SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer Swiss Medical Forum 846 T. K. Sangma, S. Singer, T. B. Klima, D. N. Meli Schwere Hypomagnesiämie wegen Kurzdarmsyndrom ­ 842 L. Grossenbacher, L. Glutz von Blotzheim, A. N. Stucki, J. Schmidli Retrosternale Schmerzen und Dyspnoe 40 5. 10. 2016 836 O. Gautschi, C. Brand, D. Criblez, et al. Immunvermittelte Neben­ wirkungen von onkolo­ gischen Immuntherapien With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly” 832 M. Baumgartner Delir im Alter Offizielles Fortbildungsorgan der FMH Organe officiel de la FMH pour la formation continue Bollettino ufficiale per la formazione della FMH Organ da perfecziunament uffizial da la FMH www.medicalforum.ch INHALTSVERZEICHNIS 829 Redaktion Beratende Redaktoren Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Prof. Dr. Stefano Bassetti, Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Dr. Pierre Périat, Basel; Basel; Dr. Ana M. Cettuzzi-Grozaj, Basel (Managing editor); Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern; Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-de-Fonds; Prof. Dr. Gérard Waeber, Lausanne; PD Dr. Maria Monika Wertli, Bern Advisory Board Dr. Daniel Franzen, Zürich; Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds; Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne Und anderswo …? A. de Torrenté 831 Asthma: Fluticason oder Fluticason + Salmeterol? Übersichtsartikel M. Baumgartner Delir im Alter 832 Das Delir ist ein neuropsychiatrisches Syndrom, das akut auftritt, im Tagesverlauf fluktuiert, sich auszeichnet durch eine Aufmerksamkeits- und Kognitionsstörung und oft von Verhaltensstörungen begleitet wird. Obwohl das Delir häufig vorkommt und mit erhöhter Morbidität und Mortalität assoziiert ist, wird es oft nicht erkannt. Ein Delir ist ein medizinischer Notfall. Unmittelbare Ursachenklärung und kausale Behandlung haben höchste Priorität. O. Gautschi, C. Brand, D. Criblez, U. Odermatt, S. Fischli, B. Schwizer, S. Aebi Immunvermittelte Nebenwirkungen von onkologischen Immuntherapien 836 2011 wurde Ipilimumab als erster «immune checkpoint»-Inhibitor in der Schweiz zugelassen. 2015 kamen mit Pembrolizumab und Nivolumab neue Präparate auf den Markt. Dies führte zu einem weiteren Anstieg von onkologischen Immuntherapien an unserem Spital und gab Anlass zum vorliegenden Artikel. Onkologische Immuntherapien sind inzwischen so verbreitet, dass die Komplikationen und deren Behandlung in Grundzügen den praktizierenden Kolleginnen und Kollegen bekannt sein müssen. Fallberichte L. Grossenbacher, L. Glutz von Blotzheim, A. N. Stucki, J. Schmidli Retrosternale Schmerzen und Dyspnoe 842 Eine 84-jährige Patientin wurde vom Hausarzt zum Ausschluss von Lungenembolien zugewiesen. 4 Tage zuvor verspürte sie retrosternale Schmerzen mit Ausstrahlung in den Rücken und es bestand eine Belastungsdyspnoe. Historischer Roman aus der Innerschweiz Beat Hüppin ¡ TALWASSER Roman 2016. 302 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. CHF 32.– / EUR 32.– ISBN 978-3-7296-0909-9 Zytglogge Verlag Innerthal im Jahre 1917: Die damals grösste Gewichtsstaumauer der Welt entsteht, das Tal wird geflutet. Die Bauern müssen ihre Heimat verlassen. Beat Hüppin erzählt vor diesem historischen Hintergrund die fiktive Geschichte der Bauernfamilie Dobler. Er verfolgt deren Geschicke bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Ein vielschichtiges Bild einer Gesellschaft und einer Familie im Wandel entsteht, eine Geschichte über Heimat und Fremde und letztlich über Leben und Tod. Zytglogge Verlag | Steinentorstrasse 11 | CH-4010 Basel Tel. +41 (0)61 278 95 77 | Fax +41 55 418 89 19 | [email protected] INHALTSVERZEICHNIS 830 Fallberichte T. K. Sangma, S. Singer, T. B. Klima, D. N. Meli 846 Schwere Hypomagnesiämie wegen Kurzdarmsyndrom Hypomagnesiämie ist eine der häufigsten Elektrolytstörungen bei Kurzdarmsyndrom. Die Behandlung dieses Syndroms ist meistens sehr komplex ... Coup d’œil C. Rieben, L. G. Valente, E. Christ Wirkung oder Nebenwirkung? 849 Eine 63-jährige normalgewichtige Patientin wurde wegen eines Diabetes mellitus und einer schwierig einstellbaren arteriellen Hypertonie behandelt. Nebenbefundlich fiel ein schwerer Hirsutismus auf. Extended abstracts from SMW New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 850. Mit der Schweizerischen Ärztezeitung finden Sie rasch Ihre Wunsch­ * WA N T E D * stelle oder die Wunschbesetzung für Ihr Stellenangebot: Die zentrale Stellenplattform der Schweizerischen Ärztezeitung Ärztin oder Arzt zum baldigen Stellenantritt. veröffentlicht jede Woche die aktuellen Vakanzen in der Schweiz, gedruckt und online auf www.saez.ch. Kontakt: EMH Schweizerischer Ärzteverlag Herr Matteo Domeniconi, Koordination Stellenmarkt Farnsburgerstrasse 8, CH­4132 Muttenz Tel. 061 467 86 08, E­Mail [email protected], www.saez.ch Impressum - Manuskripteinreichung online: http://www.edmgr.com/smf Verlag: EMH Schweizerischer Ärzte­ verlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 55, Fax +41 (0)61 467 85 56, www.emh.ch © EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG (EMH), 2016. Das Swiss Medical Forum ist eine Open Access Publikation von EMH. Entsprechend gewährt EMH allen Nutzern auf der Basis der Creative Commons Lizenz «Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbei­ tungen 4.0 International» das zeitlich unbeschränkte Recht, das Werk zu ver­ vielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen unter den Bedin­ gungen, dass (1) der Name des Autors genannt wird, (2) das Werk nicht für kommerzielle Zwecke verwendet wird und (3) das Werk in keiner Weise bear­ beitet oder in anderer Weise verändert wird. Die kommerzielle Nutzung ist nur mit ausdrücklicher vorgängiger Erlaub­ nis von EMH und auf der Basis einer schriftlichen Vereinbarung zulässig. - Hinweis: Alle in dieser Zeitschrift publizierten Angaben wurden mit der grössten Sorgfalt überprüft. Die mit Verfassernamen gezeichneten Ver­ öffentlichungen geben in erster Linie die Auffassung der Autoren und nicht zwangsläufig die Meinung der SMF Redaktion wieder. Die angegebenen Dosierungen, Indikationen und Appli­ kationsformen, vor allem von Neuzu­ lassungen, sollten in jedem Fall mit den Fachinformationen der verwende­ ten Medikamente verglichen werden. - - - Abonnemente FMH-Mitglieder: FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, Elfenstrasse 18, 3000 Bern 15, Tel. +41 (0)31 359 11 11, Fax +41 (0)31 359 11 12, [email protected] Andere Abonnemente: EMH Schweize­ rischer Ärzteverlag AG, Abonnemente, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 75, Fax +41 (0)61 467 85 76, [email protected] Abonnementspreise: zusammen mit der Schweizerischen Ärzte zeitung 1 Jahr CHF 395.– / Studenten CHF 198.– zzgl. Porto; ohne Schweize­ rische Ärztezeitung 1 Jahr CHF 175.– / Studenten CHF 88.– zzgl. 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Fast 190 000 gesunde Krankenschwestern wurden 24 Jahre SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(40):831 ­ ­ ­ ­ Probleme Die Beobachtungsdauer war kurz und der Sicherheitsendpunkt trat lediglich 74 Mal ein. Die eingeschlossenen Probanden litten unter mittelschwerem bis schwerem Asthma. Pa tienten mit instabilem Asthma oder lebens gefährlichen Exazerbationen wurden jedoch ausgeschlossen. Die Compliance war hervorragend und entspricht somit wahrscheinlich nicht den Gegebenheiten in einer weniger selektierten Population. ­ ­ ­ ­ ­ Kommentar Diese Studie ist beruhigend, was die Anwendung langwirksamer β2-Sympathikomimetika in Kombination mit einem inhalativen Steroid betrifft. Sie ist jedoch nicht auf Patienten mit instabilem Asthma, welches zu lebensgefähr lichen Situationen führt, anwendbar. Die Anwendung langwirksamer β2-Sympathikomi metika hat eine relativ geringe, jedoch signi fikant erhöhte Wirksamkeit. Es ist jedoch zu beachten, dass die Resultate nicht für jüngere Patienten gelten. Derzeit wird eine Studie an Kindern ab 4 Jahren durchgeführt. Stempel DA, et al. N Engl J Med. 2016;374:1822–30. ­ rem BMI einen höheren Nutzen. Dennoch sollten die anderen Auswirkungen eines erhöhten BMI nicht vergessen werden: Gelenkschmerzen, geringere körperliche Aktivität und all gemeine Schmerzen (in der angelsächsischen Literatur schlicht als «body pain» bezeichnet …). Shoaib A, et al. JAMA. 2016;315(18):1989–96. ­ ­ ­ Olanzapin (Zyprexa®): Vorsicht! Kürzlich hat die FDA eine Warnung bezüglich Zyprexa® und anderer atypischer Neuroleptika ausgesprochen. Es wurden schwere Hautreak tionen in Form des DRESS-Syndroms (Drug Reaction with Eosinophilia and Systemic Symptoms) festgestellt. Das DRESS-Syndrom kann mit einem Exanthem beginnen, welches sich rasch über den gesamten Körper ausbreitet und mit Fieber, Lymphadenopathien, Leber-, Lungen-, Herz- sowie Bauchspeicheldrüsenbetei ligung einhergeht. Der Verlauf ist potentiell tödlich. Seit 1996 litten 23 Patienten an einem Zyprexa®-assoziierten DRESS-Syndrom. Das sofortige Absetzen des Medikaments bei Verdacht auf DRESS-Syndrom kann lebensrettend sein. U.S. Food & Drug Administration. Posted 5.10.16. ­ Sterblichkeit und BMI: höher = besser? In den letzten Jahren ist der in Bezug auf die Sterblichkeit «ideale» BMI gestiegen. Bei dänischen Erwachsenen wurden von 1976–78, 1991–94 und 2003–13 ca. 120 000 Messungen durchgeführt. In allen drei Kohorten waren die höchsten und niedrigsten BMI-Werte mit einer höheren Sterblichkeit assoziiert. Der BMI mit dem geringsten Sterberisiko war jedoch von 23,7 in der Kohorte von 1976–78 auf 27 (was in die Kategorie Übergewicht fällt) in der Kohorte 2003–13 angestiegen. Möglicherweise hat die verbesserte Behandlung kardiovaskulärer Risikofaktoren bei Patienten mit höhe- son allein eine asthmatische Exazerbation auf, was einer Verringerung des Exazerbationsrisikos um 21% entspricht (p <0,001). ­ ­ lang beobachtet. Eine KHK war definiert als Myokardinfarkt, kardiovaskulärer Tod, Angina pectoris mit anormaler Koronarangiographie, Anlage eines Bypass oder Stents. Je länger die Tätigkeit mit wechselnden Schichten (<5 oder >10 Jahre) andauerte, desto grösser war das (geringe) KHK-Risiko: Bei der längsten Arbeitsdauer betrug die HR 1,18. Die Patienten müssen jedoch auch nachts versorgt werden … Vetter C, et al. JAMA. 2016;315:1726–34. ­ ­ Rauchstopp: sofort oder nach und nach? Fast 700 Raucher wurden randomisiert und sollten entweder sofort aufhören oder ihre Tabakdosis in der 2. von vier Studienwochen um 75% reduzieren. Primärer Endpunkt war die vollständige Abstinenz (Bestimmung des CO-Gehalts in der Ausatemluft