SWR2 Musikstunde Richard Strauss 150

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Richard Strauss 150 - eine Revision (2)
Strauss goes Freud
Von Bernd Künzig
Sendung: Mittwoch, 11.06.2014
Redaktion: Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
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Musikstunde 11. Juni 2014
Signet Musikstunde
zu der Sie Bernd Künzig begrüßt. Heute der zweite Teil von Richard Strauss
150 - eine Revision: Strauss goes Freud.
Um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert vollzog der Komponist Richard
Strauss einen nahezu fundamentalen Gattungswechsel. Nach dem ersten
Misserfolg der Oper „Guntram“ im Jahr 1894 und der schließlich triumphalen
Serie von Tondichtungen, die den Komponisten zu einem führenden Vertreter
der Moderne gemacht hatten, folgte um die Jahrhundertwende der nun
erfolgreiche Sprung in das Genre des Musiktheaters, das fortan das
kompositorische Schaffen bis in die späten Jahre prägen sollte. Die
Uraufführung von „Salome“ nach dem gleichnamigen Drama von Oscar Wilde
im Jahr 1905 wird zum Sensationserfolg. Gleichzeitig aber ist das Werk in
konservativen Kreisen umstritten. Strauss‘ Zeitgenosse Gustav Mahler bemüht
sich als Direktor der Wiener Hofoper vergeblich um eine Aufführung, die von
der Zensur der k. und k.-Monarchie unterbunden wird. Offensichtlich ging den
Zensoren sowohl der Stoff Wildes als auch die Vertonung von Strauss
entschieden zu weit. Mit dieser Art von Skandalon festigte Strauss noch einmal
seinen Ruf als ein wesentlicher Neuerer der musikalischen Sprache – und das
noch einige Zeit vor den berühmt-berüchtigten Skandalkonzerten Arnold
Schönbergs und seiner Schüler. Für viele Rezipienten war Strauss damit in
Bereiche vorgedrungen, die die Grenzen des sittlichen Anstandes hinter sich
ließen. Inzest, offen ausgesprochenes sexuelles Begehren und perverse
Fetischisierungen prägten bereits den Text Oscar Wildes, der selbst zur Zeit der
Uraufführung der Opernversion in England noch immer verboten war. Der Text
aus dem Jahr 1892 war bereits ein Griff in das Unterbewusste der Sprache und
des Sprechens – bei einem brillanten Rhetoriker, der Wilde auch war, kaum zu
verwundern. Etwa zur gleichen Zeit begann Sigmund Freund mit seinen Studien
über die weibliche Hysterie. 1899 erschien schließlich Freuds Hauptwerk der
„Traumdeutung“, deren Publikationsdatum er symbolisch geschickt auf 1900
vordatierte. In diesem Kontext stehen auch die frühen Opernerfolge der
„Salome“ und der 1909 folgenden „Elektra“. Aber Strauss selbst ist ein
durchaus interessantes Untersuchungsobjekt psychoanalytischer Deutung.
Ganz im Sinne des Freudschen Mottos über das Unterbewusstsein „Wo Es war
soll Ich werden“ zählt der Komponist mit zahlreichen seiner Werke zu den
großen Ich-Sagern seiner Zeit. Das gilt bereits für die 1899 uraufgeführte
Tondichtung „Ein Heldenleben“, deren fast anonymisierter Titel etwas darüber
hinwegtäuscht, dass es sich eigentlich um „Mein Heldenleben“ handelt. Die
autobiografischen Bezüge lassen sich nicht zuletzt anhand einer musikalischen
Collage vor dem letzten Teil ablesen, in der alle zuvor entstandenen
Tondichtungen mit kurzen Zitaten wiedergegeben werden.
