Begegnungen durch Gefühle im Öffentlichen Raum

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Jutta Heppekausen • Holbeinstr. 10 • D-79100 Freiburg • Tel/Fax: 0761/77572 • [email protected]
Begegnungen durch Gefühle im Öffentlichen Raum - ein Politikum? Oder:
Ist Playbacktheater politisch?
Wenige Wochen nach dem 11. September
2001 hatten wir in Freiburg/Deutschland
eine Aufführung mit dem Titel „Zeitgeister“.
Bei den Trainings geisterten in jenen Tagen
in unserer multiethnischen Gruppe Geschichten von brennenden Gebäuden - dem
WTC in New York natürlich, dann aber der
Moneda in Santiago de Chile 1973 und von
Exilerfahrungen in Europa. Bei der Aufführung überraschte uns unser Publikum mit
Geschichten von Handys allerorten, Enttäuschungen über fehlende Nikolaus-Geschenke, süßliche Weihnachtsmusik im Kaufhaus,
Einsamkeit beim Besuch im Elternhaus
durch die verschwiegene eigenen Homosexualität, Einsamkeit bei der verrückten Alten
in der Nachbarschaft, Begegnungsblockaden
auf der Beerdigung der geliebten Großmutter, quälende Sprachlosigkeit bei dem
Wiedersehen mit einer alten Freundin und
letztlich dem befreienden Kläffen eines wildgewordenen Hundes, Ventil der Spannung
im „Geisterhaus“ einer großen Familie - mittendrin scheinbar deplaziert eine Drei-SätzeGeschichte über Fernsehbilder der Taliban,
Mitgefühl für eine ausgegrenzte muslimische
Bekannte und dem Seufzer „Krieg ist
schrecklich.“ Hatte unser Publikum sonst
keine Geschichten zu politischen Themen?
Hatten wir das Thema zu hoch gehängt?
Oder war der rote Faden der „Kriege auf
Nebenschauplätzen“, der scheiternden Suche
nach menschlichen Begegnungen und echten
Gefühlen die alltägliche Entsprechung des
11. September in unserem Freiburger Mikrokosmos des Aufführungssaales? Irgendwie
blieben wir nach dem kulinarisch un-
terfütterten Ausklang der Veranstaltung trotz
dichter Atmosphäre, guten Rückmeldungen
und der üblichen Erschöpfung ein wenig irritiert und nicht ganz zufrieden zurück - jedenfalls einige von uns wie ich z.B..
Ich gehöre - wie viele der Playbacker/innen
in Deutschland - zur ersten Nachkriegsgeneration, bin aktiv in den Wellen der 68-iger
Bewegungen geschwommen, war am Ausbau durch sie freigeschwemmter Inseln beteiligt und an deren zäher Verteidigung im
Rollback der 80-iger und 90-iger Jahre, bin
dann eingetaucht in die Erforschung der
Tiefen des Seelenlebens und suche nun neben beruflicher und seltener politischer
Aktivität - auch im Playback die Möglichkeit
einer Synthese aus diesen Lebenserfahrungen. Ist Playbacktheater in einem heute
für mich, für uns nützlichen Sinn politisch?
Gibt es in der Playback-Szene überhaupt ein
„Wir“?
Einiges spricht dafür:
Politisches Wirkungspotential von Playbacktheater: Moral in der Postmoderne
Playback-Theater gehört zu den Praktiken,
die das komplexe Geschehen einer wirklichen Begegnung zwischen Menschen
ermöglichen. Damit stellt es eine Form moralischen Lernens dar: Die postmoderne
gesellschaftliche Situation ist von
Pluralisierung, Segmentierung und Differenzierung des Sozialen charakterisiert, was
zu Verunsicherungen und gleichzeitig zu
neuen Möglichkeiten von Begegnung führt.
