereit sind, in einem Schweizer Spital zu
arbeiten oder eine Praxis zu übernehmen», sagt sie. Ähnlich grosse Probleme
gebe es in der Romandie nicht, für französische Ärzte ist die Attraktivität des
Schweizer Arbeitsmarkts laut Balensiefen ungebrochen hoch.
Weil sie befürchten, dass sich ihre
Familie nicht in die Schweizer Gesellschaft würde integrieren können, kommen manche deutsche Ärzte alleine.
«Dann ist das Risiko natürlich grösser,
dass sie bald wieder gehen», sagt Balensiefen. Laut dem Bundesamt für Gesundheit haben 2015 126 deutsche Ärzte ihre
Bewilligung zur Berufsausübung wieder
abgegeben. Nur ein kleiner Teil davon
ging in Rente, die Mehrheit ist unter 50
Jahre alt und dürfte heimgekehrt sein.
SIMON HEHLI
Die Schweiz ruft. Andreas Werling hat
ein Job-Angebot auf dem Tisch liegen:
Er könnte in einer Gemeinschaftspraxis
in der Nähe von Biel einsteigen, weil
dort in nächster Zeit gleich drei Ärzte in
Pension gehen. Werling führt heute eine
Hausarztpraxis in Ludwigshafen im
deutschen Bundesland RheinlandPfalz. Die Offerte bringt ihn in ein
Dilemma. Die besseren Verdienstmöglichkeiten sprechen für das Auswandern. Und unter deutschen Ärzten weitgehend unbestritten ist auch, dass der
Berufsalltag in der Schweiz angenehmer
ist: Hier werden die Mediziner weniger
von den Krankenkassen gegängelt, sie
haben zudem mehr Zeit für die Gespräche mit ihren Patienten. «Die Bürokratie in Deutschland ist einengend», sagt
Werling.
Was ihn dennoch zögern lässt, sind
die Erfahrungsberichte von Berufskollegen, die den Schritt in die Schweiz bereits gewagt haben – und über Probleme
im Privatleben klagen. «Ich habe von
verschiedener Seite gehört, dass man als
Deutscher in der Schweiz ein Fremdkörper bleibt und Mühe hat, den Anschluss zu finden», erzählt Werling. Eine
Informationsquelle für ihn und andere
an einem Umzug interessierte Mediziner ist das Online-Experten-Netzwerk
Coliquio, das nur approbierten Ärzten
offensteht. Der NZZ liegt ein Auszug
aus dem Forum vor, der die umfangreichen Diskussionen zu diesem Thema
dokumentiert.
Pudelwohl oder isoliert
Dem Leser präsentiert sich ein zwiespältiges Bild. Eine Reihe von Diskussionsteilnehmern berichtet von guten Erfahrungen im «Schlaraffenland» Schweiz,
auch im privaten Bereich. «Wir fühlen
uns hier pudelwohl», schreibt ein Arzt,
der mit seiner Frau und zwei Kindern
seit 2012 in der Schweiz arbeitet. Nie
hätten sie Ressentiments erlebt. Andere
warnen die Berufskollegen vor der
Schweiz, teilweise in drastischen Worten. Ein Zahnarzt schreibt, seine Frau
sei im Job weggemobbt worden und die
Kinder hätten an der Schule Beschimpfungen als «blöde Nazis» über sich ergehen lassen müssen. Sein Arbeitsalltag
hingegen sei so toll, dass er gegenüber
der Familie ein schlechtes Gewissen
Heimmarkt wird attraktiver
Die Schweiz ist auf ausländische Ärzte – hier an der Privatklinik Pyramide im Zürcher Seefeld – angewiesen.
habe. Das Fazit des Dentisten: «Wer
eine dicke Haut hat, soll’s probieren.»
Ein Arzt, der für eine Woche in einer
Gemeinschaftspraxis auf dem Land
probearbeitete, hatte Mühe mit der Art
der Einheimischen. Die Kollegen hätten
es nicht für nötig gehalten, ausser kurzen Worten in der Praxis, einmal das
persönliche Gespräch mit ihm zu suchen. «Niemand hat mich in der Woche
mal abends eingeladen, es gab kein
Interesse an mir und meiner Herkunft
und auch keine Anstalten, etwas Persönliches von sich selbst preiszugeben.» So
sei ihm der Entscheid, in Deutschland zu
bleiben, nicht schwergefallen.
Eine Ärztin meint: «Die Schweiz ist
gut für Menschen ohne Kinder, Humor
und Moral, die ist durch Geld ersetzt.»
