Nahrungs- und Genussmittelindustrie

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21/10/2010 |
Nahrungs- und Genussmittelindustrie
Die N. umfasst ein sehr breites Spektrum, zu dem die industrielle Herstellung von Nahrungsmitteln (u.a. Brot,
Teigwaren, Zucker, Produkte der Milchwirtschaft, Fleisch, Schokolade, Konserven, Kühl- und
Tiefkühlprodukte), von Ölen und Fetten (Gewerbepflanzen), Kaffee, Mineralwasser (Mineralquellen), alkohol.
Getränken wie Bier, Wein (Weinbau) und Branntwein sowie die Verarbeitung von Tabak gehören. Der Sektor
entwickelte sich parallel zum techn. Fortschritt, den verbesserten Transportmitteln, dem Wandel der
Lebensgewohnheiten und den Veränderungen in der Arbeitsorganisation.
1 - Die ersten Manufakturen
Einige Techniken der Konservierung sind sehr alt, wie z.B. die Verarbeitung von Milch zu Käse oder die
Herstellung alkohol. Getränke wie Wein, Bier oder Branntwein. Schon seit dem MA hatten Schweizer
Erzeugnisse wie der Käse grossen Erfolg im Ausland: Greyerzer, Emmentaler und Sbrinz wurden z.B. auf den
Schiffen der Hochseeflotten als Nahrungsmittelreserven verwendet und stellten daher als beliebte
Exportprodukte im 18. Jh. einen wichtigen Posten der schweiz. Handelsbilanz dar.
Im 18. und in der 1. Hälfte des 19. Jh. entstanden an den Ufern des Genfersees einige
Schokolademanufakturen, die eine Branche mit grosser Zukunft begründeten. 1819 eröffnete François-Louis
Cailler in Corsier-sur-Vevey die erste Manufaktur mit einem mechan. Produktionssystem. Die meisten dieser
Manufakturen waren aber Kleinbetriebe, die für einen lokalen Markt produzierten.
Die Bierproduktion ist in der Schweiz seit dem 8. und 9. Jh. bezeugt; Bierfabriken entstanden schon im 18. Jh.,
z.B. 1717 und 1766 in Morges, 1768 in Schaffhausen, 1770 in Yverdon, 1788 in Freiburg. Die ersten
Tabakmanufakturen nahmen im 19. Jh. ihren Betrieb auf. Die Zigarrenherstellung begann um 1838 in
Menziken. Aus den Statistiken des Kt. Aargau geht hervor, dass 1857 schon über 25 Mio. Stück produziert
wurden. Zur gleichen Zeit bestanden auch einige Manufakturen in der franz. Schweiz, vorwiegend in den Kt.
Waadt und Freiburg. Ende des 19. Jh. beschäftigte die Fabrik Louis Ormond in Vevey 800 Mitarbeiter und war
wahrscheinlich die grösste Manufaktur in der Schweiz. 1847 wurde die Tabakfabrik Brissago gegründet.
Der internat. Durchbruch der Schweizer N. erfolgte in der 2. Hälfte des 19. Jh., v.a. dank der Zugpferde
Kondensmilch und Schokolade.
Autorin/Autor: Sandro Guzzi-Heeb / PTO
2 - Die Epoche der Pioniere (1866-1914)
Die Technik der Milchkondensation wurde in der Schweiz von zwei Amerikanern, den Brüdern Charles und
George Page, eingeführt. Sie gründeten 1866 in Cham die Anglo-Swiss Condensed Milk Co., die ab 1867
gezuckerte Kondensmilch herstellte und damit in der Schweiz und im Ausland grossen Erfolg hatte. Mehrere
Unternehmen folgten diesem Beispiel, sie waren jedoch kurzlebig und wurden teilweise von der Anglo-Swiss
übernommen. 1867 begann der deutschstämmige Apotheker Henri Nestlé, Milchpulver für Kinder
herzustellen. Eine lokale Finanzgruppe übernahm 1875 die Firma, die ab 1878 auch gezuckerte Kondensmilch
produzierte. Beide Unternehmen expandierten rasch: 1888 umfasste die Nestlé-Gruppe schon 13 Betriebe,
die 821 Personen beschäftigten. Nach einer Zeit starker Konkurrenz fusionierten Nestlé und die Anglo-Swiss
1905. Bald merkten die Nahrungsmittelproduzenten, dass es lohnender war, die Produktion in die
Bestimmungsmärkte zu verlegen, statt aus der Schweiz zu exportieren. Damit begann ein
Internationalisierungsprozess, der immer noch anhält.
