Musik und Leadership?

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Musik und Leadership?
Was hat Musik, oder gar klassische Musik, mit Wirtschaft zu tun? Ein Blick hinter
die Kulissen lohnt sich, um zu sehen, wie in einem Orchester aus vielen, einzelnen
komplexen Abläufen auf zahlreichen Ebenen eine erlebte Einheit entsteht.
Schon die Vielzahl von Redewendungen, die im allgemeinen Sprachgebrauch
ihren Platz gefunden haben, zeigen die Kraft klassischer Musik für Metaphern:
ein Projekt orchestrieren, ein Team dirigieren, andere Saiten aufziehen, die 1. Geige
­spielen, einen Kontrapunkt setzen, unter anderen Vorzeichen weitermachen, und
vieles mehr.
Das besondere sind dabei die Kompaktheit, die unmittelbaren Ergebnisse, die
sofortige Wirkung – sodass ich von der Essenz sozialer Systeme spreche. Diese Essenz
ermöglicht hervorragend neue Blickwinkel und Anregungen.
Willkommen in der Welt der klassischen Musik!
Ihr Florian Schönwiese
Intensive, erfüllende und besonders interessante Sommer-Monate in meinem
ursprünglichen Beruf als Orchestermusiker im Concentus Musicus Wien mit Konzerten bei den wichtigsten Sommer-Festivals (ua den Salzburger Festspielen) haben
mir einmal mehr bestätigt, wie sehr das klassische Symphonie-Orchester als Essenz
sozialer Systeme zu sehen ist – besonders das Verhältnis zwischen der Führungskraft und dem Team aus Spezialisten, in diesem Fall dem Dirigenten und seinem
Orchester.
Nikolaus Harnoncourt (1929–2016), prägendster österreichischer Dirigent der letzen Jahrzehnte,
gründet 1953 sein Orchester „Concentus Musicus Wien“.
Nikolaus Harnoncourt war für mich sowohl als Musiker als auch als Unternehmer
eine prägende Persönlichkeit! Fast zwei Jahrzehnte habe ich als Geiger in seinem
Orchester mitgewirkt, das ausschließlich er bis zu seinem Tod im März 2016 selbst
leitete. So war es für uns nach seinem Tod völlig neu, die „normale“ Situation eines
Gast-Dirigenten kennenzulernen. Dabei dauert die Zusammenarbeit meist nur
wenige Tage! Umso interessanter war es zu erleben, wie in dieser kurzen Zeit, ähnlich einer Projekt- oder Wirtschaftsperiode, alle wichtigen Details, Phasen und
Mechanismen auf engstem Raum unmittelbar zu Tage treten, die zum Gelingen
eines Projekts wichtig sind.
3 Voraussetzungen guter Führung:
Y überzeugende,
verinnerlichte Vision
Y universelle Kommunikation
Y respekt- und vertrauens-
volle Umsetzung
Im Folgenden möchte ich drei grundsätzliche Punkte herausheben aus der Sicht
eines Mitarbeiters/Orchestermusikers — denn wer kann besser sagen, ob die
­Führung „funktioniert“ als die Mitarbeiter. Wie jeder Mitarbeiter möchten auch meine
Kollegen und ich im Orchester die Führungskraft unterstützen — wenn sie uns
„lässt“, wenn wir von ihren Ideen überzeugt werden, wenn die Basis von gegen­
seitigem Vertrauen und Respekt gegeben ist.
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1. Die Vision
Ich verwende im ganzen Artikel
die männliche Form, mir ist aber
bewusst, dass es immer mehr
erfolgreiche Dirigentinnen gibt!
Die Notwendigkeit einer eindeutigen, verinnerlichten Vision ist uns allen klar.