Moral ist heute von der Illusion einer allgemeinverbindlichen Ethik (Aufklärung, Kant
usw.) befreit, die auch dazu diente, wirkliche
persönliche Nähe durch gesellschaftlich normierte Codes zu vermeiden. Heute gibt es
kein ethisches Monopol des Staates mehr,
vielfältige ethische Regelsysteme sind den
Kräften des Marktes überlassen. Die Verantwortung für die Folgen des eigenen
Handelns hat sich auf den Einzelnen zurückverlagert. Im zwischenmenschlichen Zusammenleben ist damit eine moralische
Haltung zu erlernen, die von einer Balance
der Verantwortung für die anderen und sich
selbst geprägt ist. Diese ist eine der Voraussetzung zur Entwicklung von Verhältnissen
ohne Gewalt, insbesondere ohne Rassismus
und trifft insofern den Nerv der politischen
Themen dieser Tage. Eine moralische
Haltung ist heute nicht (mehr) über Konventionen zu regeln. Zwischenmenschliche
Begegnungen finden als emotionale Beziehungen von Angesicht zu Angesicht statt.
Playback-Theater hat aufgrund seiner Ästhetik hier ganz spezifische Wirkungsmöglichkeiten- aber eben auch und Risiken. Einiges
von beidem sei hier benannt:

Tabubrüche durch Gefühle statt
Gleichgültigkeit in der Begegnung
Die Arbeit mit Gefühlen steht im Mittelpunkt der Playback-Theater-Methode. Gefühle werden hier nicht untersucht, zergliedert, vermessen, klassifiziert. Sie sind der
Schlüssel zur Essenz der Geschichten. Davon, wie es dem Ensemble spontan gelingt,
die Gefühle der Erzählerin komplex und
ohne Bewertung zu erfassen, hängt die
Qualität der Begegnung ab, die hier stattfindet. Die spielbedingte Notwendigkeit des
intensiven Zuhörens, die die Haltung von
Spieler/innen und Leiter/in prägen, öffnet
den öffentlichen Raum für persönliche
Erlebnisse und für den Ausdruck von Gefühlen, auch oder gerade wenn diese gesellschaftlichen Nomen nicht entsprechen. Die
Konzentration auf den emotionalen Kern des
Erzählten stellt die jeweilige Lebensrealität
den gesellschaftlichen Tabus wie Homosexualität, Angst vor Schwäche und Tod, der
Leugnung von Familienkonflikten und
Diskriminierungserfahrungen entgegen - wie
etwa an jenem „Zeitgeister“-Abend -. Wir
geben damit immer wieder den Sicherheitsabstand zwischen dem Ich und den Anderen
auf und müssen uns damit immer wieder neu
unserer moralischen Verantwortung stellen im Aushandeln der Balance zwischen uns
selbst, den Erzählenden und dem Publikum
und den vielen Ambivalenzen innerhalb all
dieser Seiten!
 Stärkung von Gemeinschaftsgefühl
Playbacktheater stärkt Gemeinsamkeiten und
die Erfahrung von Verbundenheit
- durch die Leistung der Spielerinnen, die
sich emotional und kognitiv in ihnen meist
fremde Personen einfühlen können;
- durch die Ensemble-Leistung des spontanen Spiels auf der Bühne;
- und durch vieldeutige, metaphorische Darstellungsformen: Die Zuschauenden können
sich mit eigenen Anteilen in den ritualisierten, rhythmisierten Körper- und
Klangbildern wiederfinden und tieferliegende Zusammenhänge, ‚Echos der Geschichten’ erahnen. „Durch die Verdopplung
im Spiegel hebt die Welt die ihr eigene
Distanz auf.“ (Foucault). Hier brauchen
keine Beispiele genannt zu werden- alle, die
Playbacktheater kennen, haben diesen Zauber schon erlebt.

Akzeptanz von Unterschiedlichkeiten (Konfliktklärung)
Playbacktheater akzeptiert Unterschiede zwischen Menschen und nutzt diese produktiv
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durch die Ästhetik der Spiegelung eigener
Erfahrungen in fremden. Ein Klärung der
eigenen Sichtweisewird oft erst über die Bewusstwerdung
von
Unterschieden
ermöglicht: „Beim Anschauen ist mir klargeworden: So wütend war ich gar nicht.
Vielleicht sollte ich es aber mal sein ...“.
