Handeln als metaphysischer Horizont - Karl

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HANDELN ALS METAPHYSISCHER HORIZONT
HERKUNFT UND KRISE DES MODERNEN NATURBEGRIFFS
KARL-HEINZ BRODBECK
Metaphysik ist das, ... was der Baumeister für die Arbeiter ist.
G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen IV, 8 § 9
Gröbenzell, Mai 1999/November 2001
© 2001 K.-H. Brodbeck
2
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
Was ist Metaphysik?
Metaphysik ist „der Titel für eine grundsätzliche philosophische Verlegenheit“, sagt
Martin Heidegger zurecht.1 Diese Verlegenheit zeigt sich schon an der Wahl dieses Titels
durch die Schulphilosophie. Metaphysik gilt als das, was „nach der Physik“ zu betrachten
ist, gedeutet als Gegenstand, der „außerhalb“ der physischen Gegenstände anzutreffen sei:
das Sein oder das Seiende im Ganzen. Die Schwierigkeit hierbei liegt in der Frage, wo
und wie dieser übersinnliche Gegenstand neben den sinnlichen Erscheinungen zu finden
ist.2 Und wenn es physische und metaphysische Gegenstände gibt, was heißt das dann
eigentlich: ein Gegenstand, ein Seiendes zu sein? Kant beantwortete diese Frage durch
eine Umkehrung der Blickrichtung auf das Denken. Er fragte: Was kann man überhaupt
denken? Freilich wird damit das Denken allen „Gegenständen“ vorgeordnet und kann nur
erstaunt konstatieren, was in ihm liegt. Die moderne Wissenschaft vermeidet dies durch
einen Reduktionismus: Das Denken ist letztlich auf Physisches zurückzuführen. Darin
liegt dann allerdings die seltsame Implikation, daß auch die Wissenschaft als Wissenschaft im Physischen bereits „implizit“ sein müßte.
Bei den genannten Positionen zur Metaphysik bleibt eine Stelle dunkel. Es scheint nur
Gegenstände und die Denker dieser Gegenstände zu geben: Unbewegliche Beobachter
einer Schattenwelt, gefesselt in der Höhle transzendentaler Erkenntnis. Daß Menschen
handeln und sich darin zu „Gegenständen“ anders als nur denkend verhalten, das scheint
für die Metaphysik keine Rolle zu spielen. Nun hat Karl Marx genau das gesagt, wenn er
den Philosophen vorwirft, sie hätten schlichtweg die Praxis der Menschen als Basis ihrer
Gedanken übersehen. Doch ich möchte zeigen, daß sich Marx in seiner Umkehrung von
„Sein und Bewußtsein“ keineswegs von der Metaphysik freigemacht hat, er hat sie viel
eher vollendet. Die bloße Einsicht, daß menschliches Denken durch das Handeln vermittelt ist, kann sich nämlich nicht einfach durch einen Willensakt vom Denken, seinen
Kategorien und seiner impliziten Metaphysik freimachen.3 Der menschliche Geist ist
nicht nur keine tabula rasa, es ist auch keineswegs leicht, die Schreibtafel abzuwischen
1
M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 19734, S. 7.
Die Schulphilosophie definiert Metaphysik als „Wissenschaft vom Übersinnlichen“; vgl. A. Lehmen,
Lehrbuch der Philosophie auf aristotelisch-scholastischer Grundlage, Freiburg 19236, S. 306.
3
Wie sagt Marx selbst sehr schön? „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem
Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen,
noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie
ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf“ K. Marx, MEW 8, S. 115.
2
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
3
und sie neu zu beschreiben. Unser Tafellappen - um in dieser aristotelischen Metapher zu
verbleiben - besteht nämlich aus der „Aufschrift“: Es ist die Denkform, die in der Sprache
und den Gedanken der Tradition untrennbar mit unserem Handeln verbunden ist.
Deshalb ist es notwendig, zum Verständnis metaphysischer Denkformen zu ihren Wurzeln zurückzukehren, auch zu jenem Text, der von den Späteren den Titel „Metaphysik“
erhielt. Aristoteles definiert jene Form des Wissens, die wir Metaphysik nennen, als das
„im höchsten Grade Wißbare“, „das Erste und die Ursachen, denn gerade durch diese und
aus diesen wird das andere erkannt“.4 Metaphysik ist also durch eine Fragestellung, durch
eine Art zu fragen (und zu denken) charakterisiert, und diese Frageform geht dem voraus,
was man die „Gegenstände“ der Metaphysik nennt. Die Schulmetaphysik betrachtet das
Seiende im Ganzen. Doch die Weise, wie in dieser Metaphysik gedacht wird, ist - von
ihrer der Geburtstunde an - durch einen Horizont bestimmt, der keineswegs in ein unbekanntes Reich verweist, sondern im alltäglichen Handeln seinen Ort hat.
Platon und Aristoteles fragen nach der Verursachung des Seienden. Das Seiende ist
veränderlich und ist bewegt; also sucht die Metaphysik nach einem bewegenden, selbst
aber unveränderlichen Prinzip. Korrespondierend wird deshalb „das Seiende im Ganzen“
als etwas ausgelegt, das verursacht ist. Seiendes ist Bewirktes, ist „Wirklichkeit“. Dieser
Name für das Seiende im Ganzen (energeia, actualitas, Wirklichkeit) verweist in seiner
Herkunft unmißverständlich auf ein Wirken. Dieses Wirken liegt nicht außerhalb der
Physik, es wird zum Naturbegriff, der die Physik in ihrer wissenschaftlichen Arbeit lenkt.
Die Natur ist für Metaphysik und Naturwissenschaft Wirklichkeit.
Das die Wirklichkeit Hervorbringende wird auch von Anbeginn der Metaphysik als
Subjekt gedacht. Insofern ist die Metaphysik - bei Platon und Aristoteles - immer auch
Theologie, Lehre vom „ersten Beweger“.5 Der Name für diesen ersten Beweger ist
unterschiedlich: bei Platon ist es der Demiurg, der „baumeisterliche Schöpfer“6, bei
Aristoteles der „ewige und selber unbewegte und ausdehnungslose“ Beweger7, die
christliche Theologie nennt den ersten Beweger Creator, bei Hegel ist es der „Werkmeister“8, und noch bei Heidegger gibt es den metaphysischen Satz: „ ‚Arbeit‘ (...) ist identisch mit ‚Sein‘ „.9 Der Grund des Seienden im Ganzen, das als Wirklichkeit ausgelegt
4
Aristoteles, Metaphysik I,2 982b; übers. v. F. F. Schwarz, Stuttgart 1970, S. 21.
„Der theologische Charakter zumal der neuzeitlichen Metaphysik ist nicht erst in der Anlehnung die
christliche Denkweise begründet, sondern im Wesen aller Metaphysik.“ M. Heidegger, Die Metaphysik des
deutschen Idealismus (Schelling), Gesamtausgabe Bd. 49, S. 190.
6
Politeia 530a; übers. v. K. Vretska, Stuttgart 1982, S. 348.
7
Metaphysik a.a.O. 1073c.
8
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, S. 508-512.
9
M. Heidegger, Wegmarken, Frankfurt/M. 19782, S. 394.
5
4
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
wird, ist tätig, ist Subjekt als Werkmeister. Stillschweigend akzeptiert die Metaphysik
also bei ihrer Frage nach dem Seienden im Ganzen einen Frage-Horizont, ein Denkmodell, das unverkennbar die Spuren eines Handwerkers trägt.10
Ich möchte nachfolgend zu zeigen versuchen, wie dieses Modell des Handelns stillschweigend und kaum je als es selbst gedacht die metaphysische Weltbeschreibung lenkt
und auch die Basis bildet für die Entwicklung der Wissenschaften und ihren Naturbegriff.
Die Metaphysik wurde vielfach kritisiert, dies allerdings auf eine Weise, die das sie
lenkende Denkmodell keineswegs zu Bewußtsein brachte, es vielmehr übernahm und nur
modifizierte. Ich denke hierbei keineswegs nur an naive Formulierungen, in denen die alte
Denkfigur „Gott hat hervorgebracht“ einfach durch „die Evolution hat hervorgebracht“
substituiert wird; die Wirksamkeit des Handlungsmodells als metaphysischer Horizont
reicht viel tiefer. Wir können vielfach gar nicht mehr anders sprechen, weil die metaphysische Struktur auch die Sprache beherrscht.
Die Umkehrung der Metaphysik, „die bereits durch Karl Marx vollzogen wird“11, verbleibt im Horizont dieses Denkmodells - wie jede „Umkehrung“. Wenn der Gedanke
richtig ist, daß das Handeln der stillschweigende Horizont metaphysischen Denkens ist,
dann setzt dies allerdings voraus, daß das menschliche Handeln selbst auf eine ungenügende Weise gedacht wurde. Wäre das Handeln selbst erkannt und gewußt, so würde es
nicht in einer fremden Gestalt angeschaut. Der Grund ist ein doppelter: Einmal wurde das
Handeln frühzeitig in einem bestimmten Modell, dem Denkmodell des Handwerkers
interpretiert. Dieser Horizont bleibt noch bei Marx12 und - worauf ich schon hingewiesen
habe - Heidegger wirksam. Zum anderen wurde das Denkmodell des Handwerkers durch
ein anderes „überlagert“. Diese Überlagerung veränderte das einfache Handwerksmodell
der Metaphysik und trug wesentlich zur Herausbildung der neuzeitlichen Metaphysik als
10
Wenn Heidegger sagt: „Schon die Worterklärung von existentia machte deutlich, daß actualitas auf ein
Handeln irgendeines unbestimmten Subjektes zurückverweist“. M. Heidegger, Die Grundprobleme der
Phänomenologie, Gesamtausgabe Bd. 24, S. 143, so verkennt er die Rolle des durchaus bestimmten
Denkmodells „Handwerker“, das er selbst für seine phänomenologische Analyse verwendet: „Wir setzen
Umwelt und Umgang einfachster Art exemplarisch an: Handwerk und Handwerker.“ M. Heidegger,
Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, Gesamtausgabe Bd. 20, S. 259.
11
M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 63.
12
Marx sagt: „Wir hatten daher nicht nötig, den Arbeiter im Verhältnis zu andren Arbeitern darzustellen.
Der Mensch und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe auf der andren Seite genügten.“ K.
Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 198. Das ist die von Platon herrührende Bestimmung handwerklichen
Handelns: „Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon
in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war“, a.a.O., S. 193. Wenn aber die Idee der
Tätigkeit vorausgeht, dann ist das Modell der isolierten, handwerklichen Arbeit unzureichend, denn Ideen
„existieren nicht getrennt von der Sprache“, K. Marx, Grundrisse, S. 80, von Marx als „Dasein des
Gemeinwesens“ bestimmt, Grundrisse, S. 390. Damit gehört zu einer vollständigen Bestimmung des
Handelns sowohl die Sprache wie auch die tätige Auseinandersetzung mit der Natur.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
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Basis der Natur- und Wirtschaftswissenschaften bei. Dieses andere Denkmodell ist das
des Kaufmanns.13
Metaphysik als Denkmodell
Die Metaphysik ist allen ihren vermeinten Gegenständen zum Trotz zuerst (a priori) eine
Denkform, ein Denkmodell. Die Herkunft dieses Denkmodells ist keineswegs so dunkel,
wie dies dann erscheint, wenn man auf die metaphysischen Gegenstände abzielt (Sein,
Möglichkeit, Wirklichkeit, Gott usw.). Allerdings ist die Vorstellung, das Denken sei eine
getrennte Entität neben anderem Seienden, selbst eine metaphysische. Das gilt für einen
idealistischen Reduktionismus ebenso wie für dessen materialistischen Widerpart. Im
Kontrast zur materialistischen Überbauthese, die wesentlich durch die traditionelle
Metaphysik der Verursachung bedingt ist, sehe ich den Zusammenhang zwischen historischer Entfaltung von Technik und Marktprozessen einerseits, der Beschreibung der Natur
andererseits nicht als Kausalverhältnis.
Ein Begriff des Handelns, der sich von den traditionellen Denkmodellen löst, führt zur
Einsicht, daß Handeln sich immer auch als Denkbewegung vollzieht. Das Denken des
Handelns und das Tun des Handelns sind nicht zwei getrennte Wesenheiten, deren
Wechselwirkung zu diskutieren wäre. Diesen anderen Blick auf das Handeln kann ich an
dieser Stelle nicht ausführlich explizieren14; hier fragen wir sehr spezifisch nach den
Folgen, die das „Handwerksmodell“ und seine Überlagerung mit dem Denkmodell des
Kaufmanns für die Formulierung der Metaphysik und die neuzeitlichen Wissenschaften
nach sich zieht.
Eine Bemerkung zum Begriff des „Denkmodells“ ist aber vielleicht notwendig für den
Fortgang unserer Darstellung und für die Methode der Fragestellung. Das Denken vollzieht sich immer in einer bestimmten Form. Diese Form ist vor dem Vollzug der einzelnen Gedanken vorgegeben. Kant nannte diese Form a priori, und es ist bei ihm nicht
ganz klar, wie dieses „vorher“ der Denkformen zu bestimmen ist.15 Ich habe vorgeschla-
13
Zur Funktion dieses Denkmodells vgl. K.-H. Brodbeck, Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie.
Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften, Darmstadt 1998, Teil 5.
14
Vgl. K.-H. Brodbeck, Theorie der Arbeit, München 1979; ders., Transrationalität, Münchener
Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge Nr. 86-09, München 1986; ders., Erfolgsfaktor Kreativität,
Darmstadt 1996, Teil II.
15
Die Interpretation als Gewohnheit läßt sich aus seinen Vorlesungen über Metaphysik rekonstruieren:
„Diese Handlung der Reflexion üben wir aus, sobald wir Eindrücke der Sinne haben. Durch Gewohnheit
wird diese Reflexion uns geläufig, so daß wir nicht bemerken, daß wir reflectiren; und dann glauben wir,
daß es in der sinnlichen Anschauung lieget.“ I. Kant, Vorlesungen über die Metaphysik, Erfurt 1821, S.
146.
6
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
gen, Denkmodelle als Gewohnheiten des Geistes zu verstehen. „Gewohnheit“ ist hierbei
eine Kategorie, die sowohl eine individuelle wie eine soziale Bedeutung besitzt. (Soziale
Gewohnheiten heißen bei den Griechen ethos.) Denkmodelle sind damit individuell
vorgegebene, durch das Spracherlernen und die verschiedenen sozialen Handlungsformen
erworbene Muster. Sie haben eine gewisse Dauer, sind aber keine vom sozialen Prozeß
getrennten Wesenheiten. Vielmehr vollzieht sich das Handeln immer in bestimmten
Mustern (Handlungsprogrammen), die, zur Gewohnheit geworden, lenkende Denkmodelle werden.
Die Trennung von Denkmodell und Wahrnehmung ist funktional, nicht ontologisch.
Allerdings eröffnen Denkmodelle in Situationen jeweils einen bestimmten Horizont der
Bedeutung. Wird ein Denkmodell von einer Situation in eine andere übertragen (dieser
Situation überlagert), so werden dort neue Aspekte sichtbar, andere verdeckt. Das ist die
kreative Funktion der Denkmodelle. Nur wirklich große historische Neuerungen haben
ganz neue Denkmodelle hervorgebracht - teilweise durch die Arbeit der Philosophie,
teilweise in Beschreibung von neuartigen Handlungen bzw. Techniken (z. B. die Kybernetik als allgemeine Maschinentheorie).
Es ist eine tiefe Eigentümlichkeit der Gewohnheiten des Denkens, daß ihnen eine gewisse
Unbewußtheit eignet, wie allen Gewohnheiten. Gewohnheiten des Denkens hören darin
aber nicht auf zu wirken. Ich spreche hier nicht von den „unbewußten Apperzeptionen“,
auf die Leibniz hingewiesen hat, vielmehr von der Struktur der Intentionalität des Denkens. Wir denken stets in etwas, wenn wir etwas denken. Husserls Phänomenologie hat
das Bewußtsein dafür geschärft, daß man den Blick wenden und auf die Denkformen
selber blicken kann. Allerdings blieb er in der platonischen Vorstellung gebunden, daß
diese Denkformen auf eine dunkle Weise einem transzendentalen Ego angehören, das von
der Wahrnehmung ontologisch getrennt sein soll.
Daß diese Denkformen selbst sozial vermittelt sind, ist schon an der einfachen Tatsache
zu erkennen, daß sich philosophisches Denken immer einer Sprache bedient, die es nicht
selbst erschaffen kann.16 Und Sprache kann man nur sinnvoll denken, wenn man sie als
soziales Phänomen begreift. Es wird in und aus der Sprache gehandelt, die Bedeutungen
der sprachlichen Terme sind Handlungsbedeutungen. Aber die funktionale Trennung der
16
Darin liegt die Vergeblichkeit, eine jungfräuliche Sprache hervorzaubern zu wollen, die von
„Metaphysik“ gereinigt ist, wie das der logische Empirismus versuchte. Auch der vorliegende Text spricht
in dieser metaphysischen Sprache, weiß aber darum. „Zirkularität“ ist kein Mangel: Wer im Kreis
herumgeht, sieht eine ganze Welt: ein „kreatürlicher Zirkel“, J. Böhme, Aurora oder Morgenröte im
Aufgang, Freiburg 1977, S. 153.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
7
Sprache erlaubt die fast beliebige Übertragung von Denkformen auf je andere Handlungen. Am Denkmodell des Handwerkers werde ich diese Strukturen vertiefen.
Ein Beispiel: Die Marxsche Wertsubstanz
Ich möchte aber zuerst die Funktion metaphysischer Denkmodelle im Denkprozeß an
einem Beispiel demonstrieren. Dazu wähle ich ein ökonomisches Thema, allerdings eines,
das zeitgenössischem ökonomischen Denken sehr fremd geworden ist17: Die Werttheorie
von Karl Marx. Marx verstand sich sicherlich nicht als metaphysischer Denker. Dennoch
finden sich bei ihm zahlreiche Begründungen, die nicht ihrerseits begründet sind, vielmehr selbstverständliche Denkfiguren voraussetzen. Und ich wähle ein Beispiel aus
seinem Hauptwerk „Das Kapital“, keineswegs aus den vielleicht im landläufigen Verständnis eher „metaphysikverdächtigen“ Jugendschriften.
In seinem ersten Entwurf der Wertlehre (1859), in der Schrift „Zur Kritik der Politischen
Ökonomie“, kämpfte Marx mit einem Problem, das er in diesem Text nicht lösen konnte
(er betont ausdrücklich in seinem Briefwechsel, daß die Darstellung Mängel aufweise):
Der Preis der Waren sollte bestimmt sein durch eine Größe, die Marx „durchschnittliche
(gesellschaftlich notwendige) Arbeitszeit“ nannte. Die Schwierigkeit hierbei war nur:
Diese Durchschnittsgröße kann sich erst im Marktprozeß herausbilden. Einerseits sollte
diese Größe die Bewegung der Warenpreise bestimmen, andererseits war sie als „werdendes Resultat“18 dieser Bewegung gedacht. Marx flüchtete sich angesichts dieses Widerspruchs in dialektische Formeln.19 Bei seinem historischen Exkurs zur Analyse der Ware
spielt Aristoteles in der Schrift von 1859 keine Rolle, im Kapital räumt er ihm einen
zentralen Platz ein. Und darin ist eine metaphysische Kehrtwendung bezüglich der
Bestimmung des Wertes erkennbar. Den erwähnten „dialektischen“ Widerspruch, auf den
17
Vgl. Brodbeck, Die fragwürdigen Grundlagen a.a.O.
K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie; in: MEW Bd. 13, S. 32.
19
So sagt Marx z. B.: die Ware „ist“ zunächst Gebrauchswert, für den anderen aber ist sie „nicht“
Gebrauchswert, also müsse sie als Gebrauchswert erst „werden“, MEW Bd. 13, S. 28f. - ein ebenso
durchsichtiges wie nichtssagendes Sprachspiel mit Hegels Anfang der Logik.
18
8
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
bereits Aristoteles hinwies20, ersetzte Marx im „Kapital“ durch eine andere Lösung, eine
metaphysisch andere Lösung.
Im „Kapital“ arbeitete er heraus, was sich in seinem ersten Entwurf nur verkürzt fand: die
Analyse der „Wertform“. Dabei betrachtete er zwei Waren, die im Tauschverhältnis
zueinander stehen. Sie sind als verschiedene Dinge (Tauschwerte) im Austausch einander
gleichgesetzt, also - schließt Marx - müssen beide Waren etwas gemeinsam haben, ein
tertium comparationis, ein Drittes, eine Substanz des Tauschwerts. Dieses „Dritte“ sollte
das regelnde Gesetz des Tauschs sein. In seiner Schrift von 1859 stand Marx vor der
Paradoxie, daß dieses Dritte ein Durchschnitt sein müßte, der sowohl die Bewegung der
Warenpreise regelt als auch durch die Prozesse des Wettbewerbs selbst sich erst als diese
Durchschnittsgröße konstituieren sollte. Im „Kapital“ nun löste er diese Frage durch eine
Veränderung in seiner Metaphysik; er kehrte von Hegel zur Substanzmetaphysik der
Schulphilosophie zurück.
In der ersten Auflage von „Das Kapital“ (1867) schreibt Marx über die beiden „Dinge“,
die Waren im Austausch: „Jedes der beiden, soweit es Tauschwerth, muss also, unabhängig von dem andern, auf dies Dritte reducirbar sein.“21 Hier scheint es so, als wäre
die Wertsubstanz etwas, das unabhängig vom Austausch selbst schon in den Dingen, den
Waren haust. Marx schien von dieser eindeutigen Formulierung nun doch beunruhigt zu
sein und änderte diese Passage in der zweiten Auflage in: „Jedes der beiden, soweit es
Tauschwert, muß auf dies Dritte reduzierbar sein.“22 Er bemerkte etwas, wußte aber
offenbar nicht, was ihn beunruhigte - und dies war nicht der gemeinte Inhalt, es war das
unbewußte Denkmodell.
Diese Korrektur der zweiten Auflage hatte inhaltlich keine Konsequenzen für die weitere
Darstellung im „Kapital“. Die Wertsubstanz blieb eine eigenständige Größe, die zwar das
Adjektiv „gesellschaftlich“ erhielt, in ihrer Denkform sich aber nicht von der Transsubstantiation der thomistischen Philosophie unterschied. Wir können das an folgendem
20
Vgl. Aristoteles, Nicomachische Ethik, Buch 5; ferner: Brodbeck, Transrationalität a.a.O., S. 29ff. und
ders., Erfolgsfaktor Kreativität, Kapitel 14. Das Geld tritt nicht aus einem inneren dialektischen
Widerspruch des Tausch nach außen, vielmehr wird eine äußere Struktur (z. B. die Opfergaben für die
Tempel; vgl. B. Laum, Heiliges Geld, Tübingen 1924) anders funktionalisiert. Soziale Bedeutungen
erwachsen nicht aus einer „Einfaltung“ innerer Wesenheiten, die historisch „entfaltet“ werden - was
wenigstens die Frage nach der metaphysischen Wesensstruktur einer „Faltung“ aufwerfen müßte; sie
erwachsen aus einer Andersverwendung im Denken und Handeln von etwas, das schon da ist.
21
K. Marx, Das Kapital, Hamburg 1867, S. 3; Hervorhebung von Marx.
22
K. Marx, Das Kapital, Band I, MEW Bd. 23, S. 51. Darauf, daß Waren sich nicht selbst gleichsetzen,
sondern von jemand ausgetauscht werden, daß die handelnden Subjekte hierin also nicht gleichgültig sind
(und deshalb auch nicht daraus in ihrer Denkform „abgeleitet“ werden können), daß schließlich der
Austausch zweier Waren immer zufällig ist, Transitivität der Tauschrelationen aber den vereinzelten Tausch
übersteigt, sei an dieser Stelle nur hingewiesen.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
9
Gedanken sehen, der merkwürdige Züge annimmt (es geht um die Erhaltung des Wertes
im „konstanten Kapital“, also das, was die Ökonomen heute einfach „Abschreibung“
nennen): Die Wertsubstanz geht „aus dem verzehrten Leib in den neu gestalteten Leib
über. Aber diese Seelenwandrung ereignet sich gleichsam hinter dem Rücken der wirklichen Arbeit.“23 Das wichtige, ungedachte Wort ist hier „gleichsam“. So funktionieren
metaphysische Denkmodelle; sie formen ein Argument, eine Vorstellung, auch wenn man
sie als „bloße Metapher“ abtut. Es gibt aber kein Denken ohne Metaphern, und die
einflußreichsten Metaphern formuliert die Metaphysik.
Metaphysik funktioniert als lenkendes, gestaltendes Denkmodell. Es formt Gedanken und
legt Argumente nahe, ohne selbst in Erscheinung zu treten.24 Marx hat keine „Erste
Philosophie“ hinterlassen, obgleich er offenbar einmal so etwas wie eine „Dialektik“ zu
schreiben plante. Immerhin spricht er von der „falschen Metaphysik“25 des Empirismus
und wirft auch Proudhon „falsche Metaphysik“ vor26. Was er unter einer richtigen Metaphysik verstand, das müssen wir aus impliziten Urteilen entnehmen. Es war ihm aber
wohl kaum klar, daß das, was er „Materialismus“ nannte, nur eine stillschweigende
„Kehre“ zum Substanzbegriff der Schulphilosophie war. Es gibt tatsächlich zahlreiche
Sätze in seinen Schriften, die sein lenkendes Denkmodell verraten.
