Glaubenssachen

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Glaubenssachen
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Sonntag, 2. Juli 2017, 08.40 Uhr
„Deine Liebe hat mich zum Tanzen gebracht!“
Die Sufis – die mystische Spielart des Islam
Von Christian Feldmann
Redaktion: Florian Breitmeier
Norddeutscher Rundfunk
Religion und Gesellschaft
Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22
30169 Hannover
Tel.: 0511/988-2395
www.ndr.de/ndrkultur
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Zitator:
„Wir hielten vor einem kleinen türkischen Kloster, in dem Derwische lebten und jeden
Freitag tanzten. (…) Aus einer Zelle kam ein Derwisch auf uns zu; er legte grüßend die
Hand auf Brust, Lippen, Stirn (…), wir setzten uns. Der Derwisch sprach von den
Blumen, die wir rundum sahen, und vom Meer, das zwischen den spitzen Blättern
eines Lorbeerbaumes blitzte. Später begann er über den Tanz zu sprechen: ‚Wenn ich
nicht tanzen kann, kann ich nicht beten. Die Engel haben zwar einen Mund, aber sie
reden nicht; sie sprechen durch den Tanz zu Gott.‘“i
Erzählerin:
Ein Reisebericht des griechischen Dichters Nikos Kazantzakis, bei uns bekannt durch
seinen Roman „Alexis Sorbas“. Wie so viele andere zeigt er sich fasziniert von den
islamischen Mystikern, die Gott tanzend, mit allen Sinnen erfahren wollen, und von
ihrer Weisheit.
Erzähler:
Sie verkörpern die innere, tolerante Tradition der islamischen Religion. Die Sufis
sehnen sich nach der Vereinigung mit Gott, nach menschlicher Freundschaft und
frommer Ekstase. Gott ist für sie kein höchstes philosophisches Prinzip, sondern der
Freund, der Vertraute, der leidenschaftlich Geliebte. Jemand, der sich nicht begreifen,
beschreiben und vereinnahmen lässt.
Erzählerin:
Wenn es keine Menschen mehr geben wird, wird es auch keine Barmherzigkeit mehr
geben und die Erde wird vergehen. Denn „der Hauch des Barmherzigen“, so sagen es
Gottes Freunde, hält die Schöpfung am Leben. Und sie, die mit ihrem Herzen zu ihm
streben, tragen „Kronen seiner Freude“.
Erzähler:
Das verspricht Ibn´ Arabi, gestorben im Jahr 1240. Er gilt als wichtigster Mystiker der
islamischen Welt. Auch Tiere und leblose Dinge zählte er zu seinen Lehrern. Noch
heute wird er in Kreisen der mystisch orientierten Frommen, der Sufis, hoch verehrt –
und von muslimischen Fundamentalisten böse angefeindet.
Erzählerin:
Erheblich bekannter und populärer als Ibn´ Arabi wurde Dschalaladdin-i Balchi,
genannt Rumi, im heutigen Afghanistan geboren, gestorben 1273. Ein unsterblich in
Gott verliebter Poet, der in allen Dingen auf der Welt die Spuren des Schöpfers fand.
An die vierzigtausend Verse umfasst seine Lyrik, und in seinen Gedichten erscheint er
als verwirrter Träumer – wie alle Liebenden:
Zitator:
„Was kann ich tun, oh Muslime? Ich kenne mich nicht.
Ich bin weder Christ, noch Jude, (…) noch Muslim.
Nicht aus dem Osten, noch aus dem Westen.
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(…) Nicht von dieser Welt oder aus der kommenden; (…) mein Platz ist ohne Ort, meine
Spur ohne Spur.
Weder Körper noch Seele: alles ist das Leben meines Geliebten.
Weder König noch Bettler bin ich,
weder esse noch trinke ich,
weder lebe noch sterbe ich.
