SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Von Flandern nach Florenz - Heinrich Isaac und die europäische Musik um 1500 (1) Mit Silke Leopold Sendung: 20. März 2017 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Musikstunde mit mit Silke Leopold Montag, 20. März 2017 Von Flandern nach Florenz Heinrich Isaac und die europäische Musik um 1500 1. Sendung Montag: Flandern …mit Silke Leopold. Die Musikstunde soll in dieser Woche einem Komponisten gewidmet sein, dessen Todestag sich am kommenden Sonntag zum 500. Mal jährt: Heinrich Isaac. Sie kennen ihn kaum? Das ist schön, denn dann wartet eine Menge unbekannter wunderbarer Musik auf Sie. 2017 ist ja das Jahr der großen Jubiläen – 500 Jahre Lutherische Reformation, 450. Geburtstag von Claudio Monteverdi, 250. Todestag von Georg Philipp Telemann. Da geraten andere Ereignisse in der öffentlichen Aufmerksamkeit schon mal ein wenig ins Hintertreffen. Heinrich Isaac ist so ein Komponist, der einem nicht unbedingt einfallen würde, wenn es um die großen Jubiläen geht. Dabei war er zu Lebzeiten ein hochberühmter Mann, in Italien ebenso wie im Habsburgerreich. Und sogar nach seinem Tode geriet er nicht in Vergessenheit – im Gegenteil: Viele seiner Kompositionen erschienen überhaupt erst nach seinem Tod unter seinem Namen im Druck, und wir wissen oft nicht, ob sie wirklich aus seiner Feder stammen. Dann allerdings geriet er in Vergessenheit. Aber wie dem auch sei - wenn Sie jemals in einem Schulchor oder einem anderen Chor mitgesungen haben, werden Sie dieses Stück bestimmt kennen. Musik 1 Heinrich Isaac: Innsbruck ich muss dich lassen Kai Wessel, Altus, Achim Kleinlein, Tenor, Matthias Gerchen, Bass Capella della Torre – Katharina Bäuml 27002 Musikmuseum 16 CD 13015. Track 13 4:10 Innsbruck, ich muss dich lassen von Heinrich Isaac, hier gesungen von Kai Wessel, Altus, Achim Kleinlein, Tenor, Matthias Gerchen, Bass, und gespielt von der Capella della Torre. Die Leitung hatte Katharian Bäuml. Es ist mit Sicherheit das bekannteste 2 Stück des Komponisten, und es exisitiert auch in einer Version als Kirchenlied, als „O Welt, ich muss dich lassen“. Nach Isaacs Tod wurde „Innsbruck ich muss dich lassen“ sogar in einer Messe verarbeitet, die man Isaac zuschrieb, aber das ist wahrscheinlich nicht wahr. Diese Messe trägt den Titel „Missa carminum“, also „Die Messe der Lieder“, und der Komponist wählte zahlreiche bekannte Liedmelodien aus, um sie als Cantus firmus den einzelnen Teilen seiner Messkomposition zu unterlegen. Ein solches Kompositionsverfahren war seit dem Mittelalter sehr beliebt. Die Gläubigen kannten diese Lieder und lauschten der anspruchsvollen Polyphonie dann aufmerksamer, wenn sie wenigstens die Melodie kannten. In der Missa carminum liegt „Innsbruck ich muss dich lassen“ dem zweiten Christe im Kyrie zugrunde. Das hören Sie jetzt gesungen von der Capella Lipsiensis unter Leitung von Dietrich Knothe. Musik 2 Heinrich Isaac: Missa carminum, Kyrie Capella Lipsiensis – Dietrich Knothe 6203 Eterna 0031022BC. Track 8 2:23 Wer war dieser Heinrich Isaac? Eigentlich wissen wir fast gar nichts über seine Herkunft, seine Jugend und seine Ausbildung. „De Flandria“ - „Aus Flandern gebürtig“, so heißt es in den Quellen, und auch, dass sein Vater Hugo hieß. Aber das hilft auch nicht weiter. Isaacs Geburtsjahr ist unbekannt, und nur weil er 1514 in einem Dokument als „alt“ bezeichnet wurde, nimmt man an, er sei um 1450 geboren. Flandern war damals Teil der burgundischen Herrschaft, und Philipp der Gute, der Herzog von Burgund, war ein Herrscher, dem die Kunst und die Musik, die Festkultur und die Repräsentation als Mittel der Politik sehr am Herzen lagen. Berühmt geworden ist das Fasanenfest, das er im Februar 1454 in Lille veranstaltete. Im Jahr zuvor hatten die Osmanen Konstantinopel erobert, und Philipp der Gute warb im Auftrag des Papstes für einen neuerlichen Kreuzzug, um die Stadt den Muslimen wieder zu entreißen. Dazu fuhr er alles auf, was Eindruck machte – erlesenste Speisen, allerschönste Musik und eine Tischdekoration, die nicht nur opulent, sondern auch dem Anlass entsprechend ausgedacht war. Da gab