und des Cotiningehalts im Speichel) in Woche 4. Zu diesem Zeitpunkt waren 49% der Raucher mit sofor tigem gegenüber 40% mit schrittweisem Rauchstopp abstinent. Nach sechs Monaten betrugen diese Zahlen 22 bzw. 15,5%. Beide Gruppen hatten ein spezielles Coaching und Nikotinpflaster erhalten. Auch wenn die ersten Tage nach dem sofortigen Rauchstopp wirklich herausfordernd sein können, wird man am Ende mit den besten (wenn auch äusserst geringen …) Resultaten belohnt. Lindson-Hawley N, et al. Ann Intern Med. 2016; 164:585–92. Resultate Es wurden >11 000 Patienten eingeschlossen. Bezüglich des Sicherheitsendpunkts erlitten 67 Patienten während der Studie 74 schwere Asthmaepisoden, 34 in der Fluticason + Salmeterolgruppe und 33 in der Fluticasonmo notherapiegruppe, womit das Non-Inferioritätskriterium der Kombinationsbehandlung signifikant erfüllt wurde. Bezüglich der Wirksamkeit trat bei 8% der Patienten unter Kombinationsbehandlung und 10% unter Flutica- ­ Fragestellung Die Sicherheit von kurz- oder langwirksamen β2-Sympathikomimetika in der Asthmabehandlung ist nach wie vor ein umstrittenes Thema. So wurden kurzwirksame β2-Sympathiko mimetika sogar mit Todesfällen und beinahe tödlichen Asthmakrisen in Zusammenhang gebracht. Auch bezüglich langwirksamer β2Sympathikomimetika wurden in zwei Studien (SNS [Serevent Nationwide Surveillance] zu Salmeterol vs. Salbutamol und SMART [Salmeterol Multicentre Asthma Research Trial] zu Salmeterol) Sicherheitsbedenken geäussert. In der SMART-Studie traten unter Salmeterol bei mehr Patienten respiratorische Ereignisse und Asthma auf als unter Plazebo. Damals erhielten jedoch nur wenige Patienten gleichzeitig inhalative Steroide. Aufgrunddessen verlangte die FDA von den vier Herstellern langwirksamer β2-Sympathikomimetika, die folgende Frage zu klären: Führt die Anwendung von Salmeterol in Kombination mit einem inhalativen Steroid zu mehr asthmatischen Komplikationen als die Anwendung eines Steroids allein? Methode Die AUSTRI-Studie untersuchte Patienten >12 Jahre, die an persistierendem Asthma leiden. Dabei handelte es sich um eine randomisierte, doppelblinde Multicenterstudie. Alle Patienten hatten in dem Jahr vor Studieneinschluss mindestens eine schwere Asthma-Exazerbation erlitten. Sie wurden randomisiert und stratifiziert und erhielten entweder 26 Wochen lang 2 × tägl. eine fixe Kombination aus Fluticasonpropionat (100, 250 oder 500 µg) + 50 µg Salmeterol als Diskus oder dieselbe Fluticasondosis allein. Primärer Endpunkt war die 1. schwere Asthmaepisode, also eine Kombination aus Tod, Intubation und Spitaleinweisung. Primärer Wirksamkeitsendpunkt war die 1. asthmatische Exazerbation, die eine i.v.-Steroidgabe an mindestens drei Tagen erforderte. Asthma: Fluticason oder Fluticason + Salmeterol? 832 ÜBERSICHTSARTIKEL Die akute zerebrale Insuf fizienz Delir im Alter Dr. med. Markus Baumgartner Clienia Schlössli AG, Psychiatriezentrum Wetzikon, Zentrum für Alterspsychiatrie Das Delir ist ein neuropsychiatrisches Syndrom, das akut auftritt, im Tagesverlauf fluktuiert, sich auszeichnet durch eine Aufmerksamkeits- und Kognitionsstörung und oft von Verhaltensstörungen begleitet wird. Obwohl das Delir häufig vorkommt und mit erhöhter Morbidität und Mortalität assoziiert ist, wird es oft nicht erkannt. Ein Delir ist ein medizinischer Notfall. Unmittelbare Ursachenklärung und kausale Behandlung haben höchste Priorität. Einführung Delir ist ein aktuelles und zugleich sehr altes Thema. Aktuell, weil Delire im Alter sehr häufig auftreten [1, 2], oft nicht erkannt werden [3] und mit erhöhter Mortalität und Morbidität [4] sowie Verschlechterung einer vorbestehenden kognitiven Einschränkung [5] assoziiert sind. Altbekannt ist das Delir, da sich dessen Beschreibung (lateinisch: de lira ire = aus der Spur geraten) bis in die Antike zurückverfolgen lässt [6]. Im Verlauf der Zeit wurde die Liste der das Delir bezeichnenden Termini immer länger. Beispiele sind die «akute Verwirrtheit», der «akute exogene Reaktionstyp nach Bonhoeffer», die «akute organische Psychose» und das «Durchgangssyndrom». Erst mit der Einführung der heute gebräuchlichen internationalen Klassifikationssysteme ICD-10 (International Classification of Diseases) der World Health Organization (WHO) [7] und DSM-IV (Diagnostic Manual of Mental Disorders) der American Psychiatric Association ­ (APA) [8] wurde die Begriffsvielfalt durch den einheit lichen Begriff «Delir» abgelöst. DSM-IV wurde 2013 durch DSM-5 [9] ersetzt. talisation sind frisch operierte über 65-Jährige und Intensivpflegepatienten mit Raten bis 50% bzw. bis über Epidemiologie 80% [11, 12]. Remission eintritt, weist etwa ein Drittel aller Patien- 65. Lebensjahres auf und nehmen mit dem Alter zu. ten persistierende kognitive Defizite zum Beispiel im Während die Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung Bereich der Exekutivfunktionen auf, insbesondere bei 1–2% beträgt, ist bei den über 85-Jährigen jeder Sechste vorbestehender kognitiver Beeinträchtigung [5]. Weitere betroffen [1]. Die höchste Prävalenz weisen akut hos häufige Konsequenzen sind die deutlich erhöhte kurz­ und mittelfristige Mortalitätsrate [4], Komplikationen tient zeigt ein Delir [10], bei den über 65-Jährigen sind wie beispielsweise Pneumonie, Stürze oder Verschlech- es bis 30% der Fälle [2]. Populationen mit besonders terung der Alltagsfunktionen sowie die höhere Heim- hohen Inzidenzraten während akutsomatischer Hospi- einweisungsrate [2, 10]. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM ­ Markus Baumgartner ­ pitalisierte Patienten auf. Mindestens jeder fünfte Pa ­ Obwohl bei der Mehrzahl der Delire eine vollständige Krankheitsbildern, treten hauptsächlich jenseits des ­ Delire gehören zu den häufigsten psychiatrischen 2016;16(40):832–835 833 ÜBERSICHTSARTIKEL Klinik Im Unterschied zu DSM-5 verlangt ICD-10 für eine endgültige Diagnose das zusätzliche Vorhandensein einer Wach-Rhythmus und einer affektiven Störung. Die Klas- 1. Aufmerksamkeitsstörung; sifikation nach ICD-10 ist somit strenger, gegenüber 2. kognitive Störung; DSM-5 werden weniger Patienten mit Delir diagnos 3. akuter Beginn und fluktuierender Verlauf. tiziert [18]. In der Literatur werden die DSM-Kriterien ­ psychomotorischen Störung, einer Störung des Schlaf- DSM-5 [9] als auch ICD-10 [7], sind: Obligate Hauptsymptome des Delirs, sowohl gemäss als Standarddiagnosekriterien verwendet. Mit Aufmerksamkeitsstörung ist eine eingeschränkte Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu fokussieren, aufrechtzuerhalten oder zu verlagern gemeint. Die Patienten Pathophysiologie folgen. Die Aufmerksamkeitsstörung stellt das Leit- ständig verstanden. Drei Hypothesen stehen derzeit im symptom des Delirs dar. Vordergrund, die direkt induzierte neuronale Dysfunk- Die Veränderungen kognitiver und perzeptiver Funk tion (z.B. durch Hypoxämie oder Hyponatriämie), die tionen umfassen insbesondere Kurzzeitgedächtnis Inflammationshypothese (Neuroinflammation bedingt ­ ­ ­ Die Pathophysiologie des Delirs wird bisher nur unvoll- ­ sind ablenkbar und haben Mühe, einem Gespräch zu störung, Desorientiertheit (v.a. zeitlich) und Wahrneh- durch systemische Inflammation als Folge von Infekt, mungsstörungen wie illusionäre Verkennungen und Trauma oder Operation) und die Stresshypothese (Reak- Halluzinationen (v.a. optischer Art). tion auf akuten körperlichen oder psychischen Stress). Das Delir entwickelt sich in der Regel innerhalb von Dabei wird eine gemeinsame Endstrecke mit Neuro- Stunden bis Tagen und zeigt üblicherweise einen Wech- transmitterdysbalance postuliert, insbesondere einem sel der Symptome im Tagesverlauf. Oft kommt es zu ei- Acetylcholinmangel und Dopaminüberschuss [4]. ner Zustandsbildverschlechterung abends und nachts. Das Delir stellt keine eigenständige Krankheitsentität, sondern einen je nach Akuität unterschiedlich ausgeprägten Symptomenkomplex dar. Risikofaktoren und Ätiologie Im Hinblick auf die Delirmanifestation wird zwischen prädisponierenden und delirauslösenden Faktoren unterschieden. Höheres Lebensalter (>65 Jahre) und das Vorliegen einer kognitiven Beeinträchtigung stellen die beiden Hauptrisikofaktoren dar. Weitere häufige gen auf [13]. Ebenfalls sehr häufig sind psychomoto Risikofaktoren sind Status nach Delir, hohe somatische ­ Die Mehrzahl der Patienten weist Schlaf-Wach-Störun- Krankheitslast, sensorische Beeinträchtigung, Alkohol sich denn auch die Einteilung der Delire nach psycho- abusus und Depression [19]. Typische delirauslösende motorischen Subtypen etabliert, wobei zwischen dem Faktoren wie zum Beispiel Infekte oder delirogene hyperaktiven Delir, dem hypoaktiven Delir und Medikamente sind in Tabelle 1 enthalten. Das Delir im Mischformen unterschieden wird [14]. Bei der hyper- Alter ist in der Regel multifaktoriell bedingt und beruht aktiven Form stehen Ruhelosigkeit, gesteigerte Moto- auf der Interaktion prädisponierender und delirauslö- rik mit Umherwandern, ungeduldiges und teils ag- sender Faktoren [4]. ­ ­ rische Auffälligkeiten. In der klinischen Praxis hat häufige hypoaktive Form ist geprägt durch Verlang ­ gressives Verhalten im Vordergrund. Die im Alter Diagnostik ­ ­ samung und reduzierte Aktivität mit ruhigem, teilDelir mit hypoaktiven Merk malen wird oftmals über- sche. Hohe Bedeutung hat die Fremdanamnese mit sehen oder als Depression verkannt [15]. Bei der insge- Angehörigen, die wichtige Hinweise geben können samt häufigsten gemischten Form wechseln sich hy- zum Beginn (innerhalb von Stunden oder Tagen) und per- und hypoaktive Symptome ab [16]. Verlauf (Symptomwechsel im Tagesverlauf). Das Delir stellt keine eigenständige Krankheitsentität, Kognitive Tests sondern einen je nach Akuität unterschiedlich ausge- Mittels einfacher kognitiver Tests lassen sich Störungen prägten Symptomenkomplex dar. So kann ein Delir bei der Aufmerksamkeit, der Orientierung und des Gedächt- älteren Patienten oft das erste und einzige Zeichen einer nisses objektivieren. schweren Krankheit wie zum Beispiel einer Pneumo- Zur Prüfung der Aufmerksamkeit hat sich der «Months nie, Sepsis oder eines Myokardinfarktes sein [17]. Backwards Test» (Rückwärtsaufsagen der Monate) [20] SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM ­ Die Diagnose eines Delirs ist grundsätzlich eine klini- ­ nahmslosem bis apathischem Erscheinungsbild. Ein 2016;16(40):832–835 834 obligater Bestandteil der Ursachenklärung. Je nach ­ ÜBERSICHTSARTIKEL Tabelle 1: Delirauslösende Faktoren (adaptiert nach [11]). Verdacht erfolgen weitere Untersuchungen wie zum Systemische