Wie wichtig sie ist zeigen nicht zuletzt Heerscharen von Strategen und Trainern, die
in Unternehmen viele Tage und Wochen dafür investieren. Und wir alle kennen
andererseits die Probleme von unvorbereiteten Führungskräften: sinnlose, zeit­
raubende Meetings, Perspektivenlosigkeit, Entscheidungsschwächen etc.. Besonders stark sind die Aus­wirkungen in der komprimierten Situation einer Konzert-Projektphase, in der sich Dirigenten als Führungskraft nicht hinter Masken, Floskeln
oder zurechtgelegten Führungsstrategien verstecken können. Wir Orchestermusiker erkennen nach wenigen Minuten das Wissen, den Grad der Vorbereitung und die
Klarheit der Vision unseres Dirigenten.
Stellen Sie sich die Situation im Orchester vor: 80–100 hochausgebildete und
erfahrene Künstlerpersönlichkeiten kommen zu Beginn des Projekts zusammen, in
der Regel gut vorbereitet und geübt – und vor allem: jeder mit seiner eigenen persönlichen Vision des Werkes! Es braucht also ein überzeugendes Konzept und klare
Anweisungen, in welche Richtung es gehen soll, als Voraussetzung dafür, all unser
Potential und die persönliche Kreativität zu entfalten und uns für dieses Konzept
einsetzen zu wollen! Gibt es keine klare Führung, heben sich die Ideen der Musiker
gegenseitig auf und das Ergebnis ist Mittelmaß ...
Mittelmaß ist Gift für jede Kunst – ebenso für die Kunst des Führens!
Die klare Vision der Führungskraft ist natürlich eine sehr persönliche – und immer
eine Kombination aus Persönlichkeit und Erfahrung. Das ist auch der Grund, warum
wir die 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven nach dem 250. Mal noch immer
hören wollen. Aber auch die Vorbereitung ist besonders wichtig und bei jedem Dirigenten anders! Es kann bis zu zwei Jahren dauern, bevor ein Dirigent überhaupt vor
das Orchester tritt. So studiert ein Dirigent die Partitur, versucht zu verstehen, wie
die unglaublich rigiden Vorgaben des Komponisten gemeint sind, was seine Idee,
seine Aussage, seine Emotionen gewesen sein könnten, recherchiert, wie das Werk
zur Zeit seiner Entstehung aufgenommen wurde, wie die sozialen, gesellschaft­
lichen Situationen und Entwicklungen zu dieser Zeit waren, ob es Aufzeichnungen
des Komponisten gab, Skizzen oder verworfene Versuche etc., etc. – und erarbeitet
und verinnerlicht so seine ganz persönliche Vision.
Die Partitur enthält möglichst exakte Vorgaben des Komponisten zur Umsetzung seiner Ideen: für
jeden einzelnen Mitspieler sind hier Tonhöhe, Lautstärke, Geschwindigkeit, die Kombinationen mit
andere Instrumenten, die Spielweise und viele Details mehr notiert. Dennoch ist Exekution zu wenig!
Nur intensive Beschäftigung ist das Tor zu Freiheit und Kreativität!
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2. Die Kommunikation
Wie muss die Vision eines Dirigenten sein, um uns Orchestermusiker, seine Mit­
arbeiter, zu überzeugen? Was ist es, was uns glauben lässt, er sei gut vorbereitet,
hat genaue Vorstellungen und überzeugende Konzepte?
Den ersten starken Eindruck erhalten wir naturgemäß, wenn er zu Beginn der
ersten Probe vor das Orchester tritt: wie begrüßt er uns, wie spricht er uns an,
beginnt er sofort mit der Musik, erklärt er uns zuerst noch, was er sich vorstellt,
beginnt er gleich mit Details oder zuerst dem Gesamtbild etc. Wir Orchestermusiker
sind grundsätzlich willig, aber doch skeptisch. Ein wenig Vorschuss an Vertrauen
und Respekt bekommt er, aber viele Fehler kann er sich nicht erlauben.
Das wissen Dirigenten natürlich – damit haben sie ihre ersten (leidvollen)
Erfahrungen schon als Studierende gemacht, als sie in ihrer Studienzeit (das Studium „Dirigieren“, also Führung in dieser Welt, gibt es schon seit Anfang des 19.