es eine Riesenpastete, in der 28 Musiker saßen, und auch eine Kirche, aus der heraus Musik zu hören war. Zu den Lieblingsmusikern des Herzogs gehörte Gilles Binchois, 3 und seine instrumentale Chanson dürfte bei dem Fasanenfest in der Pastete bespielt worden sein. Musik 3 Gilles Binchois: Chanson Mitglieder des Ensembles Gilles Binchois – Dominique Vellard 07873 Veritas 0777 7590432 1. Track 14 2:25 Mitglieder des Ensembles Gilles Binchois spielten eine instrumentale Chanson von Gilles Binchois. Heinrich Isaac dürfte zum Zeitpunkt des Fasanenfests 1454 gerade das Laufen gelernt haben. Vielleicht wuchs er gar im Umfeld des burgundischen Hofes auf – wir wissen es nicht. Wir wissen auch nicht, wer seine Lehrer waren, wie er zur Musik kam. Nur so viel: Offenbar wählte er nicht, wie so viele andere Musiker seiner Umgebung, die geistliche Laufbahn. Das spricht für ein höfisches oder vielleicht sogar bürgerliches Umfeld. Die frühesten Nachrichten über ihn, sie stammen aus dem Jahr 1484, öffnen aber das Fenster für ein paar Spekulationen. Möglicherweise war Isaac als junger Musiker tatsächlich für den burgundischen Herzog tätig. Der hieß jetzt aber nicht mehr Philipp der Gute, sondern Karl der Kühne, Philipps Sohn, und auch dieser Herzog scharte bedeutende Künstler und Musiker um sich, unter ihnen Hayne van Ghizeghem, den Sänger und Lautenspieler, der auch als Dichter bekannt war. Ghizeghems Chanson „De tous bien plaine“, um 1460 komponiert, war wahrscheinlich sein bekanntestes Stück. Es wurde in vokalen und auch in instrumentalen Versionen in ganz Europa musiziert. Die Version, die Sie jetzt hören, stammt aus dem ersten Notendruck der Musikgeschichte – dem 1501 in Venedig gedruckten Odhekaton. Da war Hayne van Ghizeghem schon vier Jahre tot. Es spielt das Ensemble Les Flamboyant unter Leitung von Michael Form. Musik 4 Hayne van Ghizeghem: De tous bien plaine Les Flamboyant – Michael Form 05068 Raumklang RK 2005. Track 25 6:24 4 Zur musikalischen Entourage des burgundischen Herzogs Karl mit dem Beinamen „der Kühne“ gehörte auch Antoine Busnois. In seiner Motette „In hydraulis“ bezeichnet er sich nicht ohne einen gewissen Stolz als Schüler des berühmten Johannes Ockeghem und als Musiker in Diensten Karls des Kühnen. Die Motette handelt von Musik, von Pythagoras und seiner Wasserorgel – deshalb der Titel „In hydraulis quondam Pithagora“ – oder von Ockeghem als dem wahren Orpheus. Und so seltsam es klingen mag – aber Busnois hatte das Glück, dass Karl der Kühne seine Hofkapelle drastisch verkleinern musste, weil er das Geld für seine Soldaten brauchte. Dadurch verlor Busnois seinen Job; aber so blieb ihm das Schlachtfeld erspart, und auch, seinen Dienstherrn in der Schlacht bei Nancy im Januar 1477 fallen zu sehen. Musik 5 Antoine Busnois: In hydraulis Ensemble Pomerium – Alexander Blachly 06439 Dorian DOR 90184. Track 1 6:52 Das Ensemble Pomerium unter Leitung von Alexander Blachly sang die Motette „In hydraulis“ von Antoine Busnois, dem Hofmusiker Karls des Kühnen, Schüler jenes Johannes Ockeghem, der schon zu Lebzeiten als der bedeutendste aller Komponisten gefeiert wurde. Ockeghem hatte den französischen Königen gedient und eine ganze Generation von jungen Musikern ausgebildet, darunter auch Josquin Desprez, der seinem Lehrer ebenfalls große Verehrung entgegenbrachte. Als Ockeghem 1497 starb, widmete Josquin ihm einen Klagegesang, in dem die Waldnymphen den Tod des großen Musikers beklagen. Josquin komponierte seine Klage über der gregorianischen Melodie des Requiem aeternam, obwohl dieses Stück mit seinem französisch-weltlichen Text niemals in einer Kirche hätte aufgeführt werden können. „Nymphes des bois” singt jetzt The Hilliard Ensemble unter Leitung von Paul Hillier. Musik 6 Josquin Desprez: Nymphes des bois The Hilliard Ensemble – Paul Hillier 07873 Veritas 5 62346 2. CD 1. Track 13 5:47 5 Nachdem der burgundische Herzog Karl der Kühne in der Schlacht bei Nancy gefallen war, stand seine einzige Tochter Maria, die Erbin von Burgund, plötzlich schutzlos da, denn sie war noch nicht verheiratet, und ihr reiches Erbe weckte Begehrlichkeiten allüberall. Ihre Wahl fiel