Welche Globalisierung wird überleben? by Joseph S. Nye

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Welche Globalisierung wird überleben?
by Joseph S. Nye
CAMBRIDGE – Die Weltwirtschaft wird in diesem Jahr zum ersten Mal seit 1945 schrumpfen,
und einige Ökonomen sorgen sich, dass die aktuelle Krise den Anfang vom Ende der
Globalisierung bedeuten könnte. Wirtschaftlich schwere Zeiten stehen in Wechselbeziehung zum
Protektionismus, da jedes Land die anderen verantwortlich macht und seine einheimischen
Arbeitsplätze schützt. In den 1930er Jahren verschlimmerte eine derartige „Beggar-thyneighbour-Politik“ die Situation. Wenn die Politiker derartigen Reaktionen nicht widerstehen,
könnte die Vergangenheit zur Zukunft werden.
Ironischerweise bedeutete eine solche düstere Aussicht jedoch nicht das Ende der Globalisierung
– definiert als Zunahme der weltweiten Netzwerke wechselseitiger Beziehungen. Die
Globalisierung hat mehrere Dimensionen, und obwohl die Ökonomen es allzu häufig so
darstellen, als wären Globalisierung und Weltwirtschaft ein und dasselbe, haben andere Formen
der Globalisierung ebenfalls bedeutsame Auswirkungen auf unser tägliches Leben, die nicht
immer positiv sind.
Die älteste Form der Globalisierung ist umweltbezogen. So wurde z. B. die erste
Pockenepidemie 1350 v. Chr. in Ägypten aufgezeichnet. Sie erreichte China 49 n. Chr., Europa
nach 700, Amerika 1520 und Australien 1789. Die Beulenpest – oder der Schwarze Tod –
begann in Asien, doch löschte ihre Verbreitung ein Viertel bis ein Drittel der europäischen
Bevölkerung im vierzehnten Jahrhundert aus.
Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert brachten die Europäer Krankheiten nach Amerika,
die bis zu 95 % der indigenen Bevölkerung auslöschten. 1918 kamen bei einer Grippepandemie,
die durch ein Vogelvirus verursacht worden war, rund 40 Millionen Menschen weltweit um,
wesentlich mehr als in dem kurz zuvor beendeten Weltkrieg. Einige Wissenschaftler sagen heute
eine Wiederholung einer Vogelgrippepandemie voraus.
Seit 1973 sind 30 zuvor unbekannte Infektionskrankheiten aufgetaucht, und andere bekannte
Krankheiten haben sich geografisch in neuen, medikamentenresistenten Formen verbreitet. In
den 20 Jahren, nachdem HIV/AIDS in den 1980ern identifiziert wurde, sind dem Virus weltweit
20 Millionen Menschen zum Opfer gefallen und weitere 40 Millionen wurden infiziert. Einige
Experten sagen voraus, dass sich diese Zahl bis 2010 verdoppeln wird. Die Verbreitung fremder
Tier- und Pflanzenarten in neuen Gebieten hat einheimische Spezies ausgelöscht und könnte zu
wirtschaftlichen Verlusten von mehreren Hundert Milliarden Dollar pro Jahr führen.
Der globale Klimawandel wird das Leben der Menschen überall beeinflussen. Tausende von
Wissenschaftlern aus über 100 Ländern berichteten vor Kurzem, dass es neue und stichhaltige
Beweise dafür gibt, dass ein Großteil der Erwärmung, die im Laufe der letzten 50 Jahre
beobachtet wurde, auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen ist, und für die
durchschnittlichen globalen Temperaturen im einundzwanzigsten Jahrhundert wird
prognostiziert, dass sie um 1,4 bis 5,6 Grad Celsius steigen. Das Ergebnis könnten heftigere
Klimaschwankungen sein, mit zu viel Wasser in einigen Regionen und nicht genug in anderen.
Zu den weiteren Folgen werden stärkere Stürme, Hurrikane und Überschwemmungen, extremere
Dürreperioden und mehr Erdrutsche zählen. Steigende Temperaturen haben die frostfreie Saison
in vielen Regionen verlängert, und die Gletscher schmelzen. Die Geschwindigkeit, mit der der
Meeresspiegel im letzten Jahrhundert anstieg, war zehnmal schneller als die durchschnittliche
Geschwindigkeit der letzten drei Jahrtausende.