Erkrankungen Beispiel ein Thoraxröntgen, eine zerebrale Bildgebung, Infektion (z.B. Harnwegsinfekt, Pneumonie) eine Elektroenzephalografie (EEG) oder eine Lumbal- Metabolische Störungen (z.B. Hyponatriämie, Hypoglykämie) punktion. Dehydratation Hypoxämie (z.B. Herzinsuffizienz, respiratorische Insuffizienz) Differenzialdiagnostik Weitere: z.B. Anämie, Schmerzen, Obstipation, Blasenkatheter Erkrankungen des Zentralnervensystems Im Vordergrund der differenzialdiagnostischen Über- Zerebrovaskulärer Insult legungen steht die Abgrenzung zur Demenz. Dabei gilt Intrakranielle Blutung es zu beachten, dass mehr als die Hälfte aller Delire bei Meningitis, Enzephalitis Patienten mit einer Demenz auftreten [3]. Im Quer- Epileptischer Anfall schnitt kann eine Unterscheidung von Delir und De- Operationen Delirogene Medikamente menz sehr schwierig sind. Deshalb soll im Zweifelsfall Anticholinerge Medikamente (z.B. Trizyklische Antidepressiva, Scopolamin) wegen der akuten Behandlungsbedürftigkeit von einem Delir ausgegangen werden. Ein wichtiges Unter- Benzodiazepine scheidungsmerkmal ist die zeitliche Entwicklung: Wäh- Dopaminerge Medikamente (z.B. Dopaminagonisten, L-DOPA) rend das Delir akut auftritt, entwickelt sich eine Demenz in aller Regel langsam progredient. Bei der De- Opioidanalgetika menz vom Alzheimertyp, die mehr als die Hälfte aller Alkohol-/Benzodiazepinentzug Demenzen ausmacht, ist die Aufmerksamkeit lange Zeit wenig eingeschränkt, in der Regel besteht keine Fluktuation und symptomfreie Intervalle sind nicht zu Tests sind das Rückwärtsaufsagen der Wochentage erwarten. Grosse Ähnlichkeit zum Delir zeigt jedoch (kein Fehler erlaubt) beziehungsweise das Rückwärts- die Lewy-Body-Demenz, die sich gerade durch eine zählen von 20 bis 1 (kein Fehler erlaubt). Aufmerksamkeitsstörung und kognitive Fluktuatio- Neben der Exploration der zeitlichen, örtlichen, situa- nen, nicht selten gepaart mit optischen Halluzinatio- tiven und autopsychischen Orientierung gilt es, das nen, auszeichnet [22]. Ähnliches gilt für die akut poly- Kurzzeitgedächtnis (Merkfähigkeit und Arbeitsgedächt- morph psychotische Störung, die aber vor allem im nis) zu testen. Die Merkfähigkeit kann mit dem 3-Wort- jüngeren Lebensalter auftritt. Beim hypoaktiven Delir Test (normale Leistung = unmittelbarer Abruf der zu- gilt es, die Depression abzugrenzen, die ihrerseits oft vor genannten drei Begriffe), das Arbeitsgedächtnis mit kognitiven Störungen einhergeht. ­ ­ bewährt. Dabei wird ein Fehler toleriert. Alternative mit dem «Digit Span Backwards Test» (normale Leistung = korrekte Wiedergabe von mindestens drei ZahOb das Denken geordnet, logisch und zusammen Korrespondenz: ­ len in umgekehrter Reihenfolge) überprüft werden. Prävention und Therapie Die Prävention stellt die wichtigste Intervention dar. hängend ist, erschliesst sich aus dem Gespräch. Ferner Diese fokussiert auf die Gruppe der Risikopatienten soll darauf geachtet werden, ob sich Hinweise für das [21]. Gute Evidenz liegt für den Einsatz von nicht phar- Vorliegen von optischen Halluzinationen ergeben. makologischen Multikomponenteninterventionen vor [23, 24]. Diese umfassen: Dr. med. Markus Baumgart- Ursachenklärung ner, MAS MHC Ist die Diagnose gestellt, müssen die Ursachen gesucht loguhr, Kalender, Fotos vertrauter Personen, per- und Psychotherapie werden [21]. Bei der Erhebung der Anamnese soll ins sönliche Gegenstände, Nachtlicht, Lagerung mit er- Schwerpunkt Konsiliar- besondere nach dem Vorliegen einer bereits bekann- und Liaisonpsychiatrie Schwerpunkt ­ Facharzt für Psychiatrie – die Etablierung von Orientierungshilfen (z.B. Ana- höhtem Oberkörper zur besseren Orientierung im ten kognitiven Störung oder Demenz respektive Raum); – die Verbesserung von Wahrnehmung und Kommu- und -psychotherapie ellen Medikation sowie einer Seh- und Hörbeeinträch- nikation durch Versorgung mit Brille und Hörgerät; Mitglied der FMH bekannten körperlichen Grunderkrankung, der aktu­ Alterspsychiatrie tigung gefragt werden. Eine körperlich-neurologische – den Einbezug von Angehörigen; Psychiatriezentrum Untersuchung (z.B. Frage nach fokal-neurologischem – die ausreichende Flüssigkeitszufuhr; Bahnhofstrasse 196 Defizit, Lungenbefund, Zeichen der kardialen Dekom- – die suffiziente Behandlung von Schmerzen; CH-8620 Wetzikon pensation), eine Laboranalyse (CRP, Hämatogramm, – die nicht pharmakologische Schlafförderung (z.B. clienia.ch www.clienia.ch Transaminasen, Kreatinin, Elektrolyte, Glukose, TSH) inklusive Urin-Status und eine EKG-Ableitung sind SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(40):832–835 ruhige Umgebung, Entspannungsmusik); – die Förderung der Mobilität [23, 25, 26]. markus.baumgartner[at] Wetzikon Clienia Schlössli AG Gemäss einer aktuellen Metaanalyse, die 11 Interven Tabelle 2: Pharmakotherapie (adaptiert nach [4, 11]). Wirkstoff Dosierung tionsstudien im Spitalsetting einschloss, lässt sich damit das Risiko für ein Delir halbieren [24]. Besonderheiten Liegt bereits ein Delir vor, hat die kausale Behandlung Typische Antipsychotika Haloperidol oberste Priorität (z.B. Antibiose bei Pneumonie, Sistie- 0,5–1 mg p.o., 2× tgl. UAW: Extrapyramidale Symptome, insbesondere bei Dosis >3 mg tgl., oder alle 4 h QTc-Zeit-Verlängerung ren delirogener Medikamente). Eine akutmedizinische Hospitalisation muss geprüft werden. Analog zur Prä- Atypische Antipsychotika Risperidon 0,5 mg p.o., 2× tgl. Olanzapin 2,5–5 mg p.o., 1× tgl. UAW: Extrapyramidale Symptome, QTc-Zeit-Verlängerung Quetiapin 25 mg p.o., 2× tgl. vention kommen die nicht pharmakologischen Inter- UAW: Extrapyramidale Symptome, QTc-Zeit-Verlängerung ventionen im Sinne der symptomatischen Behandlung zur Anwendung. Die Wirksamkeit von Pharmaka in der Delirbehand- UAW: QTc-Zeit-Verlängerung lung wurde in der Vergangenheit überschätzt. Die Evi- Mittel der 1. Wahl bei Morbus Parkinson bzw. Lewy-Body-Demenz denz für die symptomatische Gabe von Antipsychotika ist bis dato nicht robust genug, um diese generell emp- Benzodiazepine Lorazepam ­ 835 ÜBERSICHTSARTIKEL 0,5–1mg p.o., bei Bedarf alle 4 h fehlen zu können [27–29]. Eine Indikation für den Ein- Mittel der 2. Wahl, ausser bei Entzugsdelir satz von Antipsychotika liegt jedoch vor, wenn die Wir- cave: delirogene Wirkung, Übersedierung ­ kung der kausalen und nicht pharmakologischen Massnahmen unzureichend ist, delirassoziierte Ver- Abkürzung: UAW = unerwünschte Arzneimittelwirkung. haltensstörungen wie Agitation, psychotische Symp­ tome, Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegen oder die somatische Behandlung behindert wird (z.B. Ziehen Das Wichtigste für die Praxis von Kathetern, Selbstextubation) [19, 27]. Dabei handelt • Das Delir ist eine akut auftretende Aufmerksamkeits- und Kognitions trolle (cave: QTc-Zeit-Verlängerung) und in der Regel nur ­ ­ es sich um einen «off-label use», der unter EKG-Kon störung, die oft mit Verhaltensstörungen einhergeht und im Tagesverlauf während weniger Tage und in niedriger Dosierung (z.B. fluktuiert. Haloperidol 3 × 0,5 mg täglich) erfolgen soll (Tab. 2) [11, 30]. Auf die Gabe von Benzodiazepinen soll nach Mög- • Das Delir ist mit erhöhter Morbidität und Mortalität assoziiert. lichkeit verzichtet werden, da diese selber delirogen • Etwa ein Drittel aller Patienten weist nach Abklingen des Delirs persis- wirken können. Beim Alkoholentzugsdelir sind Benzo- • Die Aufmerksamkeitsstörung stellt das Leitsymptom des Delirs dar. diazepine jedoch weiterhin Mittel der ersten Wahl. tierende kognitive Defizite auf. • Hauptrisikofaktoren sind ein Alter von ≥65 Jahren und das Vorliegen einer Demenz. Disclosure statement • Ein Delir ist ein medizinischer Notfall. Unmittelbare Ursachenklärung und kausale Behandlung haben höchste Priorität. • Prävention, kausale Therapie und nicht pharmakologische Strategien Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. (z.B. Etablierung von Orientierungshilfen wie Analoguhr oder Nachtlicht) stellen die effektivsten Interventionen dar. Schmuckbild auf S. 832: © Cathy Laska | Dreamstime.com • Die symptomatische Pharmakotherapie mittels Antipsychotika ist indi- Bildnachweis ziert bei Agitation, psychotischer Symptomatik sowie bei Selbst- oder SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Fremdgefährdung. 2016;16(40):832–835 Literatur Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch. LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix Literatur 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 SWISS MEDI CAL FO RUM Andrew MK, Freter SH, Rockwood K. 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Stefan Aebi a Departement Medizin, Luzerner Kantonsspital, Luzern a Medizinische Onkologie, b Dermatologie, c Gastroenterologie/Hepatologie, d Nephrologie, e Endokrinologie, f Pneumologie 2011 wurde Ipilimumab als erster «immune checkpoint»-Inhibitor in der Schweiz zugelassen. 2015 kamen mit Pembrolizumab und Nivolumab neue Präparate auf den Markt. Dies führte zu einem weiteren Anstieg von onkologischen Immuntherapien an unserem Spital und gab Anlass zum vorliegenden Artikel. Onkologische Immuntherapien sind inzwischen so verbreitet, dass die Komplikationen und deren Behandlung in Grundzügen den praktizierenden Kolleginnen und Kollegen bekannt sein müssen. Einführung Den Onkologen stehen seit Jahren monoklonale Antikörper zur immunologischen Therapie von Patienten mit malignen Lymphomen, Mammakarzinomen und anderen Tumorleiden zu Verfügung. In den letzten fünf Jahren haben sich die immunologischen Behandlungsmöglichkeiten bei gewissen Neoplasien stark erweitert mit einer wachsenden Zahl von «immune checkpoint»Inhibitoren, die für die palliative Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem Melanom, Nierenzellkarzinom oder Lungenkarzinom zugelassen sind (Tab. 1). Weitere Indikationen und Präparate (z.B. Durvalumab, Avelumab, Tremelimumab und Atezolizumab) werden in klinischen Studien untersucht. Ihre Wirkungsweise beruht auf einer Hemmung der Signaltransduktionswege CTLA4 («cytotoxic T-lymphocyte-associated proDie «immune checkpoint»-Inhibitoren stellen Onko ­ tein 4») oder PD1 («programmed cell death protein 1») [1]. logen vor neue Herausforderungen: Immunvermittelte Nebenwirkungen («immune-related adverse effects», irAE), wie sie aus der Transplantationsmedizin bekannt sind, treten nun auch in der Onkologie auf, und präventive Strategien sind nötig. Publizierte Empfehlungen beschränkten sich noch auf einzelne Präparate [1– Basierend auf eigenen Erfahrungen fassen wir unsere 4], das Management der irAE unterscheidet sich jedoch