Der Architekt 7/95 Geist statt Materie ... Clemens Richarz . Im Stoffkreislauf eines Gebäudes stellt die Frage nach der Wiederverwertung von Baustoffen, die bei seinem Abbruch anfallen, lediglich einen Teilaspekt dar. Ein Gebäude verbraucht in verschiedener Form und zu verschiedenen Zwecken Ressourcen, wobei der Begriff Ressourcen Rohstoffe, Energie und menschliche Arbeit umfaßt. Diese ganzheitliche Sichtweise des sogenannten Stoffkreislaufes macht deutlich, daß der Energiegewinn, der im Rahmen von Produktrecycling erzielt werden kann, nicht überschätzt werden sollte. Im besten Falle kann durch Recycling zu einem gewissen Prozentsatz die Energie, die zur Herstellung des neuen Baustoffes nötig wäre, überflüssig werden. .......... In einigen Punkten ähnelt die Diskussion über die Frage des Baustoffrecyclings in verblüffender Weise der Diskussion wie sie schon bei der Einführung des "Grünen Punktes" geführt wurde. Besteht nun das primäre gesellschaftliche Ziel darin, Abfall zu vermeiden und damit die Recyclingfrage zu entschärfen oder besteht das Ziel darin, Technologien zu entwickeln, um möglichst viel der verschwenderisch verbrauchten Ressourcen - allerdings häufig mit unvertretbar hohem Aufwand wieder zurückzugewinnen. Wenn in der Fachliteratur erfreut festgestellt wird, daß mit der neuentwickelten Kyrotechnik (Baustoffe werden abgekühlt, um dann getrennt werden zu können) nun auch bisher als nicht recycelbar geltende Verbundwerkstoffe getrennt werden können, so muß die Feststellung erlaubt sein, daß diese vergleichsweise aufwendige Technik nicht angewendet werden müßte, wenn generell - soweit technisch möglich - auf den Einsatz der nur schwer recycelbaren Verbundbaustoffe verzichtet würde. Ressourcenverbrauch eines Gebäudes während seiner Lebensdauer ..... HERSTELLUNG Gewinnung der Rohstoffe Transport der Rohstoffe Herstellung der Baustoffe Transport der Baustoffe Verarbeitung der Halbzeuge (Baustelle) ............. KONDITIONIERUNG Beheizung Kühlung Beleuchtung Belüftung Betrieb von Technischen Anlagen ......... BAUUNTERHALT Reparatur/Ersatz Umbau/Nutzungsänderung ......... ABBRUCH Abbruch Transport des Abbruchmaterials Recycling bzw. Endlagerung Untrennbar mit dem Baustoffrecycling verbunden ist also die Frage, wie überhaupt bei der Herstellung, beim Betrieb und letztlich beim Abbruch eines Hauses Ressourcen "eingespart" werden können. Erst wenn diese Frage zufriedenstellend beantwortet ist, sollte man die Frage nach dem Recycling der dann noch verbliebenen Baustoffe stellen. ......... Nur auf diese Weise geht man die Frage des Ressourcenverbrauches von der Wurzel her an; die isolierte Beschäftigung mit Recycling Technologien allein ist lediglich "Symptomkurierung". Centre Pompidou in Paris Die folgenden Betrachtungen sollen deshalb einige konzeptuelle Wesensmerkmale des ressourcenschonenden Bauens aufzeigen, Wesensmerkmale, die bisher noch zu selten mit diesem Thema in Zusammenhang gebracht wurden Strukturelle Grundlagen Wohn- und Geschäftshaus in Stuttgart, 1991 Ein Gebäude, das zwar mit umweltfreundlichen Baustoffen errichtet wurde, in dem aber aufgrund fehlender Integration viel zu viel Material verbaut wird, ist nur scheinbar ökologisch. Gerade in der intelligenten Planung, die durch Integration viele technische Synergieeffekte erzielt, liegt ein großes Potential, um mit einem Minimum an stofflichen Ressourcen auszukommen. Den Zusammenhang zwischen