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In der Zwischenzeit wurde auch die Schokoladeproduktion revolutioniert: 1875 erfand Daniel Peter die
Milchschokolade, und 1879 kreierte Rudolf Lindt die Schmelzschokolade. Sie war ein Welterfolg: Die
Schokoladeausfuhren stiegen von 502 t 1887 auf 27'262 t 1915. Dieses Niveau wurde erst 1987 wieder
erreicht. Vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs beliefen sich die Ausfuhren auf rund zwei Drittel der
Gesamtproduktion und erreichten damit ihren Höhepunkt. Von diesem Erfolg profitierten auch andere
namhafte, z.T. zu Beginn des 21. Jh. noch bestehende Unternehmen wie Suchard in Serrières (1826), Kohler in
Lausanne (1830), Cailler in Broc und Sprüngli in Zürich (1845), das 1899 mit Lindt zu (Lindt & Sprüngli)
fusionierte. Von den 1880er Jahren an hielt die Schweiz den Weltrekord in der Schokoladeproduktion. Auch in
diesem Fall zogen es die Unternehmen aber vor, die Produktion ins Ausland zu verlegen, anstatt die
Ausfuhren zu verstärken. Trotzdem wuchs der Anteil der Nahrungsmittel an den Schweizer Gesamtausfuhren
bis unmittelbar vor dem 1. Weltkrieg, als er mit 15,1% fast das Niveau der Maschinenindustrie erreichte und
damit die Uhrenproduktion übertraf.
Bis zur 2. Hälfte des 19. Jh. war die industrielle Herstellung anderer Nahrungsmittel - u.a. Teigwaren,
Konserven, Salami, Wurstwaren - eher bescheiden und hatte nur regionale Bedeutung. Erst mit der
Industrialisierung, in deren Verlauf die Fam. immer weniger Zeit hatten, Nahrungsmittel (Ernährung)
zuzubereiten, nahm die industrielle Herstellung allmählich zu. Die Sterilisierung von Früchten und Gemüse im
Haushalt ging stark zurück, was in einer ersten Phase v.a. den gedörrten Nahrungsmitteln und den
Büchsenprodukten Auftrieb gab (Konservenindustrie). 1866 begann Maggi in Kemptthal Fertigsuppen
herzustellen; 1886 nahm die Konservenfabrik Henckell, Zeiler & Cie. (ab 1889 Henckell & Roth, Hero) ihren
Betrieb auf und exportierte ab 1898 auch ins Ausland.
Auch die Bierherstellung nahm einen starken Aufschwung. Zwischen 1883 (996'000 hl) und 1911 (3,003 Mio.
hl). verdreifachte sich die Produktion nahezu. In diesem Sektor kam es zu einem Konzentrationsprozess, der
immer noch anhält: Während 1883 noch 483 Bierbrauereien bestanden, sank ihre Zahl 1900 auf 245 und
1911 auf 138. Die Einführung neuer Maschinen und Technologien beschleunigte diesen Prozess zusätzlich.
In der Tabakindustrie begannen die grossen Umstellungen in den 1870er Jahren, als die Zigaretten in Mode
kamen. Dies begünstigte den Einsatz neuer Produktionstechniken und die Entstehung einiger Unternehmen
von beachtl. Grösse (1883 waren es 7, 1900 21). Um 1900 erfasste der techn. Fortschritt auch andere Zweige
der Nahrungsmittelbranche wie die Brotherstellung (Bäckerei), die dank der Einführung von Knetmaschinen
und grossen Öfen industrielle Dimensionen annahm. Dasselbe galt für die Müllerei: Die ab 1876
aufgekommenen Walzmühlen waren das erste Zeichen eines raschen techn. Modernisierungs- und
Konzentrationsprozesses. Zur selben Zeit begann man, die öffentl. Schlachthöfe (Metzgerei) aus den
Stadtzentren zu verlegen, und Anfang des 20. Jh. wurden sie in einigen Fällen durch Industrieanlagen ersetzt,
in denen die Fleischverarbeitung z.T. automatisiert war.
Autorin/Autor: Sandro Guzzi-Heeb / PTO
3 - Vom 1. Weltkrieg bis heute
Nach dem rasanten Wachstum in der Belle Epoque verlor die N. für die Schweizer Wirtschaft an Bedeutung,
obschon die Zahl der Beschäftigten weiterhin anstieg. In den 1930er Jahren war die Branche stark von der
Weltwirtschaftskrise betroffen: Der Ertrag aus den Ausfuhren, der 1925-27 205,3 Mio. Fr. (10,5% der
gesamten schweiz. Ausfuhren) erreicht hatte, brach 1937-38 auf 110,9 Mio. Fr. (8,5%) ein. Die
Schokoladeindustrie war zudem von den protektionist. Massnahmen vieler Länder und während des 2.
Weltkriegs von den Einfuhrbeschränkungen für Kakao und Zucker betroffen.
