Die »Harmonielehre« (1911/22) – Ansichten eines atonalen

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Die »Harmonielehre« (1911/22)
– Ansichten eines atonalen Wagnerianers
Die Entwicklung der harmonischen
Kunstmittel erklärt sich vor allem
dadurch, daß ein Vorbild bewußt oder
unbewußt nachgeahmt wird und daß
jede so entstehende Nachahmung wieder Vorbild werden und wieder
nachgeahmt werden kann.1
Es ist wohl keine Übertreibung, wenn die Harmonielehre gelegentlich als
musiktheoretisches Hauptwerk Schönbergs bezeichnet wird2; tritt sie doch
aus der Fülle der musiktheoretisch orientierten Arbeiten des Komponisten
allein schon ob ihres nicht nur für eine Harmonielehre gewaltigen Umfangs
hervor. Ungleich geeigneter zur Rechtfertigung eines solchen Diktums erscheinen allerdings die inhaltlichen Charakteristika des Buches. Hier sticht
insbesondere ein zwischen Bekenntnishaftigkeit und Apodiktik schwankender Tonfall ins Auge, der seinen Grund in der eigentümlichen Positionierung
der Schrift hat: Nicht nur auf das enge Metier der Akkordverbindung und
ihrer Prinzipien sich beschränkend, sondern auch grundsätzliche Fragen der
Kunst grundsätzlich behandelnd, erweist sich die Schrift als künstlerisches
Credo par excellence3. Dieses mündet bisweilen in eine Abrechnung mit den
Prinzipien und Ansprüchen einer (im mehrfachen Wortsinn) konservatorischen Musiktheorie, bisweilen in eine Rechtfertigungs-Propaganda zugunsten
Neuer Musik, die immer aber getragen werden von einem umfassenden Bekenntnis zur großen abendländischen Musiktradition.
1 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 462, Zeile 18–22
2 Vgl. diesbezüglich etwa VOJTĔCH, Ivan: Vorwort, S. IX, in: Schönberg, Arnold:
Stil und Gedanke, S. IX–XVIII.
3 Das fiel offensichtlich schon den Zeitgenossen auf. Jedenfalls sah sich der Chefredakteur einer Musikzeitschrift zu der emphatischen Feststellung veranlaßt: »Hier
hat Schönberg mit strengster Sachlichkeit, mit der Frische, Unmittelbarkeit und
Wahrhaftigkeit eines aus der Erfahrung Schöpfenden Gedanken niedergelegt, die
durch ihren [...] Gehalt und durch die seltene sprachliche Vollendung ihres Ausdrucks dem Buche die Prägung eines Kunstwerks verleihen...« (FLEISCHMANN,
H.R.: Biographische Skizzen moderner Musiker, Nr. 6 in: Modernes Musikleben,
Oktober (1912), zitiert nach: Reich, Willi: Arnold Schönberg oder der konservative Revolutionär, S. 90)
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Die »Harmonielehre« (1911/22)
Als bezeichnend für den Anspruch des Werks darf nicht zuletzt auch der
Zeitpunkt seiner Entstehung gelten: Zwischen Frühling 1910 und Juli 19114,
das heißt also unmittelbar nachdem die Musik – zumindest diejenige Schönbergs – die Gefilde der (erweiterten) Tonalität verlassen hatte, die Zeit der
Harmonielehre im klassischen Sinn mit ihrer engen Verbindung zur zeitgenössischen Komposition also vorbei war, gelang es dem Komponisten, seine
Schrift druckreif zu entwerfen. Die zeitlichen Voraussetzungen waren somit
wie geschaffen für eine letzte, umfassende Abhandlung des gesamten – nun
gleichsam historisch und damit übersichtlich gewordenen – Stoffgebiets; die
Situation forderte geradezu, so scheint es, einen Abgesang auf die lange
abendländische Tradition tonaler Musik. Den lieferte Schönberg in gewissem
Sinne auch5, ohne allerdings – wie etwa seine Zeitgenossen Oswald Spengler6
und Heinrich Schenker7, auf dessen Theorie Schönberg ausführlicher eingeht
– in einen Zukunfts-Pessimismus zu verfallen, dem sich die Vergangenheit
zu einer abgeschlossenen Epoche kultureller Blüte verklärt. Vielmehr beschwört Schönberg die Kontinuität und Notwendigkeit8, mit der die Entwicklung von der noch-tonalen zur atonalen (Schönberg: »pantonalen«) Musik
führe9.
Eine Sonderstellung gebührt der Harmonielehre allerdings nicht nur innerhalb des literarischen Œuvres ihres Verfassers, sondern auch innerhalb des
musiktheoretischen Schrifttums überhaupt: Hier sind es gleichwohl nicht die
dem Werk ureigenen Qualitäten, auf die wir zunächst das Augenmerk gerichtet hatten, sondern vielmehr die Wechselwirkungen mit der (praktischen)
musikalischen Entwicklung, wie sie sich vornehmlich in der Rezeptionsgeschichte des Opus manifestieren, welche begründend zu nennen wären. So
soll an dieser Stelle jedoch der Verweis auf die Tatsache genügen, daß die
Harmonielehre zweifelsohne zu den wirkungsmächtigsten musiktheoretischen Schriften, und somit erst recht zu den wirkungsmächtigsten Harmonie4 So O.W. NEIGHBOUR in: The New Grove Dictionary of Music ..., Band 22, S. 599,
rechte Spalte. Werner Breig spricht demgegenüber davon, daß die »Konzeption
der Harmonielehre als Ganzes [...] aus Schönbergs Lehrtätigkeit seit 1903 erwuchs« (BREIG, Werner: Schönbergs Begriff des vagierenden Akkordes, S. 106).