An einer Stelle sagt er, daß die „Eigenschaften eines Dings nicht aus seinem Verhältnis zu
andern Dingen entspringen, sich vielmehr in solchem Verhältnis nur betätigen.“27 Es fällt
sofort auf, daß es dieser rein metaphysische Satz ist, der die Begründung liefert für die
bloße Denkmöglichkeit, eine Eigenschaft der Ware (ihren Wert) unabhängig vom wirklichen Austausch auf die Wertsubstanz zu reduzieren. Dann kann sich diese innere Substanz im Austausch nach außen entfalten - eben vorausgesetzt, die Dinge sind Träger von
Eigenschaften, die sich in Verhältnissen nur betätigen, nicht in diesen Verhältnissen sich
erst konstituieren (als „werdendes Resultat“). Es war also das nicht explizit zum Thema
gemachte Verhältnis von „Ding“ und „Eigenschaft“ - eine eminent metaphysische Frage
23
Marx, Das Kapital a.a.O., S. 221.
Zur Funktion von Denkmodellen vgl. auch K.-H. Brodbeck, Entscheidung zur Kreativität, Darmstadt
1995, Kapitel 11 und 12.
25
K. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW Bd. 26.1, S. 27.
26
K. Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt/M. 1970, S. 27.
27
Marx, Das Kapital a.a.O., S. 72. Ähnliche Aussagen finden sich mehrfach: Ein „Ding ist ein Ganzes
vieler Eigenschaften“ a.a.O., S. 49. „jedes Ding (besitzt) vielerlei Eigenschaften“, a.a.O. S. 197;
„Eigenschaften, die den Arbeitsmitteln stofflich zukommen“, Das Kapital Bd. II, MEW 24, S. 162. „Die
menschliche Arbeit ist einfache mechanische Bewegung; die Hauptsache tun die materiellen Eigenschaften
der Gegenstände.“ MEW Bd. 40, S. 562. Diese Metaphysik ist identisch mit der aristotelischen Position:
Realität ist Form (= Eigenschaft) am Stoff.
24
10
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
-, das Marx zu seinen mehrfachen Korrekturen an einer sehr zentralen Stelle seiner
Theorie veranlaßte.28
Als nachträgliche Beobachter haben wir es besser: Wir können die fertigen Texte nebeneinander legen und darin wirksame Denkmodelle erkennen, die beim Denken und Schreiben sich zwar als lenkende Kraft erwiesen, nicht aber als sie selber gedacht und erkannt
wurden. Genau das ist die Funktion von metaphysischen Denkmodellen. Sie sind dynamische Denkformen, die Argumente erzeugen, ohne selbst in dieser Funktion erkannt zu
werden. Mehr noch, gerade dadurch, daß sie hypostasiert in der Gestalt von Gegenständen erscheinen, bleiben sie in ihrer Funktion verborgen.
Idee und Meinung
Damit kehre ich zur Hauptfrage dieses Textes zurück: Zum Denkmodell des Handwerkers
als Horizont der Metaphysik. Platons zentraler metaphysischer Gegenstand in seinen
Dialogen ist das Allgemeine, die Idee. Man darf die Form, in der Platon seine Philosophie
darstellte, nicht als bloße Äußerlichkeit betrachten. Er wahrte in der Dialogform ein Sein
dieses Gegenstandes, das in der aristotelischen Metaphysik verloren gegangen ist. Auch
in der Schulphilosophie und ihrer Kritik bei Kant blieb sie verborgen. Ideen sind bei
Platon dem Meinen entgegengesetzt. Sie sind das wahrhaft Seiende. Der Ort dieses
Seienden ist nicht das, was wir in unseren Sinnen wahrzunehmen meinen. Ideen sind in
der Meinung nur verdeckt gegenwärtig, leuchten darin aber als bleibendes Licht in die
Schattenwelt des Wandels.
Wie begründet Platon dieses These? Dadurch, daß wir im Dialog mit unserem Meinen in
Widerspruch zueinander geraten. Eine Meinung steht gegen eine andere. Wenn es aber
neben diesem Vielen des Meinens eine Wahrheit gibt - wie auch nur eine Sprache -, dann
kann sie nur durch Aufhebung des Meinens gewonnen werden. Nicht nur die Meinungen
der verschiedenen Dialogpartner stehen einander gegenüber, auch dieselbe Person kann
eine festgehaltene Meinung, wenn man eine Sache anders betrachtet, nicht aufrechterhalten.
Platon versteht deshalb den Dialog zwischen Philosophierenden als Vertreiben des bloßen
Meinens, etwas, das er „Reinigung“ nennt.29 Das, was als Wahrheit, als Idee am Ende
dieser Reinigung hervortritt, ist allerdings kein Jenseitiges; es zeigt sich im Dialog. Um
28
Vgl. dazu auch K.-H. Brodbeck, Arbeit, Arbeitsteilung, Technologie - Kritisches zu neueren
Publikationen aus dem Nachlaß von K. Marx, Osteuropa-Wirtschaft 28 (1983), S. 52-61.
29
Sophistes 230d.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
11
zu diesem Zeigen zu gelangen, muß der Dialog aber geführt werden. Man kann nicht sein
Ergebnis festhalten und künftig an den Anfang stellen. Weshalb? Weil das Meinen ein
individueller Irrtum ist, weil bei den Griechen „Individualität“ identisch ist mit dem
Meinen, also selbst dieser Irrtum ist.30 Ideen sind das, was sich im sozialen Prozeß des
Gesprächs erst zeigt und eröffnet. Im Dialog, in der Sprache konstituieren sich Wahrheit
und Gesellschaft. Da jeder für sich „Meinungen“ mitbringt, und da diesen Meinungen
eben etwas Zufälliges und Beliebiges anhaftet, kann man nicht das Resultat dieser Reinigung an den Anfang stellen, kann man keinen Gegenstand daraus machen.
Nun hat bereits Platon dadurch, daß er solche „Musterdialoge“ vorführte, die Versuchung
nahegelegt, das Ergebnis dennoch vorwegzunehmen, ein fixes Resultat im Dialog zu
suchen, ohne selbst diesen Prozeß der „Reinigung“ immer erneut zu vollziehen. Aber erst
Aristoteles hat diese Objektivierung eines Prozesses dadurch vollendet, daß er ihn in
einen Gegenstand verwandelt hat. Das Allen-Gemeine als sozialer Prozeß des Handelns
und Erkennens wird bei Aristoteles zur realen Allgemeinheit am Ding. Für ihn wird aus
dem lebendigen Gegeneinander der Meinungen, dem Prozeß des Logos, ein „logischer
Widerspruch“. Die Meinung als „Ja“ wird zum Sein, und der Widerspruch als „Nein“
wird zum Nichts.31 „Es ist nämlich unmöglich, daß jemand annimmt, dasselbe sei und sei
nicht“; „denn es ist nicht möglich, daß dasselbe demselben in derselben Beziehung
zugleich zukommen und nicht zukommen“ kann.32 Das Meinen eines Selbst wird zur
Eigenschaft eines Selben, einer Identität. Hier wird bei Aristoteles aus einer lebendigen
Funktion im Dialog, aus einer Reinigung vom bloßen Meinen, eine gegenständliche
Beziehung zwischen Entitäten, zwischen identischen Wesenheiten. Diese Substantivierung, die wir hier für die Geburt der Logik beobachten können, gilt nicht minder für
die Metaphysik.33 Ihr möchte ich mich nun zuwenden.
30
„Obgleich der Logos allen gemein ist, leben die Vielen, als hätten sie ein Denken für sich.“ Heraklit,
Fragment 2; vgl. auch den Schluß dieses Aufsatzes.
31
Platon fragt beim Sein, beim „ist“ nach der Intention des Meinenden: „so müßt ihr uns eben klarmachen,
was ihr damit bezeichnen wollt, wenn ihr das Wort ‚seiend‘ verwendet. Denn ihr wißt es natürlich schon
lange. Wir glaubten es bis jetzt auch zu wissen, nun aber sind wir völlig ratlos.“ Sophistes 244a; übers. v.
H. Meinhardt, Stuttgart 1990, S. 109.
32
Aristoteles, Metaphysik IV, 1005b 20f.
33
Man kann die Subjekt-Prädikat-Struktur der wesentlich von der griechischen Metaphysik mitgeprägten
europäischen Sprachen selbst im Horizont des Handelns beschreiben. Dinge werden in der Sprache zu
tätigen Subjekten, die selbst ihre passiven Eigenschaften nur durch ein „Tätigkeitswort“ ausführen können.
Ein Buch z. B. tut etwas, es liegt auf dem Tisch. Um eine Farbe als Einband „tragen“ zu können, bedarf es
der tätigen Kopula: „Das Buch ist blau.“ Die Grammatik hat eine zur Handlung isomorphe Struktur. Diesen
Zusammenhang von Sprach-Form und Handlungsstruktur kann ich hier nicht vertiefen; vgl. B. L. Whorf,
Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie, Reinbek bei Hamburg
1963.
12
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
Der Begriff der Idee (idea) hat sicherlich, die Wortwurzel weist schon darauf hin, einen
Bezug zum Sehen (Sanskrit vidya), auch im Sinn von eidos, Aussehen. Doch dieses Sehen
von etwas ist im geschichtlichen Umfeld der platonischen Dialoge durchaus von besonderer Art, und es ist erstaunlich, wie wenig diese einfache Tatsache Eingang in die
philosophische Reflexion gefunden hat. „Idee“ war bei den Griechen ein Terminus, mit
dem Architekten ihre Entwürfe aus verschiedenen Perspektiven zusammenfaßten.34 Diese
Entwürfe wurden beim Auftraggeber (in den griechischen Städten das souveräne Volk
selbst) eingereicht, aber nicht von vornherein einem ausgesuchten Architekten übertragen.
„Unter den eingereichten Plänen entschieden der Rat bzw. das Volk. In Zweifelsfällen
konnte ein öffentliches Streitgespräch der Bewerber anberaumt werden.“35 Auch in der
römischen Kultur waren in der Architektur derartige „Modelle“ (= Holzmodelle für
Gebäude) bekannt. Man brachte also im Modell („Idee“) nicht nur etwas zur Anschauung,
das noch nicht verwirklicht war, es fand auch ein Streitgespräch über Ideen, ihre Schönheit, Dienlichkeit usw. statt. Platon übertrug in seinen Dialogen eine soziale Struktur und
formte daraus eine philosophische Kunstform.
Daß dies keine bloß historische und damit vielleicht belanglose Fragestellung ist, zeigt
sich an einer Analyse des Inhalts dessen, was Ideen sind. Ideen sind bei Platon jenes
Prinzip (arche), das die Erscheinungen regiert. Um dies zu verdeutlichen, wählt Platon
immer wieder ein Vorbild: das Handwerk. Die Idee ist das, worauf der Handwerker
blickt, wenn er einen Tisch verfertigt usw. Es ist das handwerkliche Handeln, das hier als
Modell des Modells, als Modell der Idee dient. Platon blickt auf etwas Wahrnehmbares,
einen Prozeß. Um diesen Prozeß verstehen zu können, führt der einen Begriff ein, der aus
einem anderen, lebensweltlichen Zusammenhang entnommen ist: Den öffentlichen
Dialogen über die Entwürfe der Baumeister. Ideen haben offenbar eine öffentliche
„Existenz“; sie zeigen sich im Dialog, in der Sprache, sie gehören einer anderen Sphäre
an als das handwerkliche Tun. Die Totalität dieses Handelns ist eine dynamische Verknüpfung von sozialen Formen und vereinzeltem, handwerklichem Tun. Diese ProzeßStruktur liefert die Basis eines Modells vom Handeln, das Einzelhandlungen schon
deshalb übersteigt, weil Handeln als von Ideen geleitetes Tun in sich ein Bezug der
dinglichen Auseinandersetzung des Handwerkers mit der Natur zum sozialen Prozeß der
Kommunikation, des Dialogs, der öffentlichen Debatte ist. Bei Platon ist dieser Ursprung,
wiewohl bereits durch die Kunstform der Dialoge erstarrt, noch erkennbar.
34
35
H. Lauter, Die Architektur des Hellenismus, Darmstadt 1986, S. 31.
Lauter, Architektur, a.a.O., S. 19.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
13
Die Wirklichkeit des Handwerkers
Aristoteles knüpft daran an; er beobachtet aber bereits auf einer „Metaebene“. Das, was
bei Platon noch ein eben erstarrender Prozeß ist, wird bei Aristoteles seinerseits zum
Gegenstand. Doch selbst bei ihm bleibt noch die Herkunft erkennbar und gewahrt. Ein
Schlüsselbegriff der aristotelischen Metaphysik ist energeia, ein Begriff, der (mit „Wirklichkeit“ von Meister Eckhart übersetzt) zunächst als metaphysischer Begriff fungiert und
später als „Energie“ zu einer naturwissenschaftlichen Grundkategorie geworden ist. (Wie
naiv übrigens das Verständnis auch bei großen Philosophen in diesem Punkt ist, läßt sich
an Wittgenstein demonstrieren. Wittgenstein sagt, er wolle „immer, wenn ein anderer
etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen
Sätzen keine Bedeutung gegeben hat.“ Und was versteht Wittgenstein unter „Bedeutung“? Er sagt: „Die Bedeutung eines Satzes ist die Tatsache, die ihm in der Wirklichkeit
entspricht“.36 Wittgenstein scheint an seinem Argument nichts zu bemerken. Hier zeigt
sich an einem weiteren Beispiel, wie Metaphysik als Denkmodell funktioniert, es zeigt
sich die selbstverständliche Macht der Denkgewohnheit, die „Wirklichkeit“ als implizite
Ontologie verwendet.)