Ein weiterer Mediziner hält fest, die
Schweizer würden keine Deutschen
mögen, «sie mögen gar keine Ausländer
in ihrem Land». Er betont jedoch auch,
man könne sogar Schweizer Freunde finden, wenn man sich als «Düütscher» ein
wenig anpasse. «Man kann eben nicht,
auch nicht als früherer Chefarzt, hingehen und sagen: ‹Hallo, ich zeige euch
jetzt mal, wie es geht!›»
Ein Arzt, der zwei Jahre an einem
Schweizer Spital tätig war, kritisiert, dass
sich die Deutschschweizer für etwas
Besseres hielten. Ein weiteres Problem
sei die Sprache: Hochdeutsch sei inzwischen eine Fremdsprache, «selbst für
Arztkollegen und andere ‹Akademiker›». Als Arzt müsse man das einheimische Kauderwelsch sprechen und verstehen. «Sonst kann man mit den Patienten nicht kommunizieren.»
Die Verunsicherung, die sich in solchen Diskussionen zeigt, wäre aus hiesiger Sicht kaum gravierend, wäre die
Schweiz nicht auf die Zuwanderung von
medizinischen Fachkräften angewiesen.
Laut der neusten Statistik des Ärzteverbandes FMH haben 17,7 Prozent der hier
arbeitenden Ärzte einen deutschen Pass,
das sind über 6000 Personen. Viele
ANNICK RAMP / NZZ
Hausärzte stehen vor der Pensionierung
– im Kanton Zürich sind 347 der 1272
Allgemeinmediziner über 60 Jahre alt –,
und die Zahl der nachrückenden Ärzte
reicht nicht, um die Lücken zu füllen.
Dies auch, weil ein beträchtlicher Teil
aus dem Beruf aussteigt oder ihn nur in
Teilzeit ausüben möchte.
Zwar ist die Fremdenfeindlichkeit,
die offenbar ein Teil der deutschen Zuwanderer zu spüren bekommt, schon seit
einiger Zeit ein grosses Thema, sowohl
in den deutschen wie in den Schweizer
Medien. Doch nach der Annahme der
SVP-Zuwanderungsinitiative 2014 habe
sich die Situation noch verschärft, sagt
Ungarn und Griechen sollen es richten
hhs. V Deutsche – und auch österreichi-
sche – Ärzte haben in den letzten Jahren
viel dazu beigetragen, den schweizerischen Fachkräftemangel im Gesundheitswesen zu mildern. Wenn dieses
Reservoir versiegt (siehe Haupttext),
sind Alternativen gefragt – denn bis die
Ausbildungsoffensive an Schweizer Universitäten Früchte trägt, wird es noch
einige Jahre dauern. Unternehmen, die
auf die Rekrutierung von Ärzten spezialisiert sind, grasen deshalb weiter ent-
fernte Arbeitsmärkte ab, vor allem in
Ost- und Südeuropa. So ist die Zahl der
anerkannten Diplome aus Ländern wie
Griechenland, Ungarn, Polen oder Rumänien in den letzten fünf Jahren stark
angestiegen. Das kann Kommunikationsschwierigkeiten mit sich bringen.
Das Parlament hat 2015 dennoch eine
zahme Gesetzesrevision verabschiedet:
Spitäler, die Mediziner mit mangelnden
Sprachkenntnissen anstellen, kommen
weiterhin ohne Busse davon.
Taube Ohren
beim Gehörschutz
Unia gegen Lockerung
des Arbeitsgesetzes
(sda) V Dass laute Musik dem Gehör
(sda) V Die Gewerkschaft Unia will die
Mehrheit der Konzertbesucher verzichtet
schadet, ist laut dem Bund dem Grossteil der Schweizer Bevölkerung bewusst.
Trotzdem verzichtet die Mehrheit darauf, das Gehör während Klub- oder
Konzertbesuchen zu schützen, wie das
Bundesamt für Gesundheit (BAG) in
seinem neusten Bulletin schreibt. Um
individuelle Ursachen für dieses widersprüchliche Verhalten zu eruieren, haben die Kalaidos Fachhochschule und
die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften eine vom BAG finanzierte Studie durchgeführt.
430 Besucherinnen und Besucher
von fünf Konzerten verschiedener Genres wurden in Zürich und Luzern befragt. Von den 409 Personen, die sich zur
Verwendung eines Gehörschutzes äusserten, haben rund 39 Prozent einen Gehörschutz getragen. Die Traghäufigkeit
hat stark zwischen den verschiedenen
Musikgenres variiert. Beim klassischen
Konzert haben 4 Prozent, beim RockPop-Konzert hingegen 61 Prozent der
Befragten einen Gehörschutz getragen.
Vorbildfunktion, Gruppendynamik
und anderes hätten einen starken Einfluss auf das Verhalten, heisst es. Je mehr
Menschen im Umfeld der Befragten
einen Gehörschutz trugen, desto häufiger trugen sie selber auch einen. Und
wer einen Gehörschaden befürchtet,
schützt sich häufiger, als wenn das Weglassen für harmlos gehalten wird.
Bei künftigen Kampagnen sollen aufgrund der Ergebnisse dieser Studie vermehrt die Beeinflussung der sozialen
Norm sowie ein verstärktes Bewusstmachen des individuellen Risikos in den
Fokus gerückt werden, um Gehörschäden entgegenzuwirken.