Empfehlungen zur Erkennung und Behandlung von kaum zwischen den Substanzen. Weil onkologische Pa- ausgewählten irAE im Folgenden zusammen (siehe tienten häufig von verschiedenen Ärzten betreut wer- auch Tab. 2 + 3). Weitere Informationen finden sich in den, ist eine breite Information wichtig. den referenzierten Artikeln [1–4]. Detaillierte Angaben SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Oliver Gautschi Nebenwirkungen und Management 2016;16(40):836–841 übersichtsartikel 837 zu Kontraindikationen und Nebenwirkungen finden Tabelle 1: «immune-checkpoint»-Inhibitoren mit Swissmedic-Zulassung. sich in den Fachinformationen von Yervoy®, Keytruda®, Ziel Antikörper (Handelsname) Dosierung Zulassungsstatus (per 1.9.2016) CTLA4 Ipiliumumab (Yervoy ®) 3 mg/kg i.v. alle 3 Wochen ×4 Fortgeschrittenes (nicht resezierbares oder metastasiertes) Melanom (alleine oder in Kombination mit Nivolumab). PD1 Pembrolizumab (Keytruda ®) 2 mg/kg i.v. alle 3 Wochen Nicht resezierbares oder metastasiertes Melanom. Nivolumab (Opdivo ®) 3 mg/kg i.v. alle 2 Wochen Lokal fortgeschrittenes oder metastasiertes nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom nach vorangegangener Chemotherapie. innert weniger Tage und in der Form eines stamm Fortgeschrittenes Nierenzellkarzinom nach vorangegangener antiangiogener Therapie. auf (Abb. 1); atypische Hautveränderungen sind in ch). Dermatitis betonten, makulo-papulösen Exanthems mit Pruritus dessen bekannt. Die Hautreaktion (Dermatitis oder 3 mg/kg alle 2 Wochen Fortgeschrittenes Melanom (alleine (1 mg/kg alle 3 Wochen oder in Kombination mit Ipilimumab). in Kombination mit Ipilimumab) Vitiligo) kann prädiktiv für ein Tumoransprechen sein. ­ Nivolumab (NivolumabBMS®) ­ Hautveränderungen sind sehr häufig und treten meist ­ ­ ­ ­ Opdivo® und Nivolumab-BMS® (www.swissmedicinfo. Differentialdiagnosen sind Infekte, Reaktionen auf sonstige Medikamente oder paraneoplastische Phäno- Abkürzungen: CTLA4 = cytotoxic T-lymphocyte-associated protein 4; PD1 = programmed cell death protein 1. mene. Die üblichen Lokaltherapien wie topische Stero- Tabelle 2: Ausgewählte Nebenwirkungen und Management. Leichtgradig Mittelgradig Schwergradig Subjektive Wahrnehmungen wie innere Unruhe: Hautreaktion, Blutdruckabfall: Quincke Oedem, Dyspnoe, Schock: Infusion pausieren, dann in reduzierter Geschwindigkeit wiederauf nehmen. Infusion stoppen, Trendelenburg-Lage, Gabe von Volumen, Kortikosteroide und Histaminantagonisten intravenös. Infusion stoppen, Reanimationsteam alarmieren und Sofortmassnahmen treffen. <10% der Körperoberfläche, mit oder ohne Juckreiz oder Haut empfindlichkeit: 10–30% der Körperoberfläche, mit oder ohne Juckreiz; Hautempfindlichkeit; mit psychosozialer Beeinträchtigung; mit Beeinträchtigung bei praktischen Tätigkeiten: >30% der Körperoberfläche mit oder ohne Symptomatik, Einschränkung der alltäglichen Selbstständigkeit. Jegliche prozentuale Beteiligung der Körperoberfläche; mit oder ohne Juckreiz und Hautempfindlichkeit; mit ausgeprägter Superinfektion und der Indikation zu einer i.v. Antibiose. Bildung von Exfoliationen oder Blasen; lebensbedrohliche Konsequenzen: Lokale Hautpflege, ev. topische Steroide, bei Juckreiz Antihistaminika. Lokale Hautpflege, topische Steroide, bei Juckreiz Antihistaminika. Lokale Hautpflege, topische Steroide, bei Juckreiz Anthistaminika. Bei Infekt Antibiose. Bei Blasenbildung Beginn einer Verbrennungstherapie und bei Verdacht auf TEN rasche IVIG-Gabe. Infiltrat im Thorax-HRCT, sonst praktisch asymptomatisch, ev. Anstrengungsdyspnoe, Lungenfunktion normal, Sauerstoffsättigung normal: Infiltrat im Thorax-HRCT, Anstrengungs dyspnoe, Husten, leichte Restriktion und leichte/mittelschwere CO-Diffusionsver änderung, ABGA in Ruhe normal: Infiltrat im Thorax-HRCT, Ruhedyspnoe, Husten, Fieber, mittelschwere Restriktion und schwere CO-Diffusionsveränderung, ABGA in Ruhe mit arterieller Hypoxämie, Sauerstoffbedürftigkeit: Beobachtung klinisch. Ev. Bronchoskopie, Kortikosteroide p.o., Verlaufskontrollen mit Lungenfunktion. Hospitalisation, Bronchoskopie mit BAL (Zytologie und Erregerdiagnostik), hochdosiert Kortikosteroide i.v., Sauerstoff, ev. Intensivmedizin. Ev. High-Flow-O2, ev. NIV. Leichte Erhöhung der Stuhlfrequenz (bis 5×/24 Stunden): Markante Erhöhung der Stuhlfrequenz (≥6/24 Stunden), Abdominalschmerzen, leichte AZ-Beeinträchtigung: Schwere Kolitis mit markanter AZ-Beeinträchtigung, ohne rasches Ansprechen auf Steroide: Kurz fristiger Einsatz von Motilitäts hemmern unter engmaschiger klinischer Beobachtung. Kolos kopie erwägen; falls Kolitis (ohne Infektnachweis), systemische Kortikosteroidtherapie. Infliximab. Transaminasenerhöhung auf das 2-bis 3-Fache der oberen Norm: Transaminasenerhöhung auf das 3- bis 8-Fache der oberen Norm: Ikterus, Transaminasenerhöhung über das 8-Fache der oberen Norm: Engmaschige Beobachtung. Leberbiopsie erwägen; KortikosteroidTherapie. Falls kein Ansprechen: zusätzlich Mycophenolat Mofetil. ­ ­ ­ ­ ­ ­ ­ ­ ­ ­ ­ ­ Leberbiopsie erwägen; Kortikosteroidtherapie. Falls kein Ansprechen: zusätzlich Mycophenolat Mofetil. ­ Hepatitis ­ ­ Kolitis ­ ­ ­ Pneumonitis ­ ­ ­ Dermatitis ­ ­ ­ ­ ­ ­ Nebenwirkung Sofortreaktion Oft asymptomatisch. Breites Spektrum: interstitielle Nephritis, Minimal Change Glomerulonephritis, membranöse Glomerulonephritis, akute Tubulusnekrose. ­ Nephritis Überwachung: Kreatinin oder Cystatin C. Urinsediment, Protein-Kreatinin-Quotient im Urin. Schwerergradig: Kreatininanstieg >1,5-fach über Baseline, glomeruläre Erythrozyturie oder Protein-Kreatinin-Quotient >100 mg/mmol: Verlaufskontrolle 1×/Woche. Infusion darf nicht verabreicht werden. Nephrologische Beurteilung. Nierenbiopsie anstreben. ­ ­ Leichtergradig: Kreatininanstieg <1,5-fach über Baseline, keine glomeruläre Erythrozyturie und Protein-Kreatinin-Quotient <100 mg/mmol: SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Abkürzungen: TEN = toxisch epidermale Nekrolyse; IVIG = Intravenöse Immunglobuline; HRCT = High-Resolution-Computertomographie; ABGA = arterielle Blutgasanalyse; BAL = bronchoalveoläre Lavage; NIV = nichtinvasive Beatmung (non-invasive ventilation); AZ = Allgemeinzustand. 2016;16(40):836–841 übersichtsartikel 838 Tabelle 3: Endokrinologische Nebenwirkungen. ­ Kontrolle TSH und fT4 vor jedem Behandlungs zyklus (wichtig: eine sekundäre / zentrale Hypothyreose kann durch alleinige Bestimmung des TSH-Wertes verpasst werden) ­ Hypophysitis ­ ­ Bei klinischem (z. B. Kopfschmerzen, Fatigue, Schwindel, Übelkeit) oder laborchemischem (z. B. Hyponatriämie, Hypothyreose) Verdacht auf eine Hypophysitis zusätzlich: – Cortisol basal und stimuliert (ACTH- Stimulationstest) – LH/FSH und Östradiol/Testosteron gesamt – Prolaktin – IGF-1 (Marker für Wachstumshormonsekretion) – Natrium / Osmolalität im Serum – MRT Schädel mit Sellaprotokoll ­ Behandlung: Glukokortikoide (Hydrocortison initial 30–50 mg/Tag; ggf. hochdosierte Glukokortikoide 1 mg Prednison /kg KG/Tag); Levothyroxin; ggf. Sexualsteroidsubstitution (Östrogen- / Testosteronersatztherapie) ­ ­ Abbildung 1: Dermatitis mit makulo-papulösem Exanthem am Oberarm unter Nivolumab. ­ Kontrolle TSH und fT4 vor jedem Behandlungs zyklus; nach abgeschlossener Behandlung alle 2–3 Monate oder jederzeit bei Hypo- oder Hyperthyreosesymptomen ­ Thyreoiditis Bei klinischem (z. B. orthostatischer Schwindel / Hypotonie, Fatigue, Abdominalbeschwerden, Fieber unklarer Ursache) oder laborchemischem (Hyponatriämie, Hyperkaliämie, metabolische Azidose) Verdacht auf eine primäre Nebennierenrindeninsuffizienz zusätzlich: – Cortisol basal und stimuliert (ACTH-Stimulationstest) – Renin/ACTH – CT/MRT der Nebennieren ­ Adre nalitis ­ ­ Behandlung: Betablocker bei Hyperthyreose (keine Thyreostatika); Levothyroxin bei Hypothyreose ­ ­ Behandlung: Hydrocortison (20–30 mg/Tag); Fludrocortison (0,05–0,1 mg/Tag) Hautveränderungen ist eine dermatologische Beur ­ ide sind wirksam. Bei grossflächigen oder exfoliativen teilung indiziert. Oft braucht es eine Biopsie. Bei medi- Abbildung 2: Pneumonitis unter Nivolumab mit bilateralen Infiltraten in der Thorax-Computertomographie. kamentös ausgelöstem Stevens-Johnson-Syndrom oder ­ toxischer epidermaler Nekrolyse (TEN respektive LyellRadiologisch imponieren unspezifische Infiltrate Gefahr der Sepsis mit Entwicklung eines Schocks mit (Abb. 2). Die Abgrenzung zur Lymphangiosis carcino- Multiorganversagen. In solchen Situationen sollte matosa kann schwierig sein. Zudem kommt differenti- nebst anderen supportiven Massnahmen eine Therapie aldiagnostisch immer auch ein Infekt in Frage. Grund- mit intravenösem Immunglobulin erwogen werden. sätzlich ist immer eine pneumologische Beurteilung Bei schwereren und persistierenden Nebenwirkungen sinnvoll. Falls eine Bronchoskopie indiziert ist, wird muss nach Abwägung des Wirkungs- und Nebenwir- idealerweise erst im Anschluss daran eine Therapie kungsprofils eine Therapieumstellung erfolgen. mit hochdosierten Kortikosteroiden und Breitspektrum antibiotika eingeleitet. Dauer und Dosis der Kortiko ­ ­ Syndrom) besteht eine hohe Mortalität. Es droht die Pneumonitis steroidtherapie richten sich nach dem lungenfunktio- Neue Beschwerden wie Husten, Dyspnoe, Fieber und nellen Verlauf, weniger nach der Bildgebung. Meistens Thoraxschmerzen sollten klinisch und bildgebend ab- ist eine Therapie über mehrere Wochen in absteigender geklärt werden, wobei wir die hochauflösende Thorax- Dosierung notwendig. Der Einsatz von anderen Immun- CT (mit Schichtdicke <1 mm) empfehlen. Falls der Aus- suppressiva ist selten erforderlich. löser nicht die Tumorerkrankung selbst ist, sollten eine irAE im Kolon sind vor allem unter Therapie mit Ipili- durchgeführt werden (diese dient dann auch als Ver- mumab häufig. Sie treten in der Regel einige Tage bis laufsuntersuchung im Falle einer Pneumonitis). wenige Wochen nach Therapiebeginn auf. Das Spek SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(40):836–841 ­ Kolitis funktionsprüfung inklusive CO-Diffusionskapazität ­ arterielle Blutgasanalyse (ABGA) sowie eine Lungen- trum reicht von einer milden Diarrhoe (gegen 45% der Hepatitis irAE im Kolon) bis zur schweren Kolitis, die schlimms- Mit hepatischen irAE ist bei ca. 5–10% der Patienten zu tenfalls in einer Perforation münden kann (0,5%), die rechnen. Das Spektrum reicht von der leichtgradigen operativ zu behandeln ist. asymptomatischen Transaminasenerhöhung bis zur Patienten unter Immuntherapie sollten vor jeder Infu- eigentlichen immunvermittelten Hepatitis. Grundsätz- sion bezüglich Stuhlgang befragt werden. Eine