Dieser metaphysische Begriff „Wirklichkeit“ ist nun keineswegs ein rein fiktiver Begriff,
ein bloßes „Als Ob“ im Sinne Vaihingers. Aristoteles wußte noch sehr genau um die
Herkunft dieses Begriffs; ihm war das Denkmodell als Prozeß bei Platon noch gegenwärtig. So sagt er: „Daher ist auch der Ausdruck energeia (‚Wirklichkeit‘) von ergon
(‚Werk‘) gebildet und zielt auf die entelecheia (Vollendung).“37 Als Modell dieses
Begriffs dient das „Werk“, und auch bei Aristoteles ist an vielen Stellen das Handwerk als
Denkmodell noch gegenwärtig.
Was kann man beim handwerklichen Tun beobachten? Platon konzentrierte sich vor
allem auf die Abhängigkeit des Handwerkers von der Idee.38 Die Idee wird nicht vom
Handwerker gemacht, sie ist seinem Tun vorausgesetzt. Der Handwerker erhält einen
Auftrag (eine „Idee“), und er ist in seinem arbeitsteiligen Tun eingebettet in eine Gemeinschaft. Die metaphysische Struktur von Idee und Meinung orientiert sich am Denkmodell
einer sozialen Prozeßstruktur, die Platon an vielen Stellen (vor allem in der Politeia)
beschreibt. Aristoteles stellt diese Prozeßstruktur nun objektiviert dar und formuliert seine
36
L. Wittgenstein, Schriften Bd. 1, S. 184 und 188.
Aristoteles, Metaphysik IX, 8, 1050a.
38
Vgl. Politeia 597a; Theaitetos 146d.
37
14
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
Lehre von den vier Ursachen, die sowohl in der „Physik“ wie in der „Metaphysik“
erörtert wird.39
Aristoteles beschreibt nicht direkt das Handwerk, er beschreibt dessen Beschreibung, baut
auf Platons Philosophie auf. Handlungen haben bei ihm schon den Charakter eines
Beispiels für vorgängige Begriffe.40 Das Handeln, das man am Beispiel des Handwerks
beobachten kann, ist ein Zugang zum Werden. Am Handeln des Menschen erscheint
unmittelbar die innere Struktur des Werdens. Das Meinen über die vergänglichen Dinge
blamiert sich im Dialog in der Konfrontation der Meinungen; aber es gilt auch, daß Ideen
bei ihrer Verwirklichung scheitern können. Der Bezug zwischen Idee und Meinung,
Wesen und Erscheinung bleibt bei Platon also unbestimmt oder offen. Nur im Moment
des Scheiterns, bei der versuchten Verwirklichung, tritt diese offene Stelle hervor. (Diese
Frage war übrigens auch die Tragik in Platons Lebensweg.) Platon diskutiert das Scheitern vor allem an den Ideen über Staatsverfassungen (etwa im siebten Brief).41 Aristoteles
umgeht dieses Problem des Scheiterns von Ideen. Er setzt am Gewordenen an und fragt
nach der Idee, die bereits als Wirklichkeit realisiert wurde. Aristoteles geht vom fertigen
Prozeß - vom Produkt - aus und fragt dann nach den Ursachen, dem Warum.
Die Frage, warum es vier Ursachenarten gebe, beantwortet Aristoteles mit der Beobachtung: „Denn auf ebensoviel Arten fragt man nach dem Warum.“42 Greifen wir ein Beispiel
auf, das Aristoteles verwendet: eine bronzene Bildsäule.43 Eine Bildsäule ist entstanden,
weil jemand sie in Auftrag gab, z. B. für einen Tempel. Diesen Auftrag, den darin liegenden Zweck, nennt die Schulphilosophie später die causa finalis. Die Bildsäule hat zur
Verwirklichung dieses Zwecks eine bestimmte Gestalt, eine Gestalt, die zuvor schon als
Modell, als Gußform existierte, später aber durch das Gießen an der Bronze erscheint.
39
Metaphysik A 3, 983a; Physik, II,3 194b; II,7 198a. Platon nimmt dies schon teilweise vorweg, wenn er
die „erzeugende Kunst“ gelenkt sieht von den Erfahrungen dessen, der aus dem Gebrauch einer Sache die
nötige Sachkunde besitzt (causa finalis als Bestimmungsgrund), Politik 602a.
40
Vgl. Metaphysik IX. Buch, 6, 1048a 35; a.a.O. S. 229: Man „kann auch das Analoge in einem Blick
vereinen, weil es sich um eine Beziehung der Art handelt“. Aber man sieht das Allgemeine (das ist das
Kernproblem des phänomenologischen Blickens) nur hingeordnet auf das erste Leitbild, das die Wahl der
„analogen“ Beispiele festlegt und für sie als Modell dient: das Werk (ergon). Aristoteles fährt auch fort:
„wie sich das Bauende zum Baukundigen verhält ...“; vgl. auch das Beispiel der Hermes-Statue 1048a 30.
41
Diese offene Beziehung zwischen Ideen und ihrem Erfolg, ihrer Realisierung ist übrigens eine Frage, die
erst von Nietzsche wieder aufgegriffen wurde - nicht zuletzt beeinflußt von Darwin, der - philosophisch
übersetzt - einen Wandel der Wesensformen denkt. Vgl. M. Heidegger, Nietzsche Bd. I, Pfullingen 1961,
S. 173ff.
42
Aristoteles, Physik, II,7 198a, übers. v. Gohlke, Paderborn 1956, S. 77. Daß dies mit einem
„Empirismus“ - den man ihm vorhielt - nur wenig zu schaffen hat, ist offenkundig. Es ist ja keine bloße
Sinnlichkeit, der sich Aristoteles zuwendet, er fragt nach dem Seienden als einem Wirklichen, als etwas, das
bewirkt ist.
43
Physik, II,3 194b.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
15
Diese Gußform fungiert als causa formalis. Das Material - Bronze - ist eine dritte Ursache: causa materialis. Und schließlich muß die Bronze erhitzt und gegossen werden:
causa efficiens. Das Denkmodell der vierfachen Verursachung hat unmittelbar an dieser
handwerklichen Tätigkeit einen Sinn. Aristoteles formuliert es jedoch allgemein, macht
es also überhaupt erst dadurch zu einem Denkmodell, und er überträgt es auf andere
Sachverhalte, worin dieses Denkmodell dann als Metaphysik Sinn erzeugt.
Das Handeln des Creators
Zum metaphysischen Denkmodell wird das Handeln, weil es in seiner aristotelischen
Form die Frage nach dem Sein im Werden, dem Wesen im Schein zu beantworten erlaubt.
Die Frage „Warum?“ zielt auf das Bleibende vor und in den Dingen. Die platonische
Dualität von Meinung und Idee bleibt auch bei Aristoteles gewahrt; sie erscheint nun als
analytische Aufspaltung des vergänglichen, werdenden Seienden in ein bleibendes Wesen
und das empirische Ding. Aristoteles faßt drei Ursachen (causa efficiens, formalis und
finalis) zusammen: „Drei Ursachen kommen oft auf eine hinaus; denn das ‚Was‘ und
‚Warum‘ ist eins und der ‚Ursprung der Bewegung‘ ist mit der ‚Form‘ identisch.“44 Aus
dieser Zusammenfassung ergibt sich dann die für die aristotelische Philosophie charakteristische Dualität aus Materie und Form, der Hylemorphismus. Die Form erstarrt zum
Seinsprinzip und verliert den Bezug zu der in Platons Philosophie noch erkennbaren
Gegenwart des Dialogs, der Idee als öffentlich angeschautem und diskutiertem Modell für
Handlungen, die Handwerker im Auftrag ausführen.
Dieser soziale oder ökonomische Bezug auf das arbeitsteilige Handwerk ist in der Metaphysik als Modell der Physik zwar vergessen; dennoch bleibt er als unterirdischer Strom
wirksam. Der aus der Metaphysik als Handelnder verdrängte Handwerker erlebte eine
seltsame Wiedergeburt, angeschaut in einer fernen, entfremdeten Gestalt: Im Schöpfergott, im Creator. Genauer gesagt: Subjektivität erscheint zunächst nicht als individuelle
Bestimmung des Handwerkers, sie taucht zuerst auf als Totalität der Handelnden, zentriert im Creator. Im Creator denken die Handelnden sich als tätiges Subjekt. Bereits
Platon hatte das Handeln als Modell des Werdens auf alles Seiende ausgedehnt und einen
„Demiurgen“, einen Weltenschöpfer postuliert. Viele Schöpfungsmythen bei anderen
Völkern zeigen, daß dieses Denkmodell in der Erklärung der Natur eine zentrale Rolle
spielte. Auch der biblische Schöpfungsbericht spricht diese Sprache. Wenn nach kirchlicher Lehre gilt, daß „jeder Mensch das Wirken des Weltenschöpfers selber wie-
44
Aristoteles, Physik, II,7 198a; Übersetzung von A. Michelitsch.
16
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
der(spiegelt)“45, so ist noch darin eine Isomorphie der Denkform unterstellt. Denn die
Metapher der Spiegelung drückt eine Gleichheit der Struktur aus. Im Schöpfergott wird
das Handeln der Menschen selbst angeschaut; er ist als Modell des Handelns auch dessen
Subjekt. Die Schöpfungsmythen hatten eine Erklärungsfunktion neben den metaphysischen Modellen; es war vor allem die Leistung der scholastischen Philosophie, diese
beiden Traditionen als Einheit darzustellen.
Durch die Totalisierung des Handlungssubjekts als Verursacher, nicht von vereinzelt
Seiendem, sondern als Ursache des Seienden, tritt der Creator als Denkmodell neben die
hervorbringende Kunst des Menschen. Daß darin aber faktisch das Denkmodell des
menschlichen Handelns wirksam ist, zeigt sich an den Fragen, die sich daraus ergeben.
Wenn die menschliche Kunst immer schon etwas voraussetzt - ausgedrückt in der causa
materialis -, ergibt sich durch die Totalisierung dieses Gedankens das Folgeproblem, ob
der Creator als Hervorbringer von Allem damit auch die Materie geschaffen hat oder nur
die Formen zur Gestaltung der Materie. Die christliche Theologie betrachtete es lange
Zeit als Novum des Buches Genesis im Alten Testament, daß Gott die Welt „aus Nichts“
erschaffen habe. Tatsächlich läßt sich zeigen, darauf hat Helmut Meinhardt im Kommentar zu seiner neuen Übertragung von Platons Sophistes hingewiesen, daß Platon den
Gedanken einer creatio ex nihilo durchaus kannte.46
Die These katholischer Autoren, der Begriff der Schöpfung (creare) bedeute eine radikale
Neuerung gegenüber dem griechischen Denken, ist deshalb nicht zu halten. Wenn die
christliche Theologie das Schöpfen als „Ausgehen des gesamten Seins aus dem NichtSeienden oder dem Nichts“ definiert und sagt, es liege diesem creare „nichts (nihil) als
Materialursache zugrunde“47, so wird der ontische Gehalt mit der ontologischen Form
verwechselt. Man kann im Denkmodell des handwerklichen Tuns formal sagen, daß
Schöpfen ein Erschaffen „aus Nichts“ bedeutet. Die Form des „Nichts“ als causa materialis bleibt aber auch bei Negation einer Materie als metaphysische Denkform („Schaffenaus-...“) gewahrt.48 Wichtig ist hierbei also die Einsicht, daß die Denkform auch dann
dieselbe bleibt, wenn sie an ihre Grenze geführt wird, wenn das handwerkliche Handeln
zum Modell eines Subjekts wird, das alles Seiende hervorgebracht haben soll. Die Hoch-
45
Johannes Paul II, Laborem exercens, Aschaffenburg 1981, S. 24.
Nach der Aufzählung von verschiedenen seienden Dingen sagt Theätet: „bei alledem sind wir doch der
Meinung, daß es nur durch das Wirken eines Gottes aus dem vorherigen Nichtsein in das nachfolgende Sein
gelangt sein kann“ [49c], Der Sophist, übers. v. H. Meinhardt, Stuttgart 1990, S. 183 und Anmerkung 222.
47
J. B. Lotz, Martin Heidegger und Thomas von Aquin, Pfullingen 1975, S. 181.
48
Vgl. hierzu ausführlich K.-H. Brodbeck, Der Spiel-Raum der Leerheit, Solothurn-Düsseldorf 1995.
