19 Ökologie der Gruppenimprovisation Hartmut Kapteina „Gruppenimprovisation“ ist ein schöpferisches musikalisches Arbeitsprinzip, bei dem musikalisches Handeln und Lernen mit seelischem und sozialem Erleben unauflösbar verknüpft entwickelt und reflektiert sowie die Beziehung des Menschen zur Gesellschaft, in der er lebt, und die grundlegenden Bedingungen seiner Existenz thematisiert werden. Musikalisches, soziales, ästhetisches, politisches Lernen bilden im Einklang mit psychischer Entwicklung und spiritueller Orientierung eine sozialökologische Einheit. „Ökologie“ bedeutet in diesem Zusammenhang die ausgewogene und gleichrangige Berücksichtigung aller Aspekte menschlichen Erlebens, entsprechend der aktuellen Situation der beteiligten Personen im Sinne bedürfnis- und situationsorientierter Pädagogik. Lernen erfolgt nicht nach einem vorgegebenen Lehrplan sondern orientiert sich an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der betroffenen Personen sowie ihrer Lebenslage. Musikalisches Das Bild des Baumes veranschaulicht den Lernen musikalischen Lernprozess. Der Baum entfaltet sich mit seinem Ast- und Blattwerk dem Licht entgegen. So entfaltet der improvisierende Mensch seine musikalischen Fähigkeiten; er lernt Klänge differenziert wahrzunehmen, zu beschreiben und zu benennen; er lernt die verschiedenen Instrumente kennen und entwickelt die Fähigkeit, auf ihnen die Klänge und die musikalischen Verläufe zu realisieren, die seinen Vorstellungen entsprechen. Er lernt, mit seinen musikalischen Beiträgen auf den musikalischen Gestaltungsprozess der Gruppe einzuwirken, musikalische Form19 20 bildungen zu erfassen und die Musik der Gruppe zu analysieren. Die musikalischen Kompetenzen, die sich die Spieler bei der Gruppenimprovisation aneignen, können mit den Begriffen Musikalische Sensibilität Musikalische Phantasie und Kreativität Musikalisches Differenzierungsvermögen Musikalische Kritikfähigkeit zusammengefasst werden. Das besondere am musikalischen Lernprozess bei der Gruppenimprovisation kommt jedoch in der besonderen Charakteristik der Baum – Metapher zum Ausdruck. Sein Ast- und Blattwerk vermag sich nur insoweit zu entfalten, wie sich gleichzeitig sein Wurzelwerk unter der Erde entwickelt. In gleicher Weise „wurzeln“ bei der Gruppenimprovisation die musikalischen Kompetenzen in seelischen Entwicklungen der Introspektion, der biographischen Verarbeitung und des emotionalen Ausdrucks. Die Metaphorik des Baumes legt nahe, dass bei der Vernachlässigung der psychosozialen Implikationen des Musikerlebens die musikalischen Kompetenzen sich nur unzureichend entwickeln können. Sie sind nicht organisch im Inventar der Persönlichkeit implantiert. Vielen Musikern dienen die Musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten zu Verdrängung und Eskapismus. Es ist zum Beispiel nicht möglich, ernsthaft mit ihnen über die bei der Musik erlebten Gefühle zu sprechen, ja, die Beachtung der emotionalen Beteiligung wird als störend bei der Erledigung der technischen Funktionen des Musizierens empfunden. Zumindest für die Schulmusik ist diese Einstellung unangemessen. Schüler sollten Musik als Bereicherung ihrer Persönlichkeit erleben, kennen und nutzen lernen. Bei der Gruppenimprovisation ist nicht vorgegeben, wer wann was wie zu spielen hat. Das hat zur Folge, dass jeder Spieler selbst entscheiden muss, wann er was wie spielt. Woher aber nimmt er die Kriterien für diese Entscheidungen? Nun, es gibt schlechterdings keine Instanz für sein musikalisches Verhalten in der Gruppe als nur seine ureigensten Intentionen. Und die kommen einzig aus seiner persönlichen Disposition. Die veranlasst ihn, dieses oder jenes Instrument zu wählen, diese oder jene Klänge zu bevorzugen oder zu vermeiden, diese oder jene Klänge seiner Mitspieler zu übergehen oder wahrzunehmen und sein Spiel an diesem oder jenen Klängen zu orientieren, sich hier oder dort anzuschließen, diesem oder jenem mit einem Kontrast zu begegnen, mit diesem oder jenem zu beginnen oder aufzuhören u.s.w. Gruppenimprovi- Das gemeinsame Gespräch über die Improvisationen offenbart, wie unterschiedsation lich die Intentionen der einzelnen Mitspieler während der verschiedenen Situationen des Spielverlaufs waren. Dabei wird implizit deutlich, wie sich Unterschiede in Charakter und Temperament im Spiel dargestellt haben. Es werden aber auch Grenzen der Wahrnehmung und des Verhaltens deutlich. Die Analyse der eigenen musikalischen Beiträge und der Musik der Gruppe wird so zum Prozess der Introspektion: So bin ich, so verhalte ich mich, so werde ich von anderen wahrgenommen, so reagiere ich auf andere. Gleichzeitig können solche Prozesse der Selbsterkenntnis Neugier und Lust wecken, es einmal ganz anders zu machen, also neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Dann kann es zur Erweiterung es Verhaltensrepertoires kommen und zur