Aktivierung der Bewohner

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Armut in der Stadt
Vortrag zum RECES-Kolloqium in Liège/Jemeppe 20.02.2006
Almut Kriele
Armut ist in der Stadt meist sichtbarer als auf dem Land, weil sie hier in Gestalt von
Armutsvierteln eine besonders augenfällige Ausprägung annimmt. Armutsquartiere
sind Viertel, in denen überdurchschnittlich viele arbeitslose und von Unterstützung
abhängige Menschen wohnen und zumeist ein hoher Anteil an Ausländern zu finden ist. Von Sozialwissenschaftlern aus ganz Europa wird festgestellt, daß die Entwicklung dieser Viertel in größeren Städten mittlerweile bedenkliche, zum Teil bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Die jüngsten Geschehnisse in Frankreich
haben wir alle noch vor Augen. Der französische Soziologe Alain Touraine diagnostizierte schon vor Jahren das „Ende der Städte“. Er sieht das Ende der Städte gekommen, weil sie dem Druck weltwirtschaftlicher Veränderungen keine eigene Logik der Vergesellschaftung mehr entgegensetzen und auf ihrem Terrain Zonen der
Marginalität und Ausgrenzung zulassen.1
Die einstige städtische Gesellschaft, für die wirtschaftliches Handeln und städtische
Politik als Bürger eine Einheit gewesen ist, beginnt schon mit dem Industriezeitalter
auseinander zu fallen. Heute aber haben sich sozialräumliche Spaltungen in der
Stadtbevölkerung weiter vertieft. In Deutschland ist man sich noch ziemlich sicher,
daß Straßenunruhen wie in Frankreich und England nicht geschehen werden. Wie
die Situation in den deutschen Großstädten aussieht und wie weit die Segregation
der Bevölkerung hier bereits vorangeschritten ist, möchte ich nun darlegen.
Doch zunächst erinnern wir uns kurz an das, was die europäische Stadt ihrem Ideal
nach einmal gewesen ist. Was bedeutet aus europäischer, geschichtlicher Erfahrung
eigentlich Stadtleben? Der Stadtbürger genoß Freiheiten und Rechte und gestaltete
die Stadtpolitik mit. Die Idee einer demokratischen, politischen Gemeinschaft, der
Civitas, wurde in den europäischen Städten geboren. Es war die besondere Ethik
der Stadt, ihren Menschen zu dienen, ihnen Schutz und ein Auskommen zu geben.
Auch dem Fremden war es möglich, seinen Platz in der Stadtgesellschaft zu finden.
Die Städte sind bis heute für Zuwandernde die Orte der Zuflucht, der Lebenshoffnung und der Lebensperspektive. Obwohl sie dieses Versprechen immer weniger
einlösen können, sind sie nach wie vor die Zentren der Zuwanderung.
Die europäische Stadtkultur erzeugte eine mehr oder weniger friedliche Koexistenz
unterschiedlichster Gruppen von Menschen. Die Stadtgesellschaft bildete außerdem
eine spezifische Anonymität und Toleranz aus, so daß sie Raum für einen Pluralismus
der Lebensanschauungen und Werte bot. Man kann sagen, daß es eine der großen
1
Alain Touraine: Das Ende der Städte? In: Die Zeit vom 31.05.1996
1
zivilisatorischen Leistungen der europäischen Stadtkultur war, die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen zu integrieren. Aber gelingen konnte diese Integration nur, solange es einen funktionierenden, hochdifferenzierten städtischen Arbeitsmarkt gab. In den Krisenzeiten des 16. Jahrhunderts wurden die Städte nämlich
auch zu den Orten, an denen Armenfürsorge und Arbeitshäuser entstanden. Arme
und unerwünschte Menschen, durch Mißernten vom Land in die Städte getrieben,
wurden nach Möglichkeit vor die Mauern der Stadt verbannt oder disziplinierenden
Maßnahmen unterworfen.2 Und die Industriestadt des 19. Jahrhunderts produzierte
nicht nur Waren, sondern millionenfach ihre eigenen Armen gleich mit.
Die soziale Ausgrenzung, die heute Menschen in ihren Städten erleben, muß aber
vor einem anderen geschichtlichen Vergleich gesehen werden, nämlich der Zeit
nach 1945. Die Zeit nach 1945 war eine Zeit der Wohlstandsentwicklung und des
Ausbaues der Wohlfahrtsstaaten, die soziale Rechte für alle garantierten. Nach dem
Zweiten Weltkrieg integrierte die Stadt ihre Menschen durch einen Wohlstand, an
dem alle mehr oder weniger partizipieren konnten. In Deutschland entstand eine
breite Mittelschicht, die ihre steigenden Konsumwünsche befriedigen konnte. Dieses sogenannte goldene Zeitalter des Kapitalismus war in Deutschland auch die Zeit
umfangreicher städtischer Infrastrukturausgaben. Es wurde viel in Personal und
öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Schwimmbäder, Museen und vieles mehr investiert. Das Ziel der Politik war es, eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse herzustellen.
Es sieht danach aus, daß diese Jahrzehnte nach 1945 eine einmalige historische
Phase gewesen sind. Eine Phase, deren Ende wir aktuell miterleben und mit deren
Ende sich auch die Wertebasis für das Zusammenleben in der Gesellschaft wandelt.
