Zehn Gründe, warum Depression so schwer zu

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Depression – oder: Warum sie so schwer zu heilen ist
Es gibt eine Krankheit, über die man das gleiche sagen kann wie über die
Fussballmannschaft von RB Leipzig: Beide sind der Aufsteiger der Saison und auf
dem Durchmarsch durch die 1.Liga: Stand Depression vor ein paar Jahren noch auf
Platz 30 der großen Volkskrankheiten, so ist sie 2016 bereits auf Platz 5
angekommen. Wenn man den Prognosen traut, wird sie im Jahre 2030
Volkskrankheit Nummer 1 sein.
Da Depression aber im Schnitt zu 3 - 4 mal längeren Fehlzeiten führt, wird dabei der
ökonomische Verlust der Unternehmen enorme Ausmaße annehmen, einmal ganz
abgesehen von den leidvollen Folgen für den Einzelnen. Das führt unweigerlich zu
folgendem Schluss: Wenn eine Gesellschaft ein Interesse daran hat, dass ihre
Mitglieder gesund – und arbeitsfähig! – bleiben, muss in der Zukunft vor allem etwas
gegen Depression getan werden.
Aber wie man an den Prognosen ablesen kann, gibt es momentan keine Lösungen
dafür, wie das zu bewerkstelligen ist. Die Experten sind sogar so pessimistisch,
davon auszugehen, dass auch in den nächsten 15 Jahren keine durchschlagenden
Lösungen gefunden werden.
Dabei ist es nicht etwa so, dass keine Anstrengungen unternommen werden.
Angefangen mit dem Gesetz zur psychischen Gefährdungsbeurteilung (PsyGbu)
über
die
Bemühungen
vieler
Unternehmen,
ein
betriebliches
Gesundheitsmanagement
auf
den
Weg
zu
bringen,
bis
zu
den
Gesundheitsangeboten der Krankenkassen und den Innovationen im Rahmen von
„precision medicine“ werden überall Maßnahmen ergriffen, die dem Siegeszug der
Depression entgegen wirken sollen.
Aber diese Maßnahmen scheinen nur sehr geringe Früchte tragen. Warum ist das
so? Wie nicht anders zu erwarten ist, gibt es auf diese Frage keine eindeutige,
lineare und einfache Antwort. Das liegt grundsätzlich daran, dass Depression einen
großen Grad an Komplexität mit sich trägt.
Daher sei im folgenden der Versuch gewagt, 10 Gründe vorzustellen, die allesamt
mehr oder weniger dafür verantwortlich sind, dass der Siegeszug der Depression
bisher nicht gestoppt werden kann.
1. Grund
Der 1.Grund, warum Depression eine so schwer zu heilende Krankheit ist, besteht
darin, dass es eine Krankheit namens Depression nicht gibt. Sie stellt nämlich nichts
anderes dar als eine bloße Zusammenfassung einer enormen Vielzahl
unterschiedlichster Symptome zu einem Begriff, und zwar aus Gründen der
Praktikabilität. Wenn ich nämlich, um den einzigartigen Krankheitsbildern der
Betroffenen gerecht zu werden, jede Symptomatik anders benennen würde, wäre es
unmöglich, Therapien oder zu Medikamenten zu entwickeln, die für eine große
Anzahl von Kranken heilend wirken.
In allen Fällen, in denen es der modernen Medizin gelungen ist, Volkskrankheiten zu
heilen, lag es daran, dass sowohl die Symptomatik, die messbaren körperlichen
Werte als auch die Krankheitsverläufe sich auf wenige Parameter herunterbrechen
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ließen, was dazu führt, dass die therapeutischen Maßnahmen mit einer großen
Wahrscheinlichkeit einer genügend großen Anzahl von Patienten helfen. Und genau
das sieht im Falle der Depression ganz anders aus. Hier nun im folgenden die
quälend lange Liste der beobachteten und beschriebenen Symptome.