Entwicklung neuer Einstellungen zu und Umgangsweisen mit sich selbst und anderen. Prävention Die musikalische Arbeit ist in der Gruppenimprovisation also immer zugleich 20 21 Auseinandersetzung mit der eigenen Person; parallel zur musikalischen Kompetenz entwickeln sich psychische Kompetenzen der Selbsterkenntnis und des Umgangs mit sich selbst. Die präventive Bedeutung der Gruppenimprovisation ist damit unterstrichen. Nun haben es aber musikalische Ereignisse an sich, dass sie die Menschen oft tiefer und nachhaltiger berühren, als ihnen das lieb ist. Klänge rufen, bevor sie von den Instanzen des Bewusstseins verarbeitet werden, in den Steuerungszentren des Limbischen Systems in vegetative und emotionale Reaktionen hervor und verknüpfen sich mit Inhalten des Langzeitgedächtnisses; so kann es immer wieder bei der Gruppenimprovisation vorkommen, dass Spieler mit frühen traumatischen Erlebnissen in Kontakt kommen. Dann erhält die Gruppenimprovisation tiefenpsychologische Qualität. Es muss Raum, Zeit und Zuwendung gegeben sein, damit die betreffende Person die durch die Klänge aktivierten Erinnerungen mitteilen und die mit ihnen verbundenen Gefühle ausdrücken kann. An dieser Stelle wird die Gruppenimprovisation zur Musiktherapie. Die Instrumente, die Klänge, die Musik und die gesamte Gruppensituation erhalten symbolische Bedeutung, Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung werden wirksam, Regression auf frühere Phasen der Entwicklung. Im Bild ist dieser Bereich als unterirdischer Vulkan dargestellt. Bei einer guten Kanalisation der darin gebundenen Energie kann er zu einer warmen Quelle werden, die mit ihrem Mineralienreichtum das Wachstum des Baumes zusätzlich zu fördern vermag. In der Horizontalen ist der Baum mit seinem ökologischen Umfeld verbunden. Andere Pflanzen stehen mit ihm in Konkurrenz oder Kooperation. Damit soll angedeutet werden, dass die Prozesse der Gruppen Improvisation immer auch Prozesse der Auseinandersetzung mit anderen, mit der eigenen Rolle und dem sozialen Verhalten sind. Die Wahl des jeweiligen Instruments, die jeweilige Art es zu spielen sind zugleich Darstellungen der jeweiligen Eigenarten, wie sich der einzelne Spieler im sozialen Kontext verhält, sich Geltung und Aufmerksamkeit verschafft, seine Interessen geltend macht und realisiert. Die Gruppe als „Mini – Gesellschaft“ ist nicht nur Ort des sozialen sondern auch des politischen Lernens. Das Spiel der Klänge wird zur Stimmabgabe. Die Spieler erkennen, wie sie sich im Spiel an den allgemeinen Trend anpassen, unzufrieden werden, ihre Unzufriedenheit in Protest oder 21 Tiefenpsychologische Qualität der Gruppenimprovisation politisches Lernen 22 Resignation ummünzen, wie erfolgreich ihre Versuche verlaufen, das ganze zu verändern, sich einzurichten oder die eigenen Interessen zu vertreten. Das Spiel der Gruppenimprovisation wird zum gesellschaftspolitischen Planspiel. Eine Untersuchung bei ca. 80 Personen, die längere Zeit die musikalische Gruppenimprovisation praktizierten, zeigte, dass sie sich häufig in Parteien und Verbänden engagieren, ein Gespür für unhaltbare politische Zustände entwickeln und den Mut, dagegen vorzugehen (Kapteina 1976). Dieselbe Untersuchung ergab, dass diese Personen kritischer beim Umgang mit den Gegenständen des täglichen Lebens werden, insbesondere bei ihrem musikalischen und sonstigen Konsumverhalten die Strategien der Werbung und der Massenmanipulation durchschauen, wählerisch und genussfähig werden. Die differenzierte Wahrnehmung auf dem Gebiet der Musik übertragen sie als allgemeine ästhetische Kompetenz auf alle Bereiche der sinnlichen Erfahrung. Ästheitsches Lernen Spiritualität in der Gruppenimprovisation Ästhetische und insbesondere die musikalischen Erfahrungen der Gruppen Improvisation aktualisieren immer auch transzendente Themen der Spiritualität. Musik als gestaltete und vergehende Zeit wirft implizit die Fragen nach der Vergänglichkeit der Lebenszeit, nach der Flüchtigkeit des Lebens und der Beziehungen und danach, was jenseits dieser Grenzen liegt. Die Musik hat es mit dem Unaussprechlichen zu tun, mit Erfahrungsräumen vor und jenseits der Begrifflichkeit. Menschen erleben bei der musikalischen Improvisation Momente, in denen sie zeit- und raumvergessen den Ursprung ihrer Existenz erahnen und erspüren. Literatur: Hartmut Kapteina: Musikpädagogik und Alltagsleben, in: Archiv für Angewandte Sozialpädagogik 1976 Hartmut Kapteina: Dimensionen der Gruppenimprovisation, in: Hans Helmut Decker Voigt (Hrsg.): Musik und Kommunikation, Seevetal 1988, S. 73-94 Hartmut Kapteina: Heilendes und Heilsamens Musikerleben. Musiktherapie als Fachgebiet der „Ästhetik und Kommunikation“ und als Element des Qualifikationsprofils helfender Berufe, in: Peter Marchal (Hrsg.): Ästhetik und Kommunikation heute. Beiträge zu einem Studienfach und seinen Teilbereichen, Siegen 1999 22