Aus Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit werden mehr und mehr Eigenverantwortung und Glück, aus kollektiver, solidarischer Absicherung wird ein individuell zu verantwortendes Lebensschicksal. Autonomie und Selbstverantwortung
sind wichtige Lebenseinstellungen, die jedem möglich sein sollten. Aber um ein
autonomes Leben zu führen, braucht der Mensch Chancengleichheit, Wahlmöglichkeiten und Handlungsspielräume. Für arme Menschen schränkt sich dieser Raum
der Alternativen ein. Sie führen ein Leben, das mit Notwendigkeiten und Zwängen
angefüllt ist, und sie führen es oft mit einer Zeitperspektive, die ganz auf die Erfordernisse der nächsten Tage gerichtet ist.
Die Folgen der Umstrukturierungen in Ökonomie und Politik sehen wir am deutlichsten in den Städten. Sozialforscher weisen nach, daß die Integrationsfähigkeit
der Städte nachgelassen hat und ein Auseinanderfallen des städtischen Raumes
2
vgl. Bronislaw Geremek: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München/Zürich
1988, S. 153ff.
2
droht: in die Gebiete der gesellschaftlich Etablierten und die Gebiete der Marginalisierten. Amerikanische Stadtsoziologen sprechen sogar von gespaltenen Städten
(fragmented, divided oder dual cities),3 in denen sich die gesellschaftliche Polarisierung in Arm und Reich auch räumlich niederschlägt. Auf der einen Seite gibt es
diejenigen, die hochbezahlte Berufe in der neuen Dienstleistungsökonomie ausüben, auf der anderen Seite gibt es die working poor, die für unzureichenden Lohn
die niederen Versorgungsdienstleistungen erbringen. Die Wohlhabenden ziehen
sich in ihre Villenvororte oder in gated communities zurück, die Armen wohnen in
heruntergekommenen Stadtvierteln.
Dieses streng voneinander getrennte Wohnen in eigenen Stadtvierteln nennt man
residentielle Segregation. Ich möchte zunächst darstellen, was in den Sozialwissenschaften mit Segregation gemeint ist und welch vielfältige Ursachen sie hat, um
anschließend zu beschreiben, wie das Leben in deutschen Armutsvierteln aussieht:
Welche Stadtviertel werden in Deutschland typischerweise zu Armutsvierteln und
wie sehen sie aus? Wer sind die Bewohner dieser Viertel und was bedeutet es für
sie, dort zu leben? Eine wichtige Frage, die sich auch jedem stellt, der auf dem Feld
der sozialen Arbeit tätig ist, ist jene, welche Wirkungen es auf die Menschen hat, in
solchen Vierteln zu wohnen. Wirkt es sich nachteilig auf ihre weiteren Lebenschancen aus? Hat das Leben im Armutsquartier auch positive Seiten? Zuletzt möchte ich
das Förderprogramm für benachteiligte Stadtquartiere vorstellen, das 1999 in
Deutschland gestartet wurde.
Residentielle Segregation ist der soziologische Fachausdruck für eine sozialräumliche Entmischung der Wohnbevölkerung einer Stadt. Das Ergebnis dieser
Entmischung zeigt sich in dem Phänomen, daß Menschen mit einer bestimmten
sozialen Stellung, einer bestimmten Nationalität oder Religionszughörigkeit sich
auch in ganz bestimmten Stadtvierteln konzentrieren. Das ist nicht neu. Das gesellschaftliche Zusammenleben in Städten war schon im Mittelalter segregiert gewesen: Menschen wohnten je nach ihrer Position, ihrem Beruf, ihrer Macht und ihrem
Reichtum an besonderen Wohnorten innerhalb der Stadt. Allgemein kann man sagen, daß die sozialräumliche Gliederung der Stadt doch ein ziemlich genaues Abbild der gesellschaftlichen Struktur ist. Der französische Gesellschaftsanalytiker
Pierre Bourdieu bringt es auf den Punkt: „In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es
keinen Raum, der nicht hierarchisiert ist und der nicht die Hierarchien und sozialen Distanzen zum Ausdruck bringt [...]“4
3
Zum Beispiel Manuel Castells, der analysiert, wie sich die Städte im Informationszeitalter verändern
und das gesellschaftliche Leben sich dadurch polarisiert. Einen Überblick über theoretische Ansätze zur
gespaltenen Stadt gibt Céline Sachs-Jeantet: Managing Social Transformation in Cities. A Challenge to
Social Science. (http://www.unesco.org/most/sachsen.htm).
4
Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In: Martin Wentz: StadtRäume. Frankfurt/New York1991, S. 26f.
3
Das Ausmaß der Segregation für eine Gruppe mit bestimmten sozialen Merkmalen
berechnet man mit dem Segregationsindex. Einige Sozialberichte arbeiten mit dem
Segregationsindex, auch wenn das in der Regel große methodische Probleme aufwirft.5 Der Segregationsindex gibt an, wieviel Menschen einer bestimmten sozialen
Gruppe aus einem besonderen Stadtteil wegziehen müßten, damit sie wieder
gleichmäßig in der ganzen Stadt verteilt sind. Oder anders formuliert: Der Segregationsindex ist eine Maßzahl dafür, wie sehr sich in einem städtischen Teilgebiet
Menschen mit bestimmten sozialen Merkmalen konzentrieren. Den Grad der Segregation kann man zum Beispiel berechnen für die Merkmale Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug, Haushaltszusammensetzung, Einkommen und ethnische Zugehörigkeit. Entscheidend dafür ist, welche kleinräumigen bevölkerungsstatistischen Daten
der Stadt zur Verfügung stehen.
