__________________________________________________________________________ 2 MUSIKSTUNDE mit Jürgen Liebing „Verlorene Partituren“ Von realen Verlusten, falschen und richtigen Entdeckungen 5.Folge MODERATION „Altnickol starrte auf den Dielenboden. Die Tasche. Der Spalt. Der glänzende, hochhackige Schuh. Das von Blattern vernarbte Gesicht mit der gewölbten Stirn und den weit auseinander stehenden Augen erhellte ein Lächeln. Ein zauberisches Lächeln. Er, der sich häßlich wähnte und unbedeutend, hatte sich noch nie so begehrenswert empfunden. Noch nie so mächtig. Noch nie so schön. Der Spalt. Diese Tasche. Altnickol hob den glänzenden, hochhackigen Schuh.“ So endet der Roman „Die Offenbarung“ von Robert Schneider und führt damit an den Ausgangspunkt zurück, beziehungsweise liefert am Schluß die Vorgeschichte nach. Im vorletzten Kapitel hatte Jakob Kemper das Manuskript des Bachschen Oratoriums wieder dorthin gebracht, wo es Wochen zuvor aufgetaucht und beinahe zweieinhalb Jahrhunderte verborgen gewesen war. Wer weiß, wie lange es dauern wird, bis es jemand wiederfinden wird. Aber vielleicht, eines Tages, irgendwann. 1) CD Track 1 bis 4’14 (Trackzeit: 12’20) Johann Sebastian Bach „Alles mit Gott und nichts ohn‘ ihn“, BWV 1127 4‘14 Elin Manhan Thomas, Sopran The English Baroque Soloists Ltg. John Eliot Gardiner SOLO DEO GLORIA 114 LC13772 MODERATION 2005 entdeckte Michael Maul, Mitarbeiter des Bach-Archivs in Leipzig, bei seinen Recherchen diese Kantate von Johann Sebastian Bach, komponiert 1713 zum Geburtstag des Herzogs Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar. Das war schon eine kleine Sensation. Maul, der eigentlich nach Briefen, Orgelbauakten 3 und anderen Dokumenten in den Archiven in Sachsen und Thüringen suchte, stieß eher zufällig auf diese Geburtstagskantate. „O Gott, das sieht ja aus wie Bach“, schoß es ihm durch den Kopf, als er die Noten genauer betrachtet. Aber es dauerte noch ein paar Wochen bis er den Vergleich mit anderen Handschriften sein Hirngespinst bestätigt fand. Vielleicht hat diese Entdeckung Robert Schneider zu seinem Roman „Die Offenbarung“ inspiriert, in dem er sich mit bissiger Ironie auch über die Bachforschung lustig macht. Und mancher der Großkopferten dürfte sich bei der Lektüre durchaus wiedererkannt haben, wenn auch nicht zur eigenen Freude, denn die Herren Bachforscher werden als eitle, zynische und dünkelhafte Figuren beschrieben, die ob ihrer Borniertheit die Liebe zum eigentlichen Gegenstand ihres Forschens verloren haben, die Liebe zur Musik. Leider wissen wir nicht, wie die „Apokalypse des Johannes“ aus dem Jahr 1746 wirklich klingt, eine Partitur, die diejenige der h-moll-Messe bei weitem an Großartigkeit übertraf. Diese „Apokalypse“ sei, so phantasiert es Robert Schneider, beziehungsweise läßt er seinen Hobbygelehrten Kemper spekulieren, der Grund dafür, daß Bach bei der h-moll-Messe älteres Material verwendet habe, denn sein Interesse habe nur mehr diesem neuen Werk gegolten. Wir begnügen uns mit einem kleinen Stück Klaviermusik von Robert Schumann, das den Vorzug hat, daß es tatsächlich echt ist. „Und daß ich es nicht vergeße, was ich noch componirt – War es wie ein Nachklang von Deinen Worten einmal wo du mir schriebst ‚ich käme Dir auch manchmal wie ein Kind vor‘ – Kurz, es war mir ordentlich wie im Flügelkleid und hab da an die 30 kleine putzige Dinger geschrieben, von denen ich ihrer zwölf ausgelesen und ‚Kinderscenen‘ genannt habe. Du wirst Dich daran erfreuen, mißt Dich aber freilich als Virtuosin vergeßen.