5 Ivan Vojtĕch etwa spricht nicht zuletzt wohl auch in diesem Sinne treffend von
»dem mächtigen, universalistisch angelegten Impuls der ›Harmonielehre‹« (VOJTĔCH, Ivan: Vorwort, S. X, in: Schönberg, Arnold: Stil und Gedanke, S. IX–XVIII)
6 Vgl. SPENGLER, Oswald: Der Untergang des Abendlandes (1918–22)
7 Vgl. SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 384, Zeile 415 ff
8 Vgl. das diesem Kapitel vorangestellte Schönberg-Zitat!
9 Theo Hirsbrunner stellt in diesem Sinne fest: »Schönberg zog in seiner Harmonielehre (1911) die Bilanz der spätromantischen Tonalität und öffnete zugleich deren
Grenzen hin zur theoretisch noch nicht klar definierten Atonalität.« (HIRSBRUNNER, Theo: Deutsches und französisches Musikdenken am Beispiel von Schönberg
und Messiaen, S. 72)
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Die »Harmonielehre« (1911/22)
Lehrbüchern des 20. Jahrhunderts gerechnet werden muß. Dieser Status spiegelt sich nicht so sehr in der bis auf den heutigen Tag sich fortsetzenden Zahl
der Wiederauflagen, als er sich daran erweist, daß die Harmonielehre sogar
auf Komponisten von einigem Einfluß war, deren Schaffen vorderhand als
nicht oder nur wenig beeinflußt von den Kompositionen Schönbergs gilt10.
Wesentlich, insbesondere aus der Perspektive der hier zu bearbeitenden
Themenstellung, erscheint das bereits erwähnte Bekenntnis zu abendländischen Musiktradition, das die Harmonielehre, gleichsam als einer ihrer
»Grundpfeiler«, teils explizit, teils implizit von Anfang bis Ende durchzieht.
Zum Bereich dieser »Traditionsbezogenheit«, wenngleich denselben in gewisser Hinsicht sprengend, gehören auch die außerordentlich zahlreichen
Bezugnahmen auf Richard Wagner: Dem »Namenregister« am Ende der
Harmonielehre zufolge wird offenbar nur der Name Bachs häufiger erwähnt,
was dieser wohl einzig dem Umstand zu verdanken hat, daß in dem Kapitel
»Choral-Harmonisierung« einem seiner Choräle der Monopol-Status zugebilligt wird, das einzige Literatur-Beispiel zu sein, sowie der Tatsache, daß
diejenigen, nicht seltenen Fälle, in denen Schönberg Wagner zitiert, ohne
einen Zitat-Nachweis zu bringen (wie wohl meistens beim Zitieren wörtlicher
Rede), mithin also ohne den Namen »Wagner« überhaupt zu erwähnen11(!),
im Register nicht aufgelistet sind.
Die Bezugnahmen auf Wagner sind naturgemäß unterschiedlichen Charakters; es lassen sich hier zumindest drei Arten von Bezügen unterscheiden:
1. Direkte Referenzen, die sich vornehmlich in Namensnennungen, Erwähnungen der Werke des Meisters, Zitaten, sowie im Verweis auf Sachen bestehen, die unmittelbar mit dem Namen Wagners in Zusammenhang stehen.
2. Einflüsse Wagners auf Ideen, Vorstellungen, Prinzipien, Ästhetik usw.,
kurz: auf das Denken Schönbergs.
3. Kongruenzen zu Wagner bzw. seinem Werk, wie sie sich in der Haltung,
der Vorgehensweise, der Intention o.ä. Schönbergs zeigen.
Die »Harmonielehre« (1911/22)
10 So etwa auf Carl Orff (vgl. THOMAS, Werner: Carl Orff und sein Werk, Band 1,
S. 44).
11 Wenngleich sich Schönberg offenbar prinzipiell von der Pflicht entbunden sieht,
genaue Quellennachweise zu liefern, so verzichtet er doch gleichwohl in der Regel
nicht auf eine einfache namentliche Referenz!
Allerdings kennzeichnend er seine Haltung wohl recht deutlich, wenn er ausführt:
»Als Musiker, der es nicht zusammengelesen hat, sondern, was er vorträgt, als
Denkresultat seiner Lehr- und Komponiererfahrungen bezeichnen darf, bin ich
wohl berechtigt, mich der in wissenschaftlichen Werken üblichen Quellenangaben
zu entbinden. Einer so zeitraubenden und unfruchtbaren Arbeit mag sich der unterziehen, dessen Verhältnis zum Lebendigen der Kunst schwächer ist als zum
Theoretischen.« (SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 11, Zeile 168–174)
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Diese Aufzählung spiegelt durchaus eine Art Rangfolge wider, eine Hierarchie der Plausibilität: So darf im Falle dessen, was ich als »direkte Referenz« (1) definiert habe, wohl von einer eindeutigen, unbestreitbaren Bezugnahme auf Wagner gesprochen werden, wogegen ein solcher Bezug in dem
Fall, daß irgendwo ein »Einfluß« Wagners erkennbar scheint, naturgemäß
eher im Bereich des Wahrscheinlichen liegt. Von mir entdeckte »Kongruenzen« zu Wagner können demgegenüber rein zufällig bedingt sein, zeugen
also womöglich nur vermeintlich von einem Einfluß Wagners; hierbei handelt es sich vorwiegend um Hypothesen, die im Bereich des Plausiblen, vielleicht nur des Möglichen liegen. Auf eine Darstellung und Erläuterung der
letzteren kann darum hier verzichtet werden.
Wenn wir im Folgenden auch versuchen, unsere Untersuchung anhand der
soeben erläuterten Einteilung vorzunehmen, so soll das nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese einer gewissen Willkür nicht entbehrt, ja nicht entbehren
kann, insofern nämlich die Übergänge zwischen den einzelnen Beispielen
fließend sind, was (überdies) eine definitive Zuordnung zu der einen oder
anderen Kategorie erschwert. Einer durch solche Einteilung der zahlreichen
Beispiele erreichten größeren Übersichtlichkeit der Gliederung wurde der
Vorzug gegeben gegenüber einer sozusagen demokratischen, unverbundenen
Gegenüberstellung von Einzelfällen (die aufgrund der hohen Zahl der Fälle
dennoch nicht ganz ausbleiben konnte).