Außerdem unterscheidet man zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Segregation.
Vereinfacht gesagt: Die Reichen wohnen, wo sie wollen, die Armen wohnen, wo
sie müssen. Der Handlungsspielraum für die Haushalte auf dem freien Wohnungsmarkt hängt stark von ihren Geldmitteln ab. Für Ausländer kommt dann meistens
noch eine Diskriminierung durch Makler und Vermieter dazu. Am stärksten segregiert wohnen erfahrungsgemäß die Reichsten und die Ärmsten einer Stadt. Ihre
Wege kreuzen sich nicht mehr, sie kommen kaum mehr miteinander in Berührung.
Die mittleren Einkommenslagen verteilen sich dagegen gleichmäßiger über die
Stadt.
Segregation ist ein fortlaufender Prozeß, denn die meisten der Armutsviertel sind
dies nicht von Anfang an gewesen, sondern sind mehr und mehr zu solchen geworden. Was sind die Ursachen dafür? Der Segregationsprozeß wird durch viele
gleichzeitig wirkende Ursachen in Gang gesetzt.
Einer der wichtigsten makrosoziologischen Trends, die sich auf der Stadt auswirken, ist
die Deindustrialisierung. Veränderungen der Weltwirtschaft haben für die westlichen
Industriestaaten eine Deindustrialisierung eingeleitet, die noch fortdauert und eine steigende strukturelle Arbeitslosigkeit und einen hohen Prozentsatz an Langzeitarbeitslosigkeit verursacht. Für unqualifizierte Arbeitnehmer gibt es in der Dienstleistungs-,
Wissens- und Informationsgesellschaft immer weniger Arbeitsmöglichkeiten, da formale Qualifikationen und permanente Weiterbildung für Arbeitgeber einen immer höheren
Stellenwert einnehmen. Ausländische Arbeitnehmer, die einmal für die Arbeit in der
Industrie angeworben wurden, trifft diese Umstrukturierung der Arbeitswelt ganz
besonders hart.
5
Zum Beispiel berechnet das niederländische Sociaal en Cultureel Planbureau und das Centraal Bureau
voor de Statistiek im Armoedemonitor den Segregationsindex für einige größere niederländische Städte
(http://www.cbs.nl, http://www.scp.nl)
4
Eine zweite Ursache ist in den Veränderungen des Systems der sozialen Sicherung
zu sehen. Die Wohlfahrtsstaaten passen sich der steigenden Ausgabenlast durch
Arbeitslosigkeit und demographischen Wandel an, indem sie die soziale Sicherung
zum Teil drastisch zurückschrauben.
Eine dritte, starke Ursache hat das Leben in den Städten verändert: die Suburbanisierung. Jahrzehntelange sind in Deutschland einkommensstarke Mittelschichthaushalte in das Umland der Städte gezogen. In Deutschland wurde dieser Trend
durch eine großzügige Förderung des Eigenheimbaus verstärkt. Das Gewerbe ist diesem Trend gefolgt, verließ die Städte und siedelte sich ebenfalls im Umland an. Das
hat den Städten vor allem Verluste an Einnahmen aus der Einkommens- und Gewerbesteuer zugefügt. Es hat außerdem den Wohnungsmarkt im mittleren Preissegment entspannt, so daß Entmischungsprozesse im Stadtgebiet leichter stattfinden
können. Als Folge dessen sind viele Innenstädte verödet und verfallene Stadtviertel
oft auch in den Innenstädten zu finden.
Eine vierte Mitursache der Segregation ist die Verknappung von preisgünstigem Wohnraum. Der ehemals große Bestand an Sozialwohnungen ist laufend zurückgegangen,
weil der größte Teil von ihnen mittlerweile verkauft worden ist und neue Sozialwohnungen kaum mehr gebaut werden. Die Verknappung von preisgünstigem Wohnraum,
auf den die ärmeren Haushalte angewiesen sind, führt letztlich dazu, daß sie im Verhältnis zur schlechteren Lage und Ausstattung ihrer Wohnungen eine überhöhte Miete
bezahlen. Häufig frißt die Miete schon die Hälfte ihres Haushaltseinkommens auf. Die
hohen Wohnkosten sind gerade für untere Einkommensschichten ein nicht zu vernachlässigender Faktor ihrer relativen Armut.
Wie reagieren die Städte auf diese Entwicklungen? Auf die globalen und nationalen
Veränderungen können Städte wenig Einfluß nehmen. Das heißt aber nicht, daß sie
selbst keine Akteure mehr wären. Sie reagieren mit einer Stadtentwicklungspolitik,
die zunehmend zur Standortpolitik geworden ist, die sich auf Wettbewerbsfähigkeit,
Attraktivität und Bildung eines positiven Images konzentriert. Auch wenn die meisten Städte in Deutschland sich in einer permanenten Finanzkrise befinden, treffen
sie immer noch Entscheidungen darüber, in welche Projekte sie investieren wollen
und wo Geld eingespart werden soll.