Dann gibt es da die militärische Globalisierung, die aus verflochtenen Netzwerken besteht, in
denen Gewalt oder die Androhung von Gewalt eingesetzt wird. Die Weltkriege des zwanzigsten
Jahrhunderts sind ein Paradebeispiel. Die vorherige Ära der wirtschaftlichen Globalisierung
erreichte 1914 ihren Höhepunkt und wurde durch die Weltkriege zurückgeworfen. Doch
während die globale wirtschaftliche Integration ihr Niveau von 1914 erst ein halbes Jahrhundert
später wieder erreichte, wuchs die militärische Globalisierung, als die wirtschaftliche
Globalisierung schrumpfte.
Während des Kalten Krieges war die globale strategische Interdependenz zwischen den
Vereinigten Staaten und der Sowjetunion genau umrissen und weithin anerkannt. Sie erzeugte
nicht nur weltumspannende Bündnisse, jede der beiden Seiten hätte auch Interkontinentalraketen
einsetzen können, um die andere innerhalb von 30 Minuten zu zerstören.
Dies war nicht nur deshalb einschneidend, weil es vollkommen neu war, sondern weil das
Ausmaß und die Geschwindigkeit des potenziellen Konflikts aufgrund der militärischen
Interdependenz so gewaltig waren. Heute haben die Al Kaida und andere transnationale Akteure
globale Netzwerke von Mitgliedern gebildet, die den konventionellen Ansatz der nationalen
Verteidigung durch die so genannte „asymmetrische Kriegsführung“ herausfordern.
Und schließlich besteht die gesellschaftliche Globalisierung aus der Verbreitung von Menschen,
Kulturen, Bildern und Ideen. Die Migration ist ein konkretes Beispiel. Im neunzehnten
Jahrhundert überquerten ungefähr 80 Millionen Menschen die Ozeane, um ein neues Zuhause zu
finden – wesentlich mehr als im zwanzigsten Jahrhundert. Zu Beginn des einundzwanzigsten
Jahrhunderts waren 32 Millionen US-Einwohner (11,5 % der Bevölkerung) im Ausland geboren.
Außerdem kommen jedes Jahr ca. 30 Millionen Besucher (Studierende, Geschäftsleute,
Touristen) ins Land.
Ideen sind ein ebenso wichtiger Aspekt der gesellschaftlichen Globalisierung. Die Technik
vereinfacht die physische Mobilität, aber lokale politische Reaktionen gegen Einwanderer hatten
sich bereits vor der aktuellen Wirtschaftskrise gemehrt.
Heute besteht die Gefahr darin, dass kurzsichtige protektionistische Reaktionen auf die
Wirtschaftskrise dazu beitragen könnten, die wirtschaftliche Globalisierung abzuwürgen, die
Wachstum verbreitet und im Laufe des letzten halben Jahrhunderts Hunderte Millionen von
Menschen aus der Armut befreit hat. Doch wird der Protektionismus die anderen Formen der
Globalisierung nicht einschränken.
Durch moderne Technologie breiten sich Krankheitserreger leichter aus als in früheren Zeiten.
Bequemes Reisen gepaart mit wirtschaftlich schweren Zeiten bedeutet, dass sich die
Einwanderungsraten bis zu dem Punkt beschleunigen könnten, an dem die soziale Reibung den
allgemeinen wirtschaftlichen Nutzen übersteigt. Ebenso können wirtschaftlich schwere Zeiten
die Beziehungen unter den Regierungen verschlechtern und innere Konflikte verschärfen, die zu
Gewalt führen können.
Gleichzeitig profitieren grenzübergreifend operierende Terroristen weiterhin von der modernen
Informationstechnologie, wie dem Internet. Und obwohl die flaue Wirtschaftsaktivität das
Tempo, in dem sich Treibhausgase in der Atmosphäre ansammeln, etwas verringern kann, wird
sie auch jene kostspieligen Programme bremsen, die die Regierungen durchführen müssen, um
etwas gegen die bereits vorhandenen Emissionen zu unternehmen.
Wenn also die Regierungen bei der Ankurbelung ihrer Wirtschaft nicht kooperieren und dem
Protektionismus nicht widerstehen, könnte die Welt feststellen, dass die aktuelle Wirtschaftskrise
nicht das Ende der Globalisierung bedeutet, sondern nur das Ende der guten Art der
Globalisierung, was uns mit der schlechtesten aller Optionen zurücklässt.
Joseph S. Nye Jr. ist Professor in Harvard und wurde vor Kurzem von anderen Gelehrten des
Fachs internationale Beziehungen als einer der einflussreichsten Gelehrten der letzten 20 Jahre
eingestuft.
Copyright: Project Syndicate, 2009.
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