Die Novellierung der ArbMedVV

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Die Novellierung der ArbMedVV:
Eine Jahres- und Abschlussbilanz
Knapp über ein Jahr lang arbeiten wir nun mit der „neuen ArbMedVV“. Was hat uns
dieser angebliche Paradigmenwechsel gebracht? Wie viel rechtskonformer arbeiten wir heute tatsächlich? Was bedeutet Rechtskonformität im ärztlichen Handeln?
Eine Kollegin wird im Ärzteblatt und in der ASUMED nicht müde darzustellen,
dass alles besser geworden sei. Das erkenne man am Personalzuwachs in der
Gruppe der 30-40-jährigen ArbeitsmedizinerInnen, von je nach Statistikinterpretation bis zu zwei Prozent, der geeignet sein soll, den zu erwartenden Weggang der
bis zu sechzig Prozent der über 55-jährigen abzufangen, weil er eine Trendwende
begründe. Außerdem muss niemand in der Arbeitsmedizin noch klinisch ärztlich
arbeiten wollen, toll. Der Wichtigste, sich ständig vordrängelnde Protagonist der
neuen ArbMedVV, bläst zum Halali auf diejenigen, die ihr ärztliches Können immer
noch nicht auf dem Altar der Verwaltungstechnokratie verschrottet haben. Endlich
werden auch in der Arbeitsmedizin die verfassungsmäßigen Grundrechte der Versicherten respektiert, Halleluja.
Wie viel Dreck müssen die Arbeitsmediziner eigentlich am Stecken haben, dass ein
Verwaltungs-„wissenschafter“ und seine Kumpane mit derartiger Verve eine ganze
hochqualifizierte Berufsgruppe wie eine schlachtreife Sau durchs Dorf treiben
dürfen? Nun gut, ein Teil seiner Gönner hat die Arbeitsmedizin seit den 1990ziger
Jahren derartig diskreditiert, dass man heute bei Erstkontakten mit Kunden darauf
hinweisen muss, mit dieser Truppe nichts gemein zu haben und obwohl man den
ein oder anderen dort arbeitenden Kollegen durchaus schätzt, entschuldigt man
sich erst einmal für deren zum Teil fragwürdige Interpretation arbeitsmedizinischer
Betreuung, woran ja die dort arbeitenden Ärzte gar nicht schuld sein müssen.
Dabei kommt automatisch unsere Statistikkünstlerin wieder ins Spiel. Denn,
work-life-balance, Familienfreundlichkeit, Freiheit von Diensten und Verantwortung sowie Teilzeitangebote, wie in dieser Firma, sind der Grund, warum man die
Arbeitsmedizin zu seinem Fach machen sollte. Früher hieß es: „Mädchen, Du hast
zur Feminisierung der Arztberufes beigetragen, dafür danken wir Dir. Jetzt wirst
Du bald Mutter und Dein Gatte habilitiert fleißig oder macht anderwärtig Karriere.
Werde am besten Betriebsärztin, dann kannst Du weiterhin Ärztin sein und wirst
auch Deiner Rolle als Unterstützerin des Haushaltsvorstandes, treusorgender
Ehefrau und Mutter gerecht. Dein Studium war ja nicht ganz umsonst. Du bist
kultiviert, gebildet und vorzeigbar.“ Wenn eine junge Frau heute noch so leben
möchte, bitte sehr. Leider habe ich auf den letzten Fortbildungen tatsächlich eine
zunehmende Zahl von angehenden Betriebsärztinnen getroffen, die genau diesem
© Christian Wolf, Stralsund November 2014
Mädchenschema entsprachen. Diese Kolleginnen hat es schon immer in der Arbeitsmedizin gegeben, aber noch nie hat jemand der Hausfrauen- und Zuverdienstärztinnenfraktion die Zukunft des Fachgebietes zugemutet. Statt für alle Frauen
und auch deren Männer, LebenspartnerInnen (und was weiß ich für Lebensansätze) im Arbeitsleben die gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, sozialverträgliche
Arbeitsbedingungen und das Recht auf berufliche Entwicklung, Chancengleichheit
und Karriere zu fordern, werden Lebensmodelle aus der rheinisch katholischen
Wirtschaftswunderrepublik zum Paradies aufgewertet und wehe einer findet das
nicht gut. Dass wir in der Arbeitsmedizin nicht mehr untersuchen sollen/ dürfen,
pflastert noch mehr Verweigerern/ Versagern der klinischen Medizin den Weg in
unser Fachgebiet.