„Armut in der Stadt“ bedeutet „Städte in Armut“. Denn aufgrund des deutschen
Systems der kommunalen Finanzen gilt in etwa: Je mehr Arme in der Stadt leben,
desto ärmer die Stadt. Am meisten trifft das auf ehemalige Industriestädte zu. Deutsche Städte verlieren an Einnahmen, wenn Gewerbe und einkommenssteuerstarke
Haushalte abwandern und die Arbeitslosigkeit hoch ist. Zugleich haben sie eine steigende Last an Sozialausgaben zu tragen, denn Sozialhilfe wird aus dem Haushalt der
5
Städte finanziert. Die Bewohner einer armen Stadt trifft es dann in zweifacher Hinsicht: Zum einen sind sie selbst arm und zum anderen leben sie in einer Stadt, die
immer weniger Geld für Investitionen in die Infrastruktur, den öffentlichen Raum
oder Bildungseinrichtungen hat.
Schließlich wird die Segregation natürlich durch die Bewohner der Stadt mit verursacht. Sie suchen sich entsprechend ihren Wünschen, Rahmenbedingungen oder
Beschränkungen ihre Wohnorte in der Stadt aus. Bei einkommensstarken Haushalten, die in der Stadt bleiben wollen, ist der Wohnflächenkonsum enorm in die Höhe
gegangen. Die großen Wohnungen in sanierten Altbauten sind bei ihnen sehr beliebt. Wenn einkommensstarke, meist jüngere Haushalte sich in Altbauvierteln niederlassen möchten, stößt dies eine Sanierungswelle an, die zur Entmietung der Häuser und
einer Umwandlung in Eigentumswohnungen führt. Dieser Prozeß ist als Gentrifizierung
bekannt. Er hat zur Folge, daß preiswerter Wohnraum weiter verschwindet und die ärmeren Bewohner des Viertels in andere, schlechtere Stadtgebiete verdrängt werden.
Unter den Stadtbewohnern gibt es also Gewinner und Verlierer der sich globalisierenden Wirtschaft. Die Handlungsmöglichkeiten und Präferenzen der Stadtbewohner
auf dem Wohnungsmarkt hängen direkt von ihrer sozialen Position und ihrem Arbeitsmarktschicksal ab. Die Stadtbevölkerung entmischt sich weiter: bessergestellte
Haushalte verlassen gerade diejenigen Stadtgebiete, in denen sich arme Haushalte
sammeln. Und diese Stadtteile verfallen weiter. Für die armen Haushalte beginnt
damit ein Teufelkreis: Sie haben nicht nur unter ihrer eigenen prekären Situation zu
leiden, sondern sie leben dazu noch in einem Viertel, dessen Wohnsituation
schlecht ist, das sie stigmatisiert und das Folgen für ihren weiteren Lebensweg haben kann. Eine Frage drängt sich nun unweigerlich auf: Sind diese Armenviertel
nicht nur die Viertel der Benachteiligten, sondern werden die Bewohner durch das
Viertel selbst noch zusätzlich benachteiligt?
Zum Teil kann man sich diese Frage bereits beantworten, wenn man sich ansieht,
welche Quartierstypen sich zu Armutsvierteln entwickeln und welche baulichen
Merkmale diese Viertel aufweisen. Denn damit kann man bereits von außen sichtbare, objektive Benachteiligungen feststellen:
• Die Großsiedlungen der 60 und 70er Jahre: Sie wurden weit draußen am
Stadtrand gebaut und haben oft keine guten Verkehrsanbindungen an die
Stadt. Geschäfte für den alltäglichen Bedarf gibt es kaum, Einrichtungen für
Freizeit und geselliges Leben fehlen, für Jugendliche und Kinder gibt es keine attraktiven Angebote. Alles in allem stößt man hier auf ein reizarmes
Umfeld, an das sich die Bewohner anpassen, indem sie auf viele Alltagsdinge und Aktivitäten verzichten.
6
•
•
Innenstadtnahe Altbaugebiete mit unsanierten Häusern: Hier gibt es häufig
noch so etwas wie eine Geschäftsstraße und es sind auch kleinere Betriebe
noch zu finden. Aber Geschäfte für den gehobeneren Bedarf wandern ab,
weil es dazu an der Kaufkraft der Bewohner fehlt. Oft gibt es nur wenig
Grün und Freiflächen.
Ehemalige Arbeiterquartiere: Sie liegen in der Nähe von Industriegebieten.
Durch Massenentlassungen des produzierenden Gewerbes sind aus den diesen ehemaligen Arbeiterquartieren quasi Arbeitslosenquartiere geworden.
Die Menschen haben einen sozialen Abstieg hinter sich. Mit großer Sicherheit sind die Böden vieler dieser Viertel mit Schadstoffen aus der Industriezeit belastet.
Für alle drei Gebietstypen gelten folgende baulichen Defizite:
• Der funktionale Zusammenhang zur übrigen Stadt hat sich aufgelöst. Für die
Mehrheit der übrigen Stadtbewohner gibt es kaum einen Anlaß mehr, diese
Viertel aufzusuchen, da sie keine wichtigen Infrastruktureinrichtungen beherbergen. Die Menschen dort wohnen also beinah abgetrennt von der übrigen Stadt. Auch bauliche Barrieren wie Autobahnen, Schnellstraßen, Industrieanlagen verstärken die Trennung.