Direkte Referenzen
Direkte Referenzen
Zu den »Meistersingern« (I)
Die ersten deutlichen Bezüge zu Wagner finden sich bereits im ersten, einleitenden Kapitel (»Theorie oder Darstellungssystem«), das über Prinzipien
und Voraussetzungen, mithin über die Möglichkeit eines HarmonieLehrbuchs überhaupt spekuliert. Schönberg nutzt die Gelegenheit zu einer
ersten Abrechnung mit den ihm verhaßten Musiktheoretikern und -ästheten,
die in mehrfacher Hinsicht Bezug auf Wagner, insbesondere seine Oper Die
Meistersinger nimmt:
»Warum nennt sich [...] ein Tischlermeister nicht auch Theoretiker, oder
ein Musiktheoretiker sich nicht Musikmeister? Weil da ein kleiner Unterschied ist: der Tischler dürfte nie sein Handwerk bloß theoretisch verstehen, während der Musiktheoretiker vor allem gewöhnlich praktisch
nichts kann; kein Meister ist. Und noch einer: der wahre Musiktheoretiker schämt sich des Handwerks, weil es nicht das s e i n e , sondern das
a n d e r e r ist. Das zu verbergen, ohne aus der Not einer Tugend zu machen, genügt ihm nicht. Der Titel: Meister ist entwertet; man könnte
verwechselt werden – ein dritter Unterschied – dem vornehmeren Beruf
muß ein vornehmerer Titel entsprechen und darum hat die Musik, obwohl der große Künstler auch heute noch ›Meister‹ angesprochen wird,
nicht, wie sogar die Malerei, einfach eine Handwerkslehre, sondern ei-
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Direkte Referenzen
nen Theorie-Unterricht. [...] Aber sie [die Theorie] will mehr sein. Sie
will nicht sein: der Versuch, Gesetze zu finden; sie behauptet: d i e e w i g e n Gesetze gefunden zu haben. Sie betrachtet eine Anzahl von Erscheinungen, ordnet sie nach einigen gemeinsamen Merkmalen und leitet daraus Gesetze ab. [...] Aber nun beginnt der Fehler. Denn hier wird
der falsche Schluß gezogen, daß die Gesetze, weil sie für die bisher beobachteten Erscheinungen scheinbar zutreffen, nunmehr auch für alle zukünftigen Erscheinungen gelten müßten. Und das Verhängnisvollste:
man glaubt einen M a ß s t a b zur Ermittlung des Kunstwerts auch künftiger Kunstwerke gefunden zu haben. So oft auch die Theoretiker von der
Wirklichkeit desavouiert wurden, wenn sie für unkunstmäßig erklärten,
›was nicht nach ihrer Regeln Lauf‹, können sie doch ›vom Wahn
nicht lassen‹. Denn was wären sie, wenn sie nicht wenigstens die
Schönheit gepachtet hätten, da doch die Kunst nicht ihnen gehört? [...]
Was wären sie, da die Kunst sich in Wirklichkeit doch durch die Kunstwerke fortpflanzt und nicht durch die Schönheitsgesetze? Wäre da wirklich noch ein Unterschied zwischen ihnen und einem Tischlermeister zu
ihren Gunsten?«12
Diese mit einem ordentlichen Schuß Polemik und Ironie gewürzte Attacke
gegen die Vertreter einer – wie Schönberg meint – falsch verstandenen
Kunsthandwerkslehre verweist, wie schon angedeutet, in zweierlei Hinsicht
auf Wagners Meistersinger. Und zwar zum einen durch die ausführliche
Reflexion über Sinn und Berechtigung des Meistertitels, zum anderen durch
die beiden mehr oder weniger wörtlichen Zitate der Figur des Meistersingers
Hans Sachs13. Die eigentliche Stoßrichtung der Schönberg’schen Argumentation, für welche die Diskussion um den Meistertitel eigentlich zunächst nur
den »Aufhänger« bildet, besteht in der Proklamation und Begründung einer
Abkehr von der »klassischen« Musiktheorie. Der Komponist respektive
Künstler, der sich herabläßt, eine Harmonielehre, ein Übungsbuch also, zu
verfassen, will nicht »in einen Topf geworfen« werden mit der für solche
Dinge generell zuständigen Berufsgruppe und dem von dieser selbst geprägten Berufsbild des Musiktheoretikers; vielmehr versucht er, sich in die Tradition eines Kunstverständnisses, ja eines Kunst-Credos zu stellen, wie es sich
in Wagners Meistersingern manifestiert. Das eigentlich ist es, so scheint mir,
was Schönberg deutlich machen will, indem er mit der Diskussion um den
Meistertitel einen auch in den Meistersingern ausführlich behandelten Problem-Komplex aufgreift und diesen auf die für ihn selbst aktuelle Frage nach
Aufgabe, Berechtigung und Anspruch einer zeitgenössischen Musiktheorie
transferiert. Die bereits gekennzeichnete Haltung, welche Schönberg hierbei
einnimmt, gewinnt somit eine gewisse Analogie zu derjenigen, die Walther
12 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 1 (Zeile 25)–S. 3 (Zeile 90); Hervorhebungen im Fettdruck von mir, C.G.
13 Genauere Angaben folgen später!
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Die »Harmonielehre« (1911/22)
von Stolzing gegen Ende der Meistersinger erkennen läßt, als man ihm, ob
des von ihm gewonnenen Sänger-Wettstreits, den Meistertitel anträgt: »Nicht
Meister! Nein! Will ohne Meister selig sein!«14
Wagners Gegenbewegung: »Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir
ihre Kunst!«15, der Figur des Hans Sachs als Reaktion auf die despektierliche
Äußerung Stolzings in den Mund gelegt, vollzieht Schönberg dagegen nur
bedingt mit. Er unterscheidet zwischen berechtigtem Suchen nach Gesetzen
der Kunst und dem unberechtigten Anspruch, »d ie ewig e n Gesetze gefunden zu haben«16 sowie der damit verbundenen Konsequenz, daß die Musiktheorie (auch) die lebendige, im Entstehen begriffene Kunst in das Prokrustes-Bett dieser vermeintlich ewig gültigen Richtlinien zwingen will.