Diese Tendenzen gelten jedoch nicht für die Schweizer Produktionsanlagen im Ausland. Im gleichen Zeitraum
expandierten nämlich versch. Unternehmen ausserhalb der Landesgrenzen. Das trifft insbesondere auf die
Nestlé-Gruppe von Vevey zu, die allmählich zu einem multinationalen Unternehmen wurde. 1929 übernahm
die Gruppe die Schokoladefabrik Peter-Cailler-Kohler und 1947 die Alimentana mit der Marke Maggi, so dass
sie nun u.a. auch Suppen, Saucen und Aromen in ihrer Produktepalette führte. Mit Beteiligungen an der
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Gruppe Vittel 1969 stieg Nestlé ins Mineralwassergeschäft und mit Beteiligungen an L'Oréal 1974 in den
Markt für kosmet. Artikel ein. Dank zahlreicher Übernahmen war Nestlé Anfang des 21. Jh. weltweit führend
im Nahrungsmittelsektor.
In der 2. Hälfte des 20. Jh. nahm die Zahl der in der Schweizer N. Beschäftigten stark zu: Sie stieg von 27'369
Personen 1945 auf 64'795 2000 (das entspricht 6,4% der im 2. Sektor Beschäftigten, das Baugewerbe
ausgenommen). Gleichzeitig setzte sich der Konzentrations- und Internationalisierungsprozess fort; mehrere
Unternehmen wurden von grossen Multinationalen übernommen. 1970 schlossen sich die
Schokoladeproduzenten Tobler, Suchard und Ammann zur Interfood zusammen, die 1982 von der Gruppe
Jacobs übernommen wurde. Diese ging 1990 in der Philip Morris auf, welche die Kraft Jacobs Suchard (seit
2000 Kraft Foods) gründete, ein Nahrungsmittelkoloss mit über 30'000 Beschäftigten in 50 Ländern. In den
letzten Dezennien des 20. Jh. beschleunigte sich dieser Konzentrationsprozess. 2000 erlangte z.B. der dän.
Bierhersteller Carlsberg die Kontrolle über die Brauerei Feldschlösschen, während 2002 Wander in Bern von
der Associated British Foods übernommen wurde.
In der Schweiz ist die Branche aber nach wie vor von kleinen und mittleren Unternehmen geprägt, die
grösstenteils für den Binnenmarkt produzieren: 2000 beschäftigten von insgesamt 2'621 Unternehmen der
Branche 2'063 (78,7%) weniger als neun Personen, und nur 34 über 250. Die Grossverteiler (Migros, Coop
u.a.) verfügen z.T. über eigene Produktionsanlagen. 2001 waren die Herstellung von Fleisch und
Fleischprodukten (8'876 Personen), gekühlte und tiefgekühlte Fertigprodukte bzw. "Convenience food"
(5'433), Schokolade (4'444) und Konserven (4'208) hinsichtlich der Anzahl Beschäftigter führend. Gerade die
Bedeutung, die "Convenience food" und Konserven herkömml. Art gewonnen haben, widerspiegelt den
Wandel der Ess- und Trinksitten. Dieser wiederum hängt mit dem gesellschaftl. Wandel des
Konsumverhaltens und mit den Veränderungen im Arbeitsmarkt, etwa der zunehmenden Berufstätigkeit der
Frauen, zusammen. In den 1990er Jahren stagnierte die Branche. Allerdings kommt in den Zahlen zur
Binnenproduktion die Bedeutung der Schweizer N. nicht vollumfänglich zum Ausdruck, da z.B. der grösste Teil
der im Ausland verkauften Schweizer Schokolade ausserhalb der Landesgrenzen hergestellt wird.
Autorin/Autor: Sandro Guzzi-Heeb / PTO
Quellen und Literatur
Literatur
– K. Oetiker, «Die Standorte der schweiz. Industrien der Lebens- und Genussmittel», in SZVwS 51, 1915,
143-176
– H. Neumann, E. Weckerle, Industrien der Nahrungs- und Genussmittel, 1945
– F. Bruni, I cioccolatieri dall'artigianato all'industria, 1946
– HSVw 2, 219-221
– W. Bodmer, Die Entwicklung der schweiz. Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und
Wirtschaftszweige, 1960
– K. Thöne, Schweizer Bierbuch, 1985
– J.-F. Bergier, Wirtschaftsgesch. der Schweiz, 21990
– C. Edlin, «Philippe Suchard 1797-1884: Schokoladefabrikant und Sozialpionier», in Schweizer Pioniere der
Wirtschaft und Technik 56, 1992
– M.R. Schärer, «Food History in Switzerland», in European Food History, hg. von H.J. Teuteberg, 1992,
168-198
– V. Hadorn et al., Schokolade, 1994
– F. Chiapparino, L'industria del cioccolato in Italia, Germania e Svizzera, 1997, 85-221
– P. de Weck, «Nestlé dans les derniers soixante-dix ans d'histoire de l'industrie alimentaire», in Unternehmer,
Markt und Gesellschaft, hg. von R.E. Gut, 1997
– A. Steigmeier, Blauer Dunst, 2002
Autorin/Autor: Sandro Guzzi-Heeb / PTO
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