• Die Viertel sind starker Verkehrsbelastung, Lärm und schlechter Luft ausgesetzt.
• Sie weisen Spuren von Vandalismus, Vermüllung und Verschmutzung auf.
• Die Ausstattung der Viertel mit Infrastruktur für die Bewohner ist mangelhaft.
• Die Bereitschaft der Immobilieneigentümer, in ihren Gebäudebestand zu investieren, hat nachgelassen.
Für eine soziologische Studie wurden die Bewohner von vier Armutsvierteln in
Köln befragt, wie sie ihr Viertel selbst beurteilen. Das Ergebnis der Befragung war,
daß deutsche wie ausländische Haushalte gleichermaßen unter dem Schmutz und
Dreck, dem Lärm und Verkehr und der Gewalt- oder Drogenkriminalität im Viertel
leiden. Deutsche Bewohner nennen dazu häufig noch den hohen Anteil an Ausländern
als negatives Merkmal ihres Viertels. Die Mehrheit der Haushalte würde am liebsten
aus dem Viertel wegziehen. Sie leiden auch an der Stigmatisierung, die vom Viertel
ausgeht, denn eine schlechte Adresse ist in jedem Fall auch ein Angriff auf ihr
Selbstwertgefühl. Diesbezüglich gibt es kaum einen Unterschied zwischen deutschen
und ausländischen Haushalten. Ausländische Haushalte unternehmen sogar mehr Aktivitäten als deutsche Haushalte, um aus dem Viertel herauszukommen.6
6
Jürgen Friedrichs, Jörg Blasius: Leben in benachteiligten Wohngebieten. Opladen 2000
7
Doch wer sind die Bewohner dieser benachteiligenden Viertel und von welcher Art
sind die sozialen Beziehungen zwischen ihnen? Es geht um die nicht einfach zu
beantwortende Frage, ob nicht auch von der Sozialstruktur, wie sie sich im Viertel
entwickelt hat, Benachteiligungen für die Bewohner ausgehen. Eine Beurteilung der
Sozialstruktur als positiv oder negativ in sozialtechnischer Absicht läuft immer Gefahr, bestimmten Interessen oder Ideologien zu folgen. Historisch gesehen sollten in
Deutschland viele durchgreifende Sanierungen von Stadtvierteln auch der „Verbesserung der Sozialstruktur“ dienen. Für die Belegungspraxis im Sozialwohnungsbau
gilt vielerorts die umstrittene Maxime der „sozialen Durchmischung“, die dafür
sorgen soll, daß ein Viertel nicht „kippt“. Dennoch muß man sich ein Bild von der
Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen im Stadtteil machen, will man
etwas dazu beitragen, daß gegenseitige Fremdheit und Feindlichkeiten zwischen
Deutschen und Ausländern, aber auch zwischen Migrantengruppen verschiedener
Herkunft untereinander abgebaut werden können. Je nach geschichtlicher Entwicklung des Stadtteils können die Beziehungen von besonderen Problemlagen geprägt
sein, die man kennen sollte, wenn man die nötigen Voraussetzungen dafür schaffen
möchte, daß Verständigung möglich wird und Orte der Begegnung entstehen.
Armutsviertel in Deutschland sind keine homogenen Ghettos, sondern es leben die
unterschiedlichsten Gruppen darin: Ältere deutsche Haushalte, die schon immer
hier gewohnt haben und nicht wegziehen möchten oder können, deutsche Arbeitslosen- und Sozialhilfehaushalte, die Abstiegserfahrungen gemacht haben und Migrantenhaushalte mit unterschiedlicher Nationalität. Die Haushalte verfügen über unterschiedliche Ressourcen für ihren Alltag. Ein großer Teil bezieht noch ein stabiles,
wenn auch geringes Einkommen durch Rente oder Erwerbstätigkeit. Andere halten
sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser und setzten auf Eigenarbeit und die informellen Beziehungen im Viertel. Die Sozialhilfeempfänger leben wiederum von
der Hand in den Mund und entwickeln Überlebensstrategien, die auf die Gegenwart
begrenzt bleiben. Jede unvorhergesehene größere Ausgabe, jedes unvorhergesehene
Lebensereignis bringt das prekäre Gleichgewicht des Haushalts ins Wanken. Und
schließlich gibt es die Haushalte, die ganz aus der Gesellschaft herausgefallen sind
und kaum mehr über Ressourcen verfügen, mit hoher Verschuldung oder Suchtabhängigkeit.7
Kennzeichen armer Stadtviertel ist in der Regel eine hohe Fluktuation unter den
Bewohnern. Sieht man sich die Bewegungen der Zu- und Fortzüge an, dann kommt
man auf eine Rate von 20% bis 25 % der Bevölkerung im Stadtteil, die innerhalb
eines Jahres weggezogen oder neu hinzugezogen ist. Das ist ein Fünftel bis ein
7
Zu den Ressourcen und Beziehungen der Bewohner von Problemvierteln siehe ausführlicher Rolf Keim,
Rainer Neef: Ressourcen für das Leben im Problemquartier. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B1011/2000, S. 30-39
8
Viertel der Bevölkerung des Stadtteiles, das jährlich durch Umzugsbewegung ausgetauscht wird! Daß das nicht ohne Folgen für das soziale Klima im Stadtteil sein
kann, liegt auf der Hand. Die Menschen im Viertel müssen immer wieder mit neuen
Nachbarn auskommen, weshalb das Zusammenleben oft von Konflikten geprägt. In
Deutschland ist die Rede von überforderten Nachbarschaften, wenn kulturell verschiedene Lebensstile und Lebensgewohnheiten aufeinandertreffen.