Schönberg wehrt sich gegen die Tendenzen der Musiktheorie, ein empirisch
– d.h. durch Betrachtung bzw. Analyse von Kunstwerken – gewonnenes
Regelsystem zum normativen Maßstab auch für alle künftigen Kunstwerke
zu erheben. Er verteidigt, kurz gesagt, das Primat des Kunstwerks gegenüber
der Kunsttheorie, des Musikers gegenüber dem Musiktheoretiker und erhebt
somit das Postulat einer autonomen Kunst17, die nicht den Gesetzen irgendeiner (früheren) Ästhetik unterliegt. Die der Proklamation einer solchen Haltung zugrundeliegende Intention besteht allerdings wohl nicht – wie es oft
scheinen mag und wie Schönberg seine Leser gelegentlich glauben zu machen sucht – allein darin, einer idealistischen Überzeugung um ihrer selbst
willen Gehör zu verschaffen, sondern dürfte in nicht geringem Maße auch in
der Absicht zu sehen sein, auf diese Weise eine Rechtfertigung der eigenen
Kunst, die ja zum Zeitpunkt der Entstehung der Harmonielehre bekanntlich
bereits die Pfade einer von der Musiktheorie bis dahin verfochtenen regulären
Tonalität verlassen hatte, vorzubringen. Schließlich mag hier nicht zuletzt
auch Schönbergs Haß auf die Kritiker seiner Werke – meist in Personalunion
14 WAGNER, Richard: Die Meistersinger, Sämtliche Werke, Band 9, III, 3. Aufzug,
5. Szene, Takt 2763–2766
15 WAGNER, Richard: Die Meistersinger, Sämtliche Werke, Band 9, III, 3. Aufzug,
5. Szene, Takt 2771–2776
16 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 3 (Zeile 73)
17 Die damit aufs engste verknüpfte Vorstellung einer selbstzweckhaften Kunst
taucht bei Schönberg auch später öfter auf; vgl. diesbezüglich etwa
SCHÖNBERG, Arnold: Stil und Gedanke (Neue Musik...), S. 34 oder:
SCHÖNBERG, Arnold: Stil und Gedanke (Zum Rundgespräch in San Francisco...),
S. 394/395, wo er seine Haltung offenbar zugunsten politisch engagierter Musik
relativiert.
Bereits Hermann Danuser hat – in Rekurrenz auf Wagners Text Deutsche Kunst
und deutsche Politik (WAGNER, Richard: Gesammelte Dichtungen Band 8, S. 96) –
erkannt, daß Schönberg mit dieser Haltung, die er mit dem Begriff einer deutschen
Musik in Verbindung bringt, auf Richard Wagner fußt; vgl.
DANUSER, Hermann: Arnold Schönberg und die Idee einer deutschen Musik, S. 29
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Direkte Referenzen
auch Musiktheoretiker – eine Rolle spielen, die er offenbar – wie seinerzeit
Wagner18 – mit dem Klischee eines »Meister Beckmesser« zu identifizieren
pflegt.
Einen deutlichen Hinweis auf Wagner, das soll an dieser Stelle noch vermerkt sein, verbirgt der ebenfalls im Kontext der Meistertitel-Diskussion
stehende Neben-Satz: »obwohl der große Künstler auch heute noch ›Meister‹
angesprochen wird«. Und zwar verweist diese Stelle insofern auf Wagner, als
dieser im späten 19. Jahrhundert wohl der einzige Komponist war, der öffentlich als »Meister« angesprochen wurde, mithin der gesamten Musikwelt als
solcher im Bewußtsein stand. Auf ein Verständnis seiner Anspielung durfte
Schönberg also beim zeitgenössischen Leser durchaus rechnen, sofern denn
dieser – wie Schönberg selbst – ein gutes Dezennium des 19. Jahrhunderts
bewußt miterlebt hatte.
Was nun die beiden von Schönberg verwendeten direkten Zitate aus den
Meistersingern anbelangt, so wurden diese signifikanterweise in einem einzelnen Satz zusammengefaßt, der hier – zur Erinnerung – noch einmal angeführt sei:
»So oft auch die Theoretiker von der Wirklichkeit desavouiert wurden,
wenn sie für unkunstmäßig erklärten, ›was nicht nach ihrer Regeln
Lauf‹, können sie doch ›vom Wahn nicht lassen‹.«19
Schönberg verzichtet hier – wie meistens, wenn er aus Wagner-Opern zitiert! – auf einen Nachweis der Textstelle20. Er überläßt es somit dem Leser,
die Provenienz der Zitate zu erraten. Jedoch erscheint es natürlich – jedenfalls dem Wagner-Kenner – im Kontext der bereits näher beleuchteten Meistertitel-Diskussion naheliegend, daß sie den die nämlichen Fragestellungen
berührenden Meistersingern entstammen. Wer dies genauer nachprüft, wird
allerdings überrascht sein: Das erste der beiden Zitate nämlich ist offenbar
ein wörtliches, das zweite jedoch nicht! Möglicherweise zitierte Schönberg
also aus dem Gedächtnis, was sowohl die Fehlerhaftigkeit respektive Ungenauigkeit des letztern begründen, als auch den (dann Arbeit ersparenden)
Verzicht auf einen genauen Nachweis der entsprechenden Textstellen erklären könnte.
18 Bekanntlich hatte Wagner ja anfangs geplant, die Figur des »Sixtus Beckmesser« –
mit Referenz auf den wirkungsmächtigsten Kritiker seiner Zeit, Eduard Hanslick,
der insbesondere auch ein eifriger Gegner des Wagner’schen Œuvres war – »Hans
Lick« zu nennen, wovon ihn bedauerlicherweise offenbar einige seiner Freunde
abbringen konnten.
19 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 3 (Zeile 81–84); Hervorhebungen von
mir, C.G.
