Birger Hartnuß BBE-Newsletter 24/2008 Engagement und Schule Bürgerschaftliches Engagement lernen! Bürgerschaftliche Verhaltensdispositionen werden in Kindheit und früher Jugend grundgelegt. Frühzeitige Engagement- und Demokratieförderung ist daher eine Aufgabe sowohl von Familie als auch der pädagogischen Institutionen und Einrichtungen. Dabei kommt der Schule als pädagogischer Ort, der tendenziell alle Kinder und Jugendlichen erreicht, eine herausragende Bedeutung zu. „Bürgerschaftliches Engagement wird gelernt. Elternhaus, pädagogische Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten und Universitäten, aber auch Unternehmen und Verwaltungen tragen dazu bei, ob Engagement gelernt wird. Engagement kann jedoch nicht ‚gelehrt’ werden, sondern braucht Vorbilder, Anregungen und Räume, in denen Verantwortungsübernahme für andere und eigene freiwillige Aktivitäten geprobt und eingeübt werden können. Gerade für junge Menschen sind ‚Vorbilder’ wichtig, Engagierte aus ihrem unmittelbaren Lebensumfeld, die sie erleben und befragen können, von denen sie lernen und an denen sie sich orientieren können“ (EnqueteKommission 2002, S. 289). Die Enquete-Kommission hat den Erwerb bürgerschaftlicher Kompetenzen in erster Linie in den Zusammenhang des sozialen Lernens gestellt. Inzwischen hat sich in Anlehnung an Debatten im angelsächsischen Raum dafür der Begriff civic education durchgesetzt, den die Kommission noch vorsichtig gebraucht hat. Ziel ist die Entwicklung bzw. Herausbildung von Bereitschaften und Fähigkeiten zur Mitbestimmung bei und Mitgestaltung von allgemeinen gesellschaftlichen und sozialen Belangen. Die Enquete-Kommission hat mit Blick auf die mit civic education verbundenen Anforderungen verschiedene Lebenswelten und die hier stattfindenden informellen, nonformalen und formellen Bildungsprozesse beleuchtet (ohne bereits mit diesen Begrifflichkeiten zu operieren) und Perspektiven für Familie, Schulen, Vereine und Verbände, Freiwilligendienste sowie Hochschulen und Universitäten entwickelt. Aktueller Trend: die Öffnung der Schule Für die Weckung der Bereitschaft zum Engagement ist es von zentraler Bedeutung, dass Institutionen insgesamt beteiligungsorientiert ausgestaltet sind. Dies gilt auch für öffentliche Einrichtungen in staatlicher oder kommunaler Trägerschaft – wie z.B. Schulen, Kindergärten und Jugendeinrichtungen. Sie sind potentielle Orte für engagierte Mitwirkung und Beteiligung. Am Beispiel der Schule hat die Kommission exemplarisch deutlich gemacht, was sie mit der Öffnung der Institutionen für bürgerschaftliches Engagement meint. Mit der Öffnung der Schule gegenüber ihrem Umfeld und dem Gemeinwesen verbindet sich die Chance, die Schule stärker in die lokale Bürgergesellschaft einzubetten. Ein bürgerschaftlich inspiriertes institutionelles Leitbild von Schule verankert den Gedanken der Engagementförderung und des Lernens von Engagement in ihrem konzeptionellen Selbstverständnis. Es zeigt sich offen für Mitgestaltung und Mitbestimmung durch die Schülerinnen und Schüler. Ein solches Leitbild qualifiziert sich aber auch durch eine stärkere Orientierung gegenüber dem schulischen Umfeld bzw. dem Gemeinwesen. Strategien einer „äußeren Öffnung“ beteiligen Eltern in höherem Maße an schulischen Entscheidungen, fördern die Gründung von Eltern(förder)vereinen und unterstützen Engagementbereitschaft und Verantwortungsübernahme der Eltern. Modelle und Konzepte einer „gemeinwesenorientierten Schule“ nutzen und integrieren Kompetenzen und Ressourcen des schulischen Umfeldes aus Sport, Kultur, Bildung, Jugendarbeit, gewinnen