Wissenswert

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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion:
Volker Bernius
Wissenswert
Zahlen und Töne: Musik und Mathematik
(3) Die Symmetrie der Symphonie
Von Niels Kaiser
10.12.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur
Sprecher/in:
Sprecher/in:
Niels Kaiser
08-164
COPYRIGHT:
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Dufay: Nuper rosarum flores
Eine Renaissancemotette von Guillaume Dufay. Sakrale, andachtsvolle Klänge, ein religiöser Text.
Wer würde ahnen, dass die Inhalte dieses Textes auch in den Tönen selbst zu finden sind, in ihrer
Lage, ihrer Länge, ihren Bezügen zueinander? Wer könnte heraushören, das der Formablauf der
Motette eine Entsprechung bildet zu den architektonischen Symmetrien des Florentiner Doms, zu
dessen Einweihung Dufay die Motette komponiert hat. Und doch ist es so. Die komplexen und
unhörbaren Zahlenspiele, die der Komponist hier betreibt, sind sowohl Ausdruck religiöser Ehrfurcht
als auch virtuos gehandhabte kompositorische Ökonomie.
Dufay: Nuper rosarum flores
Alles ist Zahl, so hatten die Pythagoräer im antiken Griechenland gesagt. Die Zahlenproportionen, die
sie in den musikalischen Schwingungsverhältnissen fanden, galten auch im Mittelalter und in der
Renaissance noch als Ausdruck einer kosmischen Harmonie. Kein Wunder, dass man dieselben
Proportionen also auch in den Texten suchte, von denen man annahm, dass sie direkt von Gott kamen
– wie zum Beispiel im Alten Testament. In dieser Suche nach den göttlichen Zahlen sieht der
Freiburger Komponist Orm Finnendahl eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass Spätmittelalter
und Renaissance zu einer Blütezeit des komponierten Zahlendenkens wurden.
FINNENDAHL:
Das Ganze wurde dadurch verstärkt, dass es in der vorarabischen Zeit keinen Unterschied gab
zwischen Zeichen für Ziffern und Zeichen für Buchstaben. Das heißt, das Alpha im griechischen
Alphabet war das gleiche Zeichen, das man für die Zahl 1 verwendet hat, und insofern haben
die Schriftgelehrten damals nicht nur Texte gelesen, sondern gleichzeitig Zahlenkolonnen
gesehen. Und es ist natürlich sehr nahe liegend, dass man dann anfängt, aus diesen
Zahlenkolonnen Quersummen zu bilden oder Spaltensummen zu bilden. Darüber hinaus gibt
es dann symbolische Bedeutungen, das heißt also bestimmte wichtige Wörter wie Jesus
Christus zum Beispiel im griechischen Alphabet, da werden die Quersummen gebildet, das ist
die Zahl 2368. Und man stellt dann irgendwann fest, dass in der gesamten Musik des
Mittelalters und der Renaissance diese Zahlen verwendet wurden, um die Anzahl von Tönen zu
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bestimmen, um die Anzahl von Takten auszurechnen oder um andere musikalische Dinge
festzulegen.
Ob ein solches Verfahren der Sache gut tat, wurde schon damals diskutiert. Dass die avancierten
Komponisten mit ihren virtuos durchgeführten Zahlenkonstruktionen mathematisch anspruchsvolle
Aufgaben lösten, stand aber außer Frage.
Zahlen wurden dabei sowohl als quantitative Messgrößen wie auch als Symbole verwendet.
Josquin: Alma redemptrois mater
FINNENDAHL:
Also, als Beispiel, es gibt eine Motette von Josquin, in der die Anzahl, in der die Anzahl der
Pausen, die Anzahl der Takte insgesamt genau dieser 2368 entsprechen, was eben die Chiffre
für Jesus Christus in der griechischen Sprache ist. Und es gibt dann sehr viele andere
Bestimmungen, beispielsweise hat der Tenor, eine Stimme, die damals eine sehr
hervorgehobene Bedeutung hatte, genau 187 Töne, und der Name des Komponisten Josquin
Desprez hat eben als Quersumme der Buchstaben die Zahl 187. Und dann merkt man: Die Zahl
187 lässt sich durch 11 teilen. Man stellt fest: In dem ersten Takt sind 11 Töne, nach 11 Takten
sind 88 Töne, das entspricht dem Nachnamen. Dann kommen im zwölften Takt 11 Töne, in
denen auch das Modell des Anfangs modifiziert wird, das erste Mal motivisch. Und dann
kommen noch einmal 88 Töne. Es handelt sich also um Symmetrien: Zuerst 88 Töne, dann 11
Töne, dann 88 Töne. Das ermöglicht aber das Teilen des Vornamens Josquin in den
Nachnamen Desprez usw. usf. Man stellt sehr viele solcher Zahlenchiffren fest und merkt
mehr und mehr: Das kann also alles nicht so richtig zufällig sein, da hat offensichtlich jemand
das ganz bewusst ausgerechnet und kalkuliert. Und man muss davon ausgehen, dass es
damals vermutlich die meisten, wenn nicht alle Komponisten gemacht haben, und dass, wenn
man es nicht gemacht hätte, das vermutlich nicht als Kunst anerkannt worden wäre.