Die Kontakte der meisten Menschen beschränken sich auf das Stadtviertel und gehen kaum darüber hinaus. Allerdings bestehen zwischen den einzelnen sozialen
Gruppen im Stadtviertel erfahrungsgemäß relativ wenig Kontakte, man bleibt eher
unter seinesgleichen. Arbeitslose treffen sich eher mit Arbeitslosen und verlieren
Kontakte zu Arbeitenden, Sozialhilfeempfänger kommen eher mit Sozialhilfeempfängern zusammen, die Angehörigen der ethnischen Gruppen bleiben unter sich.
Daß es so wenig interethnische Kontakte gibt, liegt nicht nur an gegenseitigen Vorurteilen, sondern auch schlicht an fehlenden Sprachkenntnissen. Manche Viertelbewohner konzentrieren sich ganz auf ihre Familie. Die Familienorientierung ist
vor allem unter türkischen und rußlanddeutschen Migranten sehr ausgeprägt. Verwandtschaftliche Beziehungen haben bei ihnen einen hohen Stellenwert. Familien mit
Kindern, sofern sie das Viertel noch nicht verlassen haben, reagieren im allgemeinen
sehr empfindlich auf die Vorgänge in der Umgebung aus Angst, ihre Kinder könnten
unter schlechten Einfluß geraten. Sie sehen Viertelbewohner mit sozialen Problemen
eher kritisch und halten zu ihnen lieber Abstand.
Wenn aber sozial benachteiligte Menschen überwiegend Kontakte zu Menschen
haben, deren Lebenslage ihrer eigenen gleicht, wenn sie nur ein kleines persönliches Netzwerk haben, dann reduziert sich ihr Möglichkeitsraum. Es reduzieren sich
ihre Chancen, Informationen über Arbeitsgelegenheiten oder Wohnungen zu erhalten. Sind die kleinen Netzwerke im Quartier so stabil und tragfähig, daß sie einen
Ausgleich dazu bieten? Es gibt sicher Solidarität in Form kleiner Hilfsleistungen
und gegenseitiger Verpflichtungen. Aber es gibt keine unaufkündbare gegenseitige
Solidarität allein aufgrund der Tatsache, daß man sich im selben Quartier in einer
gleichen Lebenslage befindet, wie es sie früher in Arbeitervierteln gegeben haben
mag.
Das mag auch daran liegen, daß das Selbstwertgefühl eines Menschen, der in Armut
lebt, labil ist. Eine individuelle Strategie, mit der eigenen niedrigen gesellschaftlichen Position zurechtzukommen, ist die, sich selbst aufzuwerten, indem man andere
abwertet. Man vergleicht sich mit den anderen Menschen im Viertel und findet unter diesen welche, denen es noch schlechter ergeht oder die für den schlechten Ruf
des Viertels verantwortlich zu machen sind. Menschen in Armutsvierteln gehen
gegenseitig auch schnell auf Distanz, wenn neue Enttäuschungen drohen. Das Le-
9
ben in der erzwungenen Nachbarschaft der Armutsquartiere ist häufig von Spannungen und Konflikten geprägt. Eine ansässige deutsche Bevölkerung ist durch Arbeitslosigkeit verarmt und ausländische, kinderreiche Haushalte sind in mehreren
Wellen hinzugezogen. Unterschiedliche Lebensmodelle und Werte prallen auf engem Raum aufeinander.
In dieser Situation kommt es gegenwärtig in Deutschland zwischen Deutschen,
Türken und Rußlanddeutschen zu einer Ethnisierung sozialer Probleme. Man sieht
sich gegenseitig als Konkurrenten um knappe Güter und schreibt sich gegenseitig
die Schuld zu an sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit, verkürzten Sozialleistungen, Wohnungsknappheit und dem Niedergang im Viertel. Die Deutschen im
Viertel machen die türkische Bevölkerung als Ethnie für diese sozialen Probleme
kollektiv verantwortlich und die Türken wiederum die Rußlanddeutschen, die vor
einigen Jahren neu hinzukommen sind.8
Dabei sind die eigentlichen Probleme von sozialer Art und unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. Das größte Problem dieser Stadtviertel ist die generell die
hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere die der Unqualifizierten und der Jugendlichen.
Unter den Migranten ist der Anteil an Menschen ohne Schulabschluß und Berufsausbildung höher. Sie sind etwa doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen als die deutsche Bevölkerung. Sie verfügen nicht über die nötige formale Bildung, um in dieser Gesellschaft eine bessere Position zu erreichen. Vor allem junge
Migranten verarbeiten dieses Dilemma mit einer ethnischen Selbstaufwertung und
einer gleichzeitigen Abwertung der anderen. Sie wenden sich zurück zur eigenen
Ethnie, um sich darüber wieder positiv definieren zu können.
