Kirchenbau - Historisches Lexikon der Schweiz

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03/05/2017 |
Kirchenbau
Der Begriff "Kirche" (neutestamentlich griech.-lat. ecclesia) bezeichnet einerseits die Gemeinschaft der
Christen, andererseits das ihren Versammlungen dienende Gebäude. In einigen Epochen ihrer rund 2000jährigen Geschichte umfasste die Gemeinschaft der Christen im Gebiet der heutigen Schweiz die ganze
Bevölkerung, in anderen nur Teile derselben, wobei diese manchmal doiminant in Erscheinung traten oder
aber sich aus dem öffentl. Leben zurückzogen. Entsprechend verhält sich die Kirche als Bauwerk. Zeitlich und
örtlich verschieden pendelt sie zwischen monumentaler Manifestation und architekton. Unterordnung.
Die schweiz. Sakralarchitektur ist von den benachbarten Regionen geprägt worden (Architektur). Die
bescheidene Grösse des Territoriums, die polit. Strukturen sowie die Situation an wichtigen Alpenübergängen
im Zentrum Europas förderten den Austausch und die Vermittlung. Die kleinräumigen gesellschaftl. und
geogr. Einheiten führten zu formaler und funktionaler Vielfalt. Von spezifisch schweizerisch geprägtem K.
kann kaum gesprochen werden. Topograf. Bedingungen förderten bestimmte Funktionen und Bautypen:
Hospize und Spitäler entlang der Passstrassen, Wegheiligtümer, Kirchenburgen, Bergkirchen oder Kirchen mit
Lawinenkeilen am Chor. Die Kirchen als Denkmäler der Landesgeschichte, insbesondere der
Befreiungstradition, der Ikonografie Wilhelm Tells, Winkelrieds und der Drei Eidgenossen, die Schlacht- und
Gedächtniskapellen, sind Besonderheiten der Schweiz. Europ. Bedeutung erlangte die schweiz.
Sakralarchitektur des 20. Jh.
Früheste kirchl. Gebäude waren unmittelbar ausserhalb der um 300 bei röm. Siedlungen errichteten
Grenzkastelle situiert. Noch vor 400 richteten sich Bischöfe in den Städten ein, nutzten bestehende Gebäude
um und erbauten neue Basiliken. So umfasste z.B. die Gebäudegruppe des Bischofssitzes in Genf im 5. Jh. die
Saalkirche der älteren und die Basilika der jüngeren Kathedrale, das Baptisterium, den Bischofspalast mit der
Bischofskapelle, einen Vorhof und Nebenräume. In den spätröm. Kastellen auf der Landschaft entstanden
kleine Saalkirchen mit angefügten Taufräumen und Priesterhäusern, so in Tenedo (Zurzach) und Kaiseraugst.
Die ersten überlieferten Klosteranlagen datieren um 450. Bei den Gräbern des hl. Mauritius und der
thebäischen Legion in Agaunum (Saint-Maurice) stiftete Kg. Sigismund von Burgund 515 ein Kloster, dessen
Mönche die Regel des hl. Romanus von Condat annahmen. Solche und auch noch die ersten Anlagen von
Gallus und Otmar in St. Gallen gruppierten einzelne Behausungen der Mönche lose um die Kirche. Diese für
das FrühMA übliche, wenig systematisierte Form der Klosterarchitektur (Mönchtum) setzte sich im MA und
noch in der Barockzeit dort fort, wo Beginen und Begarden in eremit. oder kaum geregelten Gemeinschaften
zusammenlebten.
Eine deutl. Monumentalisierung erfuhr die Sakralarchitektur in karoling. Zeit. Gebäudefunktionen wurden in
neuen Grossbauten zusammengefasst. Die unter Bf. Haito zwischen 805 und 823 errichtete Kathedrale von
Basel zeichnete eine Doppelturmfassade aus. Mit der Delegation bischöfl. Rechte an Landkirchen entstanden
die Pfarreien, die seit dem 8. Jh. durch die Verpflichtung des Kirchenvolkes auf eine Pfarrkirche territorial
definierte Gemeinden bildeten. Solche Pfarrkirchen (z.B. St. Martin in Cazis) waren meistens einfache kleine
Gebäude. Der kurz vor 830 gezeichnete St. Galler Klosterplan, die bedeutendste Schriftquelle karoling.
Architektur, organisiert den Konvent um einen Kreuzgang. Auch die wichtigste noch bestehende karoling.
Klosteranlage, das Benediktinerinnenkloster Müstair, zeigt neben der für Rätien typ. Form der
Dreiapsidenkirche den Kreuzgang, das neue Leitmotiv des Klosters.