Playbacktheater kann auch zur Konfliktklärung hilfreich sein: Eine Konfliktgeschichte
kann aus den beiden gegensätzlichen Perspektiven gespielt werden, wie kürzlich ein
Streit um Cliquenzugehörigkeit zwischen
zwei Schülerinnen einer Schulklasse. Die
Wertschätzung für beide Perspektiven, die
sich in der Ernsthaftigkeit der lustvollen
Darstellung beider Geschichten ausdrückte,
verblüffte die Mitschüler/innen wie die
beiden
Erzählerinnen. Hier war eine
Wirkung unmittelbar zu beobachten: Die
Aufführung führte direkt zu einer Wiederaufnahme der abgerissenen Gespräche zwischen den beiden Kontrahentinnen. Gleichzeitig hatten sich die Spieler/innen, ein
Gruppe von Lehramtsstudierenden, im aktiver Wertschätzung unterschiedlicher Perspektiven statt schnellem Bewerten und Beurteilen geübt - für angehende Lehrer/innen
keine geringe Herausforderung!

Erweiterung
von
Handlungsmöglichkeiten
durch
Individualisierung „der anderen“ statt
Zuschreibungen
Playbacktheater wirkt festlegenden
Zuschreibungen und Bildern des Anderen und
der Konstruktion von Gruppen entgegen, indem es jeder Rolle Namen und individuelle
Merkmale gibt und am Schluss immer die
konkreten Erzähler/innen im „Blick zurück“
würdigt. Das erweitert potentiell die Handlungsmöglichkeiten der Erzähler/innen, da
festlegende Zuschreibungen gegenüber „den
anderen“ nicht nur diese reduziert, sondern
auch immer eine Wahrnehmungseinengung
für die Zuschreibenden selbst bedeuten.
So war es wichtig, die Bekannte der Erzählerin jener Diskriminierungsgeschichte in
Zeiten des Krieges gegen die Taliban als eine
konkrete Frau mit Namen, Alter, Lieblingsfarbe und einer speziellen Eigenschaft (sehr
beweglich, ein wenig hektisch oft) darzustellen und nicht „die Muslimin“ ohne
Namen und möglichst noch mit Kopftuch
und gesenktem Blick auf die Bühne zu
bringen. Eine Reproduktion des Klischées
„Muslimin“ hätte der Absicht der Erzählerin,
den machtvollen Rassismus der Bush-Regierung zu kritisieren, nicht entsprochen,
sondern im Gegenteil: Dies hätte eine ähnliche Macht reproduziert - Die Macht der mitleidig überlegenen Zentraleuropäerin, die
doch nur die eigentliche Handlungsunfähigkeit angesichts des Krieges kaschiert.
Anders die Erzählung während eines Playbackseminars über eine nächtliche Begegnung mit jugendlichen Skinheads: Es fiel
dem Erzähler schwer, sich an einzelne
Gesichter in dieser bedrohlichen, „homogenen Masse von Skinheads“ zu erinnern.
Seine Angst hielt an der gesichtslosen Übermacht fest. Beides - Gesichtslosigkeit und
Angst - wurde in der Darstellung deutlich
sichtbar. Dies erinnerte eine Teilnehmerin an
eine U-Bahnsituation nach einem Fußballspiel, in der eine „angetrunkene, pöbelnde
Männergruppe“ bei der Erzählerin Angst
auslöste. Die Frau saß zufällig neben dem
„Platzhirschen“ dieser Gruppe und begann
ein Gespräch mit ihm. Dieser erzählte von
seinen Erlebnissen als Feuerwehrmann.
Nach dem Spiel, in dem wir Ulrich, einen
ganz eigenen Typ von redseligem Feu3
erwehrmann erlebten, fand die Erzählerin:
„Eigentlich war er ganz nett“. Im Spiegel des
Spiels konnte sie sehen: Ihr Blick auf die
Fußballfans hatte an Differenziertheit gewonnen. Ein selbstsicherer Umgang mit
„einem von ihnen“ war möglich geworden,
eine Bedrohung oder Konfrontation konnte
so verhindert werden.
Dies ist sicherlich kein allgemeingültiges
Handlungsrezept für Konflikte mit aggressiven Gruppen, aber doch eine ermutigende
Beobachtung.