Eine besondere Konfliktlage ist in deutschen Städten zwischen den türkischen und
osteuropäischen Jugendlichen entstanden. Ausgetragen wird der Konflikt als Rangordnungskonflikt im Quartier. Die meisten dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind arbeitslos und können für sich weder eine positive Identität noch eine
gesellschaftliche Anerkennung durch Beruf und Arbeit finden. Ihr Kampf um Anerkennung verlagert sich auf den Raum im Viertel. Hier werden territoriale Kämpfe
um die Alleinherrschaft über Plätze, Straßenräume, Jugendclubs geführt. Dabei
steht immer die Person als Ganzes auf dem Spiel. Die persönliche Ehre wird verteidigt, Männlichkeitsrituale werden demonstriert, Gewaltbereitschaft wird inszeniert.
Dieser Machtanspruch auf den öffentlichen Raum verunsichert wiederum andere
Bewohner des Viertels und steigert deren Angst vor Kriminalität. Doch das eigent8
Die Ethnisierung sozialer Probleme zwischen Deutschen und Türken wurde empirisch untersucht von
Helmut Schröder u.a.: Ursachen interethnischer Konfliktpotentiale. Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung von deutscher Mehrheitsbevölkerung und türkischer Minderheit. In: Wilhelm Heitmeyer, Reimund
Anhut (Hg.): Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Weinheim/München 2000, S. 101-197
10
liche Ziel solcher Verhaltensweisen ist letztlich die Umkehrung der eigenen Marginalität. Mit ihrem Verhalten führen die Jugendlichen einen Kampf um die Anerkennung ihrer eigenen, unverwechselbaren Persönlichkeit.9 Als Bühne für dieses Ringen um Anerkennung bleibt ihnen nur ihr Wohnviertel, wenn sie zu den anderen
Arenen des gesellschaftlichen, zwischenmenschlichen Wettbewerbs keinen Zugang
mehr finden. Mehr Aufmerksamkeit als bisher muß der Frage geschenkt werden, ob
ihnen der Zugang zu Arbeit, Bildung, Öffentlichkeit und kulturellem Leben durch
die Sozialisationsbedingungen im Viertel erschwert und durch das Stigma der
schlechten Adresse verwehrt wird.
Über die Wirkungen der Segregation gehen die Meinungen auseinander. Verstärken
die Quartiere eine Ausgrenzung von der Gesellschaft oder bieten sie einen besonderen Schutz und nahe soziale Netzwerke? Tragen solche Viertel dazu bei, daß die
Armen noch ärmer werden oder unterstützen sie eine Bewältigung ihrer Armutslage? Meines Erachtens können die positiven Seiten der Segregation nur kurzfristig
von Vorteil sein. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage entwickelt sich das Armutsviertel langfristig eher zu einer Mobilitäts- und Integrationsfalle. Denn die sozialräumliche Abgrenzung geht vor allem bei den jungen
Migranten mit schlechten Sprachkenntnissen und schlechteren Bildungsabschlüssen
einher. Es fehlt ihnen an positiven Rollenvorbildern und an Orientierung. Es besteht
die Gefahr, daß der Kontakt zu der Mehrheitsgesellschaft mit ihren Normen und
Lebenszielen abreißt.
Befürchtet wird oft eine negative Sozialisation der Heranwachsenden durch das
Viertel, indem sie dort eine negative Einstellung zur Schule entwickeln, häufig die
Schule schwänzen und schließlich keinen Abschluß erreichen. Aber gerade für Jugendliche kann es auf Dauer nicht von Interesse sein, nur auf die Chancen in ihrem
Viertel begrenzt zu sein. Für ihren beruflichen Aufstieg muß ihr Weg aus dem Viertel hinausführen können. Dazu müssen vor allem die Einrichtungen im Stadtteil
(Schulen, Vereine, Bildungseinrichtungen) gestärkt werden, die dem Einzelnen Gelegenheiten bieten, sein persönliches Netzwerk zu erweitern.
Um die Lebenslage in diesen Vierteln zu verbessern, wurde 1999 in Deutschland
das Förderprogramm „Soziale Stadt“ eingerichtet.10 Insgesamt nehmen 230 Städte
mit 350 ausgewählten Stadtteilen daran teil. Auch die Stadt Aachen ist mit zwei
9
vgl. Jörg Hüttermann: Polizeiliche Alltagspraxis im Spannungsfeld von Etablierten und Außenseitern.
In: Wilhelm Heitmeyer, Reimund Anhut (Hg.): Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Weinheim/München 2000, S. 497-548. Ähnliche
Prozesse in den französischen Vorstädten beschreibt Didier Lapeyronnie: Jugendkrawalle und Ethnizität.
In: Wilhelm Heitmeyer u.a. (Hg.): Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben. Frankfurt a.M. 1998, S. 297-316
10
Umfangreiche Informationen und weiterführende Literatur zum Programm „Soziale Stadt“ ist auf der
dreisprachigen (de, en, fr) Website http://www.sozialestadt.de zu finden.
11
Stadtteilen beteiligt. Für jedes der Gebiete stellten die Kommunen auf das Viertel
angepaßte Handlungskonzepte auf. Das Neuartige an der Planung und Umsetzung
des Programmes ist, daß ressortübergreifend in vielen verschiedenen Handlungsfeldern gleichzeitig gearbeitet wird. Folgende Maßnahmen wurden bisher hauptsächlich umgesetzt:
• Die Verbesserung der baulichen Strukturen, vor allem im öffentlichen
Raum, steht bei allen Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf im
Vordergrund.