Musik: Richard Strauss „Ein Heldenleben“ – Zitatcollage
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg; Francois-Xavier Roth,
Dirigent M0330318.W00 (5:49)
Noch unverhohlener spricht Richard Strauss über sich in der kurz vor
Kompositionsbeginn der Salome abgeschlossenen „Sinfonia domestica“, die
1904 in New York uraufgeführt wurde. Die großformatige Komposition folgt
zwar programmatischen poetischen Ideen als Ausgangspunkt, setzt diese dann
aber als klassische sinfonische, viersätzige Anlage in einer ununterbrochenen
Folge um – ganz anders als die jeweils eigene Formen erfindenden
Tondichtungen. Im Unterschied zum „Heldenleben“ ist an dieser häuslichen
Sinfonie nichts heroisch. Schon der Titel „Sinfonia domestica“ ist ein
eigentümliches Kompositum aus Latein und Griechisch. Der Inhalt eines
Tagesablaufs im Hause der Familie Strauss wiederum ist kaum geeignet zu
klassischer Größe. Wie in einer klassischen Sinfonie stellt Strauss zu Beginn drei
musikalische Themen vor, die er im Laufe des dreiviertelstündigen orchestralen
Geschehens bis hin zur kontrapunktischen Großform eines Fugen-Finales
durchführt. Das erste dieser Themen ist robust-markant, gefolgt von einer
„träumerisch“ bezeichneten Oboenkantilene. Das zweite Thema ist glänzender,
brillanter instrumentiert, sprunghaft in den Gesten. Nach einer kurzen
Tremolopause der zweiten Geigen folgt ein lyrisch-zärtliches Thema, das
Strauss bemerkenswerterweise einer Oboe d’amore zugeordnet hat. Abgelöst
wird es von krähend-blasenden Tremoli. Danach beginnt der eigentliche
Durchführungsteil mit einem als Scherzo bezeichneten Abschnitt, der in einer
klassischen Sinfonie eigentlich erst an dritter Stelle folgt.
Musik: Richard Strauss „Sinfonia domestica“ – Beginn M0015409.W02 (5:07)
Das war der Beginn der „Sinfonia domestica“ mit der Staatskapelle Dresden
unter der Leitung von Rudolf Kempe.
Strauss hat das musikalische Material der “Sinfonia domestica” keineswegs als
abstraktes an den Anfang gestellt, sondern um es freudianisch zu formulieren,
seine eigene Familie auf die kompositorische Material-Couch gelegt. Das
robust-markante des Anfangs entspricht seinem Selbstbild, das kapriziössprunghafte zweite Thema seiner Frau, der Generalstocher und ehemaligen
Sängerin Pauline de Ahna. Und der Sohn Franz, Bubi genannt, wird ganz zärtlich
dem liebenden Instrument einer Oboe d’amore anvertraut. Dieses familiale
Dreieck ist kein ödipales im Sinne Freuds, Kastrationsängste werden hier nicht
auskomponiert, sondern es ist ein vollkommen gelingendes Familienbild, wie es
Tradition in der englischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts hat. Zu diesem
bildhaft Gelingenden gehört auch am Ende des Bubi-Themas eine
Partiturbezeichnung, wonach die Trompeten die Tanten repräsentieren, die
sagen „Ganz der Papa“, während die Posaune den Onkels zugeordnet wird mit
der Anmerkung „Ganz die Mama“. Dem gelingenden Familienporträt mit der
engen kontrapunktischen Verknüpfung der Themen von Vater, Mutter und
Kind im großen Fugenfinale entspricht schließlich auch die Wiedergewinnung
der sinfonischen Durchführungsform, die Strauss mit seinen Tondichtungen
bislang überwunden hatte. Doch parallel zur Vollendung der „Sinfonia
domestica“ im Jahr 1903 hebt der Kompositionsbeginn der „Salome“ an.
Musik: Richard Strauss „Salome“ – Anfang (1:00)
Wieslaw Ochmann, Narraboth; Heljä Angervo, Page; Wiener Philharmoniker;
Herbert von Karajan; EMI 7 49358 2 LC0542
Es ist viel Aufhebens gemacht worden um die formalen Parallelitäten der
beiden aufeinanderfolgenden Einakter „Salome“ und „Elektra“. Anfänglich
hatte auch Strauss Bedenken, der „Salome“ einen vergleichbaren Einakter
folgen zu lassen. Dennoch hielt die Irritation in der Tat nicht allzu lang an. Wir
gehen mit Strauss nun zu Sigmund Freud. Nach einer psychoanalytischen
Sitzung können wir feststellen, dass eigentlich weniger ein Zusammenhang
zwischen der „Salome“ und der ihr folgenden „Elektra“ besteht, als zwischen
der „Sinfonia domestica“ und der biblischen Parodie. Im Unterschied zu seinem
Zeitgenossen Gustav Mahler hatte Strauss jedoch Freud nie aufgesucht.
Dennoch hatte er einen Korrespondenzpartner gefunden, der ihn in seinen
Tagebuchnotizen nahezu tiefenpsychologisch unter die Lupe genommen hat.