46
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
17
zeit aus christlicher Genesis und aristotelischer Metaphysik in der Theologie und Philosophie des Thomas von Aquin beruht gerade auf der Identität dieses Denkmodells.49
Im Creator als Modell des Handelns ist die wichtigste Basis für den neuzeitlichen
Naturbegriff gelegt. Der Creator ist die letzte Ursache aller Naturdinge, ihr beherrschendes Prinzip. Von Augustinus stammt die Lehre, daß in Gott alle Ideen eins sind; er
ist also zugleich der Ursprung aller Ideen. Platon hatte betont, daß die Idee für den
Handwerker das Beherrschende ist. Die Ideen werden nicht vom Handwerker „gefertigt“;
sie gehen seiner Arbeit, seiner formenden Tätigkeit an den natürlichen Dingen voraus. Bei
Aristoteles ist diese Struktur bereits zu einer abstrakt-metaphysischen geworden: Die
Form (morphe) bestimmt die Materie, den Stoff (hyle) in dem, was er ist, in seinem
Wesen. Das Wesen der Dinge ist an und in den Dingen real und beherrschend. Das Wesen
ist zugleich aber auch Möglichkeit, die erst an einer Materie Wirklichkeit wird. Der
Zugang zu diesem Wesen der Dinge, zu ihrer Möglichkeit ist der Weg der nachträglichen
Abstraktion: Man zieht von den verwirklichten Dingen wieder die Form ab und erkennt
so das, was sie beherrscht.
Wenn ein Interesse erwächst, die Naturdinge beherrschen, sie kontrollieren zu wollen den Grund dafür werden wir gleich sehen -, so bieten sich in der Metaphysik zwei Wege:
Man kann von den „fertigen Naturprodukten“ auf ihre verursachende Form rückschließen,
oder man kann versuchen, auf anderem Wege direkt zur Idee in Kontakt zu treten. Hier
liefert die christliche Synthese aus Platonismus, Aristotelismus und dem biblischen
Creator ein Denkmodell. Und es ist diese metaphysische Synthese, die einen wichtigen
Schritt über die griechische Denkweise hinaus macht. Der Mensch ist Gott, nach biblischer Lehre, ebenbildlich. Das, worin er Gott gleicht, ist seine Vernunft. Er kann zwar,
sagt Thomas von Aquin, die Gedanken Gottes nur nachträglich aus den Dingen erschließen; darin liegt aber die Möglichkeit - erst Descartes verwirklicht sie -, daß der Mensch
auch direkt die Formen der Natur denkend rekonstruiert. Im Grunde vollzieht auch die
Theologie genau das: Sie erklärt Gott und dessen Tun, sie entwickelt ein Modell von Gott
als „reines Handeln“ (actus purus).
49
Obgleich im Creator als Modell entäußert, versichern sich auch platonisierende Theologen ihrer
Argumente immer noch durch die Anschauung des Handwerkers: „Denn die Truhe im Geist des
Künstlers...“, Meister Eckhart, Die lateinischen Werke, hrsg. v. K. Christ und J. Koch, Bd. III, StuttgartBerlin 1936, S. 8. „Wenn wir den Ausgangspunkt betrachten, so werden wir sehen, daß das Kunstwerk
vermittels eines im Geist sich vorfindenden Ebenbildes vom Künstler ausgeht.“ Bonaventura, De reducione
artium ad theologiam, übers. v. J. Kaup, München 1961, S. 255. Bonaventuras „Zurückführung der
Wissenschaften auf die Theologie“ ist ein Modell des wissenschaftlichen Reduktionismus - man brauchte
es nur umzukehren. Die metaphysische Form bleibt von dieser Umkehrung unberührt.
18
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
Blicken wir hierbei nur auf die Struktur dessen, wie gedacht wird, so können wir sagen:
Die Theologie denkt Gott als Gesetzgeber der Natur. Er ist die Synthese aus handwerklichem Tun und der Erschaffung der Ideen. Descartes interpretiert diesen Gedanken auf
seine Weise: Die Menschen können zwar die göttlichen Gedanken (die Naturgesetze) nur
klar und distinkt schauen, sie können sich aber - ihrem Schöpfer analog - dann durchaus
so verhalten wie ihr Ebenbild. Durch denkende Teilhabe am göttlichen Geist sind die
Menschen fähig, die Ideen der Natur vor ihrer Verwirklichung zu erkennen. Daraus
folgert Descartes den für die technische Weltbeherrschung wichtigsten Satz seiner Philosophie: „Die von uns gefundenen Prinzipien sind von solcher Tragweite und Fruchtbarkeit, daß viel mehr aus ihnen folgt, als die sichtbare Welt enthält“.50 Der göttliche Handwerker ist hierin Mensch geworden: Techniker. Der Creator ist keiner der bloß mitwirkenden Götter der Alten, er ist der Gott des Kosmos. Und nun Mensch geworden, ist
diese göttliche Kreativität fähig, alles zu verändern. Es fehlt ihr nur noch der Anstoß, dies
auch zu wollen. Und diesen Anstoß liefert die Subsumtion des handwerklichen Tuns unter
die Interessen der Kaufmannsseele, die ihren metaphysischen Niederschlag findet.
Die in der Theologie gedachte Struktur ist also weit mehr als nur eine „Nebelregion der
religiösen Welt“ oder eine „verhimmelte Form“.51 Sie ist die Denkform, in der gehandelt
wird. Die Menschen begreifen sich als Handelnde in ihrer Abhängigkeit von einem
Creator nicht einfach nur als fremdbestimmte Wesen; dagegen spricht nichts weniger als
die Theologie selber. Sie ist ja die Erklärung Gottes und spricht damit in ihrem denkenden Tun aus, was ihr Meinen leugnen mag: Produzent der Denk- und Handlungsform zu
sein, die für das Handeln in der Gesellschaft bestimmend wird. Die Aufklärung vollzieht
nur den Schritt, das, was die Theologie tut, bewußt zu tun. Man kann zwar nicht sagen,
daß die Theologie unbewußt denken würde, daß also gleichsam ein unbewußter Prozeß
später zur Tageshelle des Bewußtseins erwachen, zur Erleuchtung gelangen würde. Was
sich aber ändert, ist die Intention des Bewußtseins im Handeln, nicht die metaphysische
Form des Gedankens.
Es ist so, wie wenn jemand, der ein halbes Leben lang den Satz aus dem JohannesEvangelium „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ zitiert, und dann plötzlich
entdeckt, was er mit „Ich“ eigentlich sagt. Metaphysische Kategorien werden faktisch in
den Wissenschaften weder verworfen oder kritisiert, noch werden sie „bewußt“. Die
Denkform bleibt durchaus dieselbe; was sich ändert ist das Meinen, die Intention. Die
Menschen haben sich in der Theologie immer „selbst“ gedacht; es war eine Form ihres
50
51
Descartes, Die Prinzipien der Philosophie II, 10; übers. v. A. Buchenau, Hamburg 1955, S. 65.
K. Marx, Das Kapital Bd I, MEW Bd. 23, S. 393 und S. 86.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
19
Handlungsbewußtseins, und sie haben in dieser Form gehandelt, nicht etwa in einer
anderen (die man „Basis“ nennen könnte). Diese Denkform ist nicht belanglos für ihr
Handeln, sie ist der bestimmende Grund. Wenn die Wissenschaften diese Denkform
übernehmen und nur umdeuten in ihrem Meinen (man bewundert nicht mehr nur die
Naturgesetze, man wendet sie an), dann verbleiben sie in diesem metaphysischen Horizont.
Die Wissenschaften sehen in ihrem Naturbegriff nicht ihre Tat, sie sehen ein Tun der
Naturgesetze, die ihrerseits wieder dazu dienen (in ihren entsprechenden Varianten), den
Menschen in dem auszulegen, was er meint zu sein. An dieser metaphysischen Struktur
hat sich nichts verändert: Metaphysik heißt eben, das eigene Handeln als etwas fremdes
auszulegen.52 Und die Geschichte der Wissenschaften hat dieses „in die Ferne rücken“
immer noch weiter vollzogen, indem die sie Mensch und Erde aus dem Zentrum entfernen, im Marxismus die sozialen Denkformen auf den mechanischen Gegensatz der
Klassen reduzieren, im Darwinismus die eigene Gattung als Resultat eines Wettbewerbsprozesses der Arten auslegen, das eigene Ich-Bewußtsein als gesteuert von unbewußten
Kräften deuten, schließlich in der Genetik und den Neurowissenschaften den ganzen Menschen als Produkt begreifen. Die Frage freilich, wer dies alles denkt und tut, diese
Frage wird drängender und bleibt unbeantwortet. In dieser Hinsicht verwirklicht sich das
Programm der Metaphysik auf immer vollkommenere Weise, gerade dadurch, daß ihre
frühen Formen als „Metaphysik“ wissenschaftlich kritisiert werden.
Zur Modifikation des Handwerksmodells
durch die Subsumtion unter die Kaufmannsseele
Ein wichtiges Resultat des mittelalterlichen Aristotelismus war die einheitliche Struktur,
mit der die menschliche Gesellschaft und die Natur beschrieben wurden. Da die Ordnung
der Natur darin durch die Zwecke bestimmt wird, die Naturdinge für Menschen erfüllen insofern also auf den Menschen als causa finalis hingeordnet ist -, fallen die Nutzung der
Naturdinge, die Tätigkeit dieser Nutzung (im weitesten Sinn das ökonomische Handeln)
und die Ordnung der Natur selbst zusammen.53 Durch die menschlichen Zwecke hindurch
52
Allerdings vollzog sich in Asien bereits sehr früh der Umschlag, die Umkehr der Intention im Denken
des eigenen Handelns. Der Satz, daß die Welt durch die Taten der Lebewesen (karma) hervorgebracht ist,
wird im Buddhismus klar formuliert. Die moderne Naturwissenschaft nähert sich dieser Einsicht heute an;
vgl. die letzten beiden Abschnitte dieses Textes.
53
„Die rechte Reihenfolge der Dinge stimmt mit der Reihenfolge in der Natur überein: denn die natürlichen
Dinge sind ohne Irrtum auf ihr Ziel hingeordnet.“ Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden III, 26,
Dritter Teil, hrsg. v. L- Allgaier, Darmstadt 1990, S. 111.
20
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
zielt alles Handeln auf die erste Ursache allen Seins: Gott. Somit ist die gesamte Naturund Menschenordnung als eine Ordnung erfaßt und im Denkmodell der aristotelischen
Metaphysik beschrieben.
Diese homogene Denkstruktur, die vor allem in der summa theologica des Thomas von
Aquin vollendet entfaltet wird, verlor ihre Überzeugungskraft, mit einem erkennbaren
Grund. Im historischen Sinn können wir dies durch das Vordringen einer neuen sozialen
Struktur beschreiben: durch die von den Kaufleuten getragene Vermehrung des Geldes im
Zins. Ihr liegt ein besonderer Handlungstypus zugrunde, der das einfache Handlungsmodell des Handwerkers als Denkform vielfach überlagert und modifiziert. Und diese
Denkform spielt bereits bei Platon und Aristoteles eine wichtige, eine beunruhigende
Rolle. Sie erscheint für das Handwerkermodell als fremde, äußere Struktur, weil das
Handeln in diesem Modell vereinzelt wird und nicht in seiner sozialen Totalität als Prozeß
der Vermittlung von Ideen und Natur gesehen wird. Tatsächlich macht sich in der Überlagerung dieser besonderen an der Quantität und am Maß orientierten Denkform des
Kaufmanns nur das Ganze des Handelns an seiner handwerklichen Besonderung geltend:
„Doch alles hast du nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ [Weish. 11,20]
Ich will die Logik dieses kaufmännischen Handlungs- und Denkmodells hier nicht
explizit darstellen; das ist an anderer Stelle geschehen.54 Soviel möge für den Fortgang
unserer Überlegung hinreichen: Beim Handeln des Handwerkers ist, darauf haben wir
hingewiesen, die soziale Vernetzung der Handelnden stets implizit. Die „Idee“, der
handwerkliches Tun folgt, hat ein öffentliches, kommunikatives Sein. Der Zweck, auf den
ein handwerkliches Produkt zielt, weist über den Tätigen hinaus. Das Produkt dient einem
anderen, mit dem er in arbeitsteiligem Austausch steht. Dieser Zusammenhang geht in der
metaphysischen Formel von der causa finalis verloren; der Zweck erscheint hier als
Hypostasierung, die zur bestimmenden Ursache wird. Der Prozeß der Vermittlung der
vielen handwerklich Tätigen ist der Austausch. Und dieser Austauschprozeß findet im
Kaufmann eine funktionale und personale Besonderung. Der Tausch ist ein Anderes als
das Abarbeiten an Naturdingen im Handwerk. Aus dem Austausch erwächst das kaufmännische Gewinnstreben, die Maximierung des Zinses; eine den Tauschprozeß parasitär
überlagernde, neuartige Funktion des Handelns, die von Aristoteles und Platon mit
Nachdruck bekämpft wurde. Noch das kanonische Zinsverbot knüpft daran an. Im Zins
zielt der Kaufmann auf eine Maximierung des Geldes, einer einfachen Zahl mit einem
abstrakten Inhalt. Die Tauschfunktion des Geldes, die als Maß die arbeitsteiligen Hand-
54
Vgl. Brodbeck, Die fragwürdigen Grundlagen a.a.O., Kapitel 5.5.2; Erfolgsfaktor Kreativität a.a.O.,
Kapitel 11-13; vgl. auch: K.-H. Brodbeck, Transrationalität a.a.O.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
21
werker koordiniert, wird ge- und mißbraucht, um durch die Subsumtion unter reine
Tauschprozesse Geld zu vermehren.