“ Das schrieb Robert Schumann am 19.März 1838 an seine damalige Verlobte Clara Wieck. Was ist mit den achtzehn übriggebliebenen Stücken geworden? Einige hat man den „Bunten Blättern“ und den „Albumblättern“ zuordnen 4 können. Aber dann fand sich vor fünf Jahren noch ein Stückchen, das bislang unbekannt war, als die Bibliothekarin Roswitha Lambertz, Leiterin der LeopoldSophien-Bibliothek in Überlingen, den Nachlaß von Leo Allgeyer sichtete. Dessen Bruder Julius hatte am 7.Oktober 1856 ein Notenblatt von Clara Schumann geschenkt bekommen mit der Widmung „Herrn Julius Allgeyer mit dem Wunsche, daß immer sanfte Töne ihn begleiten mögen.“ 2) CD Track 26 Robert Schumann „Ahnung“ 1‘52 Matthias Kirchnereit, Klavier BERLIN CLASSICS 1668 LC 06203 MODERATION Clara Schumann hatte mit den Söhnen Ludwig und Ferdinand in Überlingen auf dem Weg zum Wandern in der Schweiz Zwischenstation gemacht. Mit dabei auch Johannes Brahms und seine Schwester Elise. Kurz zuvor war Robert Schumann gestorben. „Im übrigen habe ich viel zerrissenes Notenpapier zum Abschied von Ischl in die Traun geworfen“, das schreibt Johannes Brahms am 12.Oktober 1890 an den Verleger Simrock, der zugleich sein Vermögensverwalter ist, als Brahms beschlossen hatte, mit seinem Streichquintett op.111 sein Opus ultimum vorzulegen. Glücklicherweise ist es nicht bei diesem Vorsatz geblieben. Aber was für Notenpapier hat Brahms denn da zerrissen und den Wasserfluten des Flusses Traun überantwortet? Wir werden es nicht mehr erfahren, aber es steht zu befürchten, daß darunter auch das eine oder andere Stück war, das der Nachwelt hätte erhalten bleiben sollen. Doch Johannes Brahms war ein äußerst selbstkritischer Komponist. Gegenüber Freunden erklärte er einmal, daß er nicht weniger als zwanzig Streichquartette komponiert und anschließend vernichtet habe, bevor endlich die ersten seinem kritischen Blick beziehungsweise Gehör 5 standgehalten hätten. Mag er da auch ein wenig übertrieben haben, und sollten es nur zehn gewesen sein, auch dann läßt es den Brahmsfan traurig werden ob des Verlustes all der schönen Musik. Am liebsten hätte Johannes Brahms auch die Erstfassung seines Klaviertrios hDur, op.8 vernichtet, als er sich fünfunddreißig Jahre später daran machte, es grundlegend zu überarbeiten, so grundlegend, daß er selbst meinte, es müsse jetzt eigentlich die Opuszahl 108 tragen. Es war nun einmal in der Welt, und auch wenn er die alten Druckplatten vernichten ließ und die Urfassung beinahe gänzlich aus dem musikalischen Bewußtsein verschwunden war, existierte es doch noch und hat in den letzten Jahren eine gewisse Aufmerksamkeit erfahren, die das Trio durchaus verdient hat. 3) CD Track 4 Johannes Brahms Trio Nr.1 H-dur, op.8 4.Satz: Finale. Allegro molto agitato 9‘24 Trio Jean Paul AM 13832 LC 05152 MODERATION In dem Krimi „Brahmsrösi“ von dem Schweizer Stefan Haenni geht es nicht um dieses Trio, sondern um eine Sonate. Der Roman spielt in Thun, wo Brahms einige Sommer verbracht und unter anderem eine Violinsonate komponiert hat, die sogenannte „Thuner-Sonate“. Aber der Roman führt den Leser auch nach Krakau, wo angeblich die verschollene Handschrift aufgetaucht ist, und natürlich kommt Baden-Baden ins Spiel. Ohne Mord geht es auch hier nicht ab