leichte lich empfiehlt sich unter onkologischer Immuntherapie Stuhlfrequenzerhöhung darf anfänglich symptoma- eine Monitorisierung der Transaminasen alle zwei bis tisch behandelt werden. Persistiert sie oder entwickelt drei Wochen. Erhöhte Werte können bis zum Zwei- bis ­ übersichtsartikel 839 sie sich weiter zur schwereren Diarrhoe, empfiehlt sich eine koloskopische Abklärung, wobei vor diesem Hintergrund ein erhöhtes Perforationsrisiko zu beachten ist. Bisweilen genügt eine partielle Ko- Grundsätzlich empfiehlt sich unter onkologischer Immuntherapie eine Monitorisierung der Transaminasen alle zwei bis drei Wochen. loskopie, da die maximale Ausprägung der BeDreifachen der oberen Norm unter fortgesetzter eng- Im Falle einer nachgewiesenen Kolitis und nach Aus- maschiger Kontrolle auch der Cholestase- und Synthe- schluss einer infektiösen Ätiologie ist eine frühzeitige, separameter toleriert werden. Differentialdiagnostische systemische Kortikosteroidtherapie analog zum Vor- Erwägungen sind stets angebracht. Es ist darauf zu ach- gehen bei einer chronisch-entzündlichen Darmkrank- ten, dass weitere lebertoxische Medikamente wie das heit indiziert. Motilitätshemmer und Opiatanalgetika viel verwendete Paracetamol gestoppt werden. Zusätz- sind in diesem Stadium kontraindiziert, weil sie das lich zu den Hepatopathien, die üblicherweise beim Ab- Fortschreiten der Kolitis maskieren und im schlimms- klärungsgang berücksichtigt werden, ist im gegebenen ten Fall die Progression zum toxischen Megakolon mit Kontext auch an Lebermetastasen zu denken. Sind Darmperforation begünstigen. Die onkologische Im- andere Ursachen ausgeschlossen und steigen die Trans muntherapie muss pausiert werden. Ist die Kolitis trotz aminasen weiter an, sollte die onkologische Immun Steroideinsatz progredient, ist eine Intensivierung der therapie pausiert werden. Falls hierauf kein Transami- Immunsuppression mit Infliximab indiziert. nasenabfall erfolgt, ist die Leberbiopsie zu erwägen und ­ ­ ­ ­ funde im Colon descendens zu erwarten ist (Abb. 3). eine systemische Kortikosteroidtherapie einzuleiten. Im Falle einer weiteren Progression oder einer ikterischen Hepatitis steht als Reserve zusätzlich Mycophenolat Mofetil zur Verfügung, das auch bei der genuinen autoimmunen Hepatitis zum Einsatz kommt. Nephritis Renale irAE sind selten und oft asymptomatisch. Die bisher publizierten Nebenwirkungen zeigen folgende histologisch gesicherten Assoziationen: interstitielle Nephritis, akute Tubulusnekrose, membranöse Glomeritis. Der behandelnde Arzt muss für diese Neben ­ rulonephritis und «minimal change»-Glomerulonephwirkungen eine adäquate Überwachung durchführen, damit irreversible Folgeschäden vermieden werden können. Neben der Kontrolle der Nierenfunktion (Kreatinin oder Cystatin C im Serum) kann durch ein Urinsediment und Bestimmung der Proteinurie (Protein­ Kreatinin-Quotient) die Sensitivität zur Erfassung der renalen Nebenwirkungen verbessert werden. Die interstitielle Nephritis wird aber durch diese Routineuntersuchungen oft verpasst, beziehungsweise spät erkannt. Gelegentlich geht dem akuten Nierenversagen ein Ex­ anthem voraus. Eine sichere Diagnose ist nur durch eine Nierenbiopsie möglich und die Indikation zur Ge- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Abbildung 3: Kolitis unter Ipilimumab, erkennbar an der geröteten und ödematösen Schleimhaut. 2016;16(40):836–841 webeentnahme muss grosszügig gestellt werden. Eine frühzeitige Kortikosteroidtherapie (Prednisolon 1 mg/kg übersichtsartikel 840 Abbildung 4: Adrenalitis unter Ipilimumab. A: CT mit normal konfigurierter rechte Nebenniere vor Therapiebeginn (Pfeil). B: Aufgetriebener medialer Schenkel der rechten Nebenniere unter Immuntherapie (Pfeil). Körpergewicht) ist assoziiert mit einer Verbesserung der Nierenfunktion. Endokrinologische Nebenwirkungen Sie gehören ebenfalls zu den selteneren irAE. Es können die Hypophyse (Hypophysitis), die Schilddrüse (Thyreoiditis), die Inselzellen (Diabetes mellitus) und äusserst selten die Nebennierenrinde (Adrenalitis) betroffen sein (Tab. 3 und Abb. 4 + 5) [2]. Allgemeine Symptome wie Müdigkeit oder Kopfschmerzen erschweren die Abgrenzung gegenüber Tumorsymptomen oder unspezifischen Therapienebenwirkungen. Die Ipilimumab-assoziierte Hypophysitis entwickelt sich mit einer Latenz von 8–12 Wochen nach Therapiebeginn bei bis zu 15% der Behandelten. Sie ist deutlich seltener bei Patienten, die mit PD(L)1-Antikörpern behaneinem kompletten Ausfall der Adenohypophyse (Panhypopituitarismus), bei erhaltener neurohypophysärer Abbildung 5: Hypophysitis unter Ipilimumab. Das MRT zeigt die typische, kugelige Auftreibung der Hypophyse mit homogener Kontrastmittelaufnahme (Pfeil). ­ delt werden (2–6%). Die Hypophysitis führt meistens zu Funktion (kein Diabetes insipidus). Die Patienten sind durch eine Addison-Krise gefährdet. Wir empfehlen vor jeder Immuntherapieinfusion eine Kontrolle von TSH und fT4, denn eine sekundäre Hypothyreose entgeht handlung der hyperthyreoten Phase ist symptomatisch der alleinigen Messung des TSH. Zusätzlich sollte bei (Betablocker), bei einer Hypothyreose muss mit Levo- entsprechender Symptomatik (Müdigkeit, Schwindel, thyroxin substituiert werden. Inappetenz, Abdominalbeschwerden) das basale/stimulierte Kortisol gemessen werden. Eine Hyponatriämie weist ebenfalls auf eine sekundäre Nebennierenrinden- Zusammenfassung und Ausblick Patientinnen und Patienten müssen vor einer Immun- rasche Abklärung der hypophysären Funktion zur Folge therapie auf bestehende Kontraindikationen (inkl. haben. Die Magnetresonanztomographie (MRT) bestä- Schwangerschaft oder fehlender Bereitschaft zur Ver- tigt die Diagnose Hypophysitis. Therapeutisch werden hütung) befragt werden. Bei Personen mit systemi- Kortikosteroide, Schilddrüsenhormone und wenn nötig scher Immunsuppression wegen einer bestehenden auch Sexualsteroide ersetzt. Die Thyreoiditis kann sich Autoimmunerkrankung oder zum Erhalt eines trans- als transiente Hyperthyreose oder Hypothyreose äus plantierten Organs verzichten wir auf «immune sern und manchmal lassen sich entsprechende Auto checkpoint»-Inhibitoren [5]. Informationsbroschüren ­ ­ ­ ­ insuffizienz und/oder Hypothyreose hin und sollte eine SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM antikörper (Anti-TPO-Ak, TRAK) nachweisen. Die Be- 2016;16(40):836–841 und Patientenausweise sind hilfreich, ersetzen aber übersichtsartikel 841 Prof. Dr. med. Oliver Gautschi im Monat). Die Patienten sollten mindestens ein halbes Medizinische Onkologie, der Vitalzeichen, Inspektion der Haut und Bestimmung Jahr über das Ende einer Immuntherapie hinaus über- von Laborparametern (mindestens Blutbild, Glukose, wacht werden, weil irAE verzögert eintreten oder irre- Transaminasen, Natrium, Kalium und Kreatinin im versibel sein können. Bei Verdacht auf irAE ist es grund- Serum) indiziert. Zudem empfehlen wir eine engma- sätzlich ratsam, die Therapie zu unterbrechen und einen Departement Medizin Luzerner Kantonsspital CH-6000 Luzern oliver.gautschi[at]luks.ch ­ schige Kontrolle von TSH und fT4 (mindestens einmal fusion ist eine fokussierte Systemanamnese, Kontrolle ­ das ärztliche Aufklärungsgespräch nicht. Vor jeder In- Korrespondenz: entsprechenden Organspezialisten beizuziehen. Angesichts des Ausmasses und der Geschwindigkeit, mit dem die Immuntherapie die Onkologie «erobert», empfehlen wir allen Neuanwendern, das Thema «Ma- Das Wichtigste für die Praxis nagement von irAE» aktiv anzugehen. • Den Onkologen steht eine wachsende Zahl von «immune checkpoint»Inhibitoren zur Verfügung. Die aktuellen Zulassungen beschränken sich noch auf Melanome, Nierenzellkarzinome und nicht-kleinzellige Bronchuskarzinome im fortgeschrittenen Stadien, eine Indikationsausweitung Wir danken Dr. med. J. Wey (Praxis für Innere Medizin, Sursee) und Prof. Dr. med. C. Henzen (Departementsleiter Medizin und Chefarzt Endokrinologie, Luzerner Kantonsspital) für Kommentare zum Manuskript sowie PD Dr. J. Roos (Institut für Diagnostische Radiologie, Luzerner Kantonsspital) für die Abbildungen. ­ ist aber in naher Zukunft absehbar. Verdankungen • Immuntherapien sollen nur von erfahrenen Onkologen durchgeführt werden, die in einem engen interdisziplinären Netzwerk eingebunden sind. Patienten müssen rund um die Uhr Zugang haben zu einem interdisziplinären Zentrum mit onkologischem Hintergrunddienst. Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit den genannten Medikamenten resp. entsprechenden Herstellerfirmen. Dieser Artikel ist ohne Beteiligung von pharmazeutischen Firmen entstanden. • Verglichen mit Ipilimumab sind die neueren Präparate Pembrolizumab Disclosure statement Nebenwirkungen. • Das Nebenwirkungsspektrum umfasst Autoimmunphänomene, wie sie aus der Transplantationsmedizin bekannt sind. Für deren Beurteilung und Bildnachweis Bild S. 836: © Wladimir Bulgar | Dreamstime.com Literatur 1 und Nivolumab zwar besser verträglich, führen aber dennoch häufig zu Behandlung braucht es Organspezialisten mit entsprechender Erfahrung. 2 • Das Management von immunvermittelten Nebenwirkungen (irAE) beinhaltet die Immunsuppression. Rein symptomatische Massnahmen können das Fortschreiten von irAE verschleiern. 3 • Vor Therapiebeginn müssen Kontraindikationen ausgeschlossen und ­ 4 Patienten sowie mitverantwortliche Ärzte über die Möglichkeit von irAE aufgeklärt werden. Kontrollen sind bis ein halbes Jahr über das Ende einer SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM der Meldepflicht. 2016;16(40):836–841 5 Immuntherapie hinaus notwendig. • Gemäss Heilmittelgesetz unterstehen schwerwiegende Nebenwirkungen Goldinger S, Romano E, Michielin O, Dummer R. Management und Beurteilung des Ansprechens von Ipilimumab bei Patienten mit Melanom. Schweiz Med Forum 2012;12(44):851–5. Fischli S, Allelein S, Zander T, Henzen C. Endocrinologic side effects of oncologic treatment with anti-CTLA-4-antibodies. Dtsch Med Wochenschr. 2014;139(19):996–1000. Naidoo J, Page DB, Li BT, Connell LC, Schindler K, Lacouture ME, Postow MA, Wolchok JD. Toxicities of the anti-PD-1 and anti-PD-L1 immune checkpoint antibodies. Ann Oncol. 2015;26(12):2375–91. Eigentler TK, Hassel JC, Berking C, Aberle J, Bachmann O, Grünwald V, et al. Diagnosis, monitoring and management of immune-related adverse drug reactions of anti-PD-1 antibody therapy. Cancer Treat Rev. 2016;45:7–18. Lipson EJ, Bagnasco SM, Moore J, et al. Tumor Regression and Allograft Rejection after Administration of Anti–PD-1. N Engl J Med. 2016 Mar 3;374(9):896–8. 