20 Vgl. diesbezüglich meine Ausführungen im Rahmen der Einleitung des vorliegenden (Groß-)Kapitels Die »Harmonielehre«!
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Zunächst zum ersten, wörtlichen Zitat. Es entstammt der dritten Szene des
ersten Akts der Oper: Nachdem Walther von Stolzing in der »Singschul«
vorgesungen hat, um in die Meistergilde aufgenommen zu werden, und die
Meister in der Folge scharfe Kritik an seinem Vortrag üben, der in keiner
Weise den üblichen Regularien – der »Tabulatur« – entsprach, ergreift Meister Sachs das Wort:
»Halt Meister, nicht so geeilt! Nicht jeder eure Meinung teilt. Des Ritters
Lied und Weise, sie fand ich neu, doch nicht verwirrt; verließ er unsre
Gleise, schritt er doch fest und unbeirrt. Wollt ihr nach Regeln messen,
was nicht nach eurer Regeln Lauf, der eignen Spur vergessen, sucht
davon erst die Regeln auf!«21
Indem nun Schönberg also einen Teil dieser Rede zitiert, stellt er sich bewußt in die Tradition Wagners. Er identifiziert sich gewissermaßen mit der
Figur des Hans Sachs und mit dessen Plädoyer für eine neue, von äußeren
Regeln befreite, d.h. autonome Kunst, welcher zudem insofern Priorität gegenüber jeglicher Theorie zukomme, als diese von ihr »erst die Regeln auf
[-zusuchen]« habe. Ganz analog zur Argumentationsstrategie der
Sachs’schen Rede verläuft auch Schönbergs Konzept einer Theorie-Kritik:
Musiktheorie wolle eben mehr sein als bloß »der Versuch, Gesetze zu finden«22, wie Wagner ihn ihr zur Aufgabe macht, sie nehme vielmehr für sich
in Anspruch, »d ie ewig en Gesetze [...] [als] Maß stab zur Ermittlung des
Kunstwerts auch künftiger Kunstwerke gefunden zu haben.«23 Hier wird also
– so sieht es Schönberg im Anschluß an Wagner – von der Musiktheorie die
richtige Reihenfolge auf den Kopf gestellt: Die Theorie spricht sich selbst die
Priorität zu, indem sie beansprucht, Gesetze und Regularien aufzustellen,
nach denen die Kunst sich dann zu richten habe, versteigt sich gleichsam in
die Gefilde der Ästhetik, während »die Kunst sich in Wirklichkeit doch durch
die Kunstwerke fortpflanzt und nicht durch die Schönheitsgesetze«24!
Nun zum zweiten Zitat. Obwohl es, wie oben angemerkt wurde, in der von
Schönberg gebrauchten Form offenbar nicht wörtlich den Meistersingern
entstammt, verweist es doch mit ziemlicher Deutlichkeit auf einen weiteren
für die Oper konstitutiven Themenkomplex, den des »Wahns«. Als entschiedenste Artikulation desselben muß der bezeichnenderweise sogenannte
»Wahn-Monolog«25 des Hans Sachs angesprochen werden, erscheinen hier
doch der Kontext, in dem der »Wahn«-Begriff bei Wagner steht und somit
21 WAGNER, Richard: Die Meistersinger, Sämtliche Werke, Band, 1. Aufzug,
3. Szene, Takt 1878–1898; Hervorhebungen von mir, C.G.
22 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 3 (Zeile 72/73)
23 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 3 (Zeile 73–81)
24 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 3 (Zeile 87–89)
25 WAGNER, Richard: Die Meistersinger, Sämtliche Werke, Band 9, 3. Aufzug,
1. Szene, Takt 301ff
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Direkte Referenzen
auch die mit diesem verbundenen respektive zu verbindenden Konnotationen
am stärksten herausgearbeitet. Die äußere Situation der Szene besteht hier
bekanntlich darin, daß Sachs, mit sich selbst und seinem Schicksal hadernd,
und dementsprechend in einer als melancholisch bis sentimental zu charakterisierenden Stimmung verfangen, seinen Blick auf den Lauf der (Welt-)
Geschichte lenkt und – aus seiner pessimistisch gefärbten Perspektive heraus
– nach der dieser letztlich zugrundeliegenden Kraft und der diese bedingenden Ursache Ausschau hält. Er glaubt sie schließlich im »Wahn« gefunden zu
haben:
»Wahn! Wahn! Überall Wahn! Wohin ich forschend blick’ in Stadt- und
Weltchronik, den Grund mir aufzufinden, warum gar bis aufs Blut die
Leut’ sich quälen und schinden in unnütz toller Wut? Hat keiner Lohn
noch Dank davon: in Flucht geschlagen wähnt er zu jagen; hört nicht
sein eigen Schmerzgekreisch, wenn er sich wühlt ins eigne Fleisch,
wähnt Lust sich zu erzeigen! Wer gibt den Namen an? ’s ist halt der alte
Wahn, ohn’ den nichts mag geschehen, ’s mag gehen oder stehen!