Als Hauptsymptome gelten Stimmungseinengung, ein „Gefühl der Gefühllosigkeit“,
das Gefühl anhaltender innerer Leere, Interessensverlust, Freudlosigkeit, Verlust der
Fähigkeit zu Freude oder Trauer; Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit und
Antriebshemmung.
Als Nebensymptome werden häufig bezeichnet: Verminderte Konzentration und
Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle
und
Gefühle
von
Minderwertigkeit,
negative
und
pessimistische
Zukunftsperspektiven, übertriebene Beunruhigung durch Bagatellstörungen im
Bereich des eigenen Körpers, das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit,
Suizidgedanken oder –handlungen, latente oder akuter Suizidalität.
Ferner – die Liste ist noch lange nicht zuende! - Schlafstörungen, verminderter
Appetit, Interessenverlust oder Verlust der Freude, mangelnde Fähigkeit, emotional
auf die Umwelt zu reagieren und eine Störung des chronobiologischen Rhythmus.
Dazu kommen noch eine ganze Reihe von Symptomen, die sich schlicht und
ergreifend eigentlich völlig widersprechen: Morgentief - oder Abendtief,
psychomotorische Hemmung - oder Agitiertheit, Gewichtsabnahme - oder
Gewichtszunahme, Verminderung - oder Steigerung der Libido, Denkhemmung oder Grübelzwang
Sie meine, das wären schon ziemlich viele? Hier kommen weitere ins Diffuse
driftende Symptome: Vitalstörungen, Schmerzen in ganz unterschiedlichen
Körperregionen, erhöhte Infektionsanfälligkeit, sozialer Rückzug, Störungen des
Zeitempfindens, Reizbarkeit und Ängstlichkeit, Überempfindlichkeit gegenüber
Geräuschen.
Summa summarum handelt es sich um rund 40 Symptome, die in unterschiedlichster
Ausprägung und Zusammensetzung vorkommen. Dieses Konglomerat als eine
einzige Krankheit zu bezeichnen, ist zwar nicht vollkommen falsch, aber sie führt im
Einzelfall sowohl für den Patienten als auch für den Arzt dazu, dass die Chance, aus
diesem „Cluster“ an Stressoren die zutreffenden herauszufiltern und geeignete
Maßnahmen zu beginnen, gering ausfällt.
2. Grund
Es gibt keine zwei Menschen, bei denen Depression zu den gleichen Symptomatiken
führt und aus den gleichen Krankheitsverlaufen besteht. Die Störung, unter der der
Einzelne leidet, ist von einer so großen Einzigartigkeit bei gleichzeitiger Komplexität,
dass es daher nur sehr schwer ist, jedem Patienten gerecht zu werden. Das ist ein
großes Problem für den behandelnden Arzt, da die Maßgabe gilt: Je individueller und
einzigartiger sich eine Krankheit darstellt, desto größer ist der zeitliche und
diagnostische Aufwand, den der Arzt betreiben muss. Diese Zeit hat er aber nicht.
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Wenn man davon ausgeht, dass die Zahl der Depressionserkrankten noch
zunehmen wird, kann man daraus schließen, dass in Zukunft noch weniger Zeit
bleibt, um die Krankheitsgeschichte des Patienten zu verstehen.
3. Grund
Einer der Gründe, warum Menschen unter Depressionen leiden, besteht darin, dass
ihr Leben von einer fehlenden Sinnstiftung und Sinnhaftigkeit geprägt ist. Das liegt
vor allen Dingen daran, dass in einer Gesellschaft, die sich säkular orientiert, die
Lücke, die der fehlende Glaube an eine religiös bestimmte Sinnhaftigkeit hinterlassen
hat, von keiner weltlichen Instanz gefüllt worden ist. Es fehlt dadurch einfach an
Orientierungsangeboten zum Thema „positive Lebensziele“.