Jahrhunderts!) erstmals vor ein Orchester treten mussten! Das heißt aber auch, Dirigenten sammeln schon seit ihrer Studienzeit viele Erfahrungen: über sich selbst,
über die Wirkung ihrer Aktivitäten, über ihre persönlichen Stärken, Schwächen und
Möglichkeiten.
Leadership ist ausschließlich und sehr persönlich!
So findet jeder gute Dirigent im Lauf der Zeit seine persönliche Art und Weise, seine
Vision zu vermitteln und zu erarbeiten. Der eine stellt uns seine Vision mit viel Phantasie und eindrücklichen Bildern verbal vor – wie es etwa Nikolaus ­Harnoncourt
getan hat, der uns obendrein auch sehr ausführlich über seine Recherche-­Arbeiten
berichtete, – der andere beginnt sofort zu arbeiten und die Vision zeigt sich erst im
Laufe der Probenzeit, wieder ein anderer bezieht uns Musiker aktiv in bestimmte
Bereichen ein, andere haben so klare Vorstellungen, dass sie uns gar nicht erst
nach unserer Meinung fragen. Wir Mitarbeiter akzeptieren jede Heran­gehensweise,
wenn sie inhaltlich überzeugend, stimmig und durchdacht ist!
Zwei Grundsätze sind bei guten Dirigenten erkennbar:
1. die Kommunikation der Vision geht meist nicht ins technische Detail, sondern
bleibt auf einer Meta-Ebene, die emotional verständlich ist, Interesse weckt
und den Mitarbeitern Freude macht
2. die Vermittlung geschieht auf eine Weise, die potentiell jede
Persönlichkeitsstruktur erreicht, egal ob strukturiert denkend oder völlig
emotional handelnd
Die Kunst der Führung besteht darin, als Führungskraft eine klare, stringente Vision verinnerlicht zu
haben und sie so zu kommunizieren, dass sie den Mitarbeitern die Freiräume lässt, ihre Kreativität und
Potentiale zu nutzen und Freude und Leidenschaft für die Sache zu entwickeln.
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3. Die Umsetzung
Die klare Vision ist die Voraussetzung für eine aktive Umsetzung, die effektiv und
zielgerichtet sein muss – immerhin hat ein Dirigent nur 3-4 Tage Zeit bis zur Aufführung!
Hier spielen neben der Kommunikation folgende Punkte eine wichtige Rolle:
1. Respekt & Vertrauen
2. das Feedback von außerhalb des Geschehens
Heutigen erfolgreichen Dirigenten ist gemeinsam, mit ehrlichem Respekt und
­Vertrauen an das Orchester ihre persönliche Vision zu vermitteln – das gibt uns
­Mitarbeitern die Möglichkeit und Pflicht, ihnen auf die gleiche Weise zu begegnen!
Grundvoraussetzung einer produktive Zusammenarbeit: gelebter Respekt und Vertrauen!
Erfolgreiche Dirigenten sind sich im Kontakt mit ihren Mitarbeitern auch bewusst,
dass sie es mit hochqualifizierten Spezialisten zu tun haben, für die sie sich oft
auch selbst entschieden haben. Sie wissen, dass sie selbst zwar eine sehr verantwortungsvolle Rolle innehaben, aber ohne ihr High-Performance-Team nicht erfolgreich sein können. Bei einem Dirigenten ist das natürlich besonders offensichtlich
– er erzeugt selber keinen einzigen Ton…!
Dieses Bewusstsein scheint in der Realität anderer Welten eine große Hürde
zu sein. Ähnlich problematisch ist auch der veraltete, aber nach wie vor viel zu oft
zitierte und gelebte Spruch: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Die Arbeit im
Orchester zeigt deutlich, dass die Kontrolle Vertrauen von vornherein vernichtet –
und damit Höchstleistungen und Exzellenz unmöglich werden! Für das Mittelmaß
mag Kontrolle und Macht genügen. Bewegen können wir aber auf diesem Niveau
nichts. Wir brauchen besondere Momente, um regelmäßige Konzertbesucher und
somit den Erfolg eines Orchesters zu sichern!