Steht’s wo im Lauf, er schläft nur neue Kraft sich an; gleich wacht er
auf, dann schaut, wer ihn bemeistern kann!«26
Vor allem der letzte Satz kann wohl als sinngemäße Entsprechung dem
von Schönberg in seinem Zitat verwendeten Wortlaut gegenübergestellt werden, zeichnet er doch eine retardierende Bewegung nach, die dem von Schönberg zitierten Gestus des »Vom-Wahn-nicht-Lassens« gleichkommt: ein
Abschlaffen des Wahns, das sich dann aber letztlich doch nur als »Schlaf«
entpuppt, aus dem der Wahn dann mit »neuer Kraft« hervorgeht. Indem nun
Schönberg den überzogenen Anspruch der (herkömmlichen) Musiktheorie
mit solchem gleichsam »immerwährenden« Wahn identifiziert, verleiht er
einerseits seinem Pessimismus Ausdruck, daß dieser Theorie-Wahn nicht
gestoppt werden kann, andererseits versieht er letzteren auf diese Weise auch
zugleich mit dem Stigma des genuin Indiskutablen, Nicht-Ernst-zuNehmenden. Von der gleichen Intention zeugen auch die dem Zitat unmittelbar folgenden Sätze Schönberg:
»Denn was wären sie [die Theoretiker], wenn sie nicht wenigstens die
Schönheit gepachtet hätten, da doch die Kunst nicht ihnen gehört? Was
wären sie, wenn es für alle Zeiten jedem klar würde, was hier wieder
einmal einer zeigt?«27
Ob Schönberg mit diesem »einer« nun den unmittelbar vorher mehrfach
zitierten Wagner meint oder sich selbst – was ihm auch zuzutrauen wäre! –
erscheint zweitrangig. Die beiden Wagner-Zitate – seien sie wörtlich oder
sinngemäß – weisen allein schon in größtmöglicher Deutlichkeit daraufhin,
26 WAGNER, Richard: Die Meistersinger, Sämtliche Werke, Band 9, III, 3. Aufzug,
1. Szene, Takt 305–534
27 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 3 (Zeile 84–87)
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Die »Harmonielehre« (1911/22)
daß sich Schönberg mit seinem Kunst-Begriff und seinen sich um diesen
»rankenden« Anschauungen in der Tradition Wagners versteht, verstanden
wissen will. Die in den Text eingegliederten und zumal ob ihrer Kürze äußerlich unscheinbaren Zitate bilden somit nur die Oberfläche eines tiefergehenden Bekenntnisses: Im Anschluß an Wagner tritt Schönberg ein für eine freie,
autonome Kunst und damit gegen eine Musiktheorie, deren Ansprüche ihre
faktischen Möglichkeiten übersteigen, d.h. gegen eine Musiktheorie, die
neben Empirie und Historizität auch Normativität beansprucht. Die Unscheinbarkeit der Wagner-Zitate, zu der auch der Verzicht auf einen Nachweis ihrer Provenienz beiträgt, zeigt schließlich, daß Wagner von Schönberg
als selbst-verständliche Autorität in Fragen der Kunst wahrgenommen wird,
die eigene Thesen wirkungsvoll zu untermauern, eigene (atonale) Schöpfungen zu rechtfertigen vermag.
Zu den »Meistersingern« (II)
Die nächsten deutlichen Bezüge zu Wagner – wiederum Verweise auf die
Meistersinger – finden sich nur wenige Seiten später zu Beginn des Kapitels
»Die Durtonart und die leitereigenen Akkorde«28, mit welchem Schönberg
versucht, die historischen Entwicklung »unserer« Dur-Skala nachzuzeichnen
respektive zu motivieren. Wichtig erscheint es ihm hierbei offenbar, auch den
Stellenwert einer solchen (Dur-)Tonleiter – zumal im Horizont einer künftigen musikalischen Entwicklung – einige Gedanken zu widmen:
»Die Auffindung unserer Skala war für die Entwicklung unserer Musik
ein Glücksfall. [...] [Aber] diese Tonreihe allein ist es nicht, der wir die
Entwicklung zu danken haben. Und vor allem: diese Tonreihe ist nicht
das Letzte, das Ziel der Musik, sondern eine vorläufige Station. Die
Obertonreihe, die das Ohr zu ihr geführt hat, enthält noch viele Probleme, die eine Auseinandersetzung nötig machen werden. Und wenn wir
diesen Problemen augenblicklich noch entrinnen, so verdanken wir das
fast ausschließlich einem Kompromiß zwischen den natürlichen [= reinen] Intervallen und unserer Unfähigkeit, sie zu verwenden. Jenem
Kompromiß, der sich temperiertes System nennt, das einen auf eine unbestimmte Frist geschlossenen Waffenstillstand darstellt. Diese Reduktion der natürlichen Verhältnisse auf handliche wird aber die Entwicklung auf die Dauer nicht aufhalten können; und das Ohr wird sich mit
den Problemen befassen müssen, w e i l e s w i l l . Dann wird unsere Skala ebenso aufgehen in eine höhere Ordnung, wie die Kirchentonarten in
der Dur- und Molltonart aufgegangen sind. Ob dann Viertel-, Achtel-,
Drittel- oder (wie Busoni meint) Sechsteltöne kommen [...], läßt sich
nicht voraussagen. Vielleicht wird diese neue Teilung der Oktave sogar
untemperiert sein und mit unserer Skala nur noch wenig gemeinsam haben. Jedenfalls erscheinen Versuche, in Viertel- oder Dritteltönen zu
28 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 19 ff
716
Direkte Referenzen
komponieren, wie sie hie und da unternommen werden, mindestens solange zwecklos, als es zu wenig Instrumente gibt, die sie spielen könnten. Wahrscheinlich, wenn Ohr und Phantasie dafür reif sein werden,
wird die Reihe und werden die Instrumente mit einem Schlag da sein.
Sicher ist, daß diese Bewegung heute vorhanden ist, sicher, daß sie zu
einem Ziel führen wird. Mag sein, daß auch hier viele Umwege und Irrtümer zu überwinden sein werden, daß auch diese zu Übertreibungen
oder zu dem Wahn führen werden, es sei nun das Endgültige, Unveränderliche gefunden. Vielleicht wird man auch hier zur Aufstellung von
Gesetzen und Tonleitern gelangen und denen eine ästhetische Ewigkeitsbedeutung zumessen. Für den Weitblickenden bedeutet auch das
nicht das Ende. Er erkennt: jedes Material kann kunstfähig sein, wenn es
soweit klar ist, daß man es seinem mutmaßlichen Wesen entsprechend
bearbeiten kann; aber doch nicht so klar, daß der Phantasie nicht noch in
den unerforschten Bezirken Raum bliebe [...]. Und da uns noch die
Hoffnung bleibt, daß unserem Verstande die Welt noch lange ein Rätsel
sein wird, ist wohl allen Beckmessern zum Trotz noch nicht das Ende
der Kunst da.«29
Zwei Stellen sind es, die hier (wiederum) auf die Meistersinger verweisen.