Berauscht bin ich ohne Wein,
ein trunken Liebender …“ii
Erzählerin:
Sufis heißen diese Frommen – vom arabischen Wort „suf“ für Wolle, weil sie sich einst
nach dem Vorbild christlicher Asketen in Wollgewänder gekleidet haben. Nach einer
anderen Erklärung kommt der Begriff von „safa“, was Reinheit bedeutet. Sufismus, das
ist die Mystik des Islam. Nicht intellektuelles theologisches Wissen erstreben die Sufis,
sondern existenzielle Erfahrung. Gott wohnt im Herzen, nicht in strengen Satzungen. In
den frommen Büchern – von denen sie selbst viele geschrieben haben – geht es ihnen,
wie sie gern sagen, um „das Weiße zwischen den Zeilen“, das heißt um den tiefen
Hintersinn all der Worte. Um Liebe und Toleranz. Die Sehnsucht nach der Vereinigung
mit Gott. Ekstase in Poesie, Musik und Tanz. Gottesliebe, untrennbar verbunden mit
Menschenliebe. Geschwisterlichkeit und geteiltes religiöses Leben in der
Gemeinschaft.
Erzähler:
Der iranische Bauer Abu´l-Hasan Charaquani, so erzählt es eine alte Sufi-Legende, sah
eines Nachts Gott im Traum und sprach: „Seit sechzig Jahren schmelze ich dahin in
der Hoffnung auf deine Liebe und sehne mich nach dir!“ – Gott antwortete ihm:
„Sechzig Jahre suchst du uns? Wir haben dich schon in der Urewigkeit der
Urewigkeiten geliebt!“
Erzählerin:
Sufis leben in den Gebirgstälern Anatoliens und in den Flussebenen Indiens, unter den
nordafrikanischen Wüstennomaden und bei den bengalischen Fischern, in Marokko
und Malaysia und im Sudan. Am tiefsten verwurzelt sind sie im Industal, das 711 die
Armee von Muhammad Bin Quasin eroberte. Die dort unter einem Brahmanenkönig
lebenden Hindus und Buddhisten wurden gern Muslime, weil sie den Islam nicht als
brutalen Zwang kennenlernten, sondern in Gestalt der Sufis als eine bezaubernde,
einladende Religion.
Erzähler:
Die Sufis: Das sind offenbar nicht nur jene heulenden, tanzenden Derwische, die im 19.
Jahrhundert Reisende aus dem Abendland und europäische Orientalisten
gleichermaßen fasziniert und abgestoßen haben, bisweilen nur spärlich mit einem
Stück Tierfell bekleidet, eiserne Ringe an den Ohren, am Gürtel hängend die
Bettlerschale. Von „schmutzigen Narren“ und „stinkfaulen Heuchlern“ ist in alten
Reisebeschreibungen beleidigend die Rede - auch noch in den Orientromanen von
Karl May. Die schrillen Exoten bilden nur eine kleine Minderheit. Schätzungsweise
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fünfzehn Millionen Menschen sind es, deren Frömmigkeit und Alltag vom Sufismus
geprägt ist – in unterschiedlichen Abstufungen, versteht sich.
15 Millionen, das sind 1 Prozent der weltweit 1,5 Milliarden Muslime.
Erzählerin:
Dass die Weisheitslehre der Sufis nicht immer einheitliche Konturen zeigt, hat seine
Gründe: Der Sufismus entwickelte sich im Islam und mit dem Islam. Gleichzeitig ist er
schon immer eine kritische Reaktion auf den Islam gewesen, gespeist aus Quellen, die
älter sind als Islam und Hinduismus und Buddhismus, eben aus den uralten Legenden
und Volkstraditionen des Industales. Später floss die Frömmigkeit der Sufis mit der
Verehrung des Hirtengottes Krishna zusammen und mit der Mystik der vor Liebe
brennenden hinduistischen Yogis.
Erzähler:
„Sufis“ nennen sie sich selbst nur selten, es ist ein Ehrentitel. Sie bekommen ihn von
anderen verliehen, die ihre Güte bewundern, ihre Schlichtheit, ihr spirituelles
Charisma. Dass sie sich von manchen engherzigen Vorschriften der offiziellen Religion
emanzipiert haben, macht man ihnen nicht zum Vorwurf, im Gegenteil. In Pakistan sagt
man von den umherwandernden Asketen:
Zitator:
„Wenn so jemand eine Moschee betreten würde, um zu beten, würden die Minarette
einstürzen – aus Scham darüber, dass er sich verneigt und nicht sie.“
Erzählerin:
Am häufigsten findet man die Sufis an den „Schreinen“. So heißen die prächtigen
Grabtempel der indisch-pakistanischen Heiligen, wo an ihren Todestagen gigantische
Pilgerfeste stattfinden – ähnlich den Wallfahrtsorten im traditionellen Katholizismus.