Gegen fehlende Sinnhaftigkeit gibt es keine Medikamente. Sie ist nur dann zu
beheben, wenn sich der Einzelne dazu entscheidet, über eine innere Erforschung zu
einer individuellen Lebenslösung und einer Sinnhaftigkeit zu kommen. Aber das ist
ein langer und mühevoller Weg
4.
Depression
besteht
immer
aus
verschiedensten
Symptomen
und
Krankheitsverläufen. Sowohl die chinesische, die tibetische als auch die indische
Medizin kennen diese Art von Erkrankungen. Sie werden als „zusammengesetzte
Krankheiten“ bezeichnet und gelten als sehr schwer zu heilende Erkrankungen. Die
Therapien bestehen vereinfacht darin, dass man sich die Krankheit so vorstellt, als
ob sie wie eine Zwiebel aus unterschiedlichen Schalen besteht. Jede Schale (jede
einzelne Störung) muss dabei nach und nach behandelt werden, bis man auch die
innersten Ursachen beseitigt hat.
Kein Arzt für traditionelle chinesische Medizin wird einem solchen Patienten die
Hoffnung machen, dass seine Krankheit mit ein bisschen Akupunktur und einem
bitteren Kräuertee in kurzer Frist verschwindet. Und nach westlichen Maßstäben
fallen Patienten, die unter zusammengesetzten Erkrankungen leiden, früher oder
später sowieso durch das Raster, weil es kaum Ansätze dafür gibt, diese Krankheiten
angemessen zu behandeln.
5. Grund
Depression ist nur sehr schwer diagnostizierbar. Es gibt zwar verschiedenste
qualitative Befragungsformen wie die „Hamilton-Skala“ (HAMD), die 17 Fragen, den
„WHO-5-Fragebogen zum Wohlbefinden“, den „Gesundheitsfragebogen für Patienten
(PHQ-D)“ sowie die „Allgemeine Depressionsskala“ (ADS) und den „Zwei-FragenTest“, aber sie haben alle ihre Mängel, die man kurz folgendermaßen
zusammenfassen kann: Manche helfen, das Problem einzukreisen – manche helfen
schlichtergreifend nicht oder führen zu fehlerhaften und unbrauchbaren
Therapienansätze.
6.Grund
Depressionen haben kein Anfang und kein Ende. Im Grunde besteht Depression aus
nichts anderem als aus natürlichen, menschlichen Verhaltensmustern, die im Falle
einer Erkrankung aber extremer und häufiger erlebt werden. Jeder Mensch kann für
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eine Weile unter Schlaflosigkeit, Ängstlichkeit, Selbstzweifel, Hyperaktivität, Lähmung
und Antriebsschwäche usw leiden. Diejenigen, die nicht darunter leiden, schaffen es
aber auf ihre eigene Art, diese Störungen auszubalancieren, und zwar in dem Maße,
dass sie weder zu einem hohen Leidendruck führen noch chronisch werden. Wer
depressiv ist, schafft das nicht. Aber niemand kann sagen, wann und wie der
Übergang zwischen Balance und Disbalance stattfindet.
Die Übergänge zwischen Depression und Nicht-Depression werden zudem
vollkommen individuell erfahren. Es gibt nicht, wie etwa bei einem Beinbruch oder bei
einem Herzinfarkt, den einen Moment, wo das Leiden beginnt. Es kann kommen, es
kann gehen, es kann wiederkommen, es kann sich vollkommen verflüchtigen.
Sowohl der Moment, in dem eine seelische Beeinträchtigung tatsächlich zu einer
Krankheit wird, ist nicht bestimmbar – als auch das Ende.
Allein das macht es schon schwer, ein Kriterium zu entwickeln, ab wann eine
therapeutische Maßnahme überhaupt in Frage kommt.