Das Geld überlagert sich als universelles Maß nicht nur anderen sozialen Handlungen, die
dem Zins eigentümliche Tendenz zur unendlichen Geldvermehrung läßt diese Subsumtion
des Handwerks unter den Tausch zu einer verändernden Macht werden. Die zugehörige
Denkform ist die reine Quantität, die alle anderen besonderen Maße regiert; Natur und
menschliche Arbeit erscheinen als bloßer Widerstand gegen das Bestreben dieser unendlichen Geldvermehrung. Gerade die Gegnerschaft gegen die Funktion und Rolle der
Kaufleute, die bei Platon und Aristoteles zu finden ist, scheint ihr Denken geprägt zu
haben (im Sinn von Spinozas negierender Determination). Platon, der die Herrschaft der
Idee über handwerkliches Tun besonders herausstellt, sieht in seinem Spätwerk in der
Zahl das herrschende Prinzip aller Ideen. Aristoteles lehnt diese Interpretation ab, doch
auch er beschreibt Zahl und Zeit als Größen, die Dinge beherrschen oder subsumieren.
Zahl und Zeit umhüllen alle Dinge als allgemeines Maß; vor allem ist die Zeit auf die
Zahl rückführbar als das Gezählte an der Bewegung.55
Der moderne Naturbegriff
In dieser Struktur, die ihren besonderen metaphysischen Niederschlag als Denkmodell
findet, wird der moderne Naturbegriff geboren. Sieht sich der Handwerker in seinem je
spezifischen Tun einem ebenso spezifischen Naturwiderstand gegenüber, so interessiert
die Kaufmannsseele nur der allgemeine Widerstand, der sich dem ebenso allgemeinen
Maß des Geldes und seiner Vermehrung widersetzt. Handwerkliches Tun ist in sich
vielfältiges Handeln. Zwecke, Materialien und die Tätigkeitsarten unterscheiden sich. Die
kaufmännische Subsumtion dieser vielen Tätigkeiten unter einen übergeordneten und
abstrakten Zweck reduziert die Vielfalt der Handlungen auf eine einzige: Eine allgemeine
Kraft (Arbeit), die wertvolle Güter hervorbringt, und dies in minimaler Zeit. Das Streben
nach Maximierung einer reinen Quantität findet in der Mechanik seinen vollkommenen
Niederschlag.56
55
Aristoteles, Physik 220ff.
Es ist eines der interessantesten Kapitel der Mechanik, daß die Maximierung und das Gleichgewicht von
Körpern mathematisch äquivalente Ausdrücke sind: Eine Änderung ist formal die Ableitung einer
Wegstrecke x nach der Zeit t: dx/dt. Wird die Änderung = 0, so herrscht ein Gleichgewicht. Geometrisch
gedeutet ist dies aber zugleich eine notwendige Bedingung für eine Maximierung, für das ökonomische
Prinzip. Vgl. zu diesem - hier stark vereinfachten - Prinzip von Maupertius: E. Mach, Die Mechanik in ihrer
Entwicklung, Leipzig 1921, S. 61. Diese Dualität von Gleichgewicht und ökonomischem Prinzip zeigt sich
56
22
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
Der abstrakte Begriff der Kraft korrespondiert deshalb unmittelbar dem Begriff einer
allgemeinen Naturkraft, die noch an der Wende zum 20. Jahrhundert in den Naturwissenschaften den Namen „Arbeit“ trägt.57 Während die Nationalökonomie den Begriff der
allgemeinen, abstrakten oder einfachen Arbeit formuliert, entwickelt die Naturwissenschaft parallel dazu den Begriff einer allgemeinen Naturkraft „Arbeit“. Die gemeinsame
Erfahrungsbasis für diese Entwicklung in ihrer Reifephase ist die Dampfmaschine und
der damit verbundene Fragenkomplex. Das kaufmännische Interesse einer maximalen
Geldvermehrung durch die Unterwerfung aller Aspekte des Arbeitsprozesses unter das
Ziel einer abstrakten Effizienz zeigt sich an der Dampfmaschine als Frage nach dem
Wirkungsgrad. Und dies ist die Geburtstunde der Thermodynamik.
Ähnliche Fragestellungen tauchen in anderen Bereichen bereits viel früher auf: Bei der
Optimierung des Transports über die Wasserstraßen, bei der Wasserpumpleistung in
Bergwerken, bei der Energiegewinnung usw. Doch erst bei der Dampfmaschine tritt die
ökonomisch-physikalische Frage gleichsam in so reiner Form hervor, daß sich daran
sowohl die Ökonomie der klassischen Nationalökonomie wie die Wärmelehre orientierten. Stellte sich Adam Smith die Frage, wie die jährliche „Arbeitssubstanz“ als Quelle für
den Reichtum der Nationen produziert und verteilt wird, so fragt Sadi Carnot nach der
bewegenden Kraft des Feuers und seiner Umsetzung bei der Dampfmaschine. Während
Karl Marx in der Tradition der klassischen Ökonomie die Frage nach der Erhaltung einer
Wertsubstanz stellt und die neoklassischen Ökonomen eine Erhaltung der Kapitalsubstanz
für ihre Behauptung einer „Produktivkraft des Kapitals“ postulieren58, formuliert die
Physik den Erhaltungssatz der Energie.
Betrachtet eine bäuerliche Welt die Veränderungen der Jahreszeiten als durch den Lauf
der Gestirne bestimmt, so versucht die bürgerliche Welt Herrschaft über die Zeit durch
ein Maß zu gewinnen. Man holt die Bewegung der Planeten und der Sonne, das „natürliche Zeitmaß“, auf die Erde durch Planetarien und entwickelt daraus die Uhr. Die vielen
„Zeiten“ der natürlichen Rhythmen, des Tagesverlaufs, der Jahreszeiten usw. werden
fortan gemessen an der einen Zeit, die dem einen Maß des Austauschs, dem das Geld
korrespondiert. Transportrouten, Jahreszeitwechsel für die Ernten, Lieferzeiten von Vorund Zwischenprodukten handwerklicher Arbeit usw. werden schrittweise dem kaufmän-
auch im Hamiltonschen Prinzip der kleinsten Wirkung, aus dem gleichfalls das „Grundgesetz der
Mechanik“ (kurz gesagt: die Rückführung der Dynamik auf die Statik) abgeleitet werden kann; vgl. M.
Planck, Einführung in die Allgemeine Mechanik, Leipzig 1920, S. 167f. und S. 172f.
57
Vgl. W. Ostwald, Grundriß der Naturphilosophie, Leipzig 1908, Dritter Teil: „Die
Arbeitswissenschaften“.
58
Vgl. K.-H. Brodbeck, Wertsubstanz, Exploitation und tendenzieller Fall der Profitrate. Zu einigen
Resultaten der Marschen Ökonomie, Jahrbuch der Wirtschaft Osteuropas, München-Wien 1980, S. 45f.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
23
nischen Maß der Verwertung in Geld unterworfen. Und diese soziale Handlungsform ist
zugleich das Denkmodell der abstrakten, an einer Uhr gemessenen öffentlichen Zeit.
Die Uhr ihrerseits wurde wiederum zur historischen und logischen Keimzelle der Maschinen, philosophisch eine Quelle des Systembegriffs in Natur und Gesellschaft. Die Unterwerfung natürlicher Abläufe unter technische Hilfsmittel war auch hier schon zuvor eine
Frage, die unmittelbar in die Metaphysik reichte. Das Ein- und Vordringen des durchgängig mechanisch (an der Maschine orientierten) Denkmodells in den Bereich der
aristotelischen Handlungsmetaphysik kann man schon bei Plotin beobachten. Plotin
übernimmt einerseits Platons Demiurgen zur Beschreibung des Seienden im Denkmodell
des Handwerkers (unter deutlichem Einfluß aristotelischer Fragestellungen). Er wehrt
dabei aber andererseits schon eine neue Betrachtungsweise ab, die durch die Anwendung
technischer Geräte wie Hebelwerke nahegelegt wurde.
Plotin sagt über die Bewegungen in der Natur: „Daß dabei nicht Hände noch Füße im
Spiele sind und kein zugebrachtes oder angestammtes Werkzeug, daß dagegen Materie
nötig ist damit die Natur an ihr schaffen und ihr Gestalt verleihen könne, das ist wohl
jedermann einleuchtend. Man muß aber auch das mechanische Hebelspiel fernhalten von
dem Schaffen der Natur.“59 Diese Abwehr eines fremden, mechanischen Denkmodells in
der Beschreibung der Natur ist eine bleibende Beunruhigung in der Naturphilosophie. Die
völlige Unterwerfung der modernen Naturwissenschaft unter die abstrakte Herrschaft der
Zahl, die wir als Überlagerung des Handwerkermodells unter die karge Abstraktheit der
Kaufmannsseele bestimmt haben, hat vielfältigen Widerstand hervorgerufen: Goethes
Farbenlehre und sein Widerstand gegen Newtons Theorie des Lichts ist dafür ebenso ein
Beispiel wie Schellings Naturphilosophie oder Heideggers Naturbegriff in der Auslegung
von Hölderlins Dichtung.
Die Uhr, das technische Instrument zur Erkenntnis und Beherrschung der abstrakt interpretierten Zeit, wurde als Modell der Maschine zugleich das Denkmodell der modernen
Metaphysik. Bemerkenswert ist hierbei folgende Bewegung des Denkens. Man kann
erkennen, wie am Denkmodell der Maschine schrittweise die aristotelische Theorie der
vierfachen Verursachung abgebaut und kritisiert wurde, bis schließlich nur noch die
causa efficiens im naturwissenschaftlichen Materialismus als allein geltende Ursache
anerkannt wurde, während Form- und Zweckursachen verschwanden. Einsteins spezielle
Relativitätstheorie stellt den Höhepunkt dieser Entwicklung dar, denn in ihr verschwindet
auch noch die causa materialis als neben der Energie wirkende Ursache durch die Identifizierung von Masse und Energie. Das von Kaufleuten als soziales Bestreben initiierte
59
Plotin, III. Enneaden, Buch 8,2; übers. v. R. Harder.
24
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
Zurückführen aller besonderen Maße auf ein berechen- und kontrollierbares Maß erreicht
hier einen Höhe-, freilich keinen Endpunkt. Festzuhalten ist, daß in der Uhr die Herrschaft
der Zahl über die Zeit, das Programm der aristotelischen Metaphysik, realisiert wurde.
Die selbsttätige Maschine als Fortführung der Uhrentechnologie (später durch vielfältige
Antriebe und Steuerungsmechanismen ergänzt) ist die Gegenstand gewordene Herrschaft
der Zahl über die Bewegung.
Descartes hatte die Dualität des aristotelischen Hylemorphismus ebenso bewahrt wie
kritisiert. Was bei Aristoteles in der Materie wirksame Formkräfte waren, das wird bei
Descartes vollständig in die geometrische Form aufgelöst (res extensa als Definition des
Körpers). Körper ist nur, was an ihm räumlich gemessen werden kann. Ein Körper wird
nicht mehr durch etwas Einhüllendes gemessen, wie Aristoteles von der Zahl sagt, der
Körper ist Ausdehnung: „(D)enn in Wahrheit ist die Ausdehnung in die Länge, Breite und
Tiefe, welche den Raum ausmacht, dieselbe mit der, welche den Körper ausmacht.“60
Materie wird in den Raum, der Raum durch Descartes´ analytische Geometrie wiederum
in die Zahl aufgelöst. Was als Beherrschung des Handelns durch eine Metahandlung, die
alles an einem Maß mißt (dem Geld), seine soziale Prozeßstruktur besitzt, findet seine
letzte metaphysische Konsequenz in einem Naturbegriff, der alle Naturgesetze als Geometrie eines gekrümmten Raumes entfaltet: in Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie.
In der Reduktion auf eine quantitative Struktur (Mathematik) haben Naturwissenschaft
und Ökonomie dieselbe metaphysische Form.
Die moderne Wirtschaftswissenschaft kann damit zu einem bloßen Appendix der naturwissenschaftlichen Methode werden: Wenn die ökonomische Theorie naturwissenschaftliche Denkmodelle zur Beschreibung der Wirtschaftsprozesse übernimmt und
imitiert, dann erreicht die Entfremdung von der sozialen Herkunft, der bewegenden Kraft
des Handelns, ihr Äußerstes. Jene Theorie, die eigentlich eine Lehre des Geldes sein
sollte, formuliert (in der neoklassischen Theorie des Tausches) ihr Modell so, daß darin
Geld überhaupt fehlt. An seine Stelle ist ein abstrakter und leerer Rechenmaßstab getreten: der „Nutzen“.61 Der Horizont der Überlagerung aller konkreten Handlungen durch
den abstrakten Maßstab des Geldes ist in der Moderne zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, daß selbst jene Wissenschaft, die sich eigentlich dem Geld zuwenden
sollte, die ausdrückliche Einführung eines abstrakten Maßes gar nicht mehr benötigt: Es
60
R. Descartes, Prinzipien a.a.O., S. 35.
Nur sehr wenige Ökonomen haben das Problem eines sozialen Maßstabs überhaupt als Frage bemerkt.