Das Heiligengrab gilt als Kraftquelle und als Ort der Begegnung mit der anderen Welt;
zu so einem Schrein gehören manchmal Moscheen, Freiküchen für die armen Pilger,
Hospitäler. Das Fest in Adschmir in Radschasthan zum Beispiel ist so wichtig, dass aus
diesem Anlass die sonst geschlossene Grenze zwischen Indien und Pakistan für den
Eisenbahnverkehr geöffnet wird. „Urs“ nennt man so einen Gedenktag, „Hochzeit“,
denn es ist kein Trauertag, sondern das Datum der endlich erreichten Vereinigung mit
dem göttlichen Geliebten.
Zitator:
„Wenn wir tot sind, suche unser Grab nicht in der Erde, sondern finde es in den Herzen
der Menschen!“
Erzähler:
– mahnt Rumis Grabinschrift.
Der Sufismus versteht sich als Korrektiv zum orthodoxen Gesetzesislam. Oft genug ist
es geschehen, dass Sufis deshalb von ihren muslimischen Glaubensbrüdern behindert,
verfolgt, bisweilen auch hingerichtet worden sind. Wie Al-Halladsch, dem sie 922 in
Bagdad die Hände und Füße abhackten, um ihn tags darauf zu hängen. Er hatte in
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seiner Verzückung verwegene Sprüche von sich gegeben wie den, er müsse ungläubig
werden, um die wahre Religion zu leben, und wer sich anmaße, Gott zu beschreiben,
der kenne ihn mit Sicherheit nicht.
Erzählerin:
Die heute noch bekannteste Sufi-Geschichte ist wohl die von dem Elefanten, der mit
dem Heer des Königs in eine nur von Blinden bewohnte Stadt kommt. Ein paar
besonders mutige Einwohner betasten das riesige Tier, und dann berichtet jeder
seinen neugierigen Mitbürgern etwas anderes: Der das Ohr des Elefanten berührt hat,
schildert ihn als ein großes, raues Etwas, wie eine breite Decke. Der den Rüssel
betastet hat, spricht von einer hohlen Röhre. Der Bein und Fuß des Elefanten gefühlt
hat, vergleicht ihn mit einer mächtigen Säule. Die Moral von der Geschichte: Wir
Menschen kennen immer nur ein Stück vom großen Ganzen, Gott ist größer als unsere
begrenzten Vorstellungen.
Erzähler:
Die von strengen Gesetzeshütern bisweilen grausam verfolgten Sufis haben ihre
muslimischen Wurzeln trotzdem nie verleugnet. Sie verehren den Propheten
Muhammad mit inniger Liebe und meditieren den Koran Vers für Vers. Wenige
Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten finden wir die ersten Sufi-Gruppen, vor allem
im heutigen Irak. Asketen, die sich vom dekadenten höfischen Leben der Kalifen
abwandten, Freundschaft mit christlichen Eremiten pflegten und Jesus als „Arzt der
Herzen“ schätzten.
Auch eine Frau war unter diesen frühen Sufis, Rabi´a von Basra. Sie starb 801. Noch
heute erzählt man sich von ihr. Wie sie durch die Straßen ging, eine Fackel in der
einen Hand und einen Eimer Wasser in der anderen, und wie sie auf verwunderte
Fragen erklärte:
Erzählerin:
„Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit niemand
mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder aus Hoffnung auf das Paradies anbetet,
sondern allein um seiner ewigen Schönheit willen.“
Erzähler:
Als Lebensmotto von Rabi´a ist folgender Ausspruch überliefert:
Erzählerin:
„O Gott, mein Tun und mein Wunsch in dieser Welt ist, nur dein zu gedenken, und im
Jenseits nur, dich zu treffen.“
Erzähler:
So eine Sehnsucht bestimmt die Haltung aller Sufis: eine intime, liebevolle, durchaus
sinnliche Beziehung zu Gott, die in ihm kein höchstes philosophisches Prinzip sieht,
sondern den Freund, den Vertrauten, den leidenschaftlich Geliebten.