Arbeitsbedingter Stress soll nicht zunehmen
Standards beim Arbeitnehmerschutz in
der Schweiz verteidigen. Sie wehrt sich
gegen Vorschläge für eine weitere Liberalisierung des Arbeitsgesetzes, über die
am kommenden Montag in der Wirtschaftskommission des Nationalrats diskutiert wird. Konkret geht es um parlamentarische Initiativen, die die Arbeitszeiterfassung für einen grossen Teil der
Arbeitnehmer abschaffen wollten. Zudem würde für leitende Angestellte und
Fachspezialisten die Nacht- und Sonntagsruhe abgeschafft.
Die Gewerkschaft stützt sich in ihrer
Argumentation auf eine Online-Umfrage, an der sich 586 Personen aus
«büronahen Dienstleistungsberufen» in
Branchen wie Versicherungen, Krankenkassen, Informatik, Verwaltungen
oder Banken beteiligt haben. Demnach
fühlten sich 15,4 Prozent der Befragten
bei der Arbeit immer und 54,4 Prozent
oft gestresst, wie die Unia vor den
Medien bekanntgab. Fast 60 Prozent
hätten Zeitdruck als Hauptgrund für
den arbeitsbedingten Stress angegeben,
vor häufigen Unterbrechungen (46 Prozent) und Leistungsdruck (40,5 Prozent). Bei mehr als einem Viertel der
Beschäftigten werde die Arbeitszeit gar
nicht, nicht korrekt oder nicht nachvollziehbar erfasst. 16,7 Prozent könnten
ihre Überstunden weder kompensieren
noch vergüten lassen und leisteten somit
Gratisarbeit. 11 Prozent der Befragten
müssten auch ausserhalb der Arbeitszeit
immer erreichbar sein, 13 Prozent oft
und 18 Prozent manchmal.
Unia-Präsidentin Vania Alleva gab zu
bedenken, dass stressbedingte Erkrankungen unter diesen Umständen zunähmen.
Dass es Probleme bei der Anwerbung in
Deutschland gibt, bestätigt Susanne
Bandi vom Berner Inselspital: Die
Situation habe sich über die vergangenen Jahre kontinuierlich verschlechtert.
Betroffen seien alle Fachbereiche und
auch Kaderpositionen. Eine Erklärung
ist laut Bandi, dass Deutschland in den
letzten Jahren die Anstellungs- und
Arbeitsbedingungen für Ärzte attraktiver gestaltet habe. Ähnlich begründet
Ralf Ponader vom Personalvermittlungsunternehmen Workplanet den
Rückgang von Bewerbungen aus
Deutschland: Wegen des gravierenden
Ärztemangels, der auch in Deutschland
herrscht, seien die Vergütungen gestiegen und differierten gerade in leitenden
Stellen kaum von jenen in der Schweiz.
Ponader erkennt zudem eine Tendenz, dass deutsche Ärzte am liebsten in
Grossstädten anheuern – und in dieser
Hinsicht habe die Schweiz weniger zu
bieten als andere Länder. Für Andreas
Werling, den Hausarzt aus Ludwigshafen, gilt das nicht: Er habe beschlossen, Zürich und Basel zu meiden, sagt er.
«Dort sind die Lebenskosten viel höher,
und auf dem Land oder einer Kleinstadt
ist die Chance grösser, dass man Freundschaften knüpfen kann.» Werlings Kinder sind nicht mehr im schulpflichtigen
Alter, damit fällt ein Argument gegen
den Umzug ins Bieler Seeland weg. Und
doch tut er sich schwer mit dem Entscheid. «Ob wir uns tatsächlich ins gesellschaftliche Abseits begeben, würden
wir ja erst merken, wenn wir in der
Schweiz leben – und zu diesem Zeitpunkt hätten wir schon sehr viel investiert.» Die Chancen, dass er es wagt, beziffert Werling derzeit auf 50:50.
Erfolgreiche
Einsprachen
Jahresbilanz
der Stiftung Landschaftsschutz
(sda) V Die Stiftung Landschaftsschutz
(SL) war 2016 laut eigenen Angaben mit
ihren Einsprachen und Beschwerden erfolgreich. 72 Prozent der 40 abgeschlossenen Interventionen seien erfolgreich
beendet worden, teilte die SL am Montag mit. Von den 40 Fällen seien elf Einsprachen oder Beschwerden zumindest
teilweise gutgeheissen worden. In zehn
Fällen seien Bauvorhaben aufgegeben
beziehungsweise die Projekte zurückgezogen worden. In acht Fällen habe die
SL ihre Eingaben wegen Vereinbarungen oder Projektverbesserungen zurückgezogen. Elf Einsprachen seien abgewiesen worden. Bemerkenswert sei
auch, dass die Gerichte alle neun Beschwerden der SL gutgeheissen hätten.
In drei Verfahren habe das Bundesgericht entschieden, in einem Fall das
Bundesverwaltungsgericht und in fünf
Fällen kantonale Gerichte.
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