Spezialisten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, aber auch ortsansässigen Betrieben und Unternehmen und binden diese in die Gestaltung von Unterricht und des schulischen Lebens ein. Damit werden Engagementpotenziale des Gemeinwesens in Schule verankert. Unterricht wird durch das Einfließen von Praxiswirklichkeit erfahrungsorientiert. Das außerunterrichtliche Leben wird durch vielfältige Angebote und Aktivitäten interessant und attraktiv. Die Schule wird durch Möglichkeiten der Mitgestaltung und Mitbestimmung demokratisiert (vgl. Enquete- Kommission 2002, S. 546, Evers/Rauch/Stitz 2002). „Anders formuliert: Die Schule kann nicht mehr nur Sache der Lehrkräfte, sondern muss ebenso Sache der Schüler, der Eltern und des Umfeldes sein“ (Holzapfel 2000, S. 69). Diese Entwicklung von Schule kennzeichnet die Enquete-Kommission unter der Überschrift ‚Von der Schulanstalt zum lokal und partnerschaftlich orientierten Lernzentrum’. „Insgesamt geht es um die Nutzung und Kultivierung vielfältiger Formen sozialen Kapitals an Vertrauen, Kooperations- und Förderbereitschaften in und außerhalb der Schule und die stärkere Einbettung der Institution Schule in die lokale Bürgergesellschaft“ (Enquete-Kommission 2002, S. 546). Bildung zielt demnach auf eine allgemeine Lebensführungs- und Bewältigungskompetenz. Ein entsprechend erweitertes Bildungskonzept verbindet gleichauf mit Aufgaben der kulturellen und materiellen Reproduktion auch Aspekte der sozialen Integration und des sozialen Lernens (vgl. ebd., S. 110f.). Bildung und Lernen wer2 den dabei verstanden als ein selbstgesteuerter erfahrungsbezogener Kompetenzbildungsprozess. Einem so verstandenen, umfassenden Anspruch von Bildung kann freilich die Schule allein nicht gerecht werden. Es ist vielmehr geboten, schulische und außerschulische Bildungspotenziale bei der Gestaltung von Bildungsprozessen neu aufeinander zu beziehen. Formelle – also arrangierte und mit konkreten Lernerwartungen verbundene – Bildungsprozesse wie etwa im Unterricht gilt es mit solchen nonformaler und informeller Art, die weniger geplant und in der Regel auch außerhalb des Schulgebäudes stattfinden, zu verknüpfen. Ein neues, integriertes Bildungskonzept muss die üblich gewordene Arbeitsteilung und Spezialisierung der pädagogischen Institutionen neu definieren, traditionelle Rollenverständnisse und Zuweisungen überwinden und die pädagogischen Lern- und Bildungsprozesse miteinander verzahnen. Dies bedeutet letztlich, das Zusammenspiel von Familie, Schule, Kinder- und Jugendhilfe sowie vielfältiger weiterer gesellschaftlicher Akteure und Bildungsgelegenheiten neu zu bestimmen. Hierbei kommt nun auch dem bürgerschaftlichen Engagement ein hoher Stellenwert zu und seine Bedeutung für Bildungsprozesse wird im zwölften Kinder- und Jugendbericht ausdrücklich hervorgehoben. Wenn also Bildung nicht nur kognitives Wissen, sondern auch soziales Lernen – Kompetenzen wie Kommunikations-, Kooperationsund Teamfähigkeit, Empathie und soziales Verantwortungsbewusstsein – sowie demokratisches Rüstzeug und bürgerschaftliche Kompetenzen – also Partizipationsund Mitbestimmungsfähigkeiten als mündige Bürgerinnen und Bürger – umfasst, dann sind auch die pädagogischen Institutionen gefordert, Arrangements zur Verfügung zu stellen, die es ermöglichen, dass in der nachwachsenden Generation Bereitschaft und Fähigkeiten zur Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwesen und zur aktiven Beteiligung an der Gestaltung des sozialen, kulturellen und politischen Lebens entwickelt werden. Ansätze einer civic education