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Zitator:
„Ich sah ein Kind ein Licht tragen“ –
Erzählerin:
– erzählt der weise Hassan von Basra.
Zitator:
„Ich fragte, woher es das Licht habe.
Das Kind löschte es und sagte:
‚Sag du mir zuerst, wohin es gegangen ist.‘“
Erzählerin:
Religion ohne Geheimnis wäre eine banale Angelegenheit. Gleichzeitig stimmen die
Sufis aus vollem Herzen der Aussage des Koran zu, Gott sei dem Menschen „näher als
seine Halsschlagader“. Behutsamer Respekt vor dem Geheimnis paart sich mit
leidenschaftlicher Sehnsucht und glühender Liebe. Sufis sprechen und singen gern
vom Falter, der in der Flamme den Tod findet, und vom Verschwinden der Seele im
Meer des göttlichen Lichts.
Zitator:
„Mein Lebensinhalt du – aus Furcht, dich nicht zu sehen,
möchte mein Herz mit dir in einer Haut nur leben!“
Erzählerin:
– wünscht sich ´Ainul-Quadat Hamadani, 1131 wurde er hingerichtet. Andere SufiKlassiker wie der aus Spanien stammende Ibn ´Arabi drückten diese Verinnerlichung
religiösen Erlebens mit manchmal pikanten erotischen Bildern aus – und leisteten
damit Verdächtigungen und Verfolgungen durch spröde islamische Glaubensgelehrte
Vorschub. Rosen und Nachtigallen, Flammen und Schmetterlinge, lauter Bilder für die
Liebe der Seele zu Gott. Jedes Wesen auf der Welt, so Ibn ´Arabi, hat am göttlichen
Urgrund Anteil. Aber diese scheinbar ganz private Mystik paart sich mit praktischer
Nächstenliebe, Krankenfürsorge, Respekt vor den Tieren. Die Freiküchen der DerwischKonvente in Pakistan stehen auch Hindus offen, die dort gemeinsam mit Muslimen
essen.
Erzähler:
Ein Sufi konnte – und kann noch heute – unter der wollenen Kutte eines Asketen
stecken, unter dem bunten Gewand eines Musikers oder unter dem Arbeitskittel eines
Handwerkers oder Bauern. Die bedeutendsten Poeten und Architekten der islamischen
Welt gehörten dem Sufismus an. Es gibt Einzelgänger, aber viele Sufis sind in
Bruderschaften, Orden organisiert, unter Führung eines charismatischen Meisters.
Erzählerin:
Hier lernen sie die Wege und Techniken, den Wirrwarr der Welt zu ordnen und hinter
sich zu lassen und in Kontakt mit dem Göttlichen zu kommen. Das kann durch den
„chilla“ geschehen, einen vierzigtägigen Rückzug in die Einsamkeit, oft in eine Höhle
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am Schrein eines Heiligen. Hier versuchen sie die eigene Mitte zu finden und rufen
unaufhörlich den Namen Allahs an. Meditation, Fasten, Schlafverzicht, ekstatischer
Tanz gehören zu diesen Praktiken – und natürlich der aus Indien stammende
Rosenkranz, dessen 99 Perlen die unerschöpfliche Vielfalt der Namen Gottes
bezeichnen.
Erzähler:
Ein Fleisch gewordenes Gleichnis wollen sie sein, ein Gleichnis dafür, dass der Mensch
ein armseliges, hilfsbedürftiges Wesen ist und das Leben eine Pilgerfahrt zu Gott.
Diese Welt, so sagen sie gern, ist weniger wert als der Flügelschlag einer Mücke. Wer
aber die Vereinigung mit Gott erreicht, der ist ein König. Doch man muss sich vor
Klischees hüten: Die meisten in Derwisch-Bruderschaften Organisierten verdienen sich
ihren Lebensunterhalt ganz normal als Bauern, Handwerker, Kaufleute. Zu einigen
Bruderschaften gehören auch Frauen.
Erzählerin:
Von manchen Fakiren werden erschreckende „Kunststücke“ berichtet: Sie tanzen auf
glühenden Kohlen, sie essen Glas, ohne sich zu verletzen, können sich die Augäpfel
herausnehmen, lassen sich lebendig begraben und steigen nach einiger Zeit munter
wieder aus ihrer Gruft. Doch das sind Einzelfälle, oft ist es Humbug und vor allem ist es
überhaupt nicht charakteristisch für die Geistigkeit dieser glühenden Mystiker.