Vgl. F. v. Gottl-Ottlilienfeld, Die Wirtschaftliche Dimension. Eine Abrechnung mit der sterbenden
Wertlehre, Jena 1923; ders., Wirtschaft als Leben. Eine Sammlung erkenntniskritischer Arbeiten, Jena
1925.
61
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
25
ist bereits in der übernommenen naturwissenschaftlichen, mechanischen Theorieform
implizit.62
Marx, der Kritiker der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft, der doch auf den ersten
Blick die Frage nach dem sozialen Maß gestellt hat, verbleibt sogar inhaltlich dieser
Hypostase der sozialen Abstraktion verhaftet, wenn er den Wert als soziale Substanz
einführt, die ihrerseits auf eine natürliche Substanz reduziert wird, auf die „Verausgabung
von menschlichem Hirn, Nerv, Muskel, Sinnesorgan usw.“63 Daß diese Verausgabung
wiederum nur als Durchschnitt verstanden wird, daß also tatsächlich der Wert „etwas rein
Gesellschaftliches“64 ist, diese offene Frage bleibt ungeklärt in der Marxschen Theorie.
Sie beruht, ich habe bereits oben darauf hingewiesen, auf der metaphysischen Denkform
der Formsubstanz (causa formalis), die vor den Beziehungen eines Dings zu anderen
Dingen wirklich sein soll, während der „Wert“ ein sozialer Prozeß ist, der sich zwar
dinglich am Geld als Maß vollzieht, dem aber an den getauschten Gütern keine Substanz
entspricht.
Ein halbes Pfund Butter, dem Kaufhausregal entnommen und bezahlt, verliert mit dem
Entfernen des Preisschildes bzw. der Verpackung die Spur dieser sozialen Tauschvermittlung. Im heimischen Kühlschrank fehlt die Bestimmung „Wert“. Das Geld als Maß ist
Prozeß, und diese Denkform übersteigt grundsätzlich das Modell der handwerklichen
Handlung, das eine Form am Ding als Eigenschaft behauptet. Das Geld ist nur Funktion;
die Eigenschaft „Wert“ kommt nicht den Gütern zu, vielmehr nur ihrer sozialen Beziehung. Marx bemühte sich, diese Struktur zu enträtseln, doch er bleibt in der Metaphysik
des Hylemorphismus gefangen, auch und gerade im berühmten Kapitel über den „Fetischcharakter der Ware“, der darin gründen soll, daß „das gesellschaftliche Verhältnis der
Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen“65 erscheint. Hier fungiert die „Gesamtarbeit“ als Substanz, zu
der andere Dinge Beziehungen unterhalten. Es ist kein Wunder, daß diese Abstraktion im
„Gesamtarbeiter“ sogar Subjekt wird - der nun das Erbe des scholastischen Creators oder
des Werkmeisters bei Hegel antritt, freilich als mechanischer Creator: „Der kombinierte
Gesamtarbeiter, der den lebendigen Mechanismus der Manufaktur bildet“.66 Die „Mi-
62
„Wie die Mechanik von der Bewegung, von den Geschwindigkeiten handelt, so handelt die reine
Volkswirthschaftslehre (...) von dem Tausche, von den Preisen“. L. Walras, Mathematische Theorie der
Preisbestimmung der wirtschaftlichen Güter, Stuttgart 1881, S. 24.
63
Marx, Das Kapital a.a.O. S. 85.
64
a.a.O., S. 71.
65
a.a.O., S. 86.
66
a.a.O., S. 359.
26
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
litarisierung der Arbeit“ in der russischen Revolution, der „durch die Gestalt des Arbeiters
legitimierten Macht“67, wird im Personenkult des Stalinismus die zur Kenntlichkeit
gewordene Wirklichkeit dieses Subjekts.
Die Rückkehr der Formursache und moderne Subjektivität
Die Reduktion des Naturbegriffs auf das Maschinenmodell hat gerade durch seine konsequente Anwendung offenbart, daß die Natur anderes ist als eine Maschine, ein kosmisches
Uhrwerk. Einmal hat die technische Vervollkommnung der reinen Kraftmaschinen zu
durch Programme gesteuerten Maschinen die Information, das Programm als neue
Dimension neben der physikalischen Arbeit wieder bewußt gemacht. (Auch bereits
einfache Maschinen substituieren keineswegs nur die causa efficiens, sondern auch die
causa formalis. So ersetzt z. B. die Töpferscheibe die Kreisbewegung der Hand des
Töpfers.68 Die funktionale Trennung von Programm und energetischem Prozeß ist aber
eine wichtige Differenzierung dieser Struktur.) Zum anderen hat die Darwinsche Evolutionstheorie als rein energetische Selektion die Reproduktion der Arten nicht erklären
können. Erst ihre Ergänzung durch die Genetik im Neodarwinismus ist zu einer erfolgreichen wissenschaftlichen Denkform geworden. Beide Prozesse, die Weiterentwicklung der
Maschine zum programmgesteuerten kybernetischen Apparat, damit das Auftreten des
Informationsbegriffs neben dem Begriff der Energie, und die Genetik haben es notwendig
gemacht, die cartesische Reduktion der vier Ursachen wieder rückgängig zu machen.
Auch wenn Naturwissenschaftler immer noch vielfach an einer „vereinheitlichten Theorie“ festhalten, so haben sie praktisch längst wieder eine causa formalis akzeptiert, die
nun wahlweise „Feld“, „Ordnung im Chaos“, „Information“ oder „DNS“ heißt. Hier zeigt
sich, daß die metaphysische Denkform praktisch korrigiert wird, wenn auch sicherlich
nicht ohne Widerstände und allerlei verschlungene Bewegungen. Die Rückführung der
erreichten höchsten Abstraktion aller Prozesse auf eine Form der Ursache (auf die causa
efficiens) im Maschinenmodell der Natur und der Gesellschaft hat mit der Wiedereinführung der Formursache allerdings nicht ihren Endpunkt erreicht.
Eine wesentliche Voraussetzung der bei Aristoteles zum Hylemorphismus erstarrten
Denkform des vereinzelten, handwerklichen Handelns ist der Satz der Identität. „Identität“ verweist auch etymologisch auf ein Modell des Selbst: Die Identität einer Sache und
das menschliche Selbst haben einen dunklen Ursprung. Was bei Platons impliziter Aus-
67
68
E. Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932, S. 67f.
Vgl. K.-H. Brodbeck, Produktion, Arbeitsteilung und technischer Wandel, Düsseldorf 1981, S. 35f.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
27
legung des Handelns immerhin noch spürbar ist - das soziale „Sein“ der Ideen -, das ist
bei Aristoteles im Begriff der morphe als einer objektiven Gestalt verschwunden. Die
Griechen stellten keine Frage nach dem Selbst des Handwerkers, nach seiner personalen
Identität. Darin liegt kein Mangel, sondern die Einsicht in eine Struktur des Selbst, die
nach der cartesischen „Geburt“ des ego cogito gar nicht mehr unmittelbar verständlich ist.
Allerdings liegt der Grund für diese metaphysische Position weitaus tiefer; er zeichnet
sich bereits bei Heraklit ab in seinem keineswegs „dunklen“ Satz, daß der logos allen
gemeinsam ist, die Vielen aber leben, als „hätten sie ein Denken je für sich“69. Die
Vorstellung eines denkend vereinzelten Individuums als ontologischer Basis ist den Alten
fremd.70 Das spielt auch noch bei Platon eine tragende Rolle. Identität ist etwas, das im
Dialog vom Wider-Spruch her gedacht wird.
Die personale Identität des Handwerkers wird erst beim christlichen Gott, dessen Definition lautet: „Ich bin der Ich bin“, zu einer impliziten Frage. Die vielfältigen Strukturmomente eines allmächtigen, allgütigen usw. Individuums, das zugleich handwerklicher
Weltenschöpfer ist, in der Theologie strittig diskutiert, meinten zwar ein fremdes Wesen,
sie waren aber faktisch der Vollzug eines Subjekts, das in Descartes Philosophie durch
eine Umkehrung der Intentionalität auf den Menschen in der Identifizierung von Ich und
Denken mündete. Das ungeklärte Selbst des Handwerkers in der Philosophie Platons (das
noch eingespannt war zwischen der sozialen Dimension der Sprache als Ort der Offenbarung von Ideen und der dinglichen Auseinandersetzung mit der Natur), überlagert durch
ein Denken, das alles an einem Maß mißt (der Kaufmannsseele), mündet in die cartesianische Metaphysik des ego cogito. In ihr wird das Denken und Handeln als Tun eines
Individuums begriffen, dem diese Tätigkeiten individuell zukommen und das vor dem
Handeln eingekapselt ist in ein transzendentales Ich.
Die Zweckursache, aus der äußeren Welt verbannt, wird zur neuzeitlichen Subjektivität,
einem je isolierten Individuum, mit einer dreifachen Konsequenz: Erstens findet die
causa finalis als abstraktes Nutzenstreben in der Wirtschaftswissenschaft einen Unterschlupf im Mechanismus egoistischer Sozialatome. Zweitens entfernt die Naturwissenschaft mit der Formursache auch das Subjekt aus ihrem Reich: Die Totalisierung des
Seienden zum Produkt einer Allursache, eines Schöpfergottes nimmt die Formursache aus
dem Einzelding in die göttliche Vernunft zurück, und es bedurfte nur eines kleinen
69
Fragment B 2. Vgl. auch Fragment B 113: „Gemeinsam ist allen das Denken“.
So ist auch Heraklits Satz in Fragment 119 zu verstehen: ethos anthropos daimon, der keineswegs eine
Besessenheit durch den Dämon ethos meint, sondern in ethos auf die Gewohnheit, die Tradition, die Sitte
der Vielen verweist. Wenn wir Daimon grob mit „Selbst“ übersetzen, dann besagt dieses Fragment, daß der
Einzelmensch ein soziales Wesen ist, daß aber das, was „das Soziale“ ausmacht, eben das Denken, der
Logos ist, der die Vielen eint und übersteigt. Das Selbst ist Privation des Sozialen als Gewohnheit.
70
28
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
Schrittes, dieses Denkmodell als Herrschaft abstrakter Naturgesetze ohne göttliches
Subjekt zu deuten. Die auf diese Weise heimatlos gewordene Subjektivität des Schöpfergottes kehrt drittens in der Philosophie als transzendentales Ego wieder. Dieses Subjekt,
aus der Natur verbannt, ist nunmehr damit beschäftigt, sich der „Realität der Außenwelt“
durch Beweise zu versichern - die nicht finden zu können Kant einen „Skandal in der
Philosophie“ nannte.71
Es ist nicht mehr nur Gott, der „gewaltige Zaubermeister“72, der die Ideen, die Naturgesetze wie ein Handwerker „herstellt“, nun tritt ihm der Mensch an die Seite, der im Rahmen
dieser Naturgesetze „mehr aus ihnen gestaltet, als die sichtbare Welt enthält“. Wahr ist
nicht mehr, was eine Vernunft erkennend aus der wirkend-tätigen Natur abstrahiert, als
wahr wird nur noch das erkannt, was der Mensch selbst macht. Es entsteht ein technischer
Wahrheitsbegriff, der den Experimentator als Nachfolger des Handwerkers einsetzt.
Kriterium der Wahrheit ist bei Giambattista Vico „das Geschaffenhaben“73; wahr ist in
dieser Definition des modernen Menschen das, was er kann.
Kant vollendet diese notwendige Konsequenz der Metaphysik, wenn er sagt: „der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser
vor.“74 Die Natur ist nunmehr das völlig Beherrschte durch das transzendentale Ego. Um
die Wahrheit der Natur zu erfahren, muß die Vernunft „die Natur nöthigen auf ihre
Fragen zu antworten“75. So orientiert sich noch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ am
fernen Schatten des Handwerkermodells, wenn sie von einer „dem Naturforscher nachgeahmten Methode“ spricht, die darin besteht, „die Elemente der reinen Vernunft in dem
zu suchen, was sich durch ein Experiment bestätigen oder widerlegen läßt.“76 War für
Platon die Differenz zwischen dem Demiurgen und dem Handwerker die, daß er vom
Handwerker sagt: „die Idee selbst verfertig keiner der Handwerker“77, so holt die Moderne diese Differenz ein.
71
„So bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der
Dinge außer uns (von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unsern inneren Sinn her
haben) bloß auf Glauben annehmen zu müssen, und, wenn es jemand einfällt, es zu bezweifeln, ihm keinen
genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können.“ I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten
Ausgabe, B 38f.
72
Platon, Politeia 596d; a.a.O., S. 433.
73
G. Vico, Liber metaphysicus; zit. nach N. Erny, Theorie und System der Neuen Wissenschaft von
Giambattista Vico, Würzburg 1994, S. 40.
74
I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, Werke Bd. 5, S. 189.
75
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 13.
76
a.a.O. B 17, Note; Kants Hervorhebung.