Kontrolle um der Kontrolle Willen vernichtet Vertrauen und damit für den Erfolg notwendige Kreativität.
Dieses Vertrauen ist auch die Grundlage für das notwendige konstruktive Feedback
an uns von „außen“, außerhalb des aktiven Geschehens. Ein Orchester ist ein sehr
komplexes System, bei dem es um Nuancen, Hundertstel-Sekunden, minimale
Schwingungen etc. geht. Und daher braucht es eine Person, den Dirigenten, der
sich mit etwas Abstand auf den Gesamtklang, das große Ganze konzentrieren kann,
ohne sich um die Herausforderungen seines eigenen Instruments kümmern zu
müssen. Nur diese Freiheit, nicht aktiv mitarbeiten zu müssen, gibt ihm die Möglichkeit, seine Vision zu orchestrieren und zu überblicken. Daher nehmen wir ernst
gemeinte und auf den Inhalt fokussierte Kritik gerne an! Ja, wir brauchen sie!!
Führungskräfte brauchen die Freiheit, sich nicht um Details und Techniken kümmern zu müssen,
um ihr Visionen erfolgreich orchestrieren zu können!
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„Ein Werk muss mich total okkupieren“
Foto: © Marco Borggreve,Sony Music
Auszug aus einem Gespräch von Florian Schönwiese
mit Nikolaus Harnoncourt (25.2.2015)
Florian Schönwiese: Wie bereiten Sie sich auf die
Interpretation einer Komposition vor? Haben Sie
ein großes Gesamtbild im Kopf, aus dem sich die
Details herauskristallisieren oder erarbeiten Sie
aus den einzelnen Details ein Gesamtes?
gekannte habe und von dem ich überzeugt war:
Es muss gut sein! Manchmal hat sich heraus­
gestellt, dass es dieses Niveau nicht hat.
Nikolaus Harnoncourt: Also es fängt eigentlich
mit der Wahl des Stückes an. Ich sehe mich nicht
als einen „engagierbaren“ Dirigenten – das bin
ich überhaupt nicht. Ich habe mich von Anfang an
als jemanden gesehen, der bestimmte Werke
realisieren will. Auch wenn ich diese Werke zum
Teil gar nicht gekannt habe.
Damit hab’ ich ein Risiko auf mich genommen:
Ich halte diese Werke für sehr gut aufgrund ihres
historischen Ruhmes oder weil ich sie gehört
habe, aber oft auch nur vom Prinzip her, weil man
weiß, dass an diesem Ort dieser Komponist diese
Rolle gespielt hat. Da bin ich zu einem ganz
geringen Prozentsatz hineingeflogen und habe
etwas aufs Programm genommen, was ich nicht
NH: Ein Stück muss mich vollständig ergreifen. Es
muss mich mit allen Fasern ergreifen. Das heißt
„gut“ für mich. Daher gibt es ganz bekannte
Werke und ganz bekannte Komponisten, die sich
für mich ausschließen, weil ich überhaupt keinen
Anknüpfungspunkt finde. Und es gibt Werke, von
denen ich von vorne herein so durchdrungen bin,
so überzeugt!
Ich mach’ zum Beispiel auch einen Unterschied, ob ein Werk historisch interessant ist
oder ob es zeitlos ist. Ich betrachte zum Beispiel
die ganz große Kunst als zeitlos. Das heißt, eine
Statue von Praxiteles, die ist für mich in jedem
Jahrhundert und in jedem Jahrtausend aktuell.
Ein Werk von Shakespeare ist genauso modern
FS: Was heißt „gut“ in dem Fall?
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wie ein Werk des besten zeitgenössischen
­Dichters. Das bleibt immer modern. Das wird nie
historisch. Es gibt in der Musik auch eine Handvoll Komponisten, aber nicht viel mehr. Was „nur“
historisch interessant ist, interessiert mich dann
eigentlich nicht. Weil ich finde, dass das eine
Seminarfrage ist. Im Seminar soll der Musiker
­lernen, was es zu dieser und jener Zeit gab.