auf Maximilian von Habsburg, den Thronfolger des Kaisers, und bei der Hochzeit der beiden im August 1477 könnte Heinrich Isaac dabei gewesen sein und Kontakte zu den Habsburgern geknüpft zu haben. Denn irgendwann machte er sich Richtung Süden auf; die erste gesicherte Nachricht, die wir von ihm haben, stammt aus Innsbruck aus dem Jahr 1484. Schon im folgenden Jahr finden wir ihn in Florenz. Dass es Musiker aus Flandern nach Italien zog, hatte nicht nur mit der Sonne und dem besseren Wetter zu tun. In Italien gab es eine Reihe aufstrebender Stadtstaaten, die es, was die Prachtentfaltung anging, den etablierten Fürstentümern gleichtun wollten. Und auch die Päpste suchten nach ihrer Rückkehr aus dem französischen Exil nach neuen Möglichkeiten der Repräsentation. In Italien wurden neue Formen des Gesellschaftstanzes entwickelt und Bücher mit Choreographien und der dazugehörigen Musik verfasst. Eines stammte von Domenico da Piacenza, dem Tanzmeister am Hof von Ferrara. Sein Buch über die Kunst zu tanzen enthält auch das Stück „Rostiboli gioioso“. Musik 7 Domenico da Piacenza, Rostiboli gioioso Ensemble Ars Italica 34557 Tactus TC 40012201. Track 15 2:17 Das Ensemble Ars Italica spielte Domenico da Piacenzas Tanz „Rostiboli gioioso“. Heinrich Isaac dürfte diese Tänze auch in Florenz gespielt oder vielleicht sogar getanzt haben. Er war nicht der einzige Flame, den es nach Italien zog. Gleichzeitig mit ihm kam auch Alexander Agricola aus Gent in Florenz an. Ihm lag es daran, in seiner neuen Heimat seine Herkunft zu betonen. Von Agricola stammt eine Komposition mit dem Titel „Pater meus Agricola est.“ Das ist zwar ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium: „Ich bin der rechte Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner.“ Heißt es in der deutschen Übersetzung. Alexander Agricola aber spielte mit diesem Text und verwies damit auf seinen Nachnamen. „Pater meus Agricola est“ hören Sie jetzt gespielt von dem Ensemble Leones unter Leitung von Marc Lewon. 6 Musik 8 Alexander Agricola: Pater meus Agricola est Ensemble Leones – Marc Lewon 0612 Christophorus CHR 77368. Track 17 6:08 Es gab in Flandern aber auch Komponisten, die es nicht nach Italien zog. Dazu gehörte Pierre de la Rue, ein direkter Zeitgenosse Heinrich Isaacs mit fast identischen Lebensdaten. Er stammte aus Tournai in der Grafschlaft Flandern und stand die längste Zeit seines Lebens in Diensten der Habsburger – erst bei Maximilian, dann bei dessen Sohn Philipp dem Schönen, und schließlich bei dessen Schwester, Maximilians Tochter Margarethe von Österreich, der Statthalterin der Niederlanden. Ihr war Pierre de la Rue besonders ergeben, und sie zeichnete ihn als ihren bevorzugten Hofmusiker aus. Margarete unterhielt eine musikalische Schreibwerkstatt und machte politisch wichtigen Verbündeten kostbare Geschenke in Gestalt luxuriöser Manuskripte. Auf diese Weise gelangte Pierre de la Rues Totenmesse auch an den Hof Friedrichs des Weisen, jenes sächsischen Kurfürsten, der Luthers Reformation unterstützte und sich selbst auf dem Totenbett 1525 zum protestantischen Glauben bekannte. Vermutlich wurde zu seiner Beerdigung Pierre de la Rues Requiem gesungen, acht Jahre nach dem Thesenanschlag in Wittenberg, sieben Jahre nach de la Rues Tod. Musik 9 Pierre de la Rue, Missa pro defunctis: Offertorium Domine Jesu Christe Ensemble officium – Wilfried Rombach 0612 Christophorus CHE 77268 . Track 4 4:52 Das war das Offertorium Domine Jesu Christe aus Pierre de la Rues Missa pro fidelibus defunctis, gesungen vom Ensemble Officium. Die Leitung hatte Wilfried Rombach. Der Komponist Heinrich Isaac ist das Thema der Musikstunde in dieser Woche, und wenn Sie heute bisher wenig von ihm selbst gehört haben, so liegt das vor allem daran, dass wir aus seiner frühen Zeit in Flandern keine einzige Komposition kennen. 7 Morgen begleiten wir Isaac nach Florenz, seiner Wahlheimat, und da werden Sie mehr von ihm selbst hören. Silke Leopold verabschiedet sich von Ihnen und wünscht Ihnen einen schönen Tag. Musik 10 Heinrich Isaac: He logerons nous Les Flamboyant – Michael Form 05068 Raumklang RK 2005. Track 15 0:55 8