Die erste muß im Kontext eines der oben behandelten Zitate30 verstanden
werden: Schönberg, der im Zuge der musikalischen Entwicklung eine Überwindung des etablierten temperierten Tonsystems sowie der bewährten Durund Mollskalen für wahrscheinlich, ja sogar notwendig hält, warnt hier davor, daß solche zunächst modern erscheinenden Entwicklungen wie etwa der
Rekurs auf Drittel- bzw. Vierteltonskalen, den er als Beispiel anführt, möglicherweise »zu Übertreibungen oder zu dem Wahn führen werden, es sei nun
das Endgültige, Unveränderliche gefunden.«31 Indem er hier erneut den aus
den Meistersingern entlehnten Begriff des »Wahns« bemüht32, verweist
Schönberg auf seine eigene, einige Seiten zuvor entworfene Kritik an einer
»ewige Gesetze« postulierenden, konservativen Musiktheorie. Er transponiert
somit seine sich inhaltlich gleichbleibende Kritik auf einen anderen Fall: War
es zunächst eine eher konservative, in ihren Ansprüchen hybride Musiktheorie, die den Gegenstand derselben bildete, so sind es nun eher fortschrittliche,
dafür aber wohl ähnlich apodiktische Musikdenker33, die Schönberg im Vi29 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 22 (Zeile 84)–25 (Zeile 128); Hervorhebungen in Fettdruck von mir, C.G.
30 Vgl. in der vorliegenden Arbeit das Kapitel »Die ›Harmonielehre‹ – Direkte Referenzen – Zu den ›Meistersingern‹ (1)«.
31 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 25 (Zeile 117/118); Hervorhebungen in
Fettdruck von mir, C.G.
32 Vgl. in der vorliegenden Arbeit das Kapitel »Die Harmonielehre – Direkte Referenzen – zu den ›Meistersingern‹ (1)«.
33 Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang der explizite Verweis
auf (Ferruccio) Busoni!
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Die »Harmonielehre« (1911/22)
sier hat. Bemerkenswerterweise läßt der Autor hier also eine Art Skeptizismus auch gegen eine in ihren Inhalten progressive Musiktheorie erkennen,
insofern sie denn dogmatische Tendenzen gewärtigen läßt. Nicht so sehr die
Unterscheidung in progressiv und konservativ bildet demnach für Schönberg
das entscheidende Kriterium, nach dem es den Wert eines musiktheoretischen
Konzepts zu bemessen gilt, als vielmehr die Frage nach dem Anspruch: Jede
dogmatische Fixierung auf ein bestimmtes System ist abzulehnen, denn – in
dieser positiven These versucht Schönberg seine Kritik aufgehen zu lassen –
»jedes Material kann kunstfähig sein, wenn es soweit klar ist, daß man es
seinem mutmaßlichen Wesen entsprechend bearbeiten kann; aber doch nicht
so klar, daß der Phantasie nicht noch in den unerforschten Bezirken Raum
bliebe [...]34. Der Komponist bezieht hiermit selbst (theoretische) Position;
eine Position, an der insbesondere zwei Aspekte auffallen. Während er zunächst mit dem Postulat »jedes Material kann kunstfähig sein« unmißverständlich gegen jede Form von Dogmatismus zu Felde zieht, erscheint
demgegenüber das Folgende als Einschränkung: Voraussetzung der Kunstfähigkeit eines Materials sei »Erschlossenheit« sowie »Unerforschtheit«, zwei
einander widersprechende Momente also, denen beiden bis zu einem gewissen Grad Rechnung getragen werden soll. Was zunächst paradox wirkt, läßt
sich als ein Rigorismus verstehen, der faktisch einer Art Mittelweg gleichkommt. Die Forderung nach einem Moment der »Erschlossenheit« – das
Material muß »soweit klar [...] [sein], daß man es seinem mutmaßlichen
Wesen entsprechend bearbeiten kann«35 – richtet sich nämlich gegen eine
totale Progressivität, die zu musikalischem Material erklärt, was noch gar
nicht erschlossen wurde, somit im Rahmen eines Kompositionsprozesses
auch nicht beherrscht, nicht verarbeitet werden kann36. Andersherum fungiert
das von Schönberg postulierte Moment des »Unerforschten« – das Material
darf »aber doch nicht so klar [sein], daß der Phantasie nicht noch in den unerforschten Bezirken Raum bliebe«37 – wohl als Negation eines totalen Konservatismus, der an dem bis zum Überdruß Bekannten, Abgegriffenen als
dem einzig gültigen Material der Musik festhalten möchte. Was zunächst als
vorsichtig angeschlossene Relativierung oder gar Einschränkung des Diktums gegen allen Dogmatismus erschien, entpuppt sich somit als konsequente
Fortführung im Sinne einer Ausdifferenzierung desselben.
Aus der also deutlich gewordenen Grundhaltung Schönbergs heraus erklärt sich auch die zweite, auf die Meistersinger Bezug nehmende Textstelle:
34 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 25 (Zeile 122–125)
35 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 25 (Zeile 123/124)
36 In ähnlichem Sinne wurde Ferruccio Busoni – als Reaktion auf seinen Entwurf
einer neuen Ästhetik der Tonkunst – von Hans Pfitzner »Futurismus« vorgeworfen
(vgl. PFITZNER, Hans: Futuristengefahr (Gesammelte Schriften Band 11) sowie
MEYER, Michael: Die Musik im kulturpolitischen Streit, S. 173–178)!
37 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 25 (Zeile 124/125)
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Direkte Referenzen
»Und da uns die Hoffnung bleibt, daß unserem Verstande die Welt noch
lange ein Rätsel sein wird, ist wohl allen Beckmessern zum Trotz noch nicht
das Ende der Kunst da.«38 Hier sind es wohl wieder die ultra-konservativen
Musiktheoretiker, vor denen Schönberg warnt, indem er sie mit Meister
Beckmesser identifiziert. Eisernes, dogmatisches Festhalten an alten, angelernten, vermeintlich ewig gültigen Regeln, gepaart mit einer neidisch auf
den moderneren Komponistenkollegen schielenden Mißgunst – diese Eigenschaften charakterisieren die von Wagner zum Teil karikierend überzeichnete
Figur des Beckmesser in den Meistersingern, und diese Eigenschaften sind es
demnach wohl auch, die Schönberg an den verhaßten Musiktheoretikern am
wenigsten akzeptiert. Seine explizit vorgetragene Kritik allerdings – so legt
es jedenfalls die eben zitierte Textstelle nahe – setzt offenbar den Hauptakzent eher auf die den genannten Eigenschaften zugrundeliegende Hybridität
der inneren Haltung, wie sie sich – auch das legt die Stelle nahe – in der
Überzeugung der Musiktheoretiker manifestiert, die (musikalische) Welt
endgültig »enträtselt« zu haben, bzw. sich in der von diesen mehr oder weniger apodiktisch vertretenen Behauptung äußert, das »Ende der Kunst« sei da.