und am Ende werden vor einem staunenden Publikum die Noten ein Opfer des Kaminfeuers. Nicht nur einen Mord sondern deren sieben werden begangen in Jan Seghers‘ Roman „Partitur des Todes“. Diese Morde geschehen aber nicht auf der Opernbühne, wo sie ja so selten nicht sind, sondern im wahren Leben. Begangen 6 werden sie wegen einer Partitur. Georg Hofmann, der den größten Teil seines Lebens in Paris verbracht hat, wo er ein Revuetheater betrieb, stammt eigentlich aus Frankfurt. Hier erlebte er als Kind, wie seine jüdischen Eltern deportiert wurden. Er selbst überlebte. Lange hat Hofmann diese Vergangenheit verdrängt. Als er in einer Fernsehsendung darüber erzählt, bekommt er ein Paket, darauf steht „Auschwitz“. Aber es enthält die Partitur einer verschollenen Operette von Jacques Offenbach: „Das Geheimnis einer Sommernacht“. Die Noten sind Millionen wert. Es ist schon um sehr viel weniger Geld gemordet worden. 4) CD Track 15 Jacques Offenbach „Barbe Bleu“ Ouvertüre 3‘20 Scottish Chamber Orchestra Ltg. Antonio de Almeida RCA 681162 LC 00316 MODERATION Ein halbes Dutzend Morde geschehen auch in der Operette vom Ritter Blaubart, der bekanntlich seine Frauen jeweils um die Ecke bringen läßt, um sich so gleich wieder neu zu vermählen. Nur überläßt er in der Operette das „Um die Ecke bringen“ einem anderen, der nicht so blutrünstig wie sein Auftraggeber ist und die Damen überleben läßt, so daß sie am Ende alle wieder auftauchen. Über hundert mehr oder minder umfangreiche Bühnenwerke hat Jacques Offenbach komponiert, zu etlichen ist die Musik verschollen. Und auch bei seinem letzten Werk, der Oper „Hoffmanns Erzählungen“ ist die Lage verworren, wenngleich in den letzten Jahren immer mehr Notenmaterial bei den Nachkommen des großen Komponisten aufgetaucht ist. Da Offenbach leider vor der Uraufführung dieser Oper gestorben ist, wird sich niemals die eigentlich von ihm gedachte Version wiederherstellen lassen. Aber immerhin ist man mittlerweile dem Original doch ein gutes Stückchen näher gekommen. 7 Auf der Suche nach dem Original ist in dem Roman „Das Gift der Engel“ von Oliver Buslau der Godesberger Musikkritiker Nikolaus Alban. Ein geheimnisvoller Besuch bringt ihm die Partitur einer barocken Arie. Der Text ist bekannt, denn er stammt aus einer Oper von Georg Friedrich Händel: „Laß mich beweinen/ Mein grausames Schicksal,/ Laß mich ersehen/ Die Freiheit./ Der Schmerz zerbreche/ Diese Fesseln/ Meines Leidens/ Nur aus Erbarmen.“ 5) CD Track 11 Georg Friedrich Händel „Rinaldo“ „Lascia ch’io pianga mia crude sorte“ 4‘58 Magdalena Kožená, Mezzosopran Vince Baroque Orchestra Ltg. Andrea Macon ARCHIV 4776547 LC 00113 MODERATION Auf dem Buchumschlag befindet sich eine Beethoven-Büste, und an Beethoven möchte man auch denken, spielt doch der Krimi von Oliver Buslau in Bonn, Godesberg und Köln. Aber Beethoven kommt nur insofern zum Zuge, als er zum Mordinstrument wird, vielmehr eine Büste des Komponisten, und daß das Streichquartett op.59 Nr.1 den Musikkritiker, einen Kriminalkommissar und zwei andere Menschen einmal wöchentlich zusammenführt, weil sie dieses Quartett üben und eines fernen Tages das Stück im Beethovenhaus aufführen möchten. Aber in dem Roman „Das Gift der Engel“ geht es in erster Linie um anderes, und wieder besteht die Krux, was darf man verraten und was nicht? Jedenfalls ist es nicht der Kriminalkommissar, der den Fall, bei dem