Dieser genaue Beobachter war der große Europäer, Musikwissenschaftler und
französische Schriftsteller Romain Rolland. Der Briefwechsel zwischen Rolland
und Strauss ist vielleicht weniger bekannt als der berühmte briefliche
Austausch zwischen dem Komponisten und seinem langjährigen späteren
Librettisten Hugo von Hofmannsthal. Wo der Austausch mit dem Textdichter in
erster Linie werkbezogen aufschlussreich, von wechselseitigen
Missverständnissen zweier diametral entgegengesetzter Persönlichkeiten
durchzogen ist, gerinnt der Briefwechsel mit Rolland und den ergänzenden
Tagebuchaufzeichnungen zu einer präzisen, nüchternen Charakteristik des
Menschen Strauss. Bereits nach der ersten Begegnung im Jahr 1898 in Paris
schreibt Rolland:
„Im Lamoureux-Konzert. - Ein junger Mann, groß, schlank, krause Haare, eine
am Scheitel beginnende Tonsur, blonder Schnurrbart, helle Augen, helles
Gesicht. Weniger der Kopf eines Musikers als eines Landjunkers. Vitale Energie,
nervöses Temperament, eine krankhafte Übererregtheit, gestörtes
Gleichgewicht, das vom Willen gebändigt wird, aber Musik und Musiker
antreibt. (…) Er ist ein Moderner, sehr stolz darauf, ein Moderner zu sein und
steht allem, was das Ewige und allumfassende des menschlichen Geistes
ausmacht, gleichgültig gegenüber. Bei Tisch hält er sich sehr schlecht, setzt sich
mit übereinadergeschlagenen Beinen neben seinen Teller, führt diesen zum
Kinn um zu essen, stopft sich mit Bonbons voll wie ein kleines Kind usw. Sein
Ton verändert sich ebenso wie seine Manieren, je nachdem, ob er sich an uns
wendet oder an Henry Expert und Robert Brussel, die nach dem Essen
erschienen sind. Herzlich und gutmütig mit uns, ist er den anderen gegenüber
kurz angebunden; er hört kaum zu, wendet sich an Clotilde: ‚Was‘, sagt er und
‚ach! So, so‘, das ist alles.“
Nach der Aufführung der „Sinfonia domestica“ im Jahr 1905 gibt sich Rolland
dialektisch irritiert:
„Während der Probe zur Sinfonia domestica von Strauss empfinde ich plötzlich
eine Art Abscheu. Ein Missverhältnis zwischen der Grundidee und ihren
Ausdrucksmitteln. Keine Intimität. Dieser lärmende Haushalt entfaltet sich im
Freien, ungehemmt, ohne Schamgefühl. Und mich sucht die Erinnerung an das
Heldenleben heim und an den früheren Strauss. Mein allgemeiner Eindruck ist:
Wenn ich eine solche Frau hätte, würde ich mich sofort scheiden lassen. –
Abends jedoch im Konzert bin ich überrascht von der Schönheit dieser
Orchesterkomposition, leicht, elegant und ausdrucksvoll, im Vergleich zu den
kompakten Klangflächen Mahlers.“
Ein Jahr später kommt Rolland ein geradezu provozierend, sexuell aufreizendes
Bild zur „Domestica“-Musik in den Sinn: „Bloss, es gibt – wie immer – zu viele
‚Haare‘ in dieser Musik. Man denkt an Algen oder Schlingpflanzen, die sich um
den Torso des Helden winden.“
Wer denkt bei diesem Bild nicht an die vor Jochanaan knieende Salome, die
den begehrten Propheten mit ihren langen Haaren umschlingt. Oder noch
deutlicher: die in die Körperlichkeit des spirituellen Redners verliebte
Prinzessin, die auch dessen Haar anbetet, bevor sie sich entschließt ihn küssen
zu wollen. Und in der Tat lässt sich „Salome“ als Pendant der „Sinfonia
domestica“ lesen. Wo in der orchestralen Musik ein gelingendes
Familiengemälde entsteht, wird in der Oper mit grellen Farben die perverse
Zerrüttung der heiligen Dreifaltigkeit entworfen: der Stiefvater will der
angeheirateten Nichte zu Leibe rücken, die Mutter will den von der Tochter
Begehrten nicht weniger tot sehen als die in ihrer Sexualität Erwachende.