Ein Werk muss mich total okkupieren. Es
kommt vor, dass manche Künstler – und zwar in
jeder Kunst, auch in der Bildhauerei und Malerei
und Dichtung – so groß, so bedeutend sind, dass
sie etwas Minderwertiges überhaupt nicht
­herauslassen. Das heißt, selbst wenn sie irgend
so etwas mal machen würden, also scheitern
­würden an etwas, dann vernichten sie das.
Ich versuche, alle Informationen zu kriegen,
die ich überhaupt nur kriegen kann darüber, was
das Werk sagen will.
FS: Noch bevor Sie sich die Noten ansehen?
NH: Nein, das ist schon in dem Moment, wo ich
entschlossen bin, ein bestimmtes Werk zu
machen. Da muss ich die Noten haben. Und das
ist relativ lange bevor ich es aufführe. Ich kann
nicht sagen: In zwei Monaten führe ich das auf.
FS: Sondern länger - eher Jahre?
NH: Heute eher Jahre. In der Anfangszeit vielleicht Monate. Aber da bin ich einfach mit jugendlichem Ungestüm darangegangen. Ich wollte ja
weiterkommen.
Es waren schon Jahre, bevor wir uns das erste
Mal mit dem damals neugegründeten Ensemble
in die Öffentlichkeit gewagt haben. Wir haben ja
vier Jahre nur geprobt. Allerdings immer, fast
immer, mit Publikum. Und diese Leute haben
auch mitreden können.
Ich will die musikalische Sprache, die Sprache, die in diesem Werk verwendet wird, auf
meine Weise verstehen. Und will versuchen, sie
so zu vermitteln, dass sie der Hörer verstehen
kann. Beziehungsweise ist es mir bewusst,
dass es bei jeder großen Kunst keine letzte Eindeutigkeit gibt. Darum bleibt immer ein Geheimnis. Das ist geradezu das, was die ganz große
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Kunst ausmacht. Aber andererseits kann man
nicht sagen: Alles, was von Geheimnis umgeben
ist, ist große Kunst. Die ganz große Kunst ist nie
vollkommen vergleichbar.
FS: Wann sind Sie denn zufrieden?
NH: Also: Ich studiere ein ganz großes Werk
zuerst für mich bis ich glaube, ich habe das jetzt
so weit, dass ich damit in die Probenarbeit gehen
kann. Dann kommt’s zu einer Aufführung, mit der
ich aber nie zufrieden sein darf und sein kann!
Denn ein Ziel, das ich erreichen kann, ist ja kein
Ziel. Ein Ziel kann man im höchsten Fall fast
erreichen. Aber wenn ich ein Ziel erreichen
kann, dann darf ich das nicht einmal Ziel nennen.
Je bedeutender das Werk ist, umso mehr Zeit
brauch’ ich, bevor ich dasselbe Werk wieder
mach’. Ich bleibe überzeugt von dem Stück, und
es geistert in meinem Hinterkopf herum, aber
wenn ich wieder an das Stück herangehe, fang’
ich ganz von vorne an.
Alice Harnoncourt: Jetzt möchte ich gerne
wissen: Fängst du mit Details oder mit dem
Ganzen an?
NH: Das geht ineinander. Sehr oft mach’ ich mir
eine Grafik von dem Stück – mit mehreren ­Farben.
Und dann fügen sich die Details ineinander. Das
ist ja eine ganz, ganz langwierige Sache.
FS: Wenn Sie zur Probe kommen, gibt es so etwas
wie ein ganzes Bild?
NH: Ich darf nicht zu einer Probe kommen ohne
Konzept.
FS: Sie haben dann ein ganzes Bild bis
ins letzte Detail?
NH: Ja, bis ins Detail. Es ist allerdings so, dass
die praktische Ausführung Details noch ändert.