842 FALLBERICHTE Wiederholtes akutes Aortensyndrom Retrosternale Schmerzen und Dyspnoe Lynn Grossenbacher a , dipl. Ärztin; Dr. med. Leonardo Glutz von Blotzheim a,b ; Prof.1 Dr. med. Armin N. Stucki a ; Prof. Dr. med. Jürg Schmidli c a c 1 Klinik für Innere Medizin, Bürgerspital soH, Solothurn, b Klinik für Kardiologie, Bürgerspital soH, Solothurn, Universitätsklinik für Herz- und Gefässchirurgie, Inselspital, Bern Hierbei handelt es sich Fallbeschreibung keine Hinweise auf eine respiratorische Insuffizienz (pCO2 38,4 mm Hg, pO2 87 mm Hg). Das EKG war normal um eine nachträgliche Korrektur der mit einem Sinusrhythmus ohne Repolarisationsstörun- des Artikels, in der Die 84-jährige Patientin wurde uns vom Hausarzt zum gen. In der kontrastmittelverstärkten thorakoabdomi- Print-Version steht «PD» Ausschluss von Lungenembolien zugewiesen. 4 Tage nalen Computertomographie (CT) zeigte sich ein lang- zuvor verspürte sie retrosternale Schmerzen mit Aus- streckiger, nicht komplett zirkulärer Hämatomsaum strahlung in den Rücken, welche später spontan sistier- der thorakalen Aorta descendens und des thorakoab- ten. Es bestand aber eine Belastungsdyspnoe. An vas- dominalen Übergangs. Zudem fand sich eine kleine kulären Risikofaktoren konnte bei der Nichtraucherin Ausstülpung des Lumens im Bereich der proximalen nebst dem Alter nur eine Hypertonie eruiert werden. Aorta abdominalis, vereinbar mit einem penetrieren- Klinisch präsentierte sich die Patientin hyperton (BD den aortalen Ulkus (PAU). Eine Dissektion oder ein An- 190/90 mm Hg) bei sonst normwertigen Vitalparame- eurysma der Aortenwand konnten nicht nachgewiesen tern (Herzfrequenz 65/min, Atemfrequenz 17/min, werden (Abb. 1 und 2). als akademischer Titel. Temperatur 36,5°, SpO2 100% bei FiO2 0,21). Der körper ­ Online-Version ­ Anamnese und Befunde keine Blutdruckdifferenz objektiviert werden. Als Leit- Intramurales Hämatom der thorakalen deszendieren- symptome standen somit retroster nale Schmerzen den Aorta mit penetrierendem aortalem Ulkus. Diese und Dyspnoe im Vordergrund. Diagnose fällt unter den Überbegriff des unkompli- ­ Diagnose ­ liche Status fiel unauffällig aus, insbesondere konnte zierten akuten Aortensyndroms. Differentialdiagnostische Überlegungen Die Differentialdiagnose von retrosternalen Schmerzen Diskussion umfasst ein breites Spektrum. Primär sollten akut vital murale Hämatom (IMH) und das penetrierende aortale Lungenarterienembolien. Pulmonal stehen der Pneu- Ulkus (PAU). Beim IMH handelt es sich um eine Einblu- mothorax, ein entzündliches Geschehen oder Neopla- tung in der Aortenwand, meist zwischen Media und sien im Vordergrund. Weiter sollten gastrointestinale Adventitia. Das Hämatom kommuniziert nicht mit Pzathologien, Erkrankungen des Bewegungsapparates dem Lumen und entsteht nicht wie die klassische Dis- oder seltener mediastinale Ursachen (Tumore oder sektion durch Einrisse in der Intima, sondern wahr- Entzündungen) in die differentialdiagnostischen Über- scheinlich durch die Ruptur von Vasa vasorum in der legungen einbezogen werden. Schliesslich können sich äusseren Media. Diese können spontan rupturieren auch psychische Erkrankungen mit Thoraxschmerzen oder durch ein sogenanntes PAU (bis in die Media ulze- äussern. Tabelle 1 [1] fasst die Differentialdiagnosen des rierende atherosklerotische Plaques [2, 3]) arrodiert akuten Thoraxschmerzes zusammen. werden [2, 4]. Ein IMH kann zur Dissektion oder Ruptur ­ tendissektion (Typ A oder B nach Stanford), das intra- Myokardischämie, die akute Aortendissektion sowie ­ Der Begriff «akutes Aortensyndrom» umfasst die Aor- werden. Dazu zählen in diesem Fall insbesondere die ­ bedrohliche Pathologien gesucht und ausgeschlossen der Aortenwand fortschreiten, sich stabilisieren oder zur Dissektion in Typ-A- und Typ-B-Läsionen einge- ­ im besten Fall resorbiert werden. IMH werden analog Laborchemisch bestand eine Erhöhung der Creatin- Kinase (156 U/l, Norm <145 U/l) bei seriell normwertigem teilt. Gemäss einer 2005 durchgeführten Analyse von Troponin. Die D-Dimere waren mit 860 µg/l erhöht 1010 Patienten aus dem internationalen Aortendissek- (Norm <243 µg/l). Die arterielle Blutgasanalyse zeigte tions-Register beträgt die Prävalenz des IMH unter allen SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Lynn Grossenbacher Weitere Abklärungsschritte 2016;16(40):842–845 843 Patienten mit akutem Aortensyndrom 5,7% [5]. Aller- Frauen. Ausserdem können IMH traumatisch entstehen, dings ist davon auszugehen, dass eine gewisse Anzahl sei es iatrogen im Rahmen von Interventionen oder der IMH verpasst wurde, da sie zum Zeitpunkt der Dia- durch Unfälle. Aufgrund von PAU entstehende IMH gnostik bereits zur Dissektion fortgeschritten waren. treten meist bei >70-jährigen Patienten mit vorbeste- Als grösster Risikofaktor für spontane IMH gilt die ar- hender Gefässsklerose auf. Hier gilt nebst der Hyper terielle Hypertonie. Typischerweise sind Patienten um tonie Nikotin als grösster Risikofaktor. das 50. Lebensjahr betroffen, Männer häufiger als Klinisch manifestieren sich das IMH typischerweise ­ allberichte F als Brust- und/oder Rückenschmerzen, je nach betrofTabelle 1: Differentialdiagnose des akuten Thoraxschmerzes . 1 Herz Koronare Herzkrankheit – Stabile Angina pectoris – Instabile Angina pectoris – Akutes Koronarsyndrom Takotsubo-Syndrom Perikarditis, Myokarditis Vasospastische Ang. pectoris (Prinz-Metal) Aorta fenem Abschnitt der Aorta [6]. Gelegentlich können sich aus IMH kleine Thromben ablösen, welche zu arteriellen Embolisationen führen können. Unklare peripher-arterielle Embolien sollten deshalb auch an ein subklinisch verlaufendes IMH denken lassen. Der bei Dissektionen oft beschriebene wandernde Schmerz [2] sowie weitere, typischerweise bei Typ-A-Dissektionen auftretende Befunde, wie koronare oder zerebrale Isch- Aortendissektion ämien, Aortenklappeninsuffizienz oder Synkopen, sind Aortenaneurysma beim IMH nicht zu erwarten, da es sich um einen lokal Intramurales Hämatom der Aortenwand begrenzten Prozess handelt. Pleuritis Lunge Lungenarterienembolie Bronchopneumonie, Tracheobronchitis Pneumothorax Pleuritis Pleuraempyem Bronchuskarzinom Mesotheliom Mediastinum Emphysem Mediastinitis Tumor Gastrointestinal Ösophagus – Gastroösophagealer Reflux – Ösophagusspasmen – Ösophagitis – Ösophagusruptur Ulcus ventriculi/duodeni Pankreatitis Biliär Abbildung 1: Penetrierendes aortales Ulkus der proximalen Aorta abdominalis. – Choledocholithiasis – Cholezystitis Roemheld-Syndrom Bewegungs­ apparat Interkostalneuralgie Degenerative Prozesse WS/Schultergürtel Tietze-Syndrom (kostale Chondritis) Frakturen, Kontusionen Distension der interkostalen Muskulatur Thorakale oder zervikale Diskushernie Weitere Herpes zoster thoracalis Medikamentös: Kokain, Triptane Systemischer Lupus erythematodes Sarkoidose Sichelzellanämie Funktionelle Schmerzen, Angst, Panik Hyperventilationssyndrom Modifiziert nach SURFmed, Philippe Furger und Thomas M. Suter, 5. Auflage, S. 150–151. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 1 2016;16(40):842–845 Abbildung 2: Thrombussaum der thorakalen Aorta descendens. 844 wirkenden Scherkräfte führen kann. Ausserdem bedarf stabilen Patienten kann die transösophageale Echokar- es einer guten Analgesie. IMH der aszendierenden Aorta diographie als schnelles Verfahren beigezogen werden. (Typ A) sollten rasch chirurgisch versorgt werden, da Laborchemische Analysen können hilfreich sein (D-Di- dadurch die Mortalität signifikant reduziert werden mere). Die Analyse von Troponin dient v.a. zum Aus- kann. Hingegen werden IMH der deszendierenden schluss einer kardialen Ischämie als Ursache der Be- Aorta meist konservativ behandelt. Bei Patienten mit schwerden und liegt beim IMH häufig im Normbereich. klar lokalisierbarem Ursprung für das Hämatom kann Die einzige Ausnahme bilden hier das IMH in der Aorta dieses gelegentlich mittels endovaskulärem Stentgraft ascendens mit Beteiligung der Koronararterien, welches ausgeschaltet werden. Bei unkompliziertem IMH vom zu einer kardialen Ischämie mit Anstieg der Troponin- Typ B hingegen konnte keine Reduktion der Mortalität Werte führen kann. Die Diagnosestellung erfolgt letzt- durch invasive Verfahren nachgewiesen werden [6]. lich zwingend über schnittbildgebende Verfahren. Hier wird meist ein konservatives Vorgehen mit strik- Goldstandard ist aufgrund der schnellen und weiten ter Blutdruckeinstellung empfohlen. Das gleichzei- Verfügbarkeit das kontrastmittelsverstärkte thorakoab- tige Vorhandensein eines PAU gilt als prädisponieren- dominale CT mit Darstellung des gesamten Verlaufs des der Faktor für ein Fortschreiten der Läsion. Solche Aorta (Sensitivität und Spezifität für IMH 95% bzw. 87,1%). Läsionen können interventionell mit Einlage eines Dabei stellt sich das IMH als Verdickung der Aortenwand endovaskulären Stentgrafts versorgt werden, sofern ohne Aufnahme von Kontrastmittel dar. PAU lassen sich dies die Anatomie zulässt. Bezüglich isolierten, symp- als tiefe Ulzeration, typischerweise im breitesten Teil des tomatischen PAU besteht bisher keine evidenzba- IMH darstellen [3]. Die Magnetresonanztomographie sierte Therapieempfehlung. Zur Nachsorge aller Pa (MRT) kommt aufgrund der eingeschränkten Verfügbar- tienten mit einem akuten Aortensyndrom gehört keit und limitierenden, Patienten-assoziierten Faktoren eine engmaschige Verlaufskontrolle mittels Schnitt- eher selten zum Einsatz. bildverfahren, um ein allfälliges Fortschreiten der Bezüglich Therapie gelten bei IMH grundsätzlich ähn- Läsion rechtzeitig zu erkennen und entsprechend chi- liche Empfehlungen wie bei der Aortendissektion. Als rurgisch oder interventionell eingreifen zu können erste Massnahme muss der BD möglichst rasch auf (Abb. 3) [6, 7]. ­ ­ wiederum zu einer Verstärkung der auf die Aortenwand Echokardiographie eine untergeordnete Rolle, bei in- ­ In der Diagnostik des IMH spielt die transthorakale ­ allberichte F Werte um systolisch 120 mm Hg gesenkt werden. Oft müssen zu Beginn bis zu fünf intravenöse Antihypertensiva verabreicht werden. Es ist zu beachten, dass va- Weiterer Verlauf sodilatierende Substanzen wie Nitroglyzerin erst nach Unsere Patientin wurde antihypertensiv behandelt. Im erfolgter Betablockade verabreicht werden dürfen, da Verlaufs-CT, 10 Tage nach Diagnose, zeigte sich jedoch die reflektorische Erhöhung des Herzminutenvolumens bereits eine deutliche Progredienz des PAU und eine IMH Typ A Typ B fehlende Operabilität symptomatisches PAU chirurgisch interventionell konservativ konservativ interventionell chirurgisch* * Wenn aus anatomischen Gründen interventionell nicht möglich. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Abbildung 3: Therapie des intramuralen Hämatoms (IMH). PAU = penetrierendes aortales Ulkus. 2016;16(40):842–845 845 allberichte F Abbildung 4: Aortales Ulkus der Aorta ascendens. Abbildung 5: Aorta ascendens mit Thrombussaum. ratives Vorgehen erneut ab und verstarb kurz darauf Lynn Grossenbacher im thorakalen Abschnitt. Nach Beurteilung am Zen noch auf der Notfallstation. Theatergasse 21 trumsspital wurde die Patienten auf eigenen Wunsch CH-4500 Solothurn lynn.grossenbacher[at] spital.so.ch ­ zunehmende Wandverdickung der Aorta descendens Korrespondenz: primär konservativ behandelt, es folgte ein initial komplikationsloser Verlauf. Neun Monate später kam es zu einer Synkope mit Thoraxschmerzen, im CT zeigte sich zwar ein regredienter Befund im Bereich der Aorta descendens, neu aber ein IMH der Aorta ascendens mit Wir danken Prof. Dr. G. Goerres für die freundliche Bereitstellung der CT-Bilder. Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Literatur 1 einem PAU (Abb. 4 und 5). Die Patientin lehnte ein ope- Danksagung 2 Das Wichtigste für die Praxis: 3 • Das intramurale Hämatom (IMH) manifestiert sich typischerweise als 5 ­ • Der Diagnostik-Goldstandard ist die kontrastmittelverstärkte thorako 4 Brust- und/oder Rückenschmerzen, jedoch sollten auch unklare peripherarterielle Embolien an ein subklinisch verlaufendes IMH denken lassen. abdominale CT. 6 • Zur initialen Therapie gehören eine rasche Blutdrucksenkung auf Werte um 120 mm Hg systolisch und eine suffiziente Analgesie. 7 • IMH der aszendierenden Aorta sollten rasch chirurgisch versorgt werden, während IMH der deszendierenden Aorta meist konservativ behandelt SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM werden können. 2016;16(40):842–845 Erhardt L, Herlitz J, Bossaert L, Halinen M, Keltai M, Koster R, et al. Task force on the management of chest pain. Eur Heart J. 2002;23(15):1153–76. Lansman SL, Saunders PC, Malekan R, Spielvogel D. Acute aortic syndrome. J Thorac Cardiovasc Surg. 2010;140(6 Suppl):92–7. Ganaha F, Miller DC, Sugimoto K, Do YS, Minamiguchi H, Saito H, et al. Prognosis of aortic intramural hematoma with and without penetrating atherosclerotic ulcer: a clinical and radiological analysis. Circulation. 2002;106(3):342–8. Tsai TT, Nienaber CA, Eagle KA. Acute aortic syndromes. Circulation. 2005; 112(24):3802–13. Evangelista A, Mukherjee D, Mehta RH, O’Gara PT, Fattori R, Cooper JV, et al. International Registry of Aortic Dissection (IRAD) Investigators. Acute intramural hematoma of the aorta: a mystery in evolution. Circulation. 2005;111(8):1063–70. Maraj R, Rerkpattanapipat P, Jacobs LE, Makornwattana P, Kotler MN. Meta-analysis of 143 reported cases of aortic intramural hematoma. Am J Cardiol. 2000;86(6):664–8. Evangelista A, Mukherjee A, et al. Acute intramural hematoma of the aorta – a mystery in evolution. Circulation. 2005;111:1063–70. 846 FALLBERICHTE Intravenöse Substitution in der Hausarztpraxis ­ Schwere Hypomagnesiämie wegen Kurzdarmsyndrom Tangkamma K. Sangma a , dipl. Ärztin; Dr. med. Sarah Singer a ; Dr. med. Theresia B. Klima b ; Dr. med. et phil. nat. Damian N. Meli a a b Hausarztpraxis Huttwil GmbH, Huttwil Nephrologie, Universitätsspital, Basel Hintergrund Über eine Dauer von 5 Jahren erhielt die Patientin alle 10–14 Tage 9,04 mmol Magnesiumaspartat à 11,3 ml Hypomagnesiämie ist eine der häufigsten Elektrolytstörungen bei Kurzdarmsyndrom. Beim Kurzdarmsyndrom handelt es sich um eine Unfähigkeit, die Makro- und Mikronährstoff- sowie Flüssigkeitsbilanz mit einer konventionellen Diät nach einer ausgedehnten Darmresektion aufrechtzuerhalten [1]. Die Behandlung dieses Syndroms ist meistens sehr komplex wodurch ein überdurchschnittliches Mass an Disziplin von allen Beteiligten inklusive der Angehörigen benötigt wird. (1 Ampulle = 40 mmol = 50 ml, 0,8 mmol/ml) in 250 ml NaCl 0,9% i.v. über 30–45 Minuten. Unter dieser Therapie konnten die Magnesiumwerte stabil im subnormalen Bereich zwischen 0,5 und 0,6 mmol/l gehalten werden. Bei einer Verlängerung des Dosisintervalls fiel jedoch der Magnesiumspiegel wieder ab und die Patientin wurde symptomatisch mit Zunahme von Diarrhoe, Müdigkeit, Muskelschwäche und Muskelkrämpfen. Unter regelmässigen intravenösen Magnesiumsubstitutionen in der Hausarztpraxis konnten bisher weitere Fallbericht Hospitalisationen vermieden werden. Bei einer 85-jährigen Frau führte die koloskopische Abklärung einer in der Hausarztpraxis festgestellten Eisen- Diskussion mangelanämie zur Diagnose eines Kolonkarzinoms. Es Pathophysiologie mit Seit-zu-Seit-Ileodeszendostomie. Postoperativ kam Der menschliche Körper enthält circa 25 g Magnesium, es zu Komplikationen. Eine Dünndarmnekrose des wobei sich 60% im Knochen, 29% in den Muskeln, 10% in distalen Ileums zog eine Dünndarmteilresektion mit Weichteilen und 1% in der Extrazellulärflüssigkeit befin- Ileo- und Deszendostoma nach sich. Zwei Monate nach det [2]. Der Tagesbedarf an Magnesium beträgt 300– der ersten Operation kam es zur Ileostomainsuffizienz 400 mg (d.h. 5–6 mg/kg Körpergewicht/Tag). Hierbei mit nachfolgender Stomarevision und Stomaneu werden nur 30–40% der oral zugeführten Tagesmenge ­ ­ erfolgte darauf eine erweiterte Hemikolektomie rechts im Darm resorbiert. Der Hauptort der Magnesiumauf- schwerer Kalzium- und Magnesiummangel auf. Nach nahme ist der distale Abschnitt des Dünndarms (Duo- i.v.-Substitution der Elektrolyte traten keine weiteren denum 5%, Jejunum 10%, proximales Ileum 15%, distales Krampfanfälle mehr auf. Trotz weitergeführter oraler Ileum 10%). Im Dünndarm wird Magnesium sowohl Substitution (mit Magnesiumcitrat 1× 300 mg/Tag) passiv mit dem Wasserfluss als auch aktiv unter Ener- zeigte sich kurze Zeit nach dem Spitalaustritt erneut gieaufwand in die Mukosazellen aufgenommen. Der eine schwere Hypomagnesiämie, welche sich durch fol- TRPM6-Ionen-Kanal spielt hier eine wichtige Rolle. In gende Symptome zeigte: rezidivierendes Erbrechen von den Zellen geht Magnesium zu 90% Bindungen mit Pro- nicht verdauter Nahrung ca. eine Stunde nach dem Es- teinen und organischen Säureresten ein. Es dient hier- sen, Diarrhoe und Schwäche. Es wurde ein Magnesium- bei als Komplexpartner des Adenosintriphosphats (ATP). ­ anlage. Als ein Krampfanfall auftrat, fiel erstmals ein wert von 0,17 mmol/l (normal 0,65–1,05 mmol/l) gemessen und daraufhin die Patientin rehospitalisiert. Während des Spitalaufenthalts wurde klar, dass das Magnesium nicht durch perorale Gabe im Normbe- reich gehalten werden konnte. Zudem führte die per- Eine Veränderung des intrazellulären Magnesiumbe- orale Gabe zu einer Verschlechterung der Diarrhoe. Es standes hat über diesen Weg unter anderem Auswir- wurde deshalb entschieden, das Magnesium längerfris- kung auf den Kaliumhaushalt. Ein Magnesiummangel tig intravenös in der Hausarztpraxis zu geben. ist somit häufig mit einem Kaliummangel und dessen SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Tangkamma K. Sangma Magnesium dient als Komplexpartner des ATP, weshalb bei Magnesiummangel häufig auch ein Kaliummangel besteht. 2016;16(40):846 –848 847 Symptomen vergesellschaftet [2]. Die Plasmakonzen ­ keit und postoperativen Anpassung des verbleibenden Als Regulationsorgan übernimmt die Niere eine wich- hen durch die verminderte Aufnahme von Wasser und tige Aufgabe. Bei Gesunden werden täglich 2 g Magne- Fett im Dünndarm und, bei Entfernung des Ileums, sium in den Glomeruli der Niere filtriert und 95% in durch die ungenügende Rückresorption der Gallen- den Tubuli rückresorbiert. Die Rückresorption erfolgt säure. Dadurch kommt überdurchschnittlich viel Gal- parazellulär passiv entlang dem elektrischen Gradienten lensäure ins Kolon, welche die Sekretion von Wasser (15% proximaler Tubulus, 60–70% dicker aufsteigender und Elektrolyten stimuliert und die Diarrhoe ver- Teil der Henle-Schleife, 5–10% distaler Tubulus). Nor- stärkt. Durch Entfernung der Ileozökalklappe wird die malerweise beträgt die Magensiumexkretion 5% der Transitzeit des Nahrungsbreis verkürzt, weshalb die filtrierten Menge, aber bei Mangelzuständen kann die Aufnahme der enthaltenen Nährstoffe verringert wird. Exkretion bis 0,5% reduziert werden. Bei Hypermagne- Ausserdem kann es durch Wegfallen dieser Barriere siämie kann die Exkretion bis zu 40–80% gesteigert zur Überwucherung des Dünndarms durch Dickdarm- werden [3]. bakterien kommen und dadurch zur Abnahme der Magnesium ist zuständig für die neuromuskuläre Er- Nährstoffaufnahme. Daher müssen die Hauptziele regungsübertragung und die Muskelkontraktion. Im einer Therapie die Verminderung der Diarrhoe und des klinischen Alltag führt ein starker Magnesiummangel damit einhergehenden Flüssigkeits- und Elektrolytver- durch gesteigerte neuromuskuläre Erregbarkeit zu lusts und die Verlängerung der Passagezeit durch Hyperreflexie und Krämpfen. Ein akuter Verlust von Hemmung der Darmmotilität sein. ­ Dünndarmes. Die meist massiven Durchfälle entste- ­ tration sollte zwischen 0,7 und 1,0 mmol/l liegen. mangel eine orale Magnesiumsubstitution jeder an ­ Beim darmgesunden Menschen ist bei Magnesium- Starker Magnesiummangel führt durch gesteigerte neuromuskuläre Erregbarkeit zu Hyperreflexie und Krämpfen. deren Darreichungsform vorzuziehen. Die Magnesiumabsorption beginnt 1 Stunde nach oraler Einnahme derzeitig zur Verfügung stehenden Magnesiumprä gel führen. Die Ursache liegt im geringen Austausch parate enthalten entweder anorganische Anione (Chlo- zwischen extrazellulärem und gespeichertem Magne- rid, Oxid) oder Verbindungen organischer Natur wie sium in Zellen und Knochen. Citrat, Aspartat oder Orotat. In etlichen Studien konnte Die Nieren können die Ursache von Magnesiumver kein Unterschied bezüglich Bioverfügbarkeit festge- ­ lusten sein. Hierbei liegt meist ein Defekt der tubu ­ und ist nach 6 Stunden zu 80% abgeschlossen [2]. Die rhoe, kann zu einem extrazellulären Magnesiumman- ­ grösseren Magnesiummengen, wie z.B. bei akuter Diar- stellt werden zwischen Magnesium-Lutschtabletten, -Trinkgranulat und -Kautabletten. Als therapeutisch mit Schleifen- und Thiaziddiuretika sowie anderen äquivalent müssen sowohl die Verbindungen mit Mag- Medikamenten, wie z.B Aminoglykosiden, Ciclosporin, nesiumkarbonat und Magnesiumoxid wie auch Cisplatin, Carboplatin, Tacrolimus, EGF-Rezeptor-Anta- Magnesiumcitrat/-laktat und Magnesiumhydroxid an- gonisten (wie z.B. Cetuximab), Theophyllin, Salbutamol, gesehen werden [5]. Daraus ist zu folgern, dass die Ma Amphotericin