7. Grund
Depression ist ein Spiegel des gesamtgesellschaftlichen Zustandes. So gut wie
niemand von uns kann behaupten, dass er immer glücklich ist. Wenn es aber ein
Merkmal unserer Gesellschaft zu sein scheint, in Unzufriedenheit zu leben, kann man
sich gut vorstellen, dass alleine schon die Tatsache, dass so viele Menschen
unglücklich sind, dazu führt, dass wir es ebenfalls sind.
Depression ist gleichermaßen eine Reaktion auf unsere Medienrealität. Sowohl die
schlechten Nachrichten aus der ganzen Welt, die uns täglich erreichen, als auch die
1000 Morde, die wir jeden Tag im Fernsehen anschauen können, zeichnen ein
negatives Bild der Welt, dem wir uns nur schwer entziehen können.
Dagegen helfen keine Therapien. Dagegen hilft vielleicht, sich diesen Informationen
zu entziehen. Aber das ist für den Großteil der Menschen, die im Westen leben,
weder praktikabel noch sinnvoll.
8. Grund
Depression ist eine Reaktion auf die persönlichen Lebensbedingungen. Wenn ich
unzufrieden mit meinem Job bin, wenn ich gemobbt werde, wenn ich jeden Morgen
und jeden Abend im Stau stehe, wenn ich Geldsorgen habe oder familiäre Probleme,
wenn ich einsam bin, wenn ich einen wertvollen Menschen verloren habe, wenn ich
aus meiner Heimat fliehen musste und Krieg und Leid erlebt habe, dann kann jede
dieser Erfahrungen dazu führen, dass ich seelisch erkranke.
Dies lässt sich nur wirklich ändern, wenn sich die persönlichen Lebensbedingungen
ändern. Das ist leichter gesagt als getan – und liegt zudem oft nicht in unserer Hand.
9. Grund
Depression ist eine unbewußte, aber gewollte Reaktion auf Lebensumstände. Nicht
jeder, der unter einer seelischen Krankheit leidet, hat ein Interesse daran, sich so
schnell wie möglich davon zu heilen. Es gibt Menschen, die in ihrer verfahrenen
Situation lieber in die Erkrankung hineingehen, weil sie die äußeren Ursachen nicht
verändern können (Mobbing am Arbeitsplatz, Termin- und Erfolgsdruck usw) und
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somit die Arbeitsunfähigkeit letztendlich für sie persönlich immer noch erträglicher
und „gesünder“ ist, als wenn sie dagegen angehen.
10. Grund
Es gibt kein Medikament und keine Therapie, die gesichert und für eine große Anzahl
von Leidenden zu einer Heilung führt. Medikamente können die Symptome lindern
und in leichteren Fällen dabei helfen, eine wie auch immer geartete Arbeitsfähigkeit
wieder herzustellen. Bei schweren Fällen gibt es zwar immer noch Medikamente, die
im Grunde als „happy pills“ konzipiert werden. Aber sie sind nicht frei von
Nebenwirkungen, (Leber-, Nierenproblemen, Gewichtszunahme, Antriebsverlust,
Verlust an Kreativität, Konzentrationsverlust etc) und mit ihrer Hilfe ist es ab einer
bestimmten Schwere nicht mehr möglich, die Arbeitsfähigkeit des Patienten zu
gewährleisten.
Zusammengefasst lässt sich folgendes sagen: Keine dieser vorgestellten Gründe ist
allein verantwortlich für die Misere, und es ist unmöglich zu sagen, welcher dieser
Gründe am stärksten wirkt. Depression ist eine komplexe, multidimensionale
Krankheit, und man wird sie nur dann in dem Griff bekommen, wenn auf allen
Ebenen, die oben angesprochen wurden, Verbesserungen vorgenommen werden.
Das bedarf einer großen Anstrengung auf Seiten der Politik, der Wirtschaft, des
Gesundheitsmarkts, der Ärzte, der Wissenschaft, der Arbeitgeber – und natürlich im
besonderen Maße auf Seiten des Arbeitnehmers, denn am Ende ist es sein Leben,
seine Arbeit und sein Glück, die auf dem Spiel stehen.
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