Schließlich löst Strauss alle harmonischen und formalen, kontrapunktischen
Verbindlichkeiten der vorangehenden Sinfonie bis an die Grenze zur atonalen
Sprache auf. Die Dur-moll-Predigt des Propheten Jochannaan begreift Strauss
nur noch parodistisch als Persiflage des erhabenen Hörner-Tonfalls in Wilhelm
Kienzls damals erfolgreicher, heute vergessener Oper „Der Evangelimann“. Für
den Modernisten, Antimetaphysiker und Nietzsche-Anhänger Strauss gilt dieser
Prediger lediglich als Hanswurst-Figur in einem absurden Puppentheater, das in
die Abgründe unterbewusster Perversionen vordringen will. Was in der
„Sinfonia domestica“ am Ende im hoch ambitionierten Kontrapunkt des Finales
als thematische Familienzusammenführung stattfindet, wird in der „Salome“
zur alles erschütternden „Nervenkontrapunktik“, wie Strauss das selbst nannte.
Wir folgen dieser Nervenkontrapunktik zunächst in der Dialogszene zwischen
Salome und dem Propheten Jochanaan. Es singen: Hildegard Behrens, Salome
und José van Dam, Jochanaan. Die Wiener Philharmoniker werden von Herbert
von Karajan in einer legendären Referenzaufnahme aus dem Jahr 1977 geleitet.
Musik: Richard Strauss „Salome“ – Szene Salome-Jochanaan (6:58)
Jose van Dam- Jochanaaan; Hildegard Behrens – Salome; Wiener
Philharmoniker; Herbert von Karajan EMI 7 49358 2 LC0542
Der Höhepunkt einer tiefenpsychologischen Nervenkontrapunktik wird mit
dem Schlussmonolog der Salome erreicht. In perverser Erregung wartet die
Prinzessin am Rande der Gefängnis-Zisterne auf die Enthauptung des
Propheten, um endlich den begehrten Mund küssen zu können. Für diese
Erwartungs-Passage komponierte Strauss eine bis dahin nie dagewesene pure
Klangatmosphäre. Die E-Bässe sind auf ein lastendes Es-Tremolo um einen
halben Ton herabzustimmen. Ein Solokontrabass spielt ein B-Flageolett im
Violinschlüssel zu dessen Erzeugung es in der Partitur heißt: „Dieser Ton, statt
auf das Griffbrett aufgedrückt zu werden, ist zwischen Daumen und Zeigefinger
fest zusammenzuklemmen; mit dem Bogen ein ganz kurzer, scharfer Strich, so
dass ein Ton erzeugt wird, der dem unterdrückten Stöhnen und Ächzen eines
Weibes ähnelt.“ In einer Notiz aus späteren Jahren ergänzte Strauss: „Hier sei
bemerkt, dass das hohe B des Kontrabasses bei der Ermordung des Täufers
nicht Schmerzensschreie des Delinquenten sind, sondern stöhnende Seufzer
aus der Brust der ungeduldig wartenden Salome.“ Im Laufe dieses Monologs
zieht auf der Szene eine Wolke vor den zuvor höchst symbolträchtig
besungenen Mond und hüllt die Bühne in völliges Dunkel. Der Schlussgesang
wird zum reinen Hörstück eines verinnerlichten Geschehens. Eine Studie über
Hysterie à la Strauss.
Musik: Richard Strauss „Salome“ – Schlussmonolog Anfang (1:23)
Karl-Walter Böhm – Herodes; Hildegard Behrens – Salome; Wiener
Philharmoniker; Herbert von Karajan EMI 7 49358 2 LC0542
Soweit der Ausschnitt aus dem Schlussmonolog der „Salome“ mit Hildegard
Behrens und den Wiener Philharmonikern unter der Leitung Herbert von
Karajans.
Nach dieser radikalen Klangstudie in das weiblich Unterbewusste nimmt beim
Berliner Hofkapellmeister Strauss das öffentlich Bewusste wieder Oberhand an.
Vom üppigen Honorar der „Salome“ baut er sich ein großzügiges Familienheim
im bayerischen Garmisch. Die „Sinfonia domestica“ nimmt häusliche Gestalt an
und wandert aus dem Konzertsaal in die süddeutsche Gebirgswelt, die den
Komponisten zu seinem zweiten großformatigen, zwischen 1911 und 1915
entstandenen Sinfoniegebilde der „Alpensinfonie“ inspirieren wird. Während
Gustav Mahler an der Wiener Zensur scheitert, geht Strauss für eine
Aufführung der „Salome“ an der Berliner Hofoper strategischer vor. Er leitete
eine Aufführung von Carl Maria von Webers „Freischütz“, der Lieblingsoper
Kaiser Wilhelms. Und ganz zeitgemäß und staatstreu komponiert der Berliner
Operndirektor zwischen 1905 und 1907 vier Marschmusiken, von denen wir
den 1906 entstandenen Militärmarsch in Es-Dur hören. Ein Bayer in Preussen.