zwei Morde geschehen, löst. Im Gegenteil, er glaubt nicht an die verschrobenen Hypothesen des Musikkritikers und 1.Geigers in diesem Amateurquartett. Um verlorene Partituren ging es in dieser Woche, und dieser Titel ist einem Roman des Italieners Roberto Cotroneo entliehen. Übrigens, in dem Krimi „Das 8 Gift der Engel“ spielt ein italienischer Musikwissenschaftler eine verhängnisvolle Rolle. Mehr sei aber nicht verraten, außer daß es ein höchst spannender Krimi ist. Robert Cotroneos Roman heißt „Die verlorene Partitur“. Der Autor hat selbst einige Jahre Klavier studiert, ist im Hauptberuf Literaturkritiker, und zwar ein in Italien sehr gefürchteter. Bei dieser Geschichte steht aber nicht das Kriminalistische im Vordergrund, vielmehr geht es um die Musik grundsätzlich, um das Verhältnis von Musik und Welt. Einem berühmten Pianisten wird ein unbekanntes Manuskript der Ballade f-moll, op.52 zugespielt. Und dieses Manuskript unterscheidet sich von der bekannten Version, indem es ein anderes Finale hat. Und dieses Finale verrät eine besondere Leidenschaft Chopins, nämlich zu Solange, der Tochter von George Sand, seiner langjährigen Lebensgefährtin. 6) CD Track 4 Frederic Chopin Ballade Nr.4 f-moll, op.52 11‘54 Krystian Zimerman, Klavier DG 4230902 LC 00173 MODERATION Hier sind wir am Ende unserer eifrigen Suche nach verschollenen Partituren angelangt. Leider, denn hat man erst einmal die Fährte aufgenommen und Lunte gerochen, möchte man einfach nicht mehr aufhören, möchte weiter stöbern in Antiquariaten und Archiven, in Bibliotheken und Depots. Nein, eine zehnte Symphonie Beethovens, eine weitere Passion Johann Sebastian Bachs, eine bislang unbekannte Oper Mozarts oder zwanzig Streichquartette von Johannes Brahms wird wohl niemand mehr finden, aber es wird immer wieder Entdeckungen geben, reale und fiktive. Das eine oder andere kleine Klavierstücke von Mozart, die eine oder andere Kantate von Bach werden 9 vielleicht auftauchen, oder auch Originalhandschriften von Stücken, die zwar bekannt sind aber nur in Drucken, die bekanntlich oft sehr fehlerhaft sein können, werden ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Und Schriftsteller werden sich immer wieder inspirieren lassen zu spannenden und manchmal auch abstrusen Geschichten, zu musikalischen und phantasievollen Erzählungen über Musik, die bislang niemand gehört hat, über unerhörte Musik. So gilt es noch viele musikalische Schätze zu bergen. Mit Johann Sebastian Bach hat diese Woche begonnen, ihm gebührt auch der Schluß. Zwar ist unbestritten, daß die Cellosuiten von ihm stammen, aber man weiß nicht genau, wann Bach sie komponiert hat. Zwei Abschriften existieren, die eine von Bachs Frau Anna Magdalena, die andere von seinem Schüler Johann Peter Kellner. Das Autograph wartet noch immer darauf, entdeckt zu werden. 7) CD Track 1 Johann Sebastian Bach Suite Nr.2 d-moll 1.Satz: Prélude Mstislav Rostropowitsch, Cello EMI 5553652 LC 06646 2‘04 10 Literaturliste zu „Verlorene Partituren“ Robert Schneider: „Die Offenbarung“ Aufbau Oliver Buslau: „Die 5.Passion“ Goldmann Thomas Hauser: „Die Beethoven-Verschwörung“ Knaur Joseph Gelinek: „Die 10.Symphonie“ Knaur Franca Permezza: „Partitura di Praga“ Rororo Stefan Haenni: „Brahmsrösi“ Gmeiner Oliver Buslau: „Das Gift der Engel“ Enoms-Verlag Jan Seghers: „Partitur des Todes“ Wunderlich Roberto Cotroneo: „Der verlorene Partitur“ Insel