Vertrauensstärkung beim SichEinlassen auf Ungewissheiten
Playbacktheater bestärkt die Akzeptanz von
Ambivalenzen und einen bewussten Umgang
mit ihnen - am deutlichsten in dem Spiel der
„Pairs“, aber auch grundsätzlicher in der
immer wieder durch die Spontanimprovisation neu geforderten und damit in der
Wirkung auch vermittelte Fähigkeit des
Sich-Einlassens auf Ungewissheiten, auf
Zerrissenheiten ohne schnelle Lösung, auf
Annäherungen ohne Bewertung und doch
voller Bewusstseins für die eigene Verantwortung gegenüber den Erzählenden, den
Zuschauenden und uns selbst - eine Haltung,
die nach Zygmunt Bauman die Bedeutung und zwar die einzige - des Moralischseins
heute ist und anders ausgedrückt heißt: Der
Ambivalenz von Gut und Böse zu begegnen
(statt die Welt in Gut und Böse einzuteilen ...
JH).
Verbleibende Fragen (einige davon!)
Können wir uns nun darauf verlassen, dass
diese moralische Haltung, die wir in der
Playbackpraxis üben können, die Themen
erfasst, die gerade politisch relevant sind?
Scheinen wir nicht manchmal im eigenen
Saft zu schmoren? Vermeiden wir bisweilen
Themen? Wir können nur spielen, was wir
oder unser Publikum erlebt haben. Also ist
es einerseits wichtig, für ein Publikum zu
spielen, dass gesellschaftlich eher überhörte
Geschichten zu erzählen hat, wie es an
vielen Stellen geschieht (Randgruppen,
Minderheiten).
Um bei heiklen Themen dies aber zu wagen,
ist die Kernfrage: Gelingt es uns wirklich,
die - auf vielfältige Weise mit politischen
Zusammenhängen
und
Positionen
verwobenen Geschichten unserer
Gruppenmitglieder selbst erzähl- und
spielbar zu machen? Playbackgruppen haben
manchmal ein großes Bedürfnis nach
Harmonie. Das Echo unserer eigenen Geschichten auch im moralisch-politischen
Feld hörbar zumachen setzt ein großes Vertrauen in die Auseinandersetzungsfähigkeit
der Gruppen voraus - und kann es gleichzeitig erst herstellen. Können sich bei uns alle
so zeigen, wie sie sind? Werden wir jeweils
gesehen in all unserer Unterschiedlichkeit?
Die in der emotional hergestellten Begegnung geforderte Verantwortungsbalance für
sich selbst und die anderen ist nicht zu
trennen von der Frage der Macht in den Beziehungen - nicht nur gegenüber dem Publikum, sondern auch in unseren Gruppen
selbst. Die Einzelne hat die Macht zu wählen
zwischen ihrer Auslieferung an den Anderen,
dem Einander-Ausweichen (Gleichgültigkeit) oder dem Tragen der Verantwortung für
den Anderen, ohne die Verantwortung des
Anderen zu übernehmen – womit wieder das
Thema der Ambivalenz aufleuchtet, die jedem moralischen Handeln innewohnt: „Die
Skylla der Gleichgültigkeit, der nicht übernommenen Verantwortung, und die Charybdis der gestohlenen Autonomie, der in
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Zwang ausartenden Verantwortung, scheinen
einander zu nahe zu sein, als dass man sicher
hindurchzusegeln vermöchte.“ (Bauman)
Unsicher bleibt unsere Schiffsreise mit dem
Playbacktheatersegel also allemal und muss
es sein, um politisch wirksam sein zu
können.
Über Zuschriften mit Euren Gedanken und
Erfahrungen zu diesem Thema freue ich
mich!
Jutta Heppekausen, Leiterin der Playbackbühne Freiburg
Holbeinstr. 10
D - 79100 Freiburg
[email protected]
Veröffentlichung:
The politics of Playback Theatre. Is Playback
Theatre a Political Event?/ Begegnung durch
Gefühle im Öffentlichen Raum – ein Politikum? Oder: Ist Playback per se politisch?
In: Interplay 2/2003, S.1-6
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