In einem Zeitalter, das die Mathematik für die vollkommenste aller Wissenschaften hielt und das die
Musik zu den mathematischen Disziplinen zählte, in einem solche Zeitalter überrascht es nicht, wenn
auch die komponierte Musik selbst zur Zahlenspielerei wird.
Und doch sollte die Musik, die wir heute als stärksten Ausdruck eines mathematischen Komponierens
empfinden, erst noch geschrieben werden.
BACH
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DREYER:
In seinem Nachlass fanden sich mathematische Bücher, die zum Neuesten gehörten, Leibniz
beispielsweise, und er muss das alles wohl gelesen und auch verstanden haben. Das heißt, wir
sollten ihm mal unterstellen, dass er tatsächlich mathematisch hoch gebildet war.
Auch Johann Sebastian Bach beschäftigte sich offenbar mit Mathematik, wie der Mainzer
Musiktheoretiker Lutz Dreyer zu berichten weiß. Ob das direkte Auswirkungen auf seine Musik hatte,
lässt sich nicht feststellen. Zumindest scheint sie uns aufgrund ihrer komplexen und dennoch gut
hörbaren Strukturen manchmal geradezu wie die Vertonung einer Rechenregel daherzukommen. Um
musikalische Ordnung herzustellen, nahm Bach auch Zahlen gern zu Hilfe. Das Verfahren der
Gematrie, also des Zuordnens von Zahlen zu bestimmten Buchstaben, setzte auch er ein. Welchen
Stellenwert die Gematrie für Bach hatte, darüber streiten aber die Gelehrten.
% (notfalls kürzen:
DREYER:
So sagt man also, dass da regelrechte Botschaften in die Musik hinein komponiert sind,
Geheimbotschaften. Denn darüber wurde nicht gesprochen. Bach selbst hat sich nie dazu
geäußert. Und das ist heute ein bisschen unser Unglück, weil’s darüber zu wenige schriftliche
Zeugnisse gibt.
Bekannt sind auch bei Bach die Spiele mit dem eigenen Namen. Die Quersumme der Buchstaben B-AC-H ergibt 14. Ob die 14 Töne des ersten Fugenthemas im Wohltemperierten Klavier deshalb gleich
ein Autogramm des Komponisten darstellen, wird wohl niemand mehr klären können.
Wohltemperiertes Klavier, Fuge 1 ) %
Zahlensymbolik im Sinne einer außermusikalischen Botschaft benutzt Bach in der Chaconne, dem
formal groß angelegten Schlusssatz der zweiten Partita für Violine solo.
DREYER:
Da hat er im Schlusstakt eigentlich einen Fehler begangen. Dieses Stück beginnt auftaktisch,
und normalerweise rechnet man den Auftakt und Schluss zusammen. Es hätte am Schluss nur
eine Achtelnote sein können, aber er schreibt einen vollständigen Takt, also eine punktierte
Halbe. Und insofern ergeben sich, wenn man die Viertelnoten zusammenzählt 770 Viertel. Und
das ist auch ein starkes Symbol. Es ist 10 mal 77, und 77 ist der gematrische Code für Agnus
Dei. Im Grunde genommen ist diese Chaconne ein Trombeau auf den Tod seiner ersten Frau
Maria Barbara.
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Chaconne
Wenn aus der Taktzahl einer Bach-Komposition eine bestimmte Bedeutung herauszulesen ist, dann
heißt das nicht, dass man das auch hören muss. Hinter den mehrfachen Deutungsebenen der Musik
steht wohl vor allem das Ethos des sauberen und absolut stimmigen Handwerks. Richtige Mathematik
sind solche Zahlenspielereien allerdings noch nicht.
DREYER:
Aber mit Mathematik hat zu tun das, was Bach ja auch in allerhöchster Vollendung beherrscht
hat, nämlich mit der Zahl als Maß umzugehen im Sinne von Proportionen. Und das lässt sich
sehr wohl mathematisch definieren bzw. auch mathematisch beschreiben.
BEUTELSPACHER:
Bach ist sicher jemand, der ganz stark auf die Struktur der Stücke geachtet hat, auf
Symmetrie, was auch Mathematik ist.
…sagt Albrecht Beutelspacher vom Mathematikum in Gießen.