als Teil einer erweiterten Bildungsidee bedeuten dann, Lern- und Erfahrungsräume bereitzustellen, um „Bürgerschaftlichkeit“ zu lernen. Solche Räume ermöglichen es, Engagementfelder und -formen kennen zu lernen, selbst ein Engagement auszuprobieren, Engagementrollen einzuüben und dabei soziale und bürgerschaftliche Kompetenzen zu erwerben. Bürgerschaftliches Engagement ist dabei einerseits Bildungsfaktor bzw. – ziel, andererseits selbst Bildungsort. Engagement und die dabei stattfindenden informellen Bildungsprozesse z.B. in Vereinen, Projekten und Initiativen eröffnen Möglichkeiten für ein informelles Lernen in lebensweltlichen Zusammenhängen, für ein gemeinsames Problemlösen zusammen mit anderen. Dabei steht der Erwerb von Wissen in engem Zusammenhang mit der Aneignung bürgerschaftlicher Kompetenzen. Wissen wird dadurch intensiver und nachhaltiger vermittelt; Teamfähigkeit und Verantwortlichkeit sind Teil des Lernvorgangs. 3 Diese Zusammenhänge zwischen freiwilligem Engagement und informellem Lernen wurden im Freiwilligensurvey 2004 auch empirisch erfasst. Demnach lässt sich freiwilliges Engagement als wichtiges informelles Lernfeld beschreiben. Im Engagement werden einerseits Fachwissen, andererseits soziale und organisatorische Kompetenzen erworben. Dies gilt besonders bei jungen Menschen. Sie erwerben durch ihr Engagement vielfach Fähigkeiten, die für sie persönlich wichtig sind. 55 % der Engagierten im Alter zwischen 14 und 30 geben an, dass das Engagement in sehr hohem bzw. hohem Maße Gelegenheiten zum Erlernen von Fähigkeiten bietet, die für sie persönlich wichtig sind (vgl. Gensicke u.a. 2006, S. 27 ff.). Auch der Bericht über Bildung in Deutschland räumt dem informellen Lernen durch freiwilliges Engagement hohe Bedeutung ein. Der im Auftrag der Kultusministerkonferenz und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von einem Konsortium mehrerer einschlägiger Forschungsinstitute erstellte Nationale Bildungsbericht 2006 greift die Ergebnisse des Freiwilligensurveys auf und hebt die Möglichkeiten hervor, die das Engagement für die Herausbildung sozialer, organisatorischer und fachlicher Kompetenzen bietet (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, S. 64 f.). Möglichkeiten der Engagementförderung an und durch Schulen In der Praxis der Engagementförderung und der Gestaltung schulischen Lebens haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche Ansätze einer Verknüpfung weiterentwickelt und intensiviert, zum Teil haben neue Formen der Verbindung von Schule und Bürgergesellschaft Einzug gehalten. Es gibt im Prinzip keine Schule, die völlig hermetisch gegenüber ihrem Umfeld existiert. Schulkooperationen mit Organisationen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit, des Sports, der Kultur, des Natur- und Umweltschutzes etc. gehören zur Normalität im deutschen Schulsystem. Externe Akteure, Ressourcen und Potenziale bereichern schulisches Leben, tragen zur Öffnung gegenüber dem Gemeinwesen bei und unterstützen erfahrungsorientiertes Lernen. Besondere Bedeutung hat dabei die Beteiligung von Eltern sowie die Zusammenarbeit mit Elternfördervereinen, die sich vielerorts gegründet haben. Projektunterricht ist eine etablierte Unterrichtsform; dabei arbeit die Schule häufig mit Externen und Partnern im schulischen Umfeld zusammen. Sozialpraktika und Seitenwechselprojekte ermöglichen Schülerinnen und Schüler vielerorts Einblicke in fremde Lebenswelten und ermöglichen das Erproben von Verantwortungsübernahme und Engagement. Auch Projekte zwischen Schulen und Wirtschaftsunternehmen finden häufig