Wer nicht als Arzt/Ärztin wahrgenommen werden möchte, ist auch in der Arbeitsmedizin falsch! Es gibt genügend Arbeitsbereiche für Mediziner, in denen man auf
die Approbation getrost verzichten kann. Genau hier liegt der wesentliche Ansatz
um den Präventionsbürokraten, Technokraten, Verwaltungswissenschaftern und
anderen Tagedieben die Stirn zu bieten. Bürokrat kann man auch nach dem bestandenen ersten juristischen Staatsexamen werden, da man kraft Gesetz für den
gehobenen Verwaltungsdienst ausreichend qualifiziert wurde. Eine öffentliche
Bestallung ist erst für Volljuristen möglich. Weshalb der Bakkalaureus der Jurisprudenz auch auf den Verwaltungsdienst in seinem beruflichen Leben beschränkt
ist. Für den Verwaltungswissenschafter, ein typisch deutscher Euphemismus, ist
eine öffentliche Bestallung selbst nach dem Masterabschluss nicht vorgesehen,
vielleicht aus gutem Grund(?).
Man repetiere: öffentliche Bestallung/ Approbation: Befugnis zu besonderen
Rechtsgeschäften (die Nichtapprobierten untersagt sind) kraft bestandener Ausbildung, persönlicher (sittlicher) Eignung und öffentlicher Akklamation.
Die besonderen Rechtsgeschäfte bestehen für Volljuristen exemplarisch in dem
Recht auf Einsichtnahme in hoheitliche Rechtsgeschäfte (z.B. Ermittlungsakten)
und in der Vertretungsbefugnis vor Gerichten. Niemand würde öffentlich behaupten
wollen, dass dieses besondere Recht z.B. von Strafverteidigern regelhaft dazu
benutzt würde, ihren Mandanten die Adressen und persönlichen Verhältnisse der
Zeugen der Anklage mitzuteilen. Der approbierte Arzt darf und muss die verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrechte eines Patienten grundsätzlich
straffrei übertreten, um seiner Funktion und Aufgabe gerecht werden zu können.
Genau aus diesem Grund ist ja die öffentliche Bestallung von Ärzten Voraussetzung
für die berufliche Ausübung der Heilkunde und noch ist die Arbeitsmedizin ein
Fachgebiet der wissenschaftlichen, medizinischen Heilkunde. In der BRD,
ausschließlich hier und nirgends sonst, ist die rechtswirksame Einwilligung des
Aegrotius ex ante conditio sine qua non.
© Christian Wolf, Stralsund November 2014
Es sei dem interessierten Leser empfohlen, in anderen deutschsprachigen
Rechtssystemen nachzulesen, warum diese rechtswirksame Einwilligung praktisch
und außerhalb der BRD auch de jure gar nicht erfolgen kann. Selbst wenn man
versuchen würde, die Wissens- und Erfahrungsasymmetrie von Arzt und Patient
umfassend auszugleichen, bleibt die rechtswirksame Einwilligung eine formale
Krücke. Erfahrungsgemäß fällt gerade der Umgang mit Patienten, die Wissensasymmetrien nicht akzeptieren wollen oder können, besonders schwer, da z.B.
Pädagogen ihr Selbstbildnis gerne über die Wissensasymmetrie gegenüber ihren
Schülern aufwerten. Die zweite wissensasymmetrisch geübte Berufsgruppe, die
Juristen, hat kurzerhand ab einer gewissen Kommunikationsebene den Anwaltszwang, teilweise mit Forderung nach wissenschaftlicher Graduierung eingeführt,
um in der eigenen Erfahrungswelt ungestört der Lebenswirklichkeit salbadern zu
können.
Zurück zur Medizin: In der BRD ist es sogar statthaft, die rechtswirksame Einwilligung im Nachhinein (ex post) zu widerrufen. Auf Basis dieses hanebüchenen
Rechtskonstrukts, das im Ausland im Übrigen mitleidig, süffisant und interessiert
belächelt wird, ist es möglich, eine ganze Berufsgruppe zu kriminalisieren. Das die
Jurisprudenz das nicht ändern will, ist selbsterklärend.