B, Pentamidin, Foscarnet, Pamidronat gnesiumaufnahme im Dünndarm durch unterschied- und Anascrin führen zu renalen Verlusten [4]. Ebenso liche Anionen als bioäquivalent einzustufen ist. Die führen Hyperkalzämie und Alkoholabusus zu Verlus- gleichzeitige Verabreichung von Vitamin D und ten. Vitamin-B-Komplex verbessert die Aufnahme von Ma- Neben den renalen ist der gastrointestinale Verlust ein gnesium. ­ ­ ­ lären Magnesiumreabsorption vor. Auch die Therapie ­ FALLBERICHTE häufiger Grund für den Magnesiummangel. Die gastrodurch unzureichende Resorption zu schwerem Magne- Ist durch eine vorbestehende Darmproblematik, wie siummangel kommen. Dies vor allem durch Diarrhoe, zum Beispiel durch ein Kurzdarmsyndrom , eine intes- Malabsorption, familiäre intestinale Resorptionsstö- tinale Aufnahme von Magnesium nicht suffizient rung sowie Langzeitbehandlung mit Protonenpum- möglich, muss die Substitution intravenös oder subku- pen-Inhibitoren und durch das Kurzdarmsyndrom. tan erfolgen. Während es für die Behandlung in der Das Kurzdarmsyndrom entstand bei unserer Patientin Notfallmedizin klare Richtlinien bezüglich der Menge durch die operative Entfernung des distalen Ileums. und der Infusionsdauer gibt, sind die Daten für die Das Ausmass der Beschwerden ist abhängig von der intravenöse Substitution bei chronischem Magnesi- Lage und Länge des verbleibenden Dünndarmes, des ummangel nicht einheitlich, weshalb wir bei unserer Vorhandenseins der Ileozökalklappe als Rückfluss- Patientin einige Zeit für die Dosisfindung aufwenden schutz und Bakterienbarriere und der Funktionsfähig- mussten. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(40):846 –848 ­ Spezielle Probleme intestinale Sekretion ist zwar gering, es kann jedoch 848 FALLBERICHTE Magnesium als vierthäufigstes Kation im menschli- Hausarztpraxis eine sichere und suffiziente intrave- Dr. med. et phil. nat. chen Körper hat multiple Aufgaben. Ein Mangel dieser nöse Magnesiumsubstitution möglich ist. Damian Meli Korrespondenz: Eine andere Möglichkeit wäre eine wöchentliche sub- ben. Bei einem Kurzdarmsyndrom muss ein spezielles kutane Applikation von Magnesium durch die Spitex d.meli[at]praxishuttwil.ch Augenmerk auf die Aufnahme von Vitaminen, Spuren- oder durch den Hausarzt zuhause. Dem Patienten wür- elementen und Elektrolyte gelegt werden. Häufig ist den die regelmässigen Besuche beim Hausarzt durch eine orale Substitution durch die geringe Aufnahmefä- die subkutane Applikation erspart. Jedoch müsste die higkeit des verbliebenen Darmanteils nicht möglich Überwachung angepasst und trotzdem regelmässig und die intravenöse Substitution die einzige Möglich- das Labor durchgeführt werden. ­ wichtigen Substanz kann vielerlei Auswirkungen ha- CH-4950 Huttwil Schultheissenstrasse 10 keit Mangelzustände zu korrigieren. Unser Fallbeispiel zeigt, dass unter guter Überwachung auch in einer Das Wichtigste für die Praxis Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Literatur 1 Die Behandlung einer Hypomagnesiämie bei Kurzdarmsyndrom ist schwierig. matik zu wenig wirksam sein, andererseits kann eine vorbestehende 3 Durchfallproblematik verschlechtert werden. 2 • Die perorale Substitution kann einerseits durch die Resorptionsproble- 4 5 arztpraxis kann sicher und effizient sein. • Eine intravenöse Gabe von Magnesium ca. alle 2 Wochen in der Haus- • Alternativ wäre eine wöchentliche subkutane Magnesiumapplikation SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM möglich. 2016;16(40):846 –848 O’Keefe SJ, Buchman AL, Fishbein TM, Jeejeebhoy KN, Jeppesen PB, Shaffer J. Short bowel syndrome and intestinal failure: consensus definitions and overview. Clin Gastroenterol Hepatol. 2006;4:6–10. De Baaij JH, Hoenderop JG, Bindels RJ. Magnesium in man: implication for health and disease. Physiol Rev. 2015;95(1):1–46. Swaminathan R. Magnesium metabolism and its disorders. Clin Biochem Rev. 2003;24(2):47–66. Classen HG, Gröber U, Kisters K. Drug-induced magnesium deficiency. Med Monatsschr Pharm. 2012;35(8):274–80. Gegenheimer L. Bioäquivalenz von Magnesium aus Kautabletten und Granulat. Magnesium Bulletin. 1994;16:6–8. 849 COUP D’ŒIL Zwei Fliegen auf einen Streich Wirkung oder Nebenwirkung? Carole Rieben*, dipl. Ärztin; cand. med. Luca G. Valente *; Prof. Dr. med. et phil. Emanuel Christ Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin und Metabolismus, Inselspital, Bern *Die Erstautoren haben gleichermassen zum Artikel beigetragen. dokumentiert werden (LDL-Cholesterin 3,85 mmol/l, Fallbeschreibung Triglyzeride 1,14 nmol/l, HDL-Cholesterin 1,58 mmol/l, im Computertomogramm der Nebennieren bilaterale einer schwierig einzustellenden arteriellen Hypertonie makronoduläre Veränderungen, welche aufgrund ihrer behandelt. Nebenbefundlich fiel ein schwerer Hirsutis- Dichte und des Kontrastmittel-Washouts mit Adeno- mus auf (Abb. 1). Auf gezieltes Nachfragen berichtete men vereinbar waren. Die Knochendichtemessung er- die Patientin zudem über Veränderungen der Haut, gab eine Osteopenie. mit Verdünnung derselben und vermehrt aufgetrete- Zusammenfassend handelte es sich um einen ACTH- nen Hämatomen. Diese Veränderungen stellte sie zwei unabhängigen Hypercortisolismus bei bilateralen Jahre vor Vorstellung erstmals fest und sie waren im makronodulären Nebennierenadenomen mit konko- Verlauf progredient. Zudem hatte sie eine Woche vor mitierender Sekretion von Androgenen. Klinische Leit- der Konsultation ein juckendes Exanthem im Bereiche symptome waren der schwere Hirsutismus, der sekun- des linken Fusses bemerkt. däre Diabetes mellitus und die sekundäre arterielle Bei der körperlichen Untersuchung wies die Patientin Hypertonie. Zusätzlich bestand seit kurzem eine Tinea eine schlecht eingestellte arterielle Hypertonie (Werte cutis, die wir im Zusammenhang mit der durch den von 170/90 mm Hg) auf, es zeigten sich zusätzlich eine Hypercortisolismus ausgelösten Immunsuppression typische Steroidhaut, ein ausgeprägter Hirsutismus interpretierten. mit Behaarung in Bereich des Kinns, der Brust und des Die primäre bilaterale makronoduläre Nebennieren- Abdomens sowie ein mit einer Tinea cutis zu verein hyperplasie ist eine seltene Ursache des Cushing-Syn- ­ ­ ­ ­ ­ barendes Exanthem am linken Fussgelenk (Abb. 2). ­ Total-Cholesterin 5,63 mmol/l). Bildgebend fanden sich Patientin wurde wegen eines Diabetes mellitus und ­ Eine 63-jährige normalgewichtige (BMI 21,5 kg/m2) droms und pathogenetisch kommen aberrante Hor- Weiterführende laborchemische Abklärungen mittels 24-Stunden-Urinsammlung für Cortisol und Androgene sowie Speichelcortisol-Werte um Mitternacht bestätig- Tabelle 1: Laborchemische Abklärungen für den Nachweis eines Hypercortisolismus. ten den Hypercortisolismus und den Hyperandroge- Messung Normwert Frauen erhöhten Serumcortisol-Werten handelte es sich um Freies Cortisol 24-Stunden-Urin 116 μg 10–40 μg einen ACTH-unabhängigen Hypercortisolismus. Der Speichelcortisol (24:00) 49 nmol/l <14,2 nmol/l Diabetes mellitus war mit einem HbA1C von 9,6% schlecht Serumcortisol 857 nmol/l 170–540 nmol/l eingestellt und eine moderate Dyslipidämie konnte ACTH 0,1 ng/l 7,2–63 ng/l Abbildung 1: Abdomineller Hirsutismus vor Therapie mit Ketoconazol. Abbildung 2: Tinea cutis am linken Fussgelenk im Rahmen des Hypercortisolismus (Immunsuppression). ­ nismus (Tab. 1). Aufgrund des supprimierten ACTH bei SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Luca G. Valente ­ Carole Rieben 2016;16(40):849–850 850 il d coup ’Œ Wie bei Pilzen hat Ketoconazol aber auch eine hemmende Wirkung auf Cytochrom-P450-Enzyme des Menschen. Diese sind in der Steroidhormonsynthese involviert. Wenn Ketoconazol eingenommen wird, kann es als Nebenwirkung zur Hemmung der adrenalen Produktion von Cortisol und anderen Steroidhormonen kommen. Dies geschieht über eine Hemmung verschiedener, an der adrenalen Steroidbiosynthese beteiligten Enzyme, namentlich des «cholesterol side-chain cleavage complex» (20,22-Desmolase), der 17a-Hydroxylase, der 17,20-Lyase und der 11b-Hydroxylase [5, 6]. In Fällen wie unserem, bei welchen Patienten sowohl unter einem Hypercortisolismus wie auch an einer konsekutiven Pilzinfektion leiden, ergibt sich die ele- Abbildung 3: Linkes Fussgelenk: Regredienz des Exanthems (nicht mehr sichtbar) nach der Therapie mit Ketoconazol. gante Option, beide Diagnosen mit demselben Medikament zu therapieren. Ketoconazol wirkt einer Tinea eine lokale ACTH-Produktion vom Nebennierengewebe Nebenwirkung – die adrenale Überproduktion von im Rahmen von genetischen Mutationen in Frage [3]. Cortisol – es schlägt sozusagen zwei Fliegen auf einen Vor einer möglichen chirurgischen Intervention wurde Streich. Das Medikament wurde vom Schweizer Markt eine orale Therapie mit Ketoconazol begonnen. Unter zurückgezogen (aufgrund einer Hepatotoxizität und dieser Therapie verschwand nach einigen Tagen das der sehr selten auftretenden QT-Verlängerung), kann juckende Exanthem (Abb. 3) und im Verlaufe besserten aber bei Bedarf importiert und verschrieben werden. ­ entgegen und hemmt gleichzeitig – im Sinne einer ­ monrezeptoren (z.B. GIP, LH, Vasopressin u.a.) [1, 2] oder sich Diabetes mellitus und sekundäre arterielle Hypertonie deutlich. Informed consent Hintergrund Disclosure statement ceten und dimorphe Pilze, weswegen es häufig als Crème oder Shampoo bei Pilzinfekten der Haut ver- Literatur 1 wendet wird. Die Wirkung beruht auf einer Hemmung Korrespondenz: des fungalen Cytochrom-P450, wodurch die Synthese 2 Prof. Dr. med. et phil. von Ergosterol verhindert wird. Dieses ist eines der E. Christ Universitätsklinik für wichtigsten Membranlipide der oben genannten Pilze. 3 ­ Diabetologie, Endokrinolo- Wenn Ergosterol fehlt, kommt es zu Membranaltera und Metabolismus tionen, welche die fungizide/fungistatische Wirkung 4 Freiburgstrasse 8 erklären [4]. Die topische Anwendung von Ketoconazol 5 CH-3010 Bern zur Therapie von diversen Pilzinfektionen ist in der www.endokrinologie.insel. ch/de/ Schweiz verbreitet, die entsprechenden Präparate sind rezeptfrei erhältlich. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(40):849–850 6 emanuel.christ[at]insel.ch Inselspital Bern ­ gie, Ernährungsmedizin Louiset E, et al. Expression of vasopressin receptors in ACTHindependent macronodular bilateral adrenal hyperplasia causing Cushing’s syndrome: molecular, immunohistochemical and pharmacological correlates. J Endocrinol. 2008;196:1–9. Christopoulos S, Bourdeau I, Lacroix A. Aberrant expression of hormone receptors in adrenal Cushing’s syndrome. 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