statt. Sie stärken Bezüge zur Arbeitswelt, unterstützen bei der Einmündung in Arbeit und Beruf und bringen finanzielle Ressourcen und fachliches Know How ein. Die Landschaft solcher Kooperationsvorhaben und gemeinsamer Projekte ist inzwischen extrem vielfältig. In einigen Ländern werden diese Öffnungsbemühungen (zum Teil bereits seit vielen Jahren) 4 durch eigene Programme unterstützt. Im Rahmen der Ganztagsschulentwicklung ist die Schulöffnung ein zentrales Gestaltungselement. Weiterentwickelt haben sich auch die Möglichkeiten und Formen der Demokratie und Mitbestimmung in der Schule. Zahlreiche gesellschaftliche Akteure und Organisationen bemühen sich intensiv darum, Möglichkeiten für Mitbestimmung und Mitgestaltung von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Partizipation ist zentrales Anliegen von Bundes- und Landesjugendringen. Stiftungen wie die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung und die Stiftung Demokratische Jugend entwickeln neue Praxismodelle und beteiligen sich an ihrer Umsetzung. Servicestellen für Jugendbeteiligung sind Ansprechpartner und bieten vor Ort Unterstützung an. Die Initiative „mitWirkung!“ der Bertelsmann Stiftung hat von 2004 bis 2007 das empirische Wissen über bestehende Partizipationsmöglichkeiten erweitert, Konzepte und Modelle der Beteiligung weiterentwickelt und engagiert sich derzeit für die Umsetzung ihrer Ergebnisse in Modellkommunen. Im BLK-Programm „Demokratie lernen & leben“ wurden zahlreiche Praxisbausteine und Anregungen erarbeitet, die in Schulen erprobt und umgesetzt werden können. Leider gab es für das Programm nach seinem Ausklang bislang keine Anschluss- bzw. Transfermöglichkeit (siehe dazu weiter unten). Festzuhalten bleibt trotz vielfältiger Entwicklungen und Fortschritte, dass die Potenziale für Selbstund Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern in der Schule längst nicht ausgeschöpft und deutlich verbesserungswürdig sind (vgl. Bertelsmann Stiftung 2007). Die BBE -Fachtagungen „Schule und bürgerschaftliches Engagement“ Das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) bemüht sich seit seiner Gründung 2002 darum, bürgerschaftlichem Engagement als Bildungsfaktor und Bildungsziel Anerkennung zu verschaffen und die Institutionen des Bildungs- und Erziehungssystems für mehr Kooperation und Vernetzung mit der lokalen Bürgergesellschaft zu bewegen. Eine Arbeitsgruppe im BBE widmet sich eigens diesen Zielen. Mit einer Kongressreihe „Schule und Bürgergesellschaft“ werden Praxisimpulse für die Verbreitung guter Ideen und Modelle, für Vernetzung und Kooperation mit dem Anspruch, bürgergesellschaftliche Anliegen in der Bildungspolitik zu verankern, verbunden. Seit 2004 findet jährlich ein Fachkongress mit unterschiedlichen Partnern und jeweils besonderen Schwerpunkten in verschiedenen Ländern und Regionen statt. Bisher haben 5 solcher Fachkongresse -in Mainz (RheinlandPfalz), Essen (Nordrhein-Westfalen), Stuttgart (Baden-Württemberg), Halle/Saale (Sachsen-Anhalt) und Dillingen (Bayern) stattgefunden. Für das Jahr 2009 ist ein ebensolcher in Niedersachsen geplant. Dokumentationen der Fachtagungen finden Sie auf www.b-b-e.de 5 Birger Hartnuß arbeitet in der Leitstelle „Koordination und ressortübergreifende Vernetzung von bürgerschaftlichem Engagement und Ehrenamt“ der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz. Zuvor war er wissenschaftlicher Referent in der BBEGeschäftsstelle. Kontakt: [email protected] Mitarbeit: Thomas Kegel ist Projektleiter der Akademie für Ehrenamtlichkeit Deutschland. Kontakt: [email protected] 6