Ich habe sie bis dahin nur im Kopf gehabt.
Jetzt habe ich vor mir zwischen zwanzig und
hundert Musiker und es ist mir bewusst, – ich war
ja selbst auch Musiker, ich habe ja siebzehn
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Jahre im Orchester gespielt mit den tollsten Dirigenten –, dass praktisch jeder von diesen Musikern eine gewaltige Potenz an Wissen, an
Ideen, an Phantasie hat, auf die ich auf keinen
Fall verzichten kann. Ich muss auch ihnen das
Gefühl geben können, dass ich sie brauch’ und
dass sie nicht nur an meinen Fingern hängen und
das machen sollen, was ich sag’.
Das war so ein altes Dirigentenbild, das ich als
Orchestermusiker sehr abgelehnt habe. Und
wenn einer etwas ganz anders versteht, dann
muss er das sagen können. Ich muss allerdings
auch beharren können auf dem, was ich mir vorstelle.
Ich habe natürlich durch die Beschäftigung
einen Vorsprung. Es wird nicht viele geben, die
sich mit diesem Stück so befasst haben wie ich.
Aber immer wieder kommen Elemente von
Musikern herein, mit denen ich nicht gerechnet
habe.
und sah mich da als „Leitung“ angeführt. Ich
habe das natürlich geleitet, aber vom Cello aus,
habe aber nie dirigiert. Das war um 1970. Er hat
mich gefragt, ob ich in Mailand an der Scala mit
dem Orchester der Scala etwas machen will. Und
ich habe gesagt: Also, natürlich nur etwas, was
mich interessiert. Und dann habe ich zugesagt.
Das heißt, das erste Orchester, das ich in meinem
Leben dirigiert hab — da hatten andere Dirigenten schon die ganze Palette von Schulorchestern
bis zu den Provinzorchestern hinter sich — war
das Orchester der Scala!
Die Berliner Philharmoniker haben noch zu
Lebzeiten von Karajan ihre Orchestervorstände
zu mir geschickt, um einen guten Kontakt herzustellen. Weil, sobald es erlaubt war, wollten sie
mit mir arbeiten. Nachdem er gestorben war,
haben die Berliner sofort gefragt, ob ich ein Konzert machen will. Und ich habe zugesagt. Das
war, glaub’ ich, ein Mozart-Programm.
FS: Ein anderer Blickwinkel eines Musikers
zum Beispiel?
FS: Dort sind Sie dann fast gescheitert?
NH: In seiner eigenen Phantasie hat er noch eine
große Kammer, die ich überhaupt nicht geöffnet
habe. Da würde ich nicht sagen: „Mach’s so wie
ich’s sag.“ Aber es kann auch sein, wenn man ein
Stück macht, dass das betreffende Orchester –
das wäre jetzt ein Gastorchester, weil im Concentus Musicus ist das anders – ein Stück schon
gut kennt und oft gespielt hat. Da habe ich schon
die Antwort aus einem Orchester gekriegt: „Muss
denn immer alles anders sein?“ Und ich sag’:
„Überhaupt nicht. Aber wenn es anders ist, dann
müssen wir schauen, dass wir einen gemein­
samen Weg finden.“ Das kann schwierig sein.
Darf ich Ihnen ein Beispiel von einem erst­
maligen Gastdirigieren erzählen, wo ich an der
Grenze des Scheiterns war, ist das interessant
für Sie?
FS: Ja, das ist sehr interessant!
NH: Also, ich bin durch Zufall zum Dirigieren
gekommen. Eigentlich durch einen Irrtum. Der
Direktor der Mailänder Scala hat Schallplatten
von mir mit Musik von Claudio Monteverdi gehört
NH: Ich war total vorbereitet. Sie haben sich
gewundert, weil ich habe mit ihnen gearbeitet,
wie ich arbeite und habe überhaupt keine Devotion oder besondere Unterwürfigkeit gezeigt.