Speziell der Verweis auf ein solches »Ende der Kunst« läßt vermuten, daß
Schönberg bei der Formulierung der entsprechenden Passage an einen Theoretiker wie etwa Heinrich Schenker39 gedacht hat, der die Vorstellung von
einer ihren Zenit überschreitenden und somit zu einem »Ende« tendierenden
Kunst-Entwicklung verfolgte und der auch – wenngleich an anderem Orte –
von Schönberg kritisch zitiert wird40.
In jedem Falle aber stellt sich die zweite Bezugnahme auf die Meistersinger zumindest äußerlich formal als ein genaues Analogon zur vorhergehenden dar. Wurde nämlich mit dieser kritisch auf die Gefahren eines (total)
progressiven Konzepts hingewiesen, so steht bei jener wiederum die Kritik
an einer (total) konservativen Musiktheorie im Vordergrund. Dogmatismus –
ganz gleich ob progressiv oder konservativ geprägt – hat, so die auf den
Punkt gebrachte Position der Schönbergs, keine Existenzberechtigung.
Gleichwohl könnten auch noch andere, womöglich weniger idealistisch
strukturierte Motivationen die Schönberg’sche Kritik in ihrer ambivalenten,
scheinbar sich selbst entgegengerichteten Stoßrichtung mitgeprägt haben:
Während die Angriffe gegen eine konservative Musiktheorie vielleicht eine
ihrer Ursachen in den negativen Erfahrungen Schönbergs mit der auf nämlichem geistigen Boden gewachsenen Musikkritik um 1900 finden41, lassen
38 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 25 (Zeile 126–128); Hervorhebungen in
Fettdruck von mir, C.G.
39 Vgl. SCHENKER, Heinrich: Neue musikalische Phantasien und Theorien
40 SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 384/385
41 Julius Korngold etwa, der Vater des Komponisten Erich Wolfgang Korngold und
einer der maßgeblichen Musikkritiker der Zeit, wurde auf dem Wiener Konserva-
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Die »Harmonielehre« (1911/22)
sich seine Attacken gegen übermäßig progressive Konzepte möglicherweise
aus einer Art Erfinder-Neid gegenüber den ihm selbst vorauseilenden Komponisten-Kollegen wie etwa Ferruccio Busoni42 erklären!?
Welche Rolle aber kommt nun den Verweisen auf die Meistersinger zu? –
Indem Schönberg seine Kritik an konservativer wie auch an progressiv orientierter Musiktheorie mit Begriffen aus den Meistersingern anreichert, die –
zumindest zur Entstehungs-Zeit der Harmonielehre – Schlagwort-Charakter
hatten, versucht er, Wagner als eine diese Kritik untermauernde bzw. rechtfertigende Autorität in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus gelingt ihm auf
diese Weise auch die Stützung seiner – wie es scheint – aus solch ambivalenter Kritik erwachsenen Forderung eines undogmatischen Kunst-Verständnisses (»jedes Material kann kunstfähig sein«): Während nämlich die Beckmesser-Figur unmittelbar als Beispiel eines totalitären Dogmatismus taugt
und Schönberg somit ex negativo den Meistersingern ein dem seinen kongruentes Plädoyer zu entnehmen vermag, funktioniert die Bezugnahme auf
den »Wahn«-Begriff vielmehr mittelbar, nämlich als Verweis auf die schon
früher vor dem Hintergrund der Meistersinger geführte Diskussion um den
Theoretiker-»Wahn«. Daß Schönberg mit der Nutzbarmachung des »Wahn«Begriffs für die Kritik auch einer progressiv orientierten Musiktheorie diesen
einer Umdeutung oder, wie ich es nannte, einer Transposition in einen neuen
Kontext unterzieht, wie er in den Meistersingern als auch in Schönbergs
eigener, früherer »Wahn-Kritik« so nicht zu erkennen war, dürfte ihm durchaus bewußt gewesen sein43.
torium ausgebildet und vertrat dementsprechend(?) auch ein eher konservatives
Musik-Ideal!
Die Begründung der Ablehnung seines Streichsextetts Verklärte Nacht durch eine
Konzertgesellschaft mit der Verwendung einer von der zeitgenössischen Musiktheorie nicht gebilligten Umkehrung eines 7-9-Akkords beispielsweise hat Schönberg anscheinend so wenig verwunden, daß er diesem Vorfall noch in seiner Harmonielehre kritisch gedenken zu müssen vermeint (vgl. SCHÖNBERG, Arnold:
Harmonielehre, S. 416/417)!
42 Zwar erwähnt Schönberg Busonis Vorschlag, Sechsteltöne zu verwenden, jedoch
nur im Zusammenhang mit zahlreichen anderen Vorschlägen, so daß der Verdacht,
Schönberg versuche auf diese Weise die neuen ästhetischen Ideen Busonis zu relativieren nicht unberechtigt erscheint. Erwähnung verdient in diesem Kontext auch
die innerhalb der »Zweiten Wiener Schule« besonders deutlich zu beobachtende
Tendenz, daß der einzelne Komponist es als wichtig erachtet, die Genese musikalisch-technischer Neuerungen/Erfindungen für sich beanspruchen zu können. Einige Fußnoten der Harmonielehre zeugen geradezu paradigmatisch von einer solchen Denkweise (vgl. SCHÖNBERG, Arnold: Harmonielehre, S. 211 und S. 138/
139)!
43 Jedenfalls legt das die Formulierung der entsprechenden Textstelle nahe.
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