Ekstasen gehören freilich zu ihrer Existenz, eine betörende Trancemusik, wilde Tänze,
auch Rauschdrogen von starkem Kaffee bis zu Haschisch und Opium. – Bisweilen mehr
als zweifelhafte Mittel, um das Diesseits zu vergessen und neue Bewusstseinsebenen
in der Nähe Gottes zu entdecken.
Zitator:
„Deine Liebe hat mich zum Tanzen gebracht!“
Erzählerin:
So singen Fakire am Schrein des Sufi-Dichters Bullhe Shah im Industal und meinen
damit einen Gott, der seinen Menschen leidenschaftlich zugetan ist:
Zitator:
„Wer liebt, kennt keine Angst vor dem Tod. Mir wäre es gleich, wenn ich aufgehängt
würde! Um mich mit dir zu versöhnen, bin ich bereit, zu tanzen wie ein Mädchen (…).
Oft muss man an der Tür des Geliebten erscheinen und tanzen muss man, wenn man
ihn sich zum Freund machen will! Nichts gegen Moscheen – aber die wahrhaft
Liebenden muss man anderswo suchen.“
Erzähler:
Die Sufis sind Außenseiter geblieben.- Einerseits erscheinen die Heiligengräber, die
„Schreine“, als Zentren milder Toleranz, wo auch Sonderlinge, Landstreicher, alt
gewordene Prostituierte, Transvestiten, psychisch Auffällige in Frieden leben können.
Andererseits gehen militante Re-Islamisierer gegen die unangepassten Mystiker vor. In
Pakistan verüben Fundamentalisten regelmäßig Anschläge gegen Sufi-Schreine. Im
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Iran sind Sufis von Ayatollah Khomeini, wegen vermeintlicher Sittenlosigkeit,
hingerichtet worden. In der Türkei dagegen verzeichnen die Sufis einen steigenden
Zulauf von gebildeten Frommen, die mit dem Hickhack zwischen den traditionellen
religiösen Denkschulen unzufrieden sind. Der König von Marokko steht in intensivem
Kontakt mit Sufi-Bruderschaften, die ihn im Kampf gegen gewaltverliebte
Fundamentalisten unterstützen sollen.
Erzählerin:
Die Sufi-Religion wandelt sich schon seit längerer Zeit radikal. Die Heiligenfeste, die
einige Beobachter immer schon an eine fromme Kirmes erinnerten, werden
säkularisiert. Statt von der tief religiösen Mystik spricht man lieber von der Bedeutung
der Sufi-Poesie für die Entwicklung der Regionalsprachen und vom sozialreformerischen Engagement vieler Bruderschaften. Nach den Bauern und
Handwerkern von einst interessieren sich heute verstärkt esoterisch angehauchte
Intellektuelle, aber erstaunlicherweise auch Industriearbeiter für die Derwisch-Orden.
Allein in Deutschland gibt es an die zehntausend Sufis. Allgemein lässt sich
beobachten: Europäische Sufi-Gemeinschaften leiten ihren Glauben oft nicht mehr aus
dem Islam ab, sondern wollen Zeugnis von dem gemeinsamen Kern aller Religionen
ablegen.
Zitator:
„Muslim, Hindu, Christ, Jude und Sikh:
Brüder auf geheime Weise“ –
Erzählerin:
– singen sie am Grabmal des Sufi-Heiligen Sayed Mir Abdullah Shah in Delhi.
Zitator:
„Alles ist Er, mein Freund, alles Er!“
***
Zum Autor:
Christian Feldmann, Theologe, Rundfunkautor und Schriftsteller
1
Nikos Kazantzakis: Im Zauber der griechischen Landschaft. Übersetzt von Isidora Rosenthal2
Kamarinea. F. A. Herbig Verlagsgesellschaft München 1980, 88 f. (17 Zeilen)
Idries Shah: Der glücklichste Mensch. Das große Buch der Sufi-Weisheit. Herder 1986, 94 f. (6 Zeilen)
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