Es ist unbestreitbar, dass einerseits unsere spezielle Form der Heilkunde zum
Teil mit höchst fragwürdigen „Konzepten“ ausgeübt wird. Jeder seriöse Arbeitsmediziner wird Leuten begegnet sein, die die absonderlichsten Begebenheiten von
ihren betriebsärztlichen Konsultationen berichten. Auf jeder zweiten Fortbildung
ruft jemand irgendetwas in den Saal, das diese teilweise unfassbaren Geschichten
der Realität zuordnet. Andererseits heißt es im Gesetz nicht umsonst Facharzt
oder Arzt mit Zusatzbezeichnung oder in Weiterbildung und nicht „(nach dem
Physikum (erstes Staatsexamen) an der klinischen Ausbildung gescheiterter) Bakkalaureus der Humanmedizin“. Hier konterkariert sich der permanente Vorwurf
Unrecht zu tun, sofern man in der Arbeitsmedizin ärztlich handelt. Es ist berechtigt
zu fragen, ob mit der ArbMedVV-Novelle der Bereich der Vorsorge nicht für Bakkalaurei geöffnet werden soll. Wenn nämlich bislang die Rechtfertigung der Vorsorge durch Ärzte in der Approbationsnotwendigkeit und den daraus abgeleiteten
Obliegenheiten bestand, wäre es doch nur folgerichtig, wenn nach dem Exorzismus
aller Handlungen mit Arztvorbehalt in der Vorsorge nämliche auch durch Subalterne durchgeführt würde oder werden könnte. Ein hochgelobter und politisch
exzessiv hofierter Systemdienstleister in der Arbeitsmedizin hat schon mit Bäckern
und Maurern „Vorsorgen“ durchgeführt. Das muss doch zu legalisieren sein!
Jeder Dahergelaufene kann der Arbeitsmedizin Verfassungswidrigkeit unterstellen und unsere eigenen Protagonisten in den entsprechenden Institutionen räumen schulterzuckend das Feld. Sind es deren Feigheit, deren Saturiertheit oder
der in mir immer wieder würgende Ekel beim Anblick, Lesen oder Zuhören einige
© Christian Wolf, Stralsund November 2014
systemnahe Berater der Legislative so unsympathisch machen? Vielleicht empfinden einige Ministerialtechnokraten in Gegenwart dieser Leute ja ähnlich und sind
deshalb so erpicht darauf, unserem Fachgebiet das Handwerk legen zu wollen.
Oder ist es nur mein Berufsethos, das mich wütend macht, wenn mir jemand,
den ich in der Schule nicht einmal hätte abschreiben lassen, unterstellt, dass ich
in meinem ärztlichen Tun permanent das Recht überträte und damit immanent
auch meine Patienten schädigen würde? In diesem Zusammenhang muss auch
ausdrücklich auf die Üblichkeiten in der sogenannten Primärversorgung von
Krankheiten und Gebrechen hingewiesen werden. Von Kassenärztlichen Vereinigungen über den Medizinischen Dienst der Krankenkassen zu den gesetzlichen
und privaten Versicherungen, weiter zu Versorgungsämtern, Fürsorgestellen,
Rentenversicherungen und schließlich zur medizinischen Versorgung von Asylsuchenden und Abschiebungsopfern – überall wird das Recht auf informationelle
und körperliche Selbstbestimmung und Unversehrtheit rechtskonform mit
Füßen getreten. Ob Sachbearbeiter oder ärztlich qualifizierter Amtsbüttel, hier
werden ärztliche Verordnungen umgedeutet, Heil- und Hilfsmittel verweigert und
schließlich sogar laufende Behandlungen mit und ohne persönliche Untersuchung des Betroffenen direkt beeinflusst. Begründet wird dies mit dem Interesse
des Gemeinwohls, eine wirtschaftliche, notwendige, ausreichende und zweckmäßige medizinische Versorgung zu kalkulieren und sicher zu stellen. Aber mit
Patienten soll sich die Arbeitsmedizin eben gar nicht mehr befassen.
Die ArbMedVV als Beitrag zur Harmonisierung mit europäischen Rechtsvorschriften?
Abgesehen davon, dass allein die Beobachtung der Frist von Veröffentlichung der
EU-Arbeitsschutzrichtlinie bis zu deren Umsetzung in bundesdeutsches Recht
jedem klar machen sollte, dass es wohl kaum etwas Unwichtigeres als EU-Recht
in den verantwortlichen Gremien gibt, hat auch die Novelle der ArbMedVV nichts
mit dem Procedere in anderen Ländern zu tun.
