Michael Habecker Integrale Politik Perspektiven und Entwicklung Notizen vom Vortrag an der Konferenz Integrale Politik in St. Arbogast vom 29.7.2012 von Cécile Cassini Michael Habecker stellt sein Verständnis der integralen Theorie und Praxis Ken Wilbers im Zusammenhang mit integraler Politik vor. Zur Einstimmung waren wir eingeladen, in Resonanz zu gehen mit politischen Begriffen wie: Liberal / Progressiv, fortschrittlich, evolutionär / Sozial / Konservativ, bewahrend / Ökologisch, und dabei auf unsere emotionale Reaktion zu achten (wie z. B. positiv – neutral – negativ). Die Perspektiven des in-der-Welt-seins Anschliessend wurden anhand des Modells der vier Quadranten, die auch als vier Grundperspektiven zu sehen sind, politische Grundorientierungen auf eine neue Weise verortet. Die oberen Quadranten sind Perspektiven auf das Individuelle. Bezogen auf den Menschen ist das die liberale politische Orientierung, mit ihrer Betonung von individueller Freiheit. Weil es diese Quadranten gibt, wird es immer wieder Politiken geben welche diese Perspektive betonen (unabhängig von Parteibezeichnungen), und so ist auch Liberalität im Zuge der Aufklärung entstanden, als eine Befreiungsbewegung aus der Bevormundung traditionell-kollektiv-religiöser Vorschriften und Zwänge. Doch dies ist lediglich ein Teil eines größeren Bildes. Menschen sind nicht nur Individuen, sondern gleichzeitig immer auch Menschen-in- Gemeinschaft. Als soziale Wesen sind wir Mitglieder unzähliger Wirs und Gemeinschaften, wie Liebes- und Arbeitsbeziehungen, Freund- und Feindschaften, und Ursprungs- und Gegenwartsfamilien. Dies entspricht im Modell der vier Quadranten dem unteren linken Quadrant. Der untere rechte Quadrant schliesslich, um das Bild abzurunden, ist die Perspektive auf Gemeinschaft von außen, und von dort aus sehen und erleben wir uns eingebettet in und auch abhängig von unzähligen Systemen, wie Wirtschafts- Finanz-, Bildungs-, Gesundheits- und Ökosysteme. Dieses Eingebunden sein ist auch essentiell für unser Überleben. Wenn sich etwas verändert, wie z.B. das Finanzsystem, so hat das grundlegende Auswirkung auf uns alle. Integrale Politik ist daher bemüht alle Grundperspektiven zu berücksichtigen, und zwar nicht ideologisch begründet, sondern weil es sich bei den Grunddimensionen der vier Quadranten (innerlich/äußerlich und individuell/kollektiv) offenbar um Grundaspekte der Manifestation handelt. Aus der liberal-individuellen Perspektive ergeben sich zahllose Forderungen nach Freiheiten und Rechten (Meinungsfreiheit, Berufswahl, Lebensgestaltung, Befriedigung der Grundbedürfnisse usw.) Aus der sozialen, kollektiv-innerlichen Perspektive, ergeben sich eine Reihe von Pflichten für die Gemeinschaft, wie die Pflicht zur Hilfeleistung und Unterstützung, Integrale Politik | Breisacherstrasse 43 | CH 4057 Basel | T +41 61 811 39 49 14.08.2012 Steuern und Abgaben, soziale Dienste, Schul- und Wehrpflichten, und sogar einige (Haftpflicht)Versicherungen. Aus der systemischen kollektiv-äusserlichen Perspektive schliesslich ergeben sich Notwendigkeiten zur Aufrechterhaltung dieser Systeme, um auch morgen noch (über)leben zu können. Dies ist am Beispiel der Ökologie besonders deutlich. Individuelle Freiheiten, soziale Verantwortung und systemische Nachhaltigkeit gehören zusammen, und sind bei jeder (nicht nur) politischen Entscheidung zu berücksichtigen. Aus diesen drei Grundperspektiven ergeben sich natürliche Spannungsfelder, die jeder Mensch aus seinem Privatleben kennt. Meine Freiheit berührt oft die Freiheit anderer, und benötigt oft auch Ressourcen. Wenn ich mir z.B. die Freiheit nehme schnell mit dem Auto zu fahren, gefährde ich möglicherweise andere Verkehrsteilnehmer, und verbrauche mehr Ressourcen als bei einer Fahrweise am Verbrauchsminimum. Die amerikanische Modezeitschrift Vogue bringt monatlich Ausgaben heraus mit bis zu 800 Seiten, die enorm ressourcenverbrauchend produziert und verteilt werden. Jedes halbe Jahr gibt es komplette Kollektionen neuer Moden. Von der Ressourcenperspektive her gesehen ist dies Irrsinn, und es wäre viel sinnvoller wenn wir alle, wie in den Klöstern, lediglich eine Winter- und eine Sommerkutte tragen würden. Doch wir wollen uns individuell und gemeinschaftlich über unsere Kleidung zum Ausdruck bringen, und deswegen „leisten“ wir uns eine enorm aufwendige Modeindustrie. Nachhaltigkeit bedeutet jedoch oft die Einschränkung von Freiheiten. Als ein Waldbesitzer darf ich bei einer nachhaltigen Bewirtschaftung nicht mehr Holz fällen als nachwächst. Jede dieser Perspektiven, führt, wenn sie zur allein richtigen Politik erhoben wird, zu Absolutismen. Der liberale Absolutismus ist das Faustrecht als Recht