Im HochMA erreichte die Klosterarchitektur in der Romanik einen Höhepunkt. Die Benediktinerabtei Cluny
strahlte in den Raum der ganzen Westschweiz, nach Romainmôtier, Payerne und bis ins Wallis aus. Die
Hirsauer Reform äussert sich architektonisch in der Klosterkirche von Allerheiligen (SH). Auf die grosse Zeit
Clunys folgte der Reformorden der straff organisierten Zisterzienser (z.B. Bonmont, Hauterive), der seine
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eigenen Bauformen über weite Teile Europas verbreitete.
Die Grosskirchen der Gotik entstanden nicht mehr in erster Linie als Bischofssitze (Genf, Lausanne), sondern
als Symbole städtischer bürgerl. Potenz (Freiburg, Bern, Zug). Aus ähnl. Gründen baute die Bürgerschaft den
Bettelorden grosse Predigtkirchen, nachdem sich diese ihrem Armutsgelübde entsprechend in Hospizen und
Siechenhäusern niedergelassen hatten. Die Landbevölkerung erbaute insbesondere in spätgot. Zeit unzählige
Saal- und Hallenkirchen.
Die Reformation wirkte sich vorerst nicht auf die Entwicklung der Sakralarchitektur aus. Der Zürcher
Reformator Huldrych Zwingli reagierte "archäologisch", indem er empfahl, den Taufstein in den Chor zu
stellen, wie dies ursprünglich in St. Peter in Zürich der Fall gewesen sei. Für die Spendung des Sakraments
sah er einen bewegl. Tisch vor, sofern nicht der Taufstein zugleich als Abendmahlstisch diente. Die
bestehenden Kirchen wurden umgenutzt und neu ausgestattet, architektonisch aber kaum je verändert. Die
1667 erbaute ovale, einschiffige, turmlose Querkirche von Chêne-Pâquier übernahm als Vorbild den Temple
du Paradis in Lyon und darf als erste schweiz. Neuformulierung ref. Architektur gelten. Die Querkirche wurde
insbesondere zwischen 1750 und 1850 häufig gebaut, oft ausgestattet mit kath. Kirchen ebenbürtigen
Stuckaturen. In Binningen und Wintersingen entstanden 1673-76 Winkelhakenkirchen über L-förmigen
Grundrissen nach dem Vorbild von Freudenstadt (Schwarzwald). Der 1713-15 erbaute Temple de la Fusterie
brachte das Vorbild von Charenton in Paris nach Genf. Die Motive der allseitig umlaufenden Empore, der
Kolonnade und der Pilasterfassade wurden an der 1726-29 erbauten Heiliggeistkirche in Bern übernommen.
Die durch das Konzil von Trient eingeleitete Katholische Reform förderte im 17. und 18. Jh. den Bau von
neuen Pfarrkirchen und Wallfahrtskapellen im Stil des Barock, sowie -- in Graubünden -- zahlreicher
Kapuzinerhospize. Gleichzeitig entstanden die monumentalen Kollegien der Jesuiten in Luzern, Freiburg,
Pruntrut, Solothurn und Brig sowie die mächtigen Klosteranlagen der Benediktiner und Zisterzienser in
Einsiedeln, Rheinau, St. Gallen und St. Urban, welche die Städte und Landschaften dominierten.
Im 19. Jh. veränderte der durch die Industrialisierung und den Tourismus ausgelöste Strukturwandel der
Bevölkerung, der die starren Konfessionsgrenzen durchbrach, die Entwicklung der Sakralarchitektur
grundlegend. Der K. war formal nicht mehr eine Frage des Glaubens, sondern des Baustils. Die internat.
Mobilität äusserte sich in der Schweiz konfessionell und architektonisch, indem für immer mehr
Glaubensgemeinschaften immer vielfältigere, von einheim. Traditionen unabhängige Kirchen, Tempel und
Synagogen gebaut wurden. Dieser Tendenz entsprach die Stilvielfalt des späten Historismus. Neugotik,
Neuromanik, Neurenaissance und orientalisierende Stile unterstellten die Liturgie dem Dekorationswillen des
Ästhetizismus und breiteten sich in den Städten und auf der Landschaft über die konfessionellen Grenzen
hinweg ebenbürtig und vertauschbar aus.
Zu Beginn des 20. Jh. setzten Jugendstil, Neubarock und Neuklassizismus letzte historist. Akzente. Darauf
reagierend, aber auch Ideen des Nationalismus und des Heimatschutzes aufnehmend, entwickelte sich ab
1906 der Heimatstil, der 1919-45 von der Groupe de Saint-Luc et Saint-Maurice weiter gepflegt wurde.
Obwohl Karl Mosers Antoniuskirche von 1927 in Basel strukturell noch im Historismus verharrte, begann mit
der materialgerechten Anwendung des Eisenbetons technologisch eine neue Ära. Davon löste sich die 1934
geweihte St. Karlskirche von Fritz Metzger in Luzern vollständig. Sie ist das eigentl. Schlüsselwerk des Neuen
Bauens, weil sie einerseits das Baumaterial Beton formal konsequent einsetzt und der neuen Ästhetik
unterordnet, und weil sie andererseits die Forderungen der liturg. Bewegung nach tätiger Teilnahme der
Gläubigen am Gottesdienst im Raumkonzept aufnimmt. Die Leitmotive der nüchternen Raumhülle und der
Wegkirche wurden während der nächsten Jahrzehnte vielfach abgewandelt.