77
Platon, Politeia 596b a.a.O., S. 432.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
29
Die Form wird aus der Natur verbannt und der Vernunft anheimgegeben. Der Deutsche
Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels unternimmt es dann, die Kategorien als dialektischen Prozeß aus sich selbst zu erzeugen - und Hegel sagt ausdrücklich, daß er in seiner
Logik Gott modelliert, nämlich die „Darstellung Gottes“ liefert, „wie er in seinem ewigen
Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“78. Das ist nun keine
neuzeitliche Anmaßung Hegels, es ist nur - wie oft bei Hegel, der in gewisser Weise
tatsächlich die wichtigsten Strömungen der abendländischen Philosophie in sich vereinigt
- der reine Begriff eines Tuns, das mit Platons Beschreibung des Demiurgen einsetzt, sich
in den aristotelischen Beweisen für einen ersten Beweger vertieft und in den Gottesbeweisen der Theologie und der Philosophie der neueren Zeit fortsetzt. In dieser äußersten
Entfernung vom Tun des Handwerkers, beim Weltgeist als „Werkmeister“, bleibt allerdings der Anfang immer noch gegenwärtig: als Horizont des Handelns.
Die „metaphysische Krise“ der Gegenwart
Was sich als Krise der Gegenwart vielfältig beobachten läßt, ist allem anderen voraus eine
Krise der Metaphysik. Keineswegs im Sinn der Aufklärungsphilosophie, die mit ihrem
Kampf gegen die Metaphysik deren „Horizont des herstellenden Verhaltens“79 nur
vollendete. Es ist die Krise der Metaphysik als verborgenes Modell des Handelns und des
inneren Zwangs - der zugleich ein sehr realer ökonomischer Zwang ist -, alles einem Maß
zu unterwerfen. Die mathematische Auslegung der Welt vollendet diese beiden Strukturmomente: Mathematik ist einmal die Wissenschaft von den Zahlen, zum anderen die
Wissenschaft vom allgemeinen Kalkül. Das Wesen der Zahl ist die Identität der Einheit,
und das Wesen des Kalküls ist das abstrakte Handeln, ein reines („göttliches“) Handeln
ohne Stoff - actus purus. Die „Herstellung der Ideen“ durch den Mensch gewordenen
Handwerker-Gott hat durch die Informatik inzwischen auch die technische Beherrschung
der Zahl eingeleitet, die an die Stelle des Kalküls des Mathematikers mehr und mehr die
Simulation der Maschine setzt.
Die Identität des Handwerkers als Wissenschaftler, im ego cogito als absoluter Weltgrund
vermutet, ist freilich durch die Wissenschaften selbst auf seltsame Weise aufgehoben und
relativiert worden. Darin zeigt sich - wenn man so will „ganz praktisch“ - der eigentliche
Mangel des metaphysisch umgesetzten Handlungsmodells. Das Handeln ist kein Tun
eines Subjekts, es ist der soziale Prozeß des Denkens und Sprechens, der sich als ökono-
78
79
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Werke Bd. 5, S. 44.
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie a.a.O., S. 143.
30
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
mischer Prozeß mit einer Natur vermittelt. Die Natur erscheint dem ökonomischen
Interesse darin als Widerstand und Gegenstand, ein Widerstand gegen das Ansinnen, sie
im Dienst eines abstrakten und bornierten Kalküls beherrschen zu wollen. Weder das
naturwissenschaftliche noch das ökonomische Handeln ist aus dieser Ganzheit einer
Prozeßstruktur zu isolieren.
Die Natur ist nicht etwas, das bewirkt wurde. Natur ist keine Wirklichkeit. Es gibt in ihr
keine realisierten Ideen, kein (vergangenes) Wirken. Die Perspektive der Wirklichkeit ist
ein durch die aristotelische Umdeutung des platonischen Handlungsmodells inaugurierter
Irrtum, ein Irrtum, der sich zeigen muß. Und er zeigt sich: In der modernen Physik an der
Tatsache, daß Naturgesetze nicht zentriert werden können; sie müssen in jedem Inertialsystem dieselbe Gestalt besitzen, fordert Einsteins Relativitätstheorie. Das bedeutet: es
gibt keinen ausgezeichneten Beobachter. Alles was ist, ist beobachtungsrelativ, es ist nur
als Beobachtetes. Aber „Beobachtung“ ist ein sozialer Prozeß des Handelns und Denkens,
nicht das Tun eines Ego, und dieser Prozeß erscheint als Entfaltung von Naturwissenschaft und Technik. Vor allem die Quantenphysik hat das in ihrer Kopenhagener Deutung
klar ausgesprochen: Beobachten und Erscheinen sind ein durch Instrumente vermitteltes
Phänomen, das nicht in ein beobachtendes Subjekt und ein beobachtetes Objekt getrennt
werden kann.
Was das Experiment unaufhörlich versucht, nämlich einzelne dynamische Strukturen der
Natur zu isolieren, gelingt nur durch eine Gewalt, die man der Natur antut, die Gewalt
einer Abstraktion. Experimentieren heißt, etwas von seiner Ganzheit zu trennen. Und die
Umkehrung des Experiments (eine Umkehrung der Intention) ist die ökonomische Produktion: Produktion und Experiment sind strukturell identisch, intentional jedoch verschieden. Diese aktive Abstraktion, die in der zur Ökonomie gehörigen Technik unaufhörlich produziert wird, zeigt sich heute als Störung der natürlichen Ganzheit, der
Ökologie. Auch hier ist das Modell des isolierten Umgangs mit einzelnen Naturformen,
die wir im Handwerk finden, der metaphysische Hintergrund einer bornierten Blickweise.
Die Quantenphysik führte noch zu einem weiteren Ergebnis, das dem Satz der Identität
als metaphysischem „Dingprinzip“ direkt zuwiderläuft: Dem Phänomen der Nichtlokalität. Einstein, der an der aristotelischen Metaphysik der Wirklichkeit in Raum und Zeit
festhielt, hatte am 3.3.1947 an Max Born geschrieben, „daß die Physik eine Wirklichkeit
in Zeit und Raum darstellen solle, ohne spukhafte Fernwirkungen“80. Es wurde inzwischen aber auch zur experimentellen Gewißheit, daß es tatsächlich so etwas wie „Fern-
80
Albert Einstein - Max Born. Briefwechsel, München 1969, S. 215.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
31
wirkung“ gibt.81 Das ist nicht so zu verstehen, daß nach einer Trennung zwei durch
Symmetrien verknüpfte Elementarteilchen zueinander über eine räumliche Distanz
gleichsam Kausalitätsbeziehungen unterhalten - jede Kausalität ist letztlich nur das
Wirken einer Ursache, also wiederum, metaphysisch gesprochen, das Handeln eines
„Handwerkers“. Vielmehr zeigt das Experiment, daß die durch seine technische Struktur
implizit versuchte Isolierung von Naturphänomenen auf einem Irrtum beruht. Dies zeigte
sich schon an der für die Physiker der ersten Jahrhunderthälfte höchst verwirrenden
Beobachtung, daß die Identität eines Teilchens als Teilchen eine Illusion ist. In der Natur
sind keine Individuen tätig, keine „Teilchen“, die „wirken“. Ein Ding ist eben nicht nur
das, was es ist - in tätig abgetrennter Abstraktion. Es „ist“ seine Eigenschaften immer nur
auch. Und dieses „auch“ steht für eine Ganzheit, die jedem Teilchen und jeder anderen
Struktur der Natur (wie den elektromagnetischen Wellen) vorausgesetzt ist.
Das Handlungsmodell, das metaphysisch als Tätigkeit eines (mit sich identischen) Subjekts an einem (mit sich identischen) Objekt gedeutet wird, dieses Handlungsmodell als
Horizont der metaphysischen Grundlagen des Naturbegriffs ist „in die Krise geraten“.
Diese Krise beruht auf der unzureichenden Bestimmung des menschlichen Handelns weswegen diese „metaphysische Krise“ zugleich auch als ökonomische und ökologische
Krise erscheint. Das handelnde Ego als leitendes Denkmodell steht zur Disposition: Der
ökonomische Egoismus hat an den Finanzmärkten einen Höhepunkt erreicht, dessen
crashs die Weltwirtschaft - nicht zum ersten Mal - gefährden; die Identität der Staaten als
autonomen Handlungssubjekten steht in Frage; lokale Kulturen, Berufe, Familien, Selbstbilder verfallen der Beliebigkeit globaler Verfügbarkeit für wirtschaftliche Zwecke und
darin der Permanenz kreativer Destruktion - sogar physisch, in der Identität seiner Naturform, steht der Mensch in der modernen Genetik auf dem Spiel.
Wenn das Denkmodell des kaufmännisch gelenkten, handwerklichen Handelns als
metaphysischer Horizont unzureichend geworden ist, gerade weil es immer vollständiger
das Handeln bestimmt hat, dann können wir die Natur nicht länger als Wirklichkeit
beschreiben, denn - um den eingangs zitierten Satz der aristotelischen Metaphysik zu
wiederholen - „Wirklichkeit“ ist ein Begriff, der vom „Wirken“, vom handwerklichen
81
„In dem Experiment der Gruppe um Nicolas Gisin von der Universität Genf (...) fanden (die Forscher)
heraus, daß eine Messung der Energie eines Photons sofort auch die des anderen festlegte, obwohl die
Energien beider Teilchen ursprünglich unbestimmt waren. Da diese zwischen den Messungen keine Zeit
hatten, Informationen auszutauschen, bedeutet das Ergebnis, daß die Eigenschaften der beiden Teilchen
gleichsam eine Einheit bildeten, die auch über mehrere Kilometer bestehen blieb. Demnach gibt es die
‚unheimliche Fernwirkung‘ (Einstein) tatsächlich.“ Süddeutsche Zeitung vom 2.2.99; vgl. F. Selleri et al.,
Die Einsteinsche und Loretzianische Interpretation der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie,
Karlsbad 1998, S. 327ff.
32
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
Handeln abgeleitet ist. Da die Wissenschaften aber bemüht waren, schrittweise alles
Nichtwirkliche am Menschen auf „wirklich Natürliches“ zu reduzieren - bis hin zur
Reduktion des Geistes auf neurologische Prozesse -, ist sich der Mensch nunmehr selbst
zum größten Rätsel geworden, ein Rätsel, das unter einem Wust von „wissenschaftlichen
Erklärungen“ verborgen ist.
„Physik hüte dich vor der Metaphysik“, war Newtons Wahlspruch; Hegel kommentierte
ihn kurz und treffend: „Wissenschaft, hüte dich vor dem Denken.“82 Die verborgene
Metaphysik der modernen Wissenschaften ist nicht aufgehoben, sie wurde vielmehr in
ihnen verwirklicht - dadurch, daß die Wissenschaften je ihren Gegen-stand als wirklichen
nachweisen. Wenn aber der Mensch weder Kreatur eines göttlichen Handwerks noch
einer natürlichen Wirklichkeit, wenn er durch die Dualität des Ideen schauenden Geistwesens und des Handwerkers nicht erkannt ist, wenn ihm kein göttlicher Creator seinerseits
ein Ziel vorgibt, er sich vielmehr selbst in seinem Handeln, in der Technik immer schon
voraus eilt - was ist er dann? Er blickt in die offene Weite einer Freiheit, die zu sein er
noch nicht vermag.
82
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Bd. III, Werke Bd. 20, S. 231. Vgl.:
„Die Wissenschaft denkt nicht.“ M. Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 19713, S. 153, s. auch S. 57.
K.-H. Brodbeck: Handeln als metaphysischer Horizont
33
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Bonaventura, De reducione artium ad theologiam, übers. v. J. Kaup, München 1961
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--, Produktion, Arbeitsteilung und technischer Wandel, Düsseldorf 1981
--, Arbeit, Arbeitsteilung, Technologie - Kritisches zu neueren Publikationen aus dem Nachlaß von K.
Marx, Osteuropa-Wirtschaft 27 (1983), S. 52-61
--, Transrationalität. Prozeßstrukturen wirtschaftlichen Handelns, Münchener Wirtschaftswissenschaftliche
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--, Der Spiel-Raum der Leerheit. Buddhismus im Gespräch, Solothurn-Düsseldorf 1995
--, Erfolgsfaktor Kreativität. Die Zukunft unserer Marktwirtschaft, Darmstadt 1996
--, Entscheidung zur Kreativität, zweite Auflage, Darmstadt 1999
--, Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften, 2. Auflage, Darmstadt 2000
Descartes, R., Die Prinzipien der Philosophie, übers. v. A. Buchenau, Hamburg 1955
Erny, N., Theorie und System der Neuen Wissenschaft von Giambattista Vico, Würzburg 1994
Gottl-Ottlilienfeld, F. v., Wirtschaft als Leben. Eine Sammlung erkenntniskritischer Arbeiten, Jena 1925
--, Die Wirtschaftliche Dimension. Eine Abrechnung mit der sterbenden Wertlehre, Jena 1923
Hegel, G. W. F., Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3
--, Wissenschaft der Logik I, Werke Bd. 5
--, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke Bd. 20
Heidegger, M., Nietzsche zwei Bände, Pfullingen 1961
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--, Was heißt Denken?, Tübingen 19713
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--, Die Grundprobleme der Phänomenologie, Gesamtausgabe Bd. 24
--, Die Metaphysik des deutschen Idealismus (Schelling), Gesamtausgabe Bd. 49
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34
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