BEUTESLPACHER:
Das Spannendste und Unglaublichste finde ich einen Spiegelkanon. Da hat Bach eine Fuge
geschrieben, aber dann hat er das darauf folgende Stück so geschrieben, dass das sozusagen
durch Spiegelung entsteht. Also, man stellt sich vor: Unter das Notensystem wird ein Spiegel
gehalten, dann spiegelt sich das nach unten. Dann wird die unterste Stimme zur obersten
Stimme. Und wenn das erste Stück mit einer Quinte nach oben beginnt in der untersten
Stimme, beginnt das nächste Stück in der obersten Stimme mit einer Quinte nach unten.
Wörtlich ist das eine ein Spiegelbild des anderen. Das hat mit Geometrie zu tun, das hat mit
Struktur zu tun. Aber dass durch eine Operation, die mit Musik eigentlich gar nichts zu tun hat,
dass da immer noch nicht Kakophonie, sondern etwas genau so gut Hörbares heraus kommt
wie beim Original, das ist schon ein Wunder.
Kunst der Fuge: Spiegelkanon
Eine Bachfuge folgt klaren geometrischen Prinzipien. Sie bildet Strukturen, deren Erkennbarkeit uns
die Musik erst zugänglich macht. Die Einteilung der musikalischen Zeitebene in Takte ist bereits eine
Vorstrukturierung der Musik.
evtl. Beethoven-Sinfonie
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DREYER:
Bezeichnend ist, dass Beethoven sehr häufig – das weiß man, weil man seine Skizzenbücher
gefunden hat -, dass er Taktstriche gezeichnet hat, bevor er eine einzige Note eingetragen hat.
Das heißt also, dass ihm die Proportion offensichtlich, also die formale Proportion ein ganz
wesentlicher Punkt in der Komposition war. Und auch das ist ja eigentlich ein mathematisches
Verfahren, wenn man mal so will: eine Voraussetzung erst einmal zu schaffen, damit nachher
bestimmte Operationen möglich sind.
Ein Beispiel, wie logische Zahlenverhältnisse zum Konstruktionsmuster für Musik werden, ist auch
der Goldene Schnitt. Bei ihm stehen zwei Strecken in einem bestimmten wohlproportionierten
Verhältnis zueinander.
ALTENMÜLLER:
Und nun kann man den Goldenen Schnitt aus der Geometrie in die Zeit überführen.
…sagt Musikphysiologie Eckart Altenmüller.
ALTENMÜLLER:
Und dann haben wir eine Form von Anspielung auf eine größere periodische Einheit, die auch
unser Zeitempfinden als schön oder ansprechend empfindet. Das heißt: das Aufheben einer
gewissen längeren Spannung, die dann in einer kürzeren Entspannung wieder mündet.
Der Goldene Schnitt wird vor allem in Musik Béla Bartóks oft entdeckt. Gerade in der Musik des 20.
Jahrhunderts spielen Zahlen wieder eine besondere Rolle. Nach der Aufgabe der Tonalität suchen die
Komponisten nach neuen Kompositionsmethoden. Dabei hilft auch die Mathematik. Arnold Schönberg
fügt in seiner 12-Ton-Technik die Töne der chromatischen Tonleiter in eine klar strukturierte Ordnung
ein, die als solche vom Hörer auch schnell erkannt werden kann. Eckart Altenmüller:
ALTENMÜLLER:
Die zwölf Töne können in eine bestimmte Reihe gebracht werden. Die können dann von hinten
nach vorne verwendet werden, die können gespiegelt werden. Und so können wir anhand einer
Zwölftonreihe schon vier Grundformen, nämlich die Grundreihe, die Spiegelung, den Krebs –
das heißt: das Von-hinten-nach-vorne-spielen – und die Spiegelung des Krebses machen. Das
ist schwierig zu hören. Aber wenn man sich mit dieser Musik intensiv auseinandersetzt, dann
schafft man das. Und das ist auch eine Studie von Kollegen in England, die zeigen konnten,
dass Leute, die regelmäßig Zwölftonmusik hören und machen in der Lage sind, solche
komplexen Klänge zu erkennen, diese auch mathematischen Grundoperationen in Echtzeit
beim Hören durchzuführen und die dabei auch große Lust empfinden, die das als
Entdeckerfreude betrachten.
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Schönberg: Streichquartett
Letztlich werden die Schönbergschen Zwölftonreihen ähnlichen geometrischen Verfahren
unterworfen wie die Themen einer Bachfuge. Und das kann man hören. Es ist eine Frage der
Stimmigkeit.
DREYER:
Man spürt also, dass da etwas in Ordnung ist und dass es stimmt. Und man würde es
andererseits spüren, wenn es nicht so wäre. Insofern berühren sich Musik und Mathematik in
einem rein ästhetischen Punkt, nämlich wenn Maß und Zahl in einer absoluten Stimmigkeit
sich befinden, dann hat man als Hörer den Eindruck: Hier stimmt alles. Hier ist man
vollständig glücklich.
Bach: Kunst der Fuge
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