• Gleichzeitig setzt man sich dafür ein, die Bewohner zu aktivieren und an der
Umgestaltung ihres Viertels zu beteiligen.
• Das schlechte Image der Viertel wird durch viel Pressearbeit, öffentlichkeitswirksame Aktionen, Ausstellungen über die Geschichte des Viertels,
Kunstaktionen und vieles mehr verbessert.
• Das Programm soll dazu beitragen, die Beziehungen der Bewohner untereinander zu verbessern und ihrer Isolation entgegen zu wirken. In einigen
Vierteln wurden Schlichtungsstellen eingerichtet, um Konflikte zu lösen.
• Für Kinder und Jugendliche werden mehr Angebote in die Viertel geholt.
Kulturelle Aktivitäten werden entfaltet.
• Das Thema Sicherheit und Ordnung wird mit unterschiedlichen Mitteln angegangen: durch mehr Präsenz der Polizei, Umgestaltung von Angsträumen
und größere soziale Kontrolle durch belebtere Geschäftsstraßen. Von den
Bewohnern wurden Aktionen gegen Vandalismus und Vermüllung durchgeführt.
• Die lokalen Ökonomie im Viertel soll gestärkt werden. Dafür richtete man
Büros ein, die Wirtschaftsförderung vor Ort anbieten und Existenzgründungen anregen.
• Kindergärten und Schulen sollen gestärkt werden.
• Die Gesundheit soll durch niedrigschwellige Angebote (Gesundheitszentren)
gefördert werden. Der Verkehr kann neu reguliert werden, um Lärm- und
Abgase sowie Unfälle zu reduzieren.
Ein wichtiges Ziel war es zu Beginn des Programms gewesen, die Beschäftigungsmöglichkeiten im Viertel auszubauen und die Ökonomie des Viertels zu fördern.
Diesen Anspruch konnte man nicht in dem Maße einlösen, wie man es sich vorgestellt hatte. Dabei tut eine Bildungs- und Beschäftigungsoffensive gerade in diesen
Vierteln not. Jede gescheiterte Bildungskarriere wird mit hoher Wahrscheinlichkeit
auch einmal der Stadt zur Last fallen. Daher ist es sinnvoll, die Schulen in Problemgebieten von kommunaler Seite her noch stärker zu unterstützen. Nicht selten
handelt es sich um Grundschulen, deren Schüler zu 70-80 % einen Migrationshintergrund haben, die der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind, die mit
sehr viel Fluktuation unter den Schülern keine stabilen Klassen haben.
12
Die Schulen in Armutsquartieren sind längst keine Einrichtungen mehr, denen es
nur auf die Vermittlung von Lehrstoff ankommen kann. Sie sind eigentlich eine Art
Begegnungszentrum für den Stadtteil geworden: mit Ganztagsbetreuung der Kinder, mit vielfältigen Nachmittags- und Abendangeboten, Sprachkursen für Eltern,
Gesundheitsförderung und Gewaltprävention. Sie kooperieren mit Arbeitgebern,
der Jugendhilfe und dem Arbeitsamt, um den Schulabgängern einen Einstieg in das
Berufsleben zu erleichtern.
Behält Alain Touraine mit seine Diagnose recht, daß das Ende der zivilisierten
Stadt eingetreten ist? In meinen Augen ist das Ende der zivilisierten Stadt dann eingetreten, wenn Gebiete sichtbar aufgegeben worden sind und Gebäude ungehindert
verfallen, wenn der öffentliche Raum keinerlei städtische Pflege und Aufmerksamkeit bekommt. Das Ende der zivilisierten Stadt ist da eingetreten, wo sich Gewalt
ausbreiten kann, ohne das der lokale Staat zum Schutz der Ordnung eingreift, wo
sich eine Eigengesetzlichkeit und eine Kultur der Straße etablieren kann, unter der
auch ein Großteil der Bewohner leidet, ohne daß Abhilfe geschaffen wird. Das Ende der zivilisierten Stadt ist dann eingetreten, wenn die Bewohner von Armutsvierteln keinerlei Verbindung mehr zu übrigen Stadt besitzen, sich selbst überlassen
bleiben und sie an der Stadtpolitik nicht mehr beteiligt sind.
Erste Anzeichen für das Ende der zivilisierten Stadt gibt es in deutschen Großstädten, aber ebenso sieht man Anstrengungen, dagegen etwas zu unternehmen. Die
Existenz von Armutsvierteln beweist schließlich nicht die Defizite der Menschen,
die dort leben. Sie beweist vielmehr, daß gesellschaftliche Integrationsmechanismen wie Arbeitsmarkt, Wohnungspolitik und Wohlfahrtsstaat nachlassen oder versagen. Es ist legitim, wenn Städte hier Symptombekämpfung betreiben, denn die
wirtschaftlichen Ursachen liegen außerhalb ihrer Gestaltungsmacht. In ihrer Verantwortung liegt jedoch eine kommunale Integrationspolitik. Auch an dem Potential
zur Integration seitens der Mehrheitsgesellschaft muß gearbeitet werden. Den größten Teil der gesellschaftlichen Integrationsarbeit leisten ohnehin die Bewohner im
Viertel, und das unter ungünstigsten Bedingungen.
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