Dieser Tendenz ordnete sich Le Corbusier nicht unter. Er baute 1955 die Wallfahrtskapelle Ronchamp
(Franche-Comté), eine frei geformte, ebenfalls erst durch Beton ermöglichte Skulptur. Bis heute pendelt der K.
zwischen Rationalem und Malerischem, wobei sich diese Werte auch überlagern können: Mit der Piuskirche in
Meggen gelang Franz Füeg 1966 die reine, geometrisch präzise Architektur, deren streng berechnete
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Wirklichkeit er durch die diaphane Hülle genauso vollständig wieder auflöste.
Parallel zum formal-materiellen Entwicklungsstrang führte die Frage der Nutzung zu weiteren architekton.
Antworten. Seit der Reformation ist die paritätisch, von den Protestanten wie Katholiken zu unterschiedl.
Zeiten gemeinsam benutzte Kirche bekannt (v.a. im Aargau, Thurgau, Rheintal und Toggenburg, sowie in
Murten und Echallens). Schwierigkeiten traten erst nach dem 1. Vatikanischen Konzil 1869-70 und der damals
einsetzenden, katholisch militanten Bewegung auf. An der Landesausstellung in Bern entstand 1914 eine von
der übrigen Ausstellung klar getrennte, architektonisch zweigeteilte, kath.-prot. Kirche. Die von den
Protestanten und Katholiken gemeinsam in Auftrag gegebene Kirche der Landi 1939 wurde als "Pavillon der
kirchl. Kunst" bezeichnet und diente als formal wertfreier Container der Ausstellung von christl. Kunst. An der
Expo 64 in Lausanne wurde dieser eine, gemeinsame Kultraum in den grösseren Ausstellungszusammenhang
"Froh und sinnvoll leben" integriert, zu dem auch die Themen Freizeit, Sport, Gesundheit, Ferien, Kleid und
Schmuck gehörten.
Der in der Siedlung und sogar im einzelnen Bauwerk aufgehende multifunktionale und unterteilbare Kultraum
ist seit den von Otto Senn in den 1950er Jahren verfassten Schriften und Projekten ein Thema geworden. Auch
brach das 2. Vatikan. Konzil 1963 die im kath. K. noch bestehenden architekton. Schranken ab. Für die
pluralistische, offene Gesellschaft entstanden darum einerseits ökumenische kirchl. Zentren, zuerst 1971 in
Langendorf, andererseits anonym in die Umgebung eingetauchte, nicht als Kirchen erkennbare
Gemeindezentren, welche allen Bedürfnissen der versch. Glaubensgemeinschaften gerecht zu werden
versuchten. Letzteres scheiterte, weil sich multivalent nutzbare Räume architektonisch kaum befriedigend
gestalten lassen. Nach dieser letzten Phase sog. negierender Kirchenarchitektur war Ende des 20. Jh. wieder
die als affirmierend bezeichnete Sakralarchitektur im Bau: S. Benedetg (Gemeinde Sumvitg), 1985-89 von
Peter Zumthor, und Monte Tamaro (Gemeinde Monteceneri), 1994 von Mario Botta errichtet, sind beides
zeichenhaft gestaltete Bergkapellen.
Literatur
– Kdm
– J. Gantner, A. Reinle, Kunstgesch. der Schweiz, 1936-62
– Schweiz. Kunstführer, 1953– G. Germann, Der prot. K. in der Schweiz von der Reformation bis zur Romantik, 1963
– F. Oswald et al., Vorrom. K.ten, 1966-71 (21990)
– K. Speich, H.R. Schläpfer, Kirchen und Klöster in der Schweiz, 1978
– INSA
– AH 3
– M. Grandjean, Les temples vaudois, 1988
– P. Jezler, Der spätgot. K. in der Zürcher Landschaft, 1988
– Zisterzienserbauten in der Schweiz, 2 Bde., 1990
– H. Horat, «Der K. in der Schweiz zwischen dem ersten und dem zweiten Vatikan. Konzil», in ZSK 84, 1990,
95-107
– W. Jacobsen et al., Vorrom. K.ten, 1991, (Nachtragsbd.)
– «Got. Sakralarchitektur, 13.-15. Jh.», in UKdm 43, 1992, H. 1
– W. Jacobsen, Der Klosterplan von St. Gallen und die Karoling. Architektur, 1992
– F. Brentini, Bauen für die Kirche, 1994
– G. Germann, «Der Prot. K. in der Schweiz bis 1900», in Gesch. des prot. K.s, Fs. Peter Poscharsky, hg. von K.
Raschzok, R. Sörries, 1994, 192-200
Autorin/Autor: Heinz Horat
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