Musik: Richard Strauss „Militärmarsch Es-Dur“ op. 57, Nr. 1 (2:52)
Radio-Symphonieorchester Berlin; Caspar Richter, Dirigent Archiv-Nr.
3301693
Doch das öffentliche Bewusstsein von Strauss ist eine Nebensache nur. Bereits
während der Komposition der „Salome“ sucht er nach einem neuen Opernstoff.
Mit dem österreichischen Dichter Hugo von Hofmannsthal sprach Strauss
bereits nach ihrer ersten Begegnung am 23. März 1899 über Opernstoffe. Es
bleibt unklar, wann er erstmals die Uraufführungsproduktion der
Hofmannsthalschen „Elektra“ in der Berliner Inszenierung von Max Reinhardt
mit Gertrud Eysoldt in der Titelrolle gesehen hat, die bereits auch die Salome
in Wildes Drama gespielt hatte. Reinhardts äußerst erfolgreiche Produktion lief
zwischen 1903 und 1909, dem Jahr der Dresdner Uraufführung von Strauss
Vertonung, in mehreren Serien. Möglicherweise besuchte der Komponist eine
Aufführung am 17. November 1906. Zu diesem Zeitpunkt hatte er allerdings
bereits mit der Komposition der ersten Szene begonnen. Damit nahm die enge
Zusammenarbeit mit Hugo von Hofmannsthal ihren Anfang, dem bis zum
frühen Tod des Dichters im Jahr 1929 fünf gemeinsame Werke für das
Musiktheater folgen sollten.
Hofmannsthals Interesse am Musiktheater war einer tief verwurzelten
Sprachkrise des Dichters entsprungen, die er literarisch im 1902 entstandenen
Brief des Lord Chandos manifest werden ließ. Von da an sucht er der
Unzulänglichkeit der Sprache eine andere Ausdrucksebene zuzugesellen. Und
diese Ausdrucksebene sollte die Musik sein, die er nicht in der Lage war zu
schreiben, die er aber dem Komponisten mit seinem Text vorzuschreiben
gedachte. Von Anfang an war diese Art literarischer Vorschrift für den
Komponisten Strauss nicht ohne Konflikte zu bewältigen. Dem Modernisten
Strauss war der sich in oft eisige Höhen versteigende Symbolismus des Dichters
fremd. Der wiederum hatte für die banalen Alltäglichkeiten, die den
Komponisten etwa zu seiner häuslichen Sinfonie inspirierten, wenig übrig, bis
hin zur schroffen Ablehnung. Dennoch erfüllte sich mit „Elektra“ die
Kooperation der beiden so gegensätzlichen Charaktere am idealsten. Doch dies
ist eine paradoxe Situation. Denn anders als die folgenden Libretti war die
„Elektra“ nicht für eine Vertonung geschrieben worden, sondern für die reine
Sprechbühne Max Reinhardts. Verwandt war sie mit Strauss vorangehendem
Einakter, weil sie ein ideales Vorbild für einen musikalischen Seelenkontrapunkt
abgab. Hofmannsthals Überschreibung der „Elektra“ des Sophokles ist weit
entfernt von der stillen Einfalt und schlichten Größe eines Klassizismus im
Geiste von Johann Joachim Winkelmann und der „Iphigenie“ Goethes. In ihr
schlägt sich vielmehr die Erfahrung mit Sigmund Freuds Hysterie-Studien
nieder.