Hervorzuheben ist, dass die Kriminalisierung des Arztberufes ex ante im Ausland
nicht verstanden wird. So hat z.B. der occupational consultant im Vereinigten
Königreich eine ganz andere Rechtsstellung und genießt auch innerhalb des
ärztlichen Kollegiums ein anderes Ansehen als unser „Aussteiger-, Hausfrauen-,
Gattinnen- und Pensionärsverein“. Dass niemand gegen seinen Willen untersucht wird und schon gar nicht der Schweigepflicht unterliegende Erkenntnisse
ungefragt oder unerlaubt weitergegeben werden, ist für Kollegen im Rest der
Welt überhaupt kein Thema. In der BRD scheint es offenbar so regelmäßig zu
passieren, dass man pauschal mit Reglementierungen über das Berufs- und
Strafrecht hinaus Handlungsbedarf erkannt haben will. Statistiken, Belege, Gerichtsurteile? Fehlanzeige! Schließlich kommt jemand mit einem ausschließlich
in Deutschland verstandenen Berufsabschluss daher, ignoriert die besondere
© Christian Wolf, Stralsund November 2014
Rechtsstellung und humanistische Grunddoktrin des Arztberufes grundsätzlich,
wahrscheinlich weil Humanismus, Rechtschaffenheit und sittliche Abgeklärtheit
seiner eigenen auf Mittelmaß und Dogmatik ausgelegten „Wissensdisziplin“
fremd sind, und bezichtigt ungestraft alle, unter Bezugnahme auf “Rechtsprinzipien”, die er selbst gar nicht aktiv anwenden darf, der Unredlichkeit.
Rechtlich gut begründet war, vom Mediziner Möbius publizistisch und wissenschaftlich herausgearbeitet, „Der physiologische Schwachsinn des Weibes“ lange
Zeit Rechtfertigung, den Frauen das Wahlrecht und sogar bis in die 1980ziger
Jahre des letzten Jahrhunderts noch die Vertragsfreiheit vorzuenthalten. Juristisch sind diese Dogmen immer noch in vielen Ländern, sogar bei EU-Beitrittsaspiranten, und schließlich auch in einigen deutschen Zirkeln, durchaus immer
noch salonfähig. Das liegt sicher an der Objektivität juristischen Handelns.
Die höchsten deutschen Gerichte haben auch 2014 die religiös motivierte Diskriminierung von MitarbeiterInnen, die aus eigenen Überzeugungen (möglicherweise
ebenfalls religiös motiviert) in der Öffentlichkeit ihr Haar bedecken möchten, oder
die Kündigung von Leuten, die nicht mehr an die fristgerechte Seeligkeitslieferung
durch Einhaltung der päpstlichen Sakramente glaubten und deshalb den verfassungskonform zulässigen Bund der Ehe erneut eingingen, in brillanter juristischer Argumentation gerechtfertigt.
Die Handlungsweisen von Volljuristen, die es ermöglichten, dass drei Wahnsinnige mordend durch Deutschland zogen, hatten juristisch wohl ein Geschmäckle,
für die Amtsträger jedoch kaum persönliche Konsequenzen. Historisch gesehen
war deren Verhalten sogar folgerichtig. Man kann schließlich in den juristischen
Ergüssen des Dr. jur. Globke (Kanzleramtsminister a.D.) genau nachlesen, wer,
wann und wie in Deutschland zu kennzeichnen und später zu behandeln ist. Dr.
jur. Globke darf wohl zweifelsfrei als Gottvater der Bundesverwaltung gelten.
Wirklich betraft wurde er nie. Doch, die NSDAP wollte ihn nicht haben. Wieso
befremden mich bei dem Gedanken an diesen Schreibtischtäter die Veröffentlichungen aktueller Wirtschaftswunderprotagonisten in der Arbeitsmedizin etwas
weniger?
Ärztliche Arbeitsweisen mit seitenlangen pseudojuristischen Herleitungen zu diskreditieren ist genauso sinnvoll und sittlich geboten, wie die oben geschilderten
Rechtsvorgänge das gesunde Rechtsempfinden abbilden oder Ausdruck der
gelebten fehlbaren Demokratie sind.
Fiat Justitia et pereat mundus. Dieser Wahlspruch Kaiser Ferdinands hat Mitteleuropa ein dreißigjähriges Desaster eingebracht. Fünfhundert Jahre später
könnten wir, wenn man es denn wollte, vielleicht schlauer sein.
Christian Wolf
© Christian Wolf, Stralsund November 2014
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