des Stärkeren, und reicht bis zum Terror. Sozialismus verkommt zum Sozial-Ismus und Faschismus, wenn ein einzelnes Ich bestimmt was für alle richtig ist. System-ismus geschieht, wenn sich alles dem System unterzuordnen hat (was wiederum von Einzelnen oder Kollektiven bestimmt werden kann). Alle Perspektiven haben ihre Grösse und ihre Schattenseite. Für eine integrale Politik sind sowohl das Individuelle wie auch das Kollektive, und das Innerliche (Geist) wie auch das Äußerliche gleichwertig und entwickeln sich gemeinsam. Daher ist eine integrale Politik weder materialistisch noch idealistisch noch kollektivistisch noch system-istisch, sondern integriert alle diese Perspektiven. Für die Praxis lohnt es sich zu unterscheiden, wie z. B. Parteien und Politiker Begriffe wie „liberal“ und „sozial“ verwenden, und ob sie mit den genannten Grundperspektiven übereinstimmen. Anhand der Grundperspektiven lassen sich auch politische Programme, Aussagen und Taten einordnen. Entwicklung und Vielfalt Integrale Politik würdigt sowohl die Breite/Fülle als auch die Tiefe von Manifestation, und ist unter Hinzuziehung von Wissenschaft bemüht, beides voneinander zu unterscheiden. Fülle: Unterschiede, Moden, Multikulturalität, Artenvielfalt Sortenvielfalt, Meinungsvielfalt / Der Schatten der Fülle ist ein Egalitarismus. (Mitgefühl ist nicht besser, sondern lediglich anders als Mord). Tiefe: Mehr Mitgefühl, Freiheit, Funktionalität, Liebe, Nachhaltigkeit / Der Schatten der Tiefe ist Rassismus und Willkürhierarchie (aus Hautfarben- oder Geschlechterunterschieden werden Rangordnungen gemacht) www.integrale-politik.ch KIP2012_Michael_Habecker.doc 2/3 Bei der Einschätzung von vertikaler Differenz ist die Entwicklungsforschung sehr wichtig, insbesondere die Entwicklungspsychologie. Entwicklung ist immer ein „transzendiere und bewahre“ und daher gibt es bei jeder politischen Entscheidung nicht nur die Frage „was soll anders/besser werden“ (progressiv), sondern immer auch die Frage „was muss bewahrt werden“ (um darauf aufbauen zu können). Alle Kulturrevolutionen die das Gewachsene zerstört haben waren katastrophal. Das Gewachsene zu würdigen ist ebenso wichtig wie sich dem Neuen zu öffnen. Soziokulturelle Evolution von Stämmen (Blutsbande, Herkunft), zu alten Reichen, Nationen, Religionsgemeinschaften (wie gehe ich mit denen um die nicht dazu gehören, umbringen oder Partnerschaft?), weltweite Visionen (Proletarier aller Länder …) Kontinentsgemeinschaften wie die EU mit ihren Problemen oder Weltgemeinschaft. Integrieren und differenzieren ist wichtig bis hin zu einer Weltgemeinschaft, die es schafft alle Unterschiede zu integrieren. Entwicklung in der Ethik – Wen berücksichtige ich bei meinen Entscheidungen? Wir fangen erst einmal an als Kinder unsere eigenen Werte zu spüren und übernehmen dann zunehmend Verantwortung bis hin zu einer weltzentrischen Verantwortung wie bei Fairtrade, wo wir bemüht sind eine gesamte Herstellungskette bei unseren Kaufentscheidungen zu berücksichtigen. Spiraldynamics: ist ein Modell der Werteentwicklung. Dabei gehen eine Zunahme von Liebe (Herz) wie auch eine Verstehenserweiterung (Kopf) einher. Leben gegen Leben: Das Rettungsbotdilemma ist die grundlegende Herausforderung für jede Ethik. Das Boot mit 10 Menschen geht unter, es kann nur 7 Menschen tragen, 3 müssen raus. Wer geht? Dieses Dilemma stellt sich bei Fragen wie: Gibt es gerechte Kriege? Wie sieht ein gerechtes Finanzsystem aus? Ist die Gentechnik richtig? Sollen Drogen legalisiert werden? Ist Tyrannenmord erlaubt? Darf ein entführtes Flugzeug abgeschossen werden? Darf eine Frau abtreiben? Darf man Fleisch essen? Politische Agenda: Abrüstung, Armut, Elend, Hunger, Verteilung und Gerechtigkeit, Entwicklung, Bildung, Ethnische Konflikte (Völkermord, Internationaler Terrorismus, Nachhaltigkeit (Ernährung, Energie, Finanzen, Migration). Zu allen diesen Punkten werden bereits integrale Lösungen erarbeitet und in die Praxis umgesetzt. Integral engagiert sein Alle bisherigen Aspekte beschäftigten sich mit der Welt der Formen. Doch aus den Aussagen der Mystik (und auch der Philosophie und Kunst) wissen wir von einer Wirklichkeitsdimension die „nicht von dieser Welt“ ist, und die alles durchdringt und aus der alles hervorgeht. Das Erwachen zu diesem Absolutheitsaspekt ist auch Teil einer integralen Politik. Es befreit von der Identifikation mit der Form, die zwangsläufig Leiden verursacht, weil jede (äußere und auch innere) Form endlich und sterblich ist. Diese Befreitheit gibt unserem politischen Handeln Liebe, Kraft und Angstlosigkeit. Lebe dein endliches Selbst und ruhe in der Unendlichkeit. www.integrale-politik.ch KIP2012_Michael_Habecker.doc 3/3