Musik: Richard Strauss „Elektra“ – „Es geht ein Lärm los“ und Zwischenmusik
(2:35)
Marjana Lipovsek, Klytämnestra; Symphonieorchester des Bayerischen
Rundfunks; Wolfgang Sawallisch, Dirigent EMI 6 40779 2 LC 0542
Wenn „Salome“ im Sinne eines perversen Scherzos als Nach- und Gegensatz
des gelingenden Familienporträts der „Sinfonia domestica“ verstanden werden
kann, dann ist die „Elektra“ die Abschaffung der Familie. Durch die Ermordung
Agammemnons und die rachebesessene Elektra ist die Familie längst zu
Grunde gegangen. Wo „Salome“ sich auf den Schlussmonolog hinbewegt, ist
die „Elektra“ von Anfang an ein einziger Monolog. In der Figur der Elektra
spiegeln sich letztlich alle anderen Figuren des Stückes, sei es die degenerierte,
von Schuld zerfressene Mutter Klytämnestra, die auf Mutterschaft hoffende
Schwester Chrysothemis oder der letztlich die Rache vollziehende Bruder Orest.
Sie und alle anderen auftretenden Personen, wie die Mägde, der Diener, der
Stallknecht, der Pfleger des Orest und der feige Mörder Ägisth sind nichts
anderes als Seelenbilder dieser einen Elektra. So ist die Oper nicht nur nach
dem kurzen Prolog der Mägde-Szene zwischen die beiden großen Monologe
der Elektra aufgespannt, sondern jeder Dialog gerinnt zu einem Monolog, der
von zwei Stimmlagen und Klangfarben bestimmt wird. Dieser Einakter ist nicht
grundlos eine von Frauenstimmen dominierte Musik. Nirgends wird dieser
Sachverhalt eines monologisch gemeinten, dialogisch angelegten
Nervenkontrapunkts deutlicher als in jenem zentralen Musikkrimi zwischen
Elektra und ihrer Mutter Klytämnestra: zwei Seelen wohnen keineswegs ach in
ihrer Brust. Ein drastischeres Porträt einer tragisch endenden Schizophrenie ist
wohl nie mit solcher Wucht bis an die Grenzen des psychologischen und
tonalen Zerfalls auskomponiert worden. Strauss bemerkte in diesem
Zusammenhang zu seinen beiden Einaktern „Salome“ und „Elektra“: „Beide
Opern stehen in meinem Lebenswerk vereinzelt da: ich bin in ihnen bis an die
äußersten Grenzen der Harmonik, psychischer Polyphonie (Klytämnestras
Traum) und Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen.“
Was ihm die Komponisten einer erweiterten, sich lösenden und schließlich
aufgelösten Tonalität vorgeworfen haben, nämlich den späteren Verrat am
Fortschritt der Moderne mit der Komposition der Erfolgsoper „Der
Rosenkavalier“, gestaltet sich aus Strauss Perspektive ganz anders. Der
Ausgangspunkt eines derartigen Fortschritts war für ihn ein exaktes
Krankheitsprotokoll. In Wahrheit war er aber der liebende Familienvater, der
dem Sohn Bubi Franz nichts weniger zuordnete als eine Oboe d’amore. So
produktiv es auch sein mochte: dem Weg eines Krankheitsprotokolls wollte
Strauss damit am Vorabend des ersten Weltkriegs und eines heraufdräuenden
gesellschaftlichen Zerfalls nicht mehr folgen. Strauss Moderne war mit der
„Elektra“ keineswegs abgeschlossen, sondern hatte nur den
Nervenkontrapunkt im Zustand der sprachlichen Zerrüttung erreicht. Darin war
er sich zweifellos kongenial einig mit seinem Librettisten Hofmannsthal. Daher
ist die „Elektra“ bis auf den heutigen Tag der Meilenstein der modernen Oper
geblieben, als die sie auch von Strauss Gegnern gewürdigt wurde. Wir hören
zum Schluss unserer Freudianischen Musikstunde über Richard Strauss den
Schluss der Elektra-Klytämnestra-Szene.
Musik: Richard Strauss „Elektra“ – Szene Elektra-Klytämnestra (5:52)
Marjanan Lipovsek, Klytämnestra; Eva Marton, Elektra; Symphonieorchester
des Bayerischen Rundfunks; Wolfgang Sawallisch, Dirigent EMI 6 40779 2 LC
0542
Unsere heutige Musikstunde über Richard Strauss ging zu Ende mit dem
Schluss der Elektra-Klytämnestra-Szene aus der Oper „Elektra“. Es sangen Eva
Marton als Elektra und Marjana Lipovsek als Klytämnestra. Das
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte unter der Leitung von
Wolfgang Sawallisch. In unserer morgigen Musikstunde nähern wir uns dem
„sogenannten Hauptwerk“ des Komponisten an. Am Mikrophon verabschiedet
sich Bernd Künzig.
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