Sondern ich habe so gearbeitet, dass ich mit
wenigen Proben möglichst weit kommen kann.
Ich war der Meinung, dass – wenn sie mich wollen – die Sympathie von vorne herein da ist.
Zuerst habe ich dem Hornisten gesagt: Sie können an dieser Stelle ruhig ein bisschen Vibrato
nehmen. Die böhmischen Hornisten in der Zeit
Mozarts waren bekannt dafür, dass sie vibriert
haben. Und das passte da sehr gut. Der Hornist
ist aufgestanden und hat gesagt: „Nach meinem
besten Wissen und Gewissen macht man am
Horn kein Vibrato. Punkt.“ Heute machen sie
natürlich Hornvibrato in allen Orchestern. Dann
habe ich mir gedacht: Oje. Und dann murmelt mir
Konzertmeister zu: „Der hat noch nie gegickst …“
(Anmerkung: „gicksen“ sind miss­lungene Töne –
davor haben alle Hornisten Angst …). Das war ja
ein ganz berühmter Hornist. Dann sag’ ich dem
ersten Oboisten, ob er diese Stelle so oder so
spielen könnte. Der hat wunderbar gespielt, aber
ich habe ihn doch gefragt, ob er das auf eine
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bestimmte Weise spielen könnte. Worauf er den
Kopf gesenkt hat, mir nicht geantwortet hat und
der Konzertmeister hat gesagt: „Der ist seit fünfundzwanzig Jahren im Orchester und noch nie
kritisiert worden.“ Da habe ich mir gedacht: Aus
jetzt – wie soll ich proben?
Dann habe ich die Streicher weggeschickt
und gesagt: Ich mach eine Bläserprobe. Die
Streicher sind strahlend abgezogen. Ich habe
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meinen Sessel genommen und mein Pult, mich
direkt vor die Bläser gesetzt und angefangen
mit ihnen zu proben. Die mussten dableiben. Ich
war nie unfreundlich oder unhöflich, aber ich
habe wirklich gearbeitet! Und ab dem Moment
sind sie aufgetaut. Die haben sich wirklich während der Probe gefreut, das begeisterte sie, was
ich da wollte. Und die spielten nicht einfach so
wie immer, wie mir der Konzertmeister gesagt
hat.
Das Merkwürdige an dem Ganzen war: Es war
ein tolles Konzert und ich habe in meiner Garderobe einen Strauß Lilien und eine Champagnerflasche von dem Oboisten vorgefunden. Das war
Lothar Koch – er war eine Legende in Deutschland. Das war also meine erste Begegnung mit
den Berliner Philharmonikern.
Diese sowie andere Themen,
Ansätze und Mechanismen
sind als Essenz in der Arbeit eines
klassischen Symphonieorchesters
enthalten und komprimiert erlebbar.
Sie sind auch die Grundlage für meine
Dieses Magazin wird regelmäßig erscheinen und sich
Leadership-Development Programme,
Methoden rund um Führung, das System des Orchesters
in denen wir uns diesen einzigartigen
und Themen zur Erreichung von Exzellenz widmen.
Vorteil zunutze machen (mehr dazu
In jeder Ausgabe wird auch eine externe Person zur
siehe www.schoenwiese.net).
Sprache kommen, entweder Auszüge aus einer Vielzahl
von Interviews, die ich mit erfolgreichen Führungskräften
aus allen Bereichen (Wirtschaft, Musik, Sport, Pädagogik,
etc.) geführt habe, oder mit Gastkommentaren.
Die nächsten offenen Programme
Nehmen Sie Kontakt mit mir auf!
zum Kennenlernen meiner Methode:
Gern spreche ich mit Ihnen über Möglichkeiten,
9.11.2016
erzähle von besonderen Erlebnissen und diskutiere
in der Laeiszhalle in Hamburg
mit Ihnen, wie Sie ein noch höheres Niveau einer
23.11.2016
konsequenten Leistungs- und Führungskultur
im Wiener Konzerthaus
in Ihrem Unternehmen erreichen!
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