Baustruktur und Ressourcenverbrauch (das heißt auch Wiederverwertung) hat die Konsumgüterindustrie schon lange entdeckt. In einer Kundeninformation des Volkswagenwerkes aus dem Jahre 1993 wird der strukturelle Aufbau des damals neuen VWGolf wie folgt beschrieben: "Für die spätere Demontage des VW-Golf erweist sich die neue Montagetechnologie (Bauteilfertigung - A.d.V.) als Vorteil. Was sich leicht zusammenbauen läßt, kann auch leicht wieder auseinandergenommen werden. So werden beispielsweise das Cockpit-Modul und das sogenannte Frontmodul als Vormontageeinheiten einfach eingesetzt. Alle elektrischen Einrichtungen wie etwa Scheinwerfer, Kühlerlüfter etc. werden mittels Steckverbindungen an das Bordnetz angeschlossen." Übertragen wir nun diese strukturellen Erkenntnisse auf das Bauwerk, so haben additive das heißt funktional und konstruktiv entflochtene Entwurfskonzepte neben der beschriebenen leichten Montage und Demontage zusätzlich die folgenden nun näher erläuterten "ökologisch" (= Minimierung des Ressourcenverbrauches) relevanten Vorteile. Ressourcenschonend Entwerfen Lebensdauer der Bauteile Kurzlebige Bauteile können, wenn sie additiv im Verhältnis zu langlebigen Bauteilen gefügt sind, entsprechend ihrer Lebensdauer ohne Zerstörung der angrenzenden Bauteile ausgetauscht werden. Die Firma Geberit hat sich sozusagen "im Detail" mit dieser Frage beschäftigt und die sich nun immer mehr durchsetzende Vorwandinstallation entwickelt und immer weiter verbessert. (Abb. 2) Mittels der Vorwandinstallation werden die langlebigen Bauteile "Wand" und die kurzlebigen Bauteile "Technischen Anlagen" entflechten und entsprechend ihrer unterschiedlichen Lebensdauer konstruktiv getrennt und unabhängig voneinander zugänglich gemacht. Die konstruktive, funktionale und formale Entflechtung von Bauteilen bzw. Baugruppen mit unterschiedlicher Lebensdauer ist natürlich ein Prinzip, das bereits im Entwurf strukturell entwickelt werden muß, damit es seine volle Wirksamkeit entfalten kann. Sicherlich ist das Centre Pompidou, das Piano und Rogers in den siebziger Jahren entworfen haben, nicht in allen Punkten ein ressourcenschonendes Produkt; es zeigt aber in exemplarischem Sinne, wie die konzeptuell entwickelte Entflechtung von Tragwerk, Hülle und Technischen Anlagen letztendlich auch die Gestalt des Baues bestimmt. Flexibilität In Zusammenhang mit dem ressourcenschonenden Bauen kommt der Flexibilität eines Gebäudes eine besondere Bedeutung zu. ..... Ein Gebäude, das bei einer geringstmöglichen Vorhaltung an invarianten, das heißt nicht veränderbaren Bauteilen (Tragstruktur, Bauteile der Technischen Anlagen wie Zentralen, vertikale und horizontale Verteilung) eine Vielfalt an Halbzeughaus Nutzungsmöglichkeiten bietet, ist flexibel. Konstruktiv gesehen ist die Entflechtung der Bauteile entsprechend ihrer Funktion (zum Beispiel veränderbar, nicht veränderbar) und die lösbare Fügung dieser Bauteile auf der Basis einer geometrischen Ordnung Voraussetzung für jede Art von Flexibilität. Gebäude, die nun aufgrund ihres strukturellen Aufbaues leicht an unterschiedliche Nutzungsanforderungen angepaßt werden können, haben eine längere Lebensdauer als Gebäude, die aufgrund ihres konstruktiven und geometrischen Gefüges nicht oder nur mit hohem Aufwand verändert werden können. Ein flexibles Gebäude ist deshalb in besonderer Weise ressourcenschonend, da es aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit nicht so schnell durch ein neues Gebäude ersetzt werden muß. System Maxi Industriegebäude von USM Münsingen, 1961 Das vom Verfasser in Stuttgart realisierte Wohnund Geschäftshaus zeigt exemplarisch auf (Abb. 4), wie innerhalb einer neutralen Grundstruktur gleichzeitig oder nacheinander Wohnungen bzw. Büros von unterschiedlicher Größe untergebracht werden können, ohne daß bei Nutzungsänderungen größere, in die konstruktive und versorgungstechnische Struktur eingreifende Umbauarbeiten durchgeführt werden müßten. Ein in diesem Sinn flexibel geplantes Gebäude kann auf wechselnde Anforderungen reagieren, lebt deshalb länger und trägt somit wesentlich - das heißt ursächlich - zur Minimierung von Ressourcen bei. Industrielle Herstellung von Gebäuden Die oben beschriebene Entflechtung eines Gebäudes in weitgehend monofunktionale Bauteile und die anschließende geordnete Fügung dieser Bauteile ist auch eine strukturelle Voraussetzung dafür, um überhaupt viele gleiche funktionsreduzierte und deshalb industriell herstellbare Baustoffe zu erhalten. Gerade im Zusammenhang mit der ressourcenschonenden Herstellung und Verarbeitung von Baustoffen wird das industrialisierte Bauen eine neue Renaissance bzw. überhaupt erst seinen Durchbruch erleben. Nur bei Baustoffen, die unter weitgehend kontrollierten Bedingungen, wie sie "im Werk" und nicht auf der Baustelle anzutreffen sind, hergestellt werden, kann der anfallende "Verschnitt", der Bauschutt, der schon bei der Herstellung anfällt, durch Optimierung in der Produktherstellung minimiert werden und der dann noch anfallende Abfall kontrolliert - getrennt - erfaßt und auch entsorgt werden. Gebäude, die ganz oder teilweise industriell hergestellt werden, sind also ressourcenschonender als Gebäude, die vorwiegend auf der Baustelle gefertigt werden. Halbzeuge Halbzeughäuser Vorgefertigte "Montagehäuser", die in ihrem strukturellen Aufbau (geometrische Ordnung, kontrollierte Fügung) den Einsatz industriell hergestellter und auf der Baustelle "trocken" miteinander verbundener Halbzeuge "fördern", sind Gebäude, die offen sind für den Einsatz unterschiedlicher industriell hergestellter Bauteile oder Baukomponenten. Die Anschlußdetails der individuell zusammengestellten Halbzeuge sind - im Gegensatz zu den Baukastensystemen - allerdings nicht genormt sondern abhängig von der jeweils gewählten Kombination der Halbzeuge. Helmut Schulitz hat sich mit der Frage der Integration unterschiedlicher Halbzeuge bereits in den siebziger Jahren auseinandergesetzt und Überlegungen angestellt, welchen "gemeinsamen Nenner" (Maßordnung, Anschlußdetail) Halbzeuge besitzen müßten, damit eine möglichst große Zahl der von unterschiedlichen Firmen hergestellten Halbzeuge gleichzeitig eingesetzt oder miteinander kombiniert werden könnte. Der Prototyp, der auf der Basis dieser Überlegungen entstand, wurde 1976 in Los Angeles errichtet. Baukastensysteme Werden nun die einzelnen Baugruppen durch ein präzises geometrisches, geistiges Ordnungsprinzip so gefügt, daß auch die Anschlußdetails der einzelnen Bauteile "genormt" sind, so ist ein Austausch der Bauteile und ihre Wiederverwendung an anderer Stelle jederzeit möglich. Der Zeitpunkt, an dem ein Bauteil recycelt werden muß, kann in diesem Fall noch weiter herausgeschoben werden. Die zu Zeiten des Postmodernismus und auch heute noch vielfach belächelten Überlegungen von Fritz Haller zu dieser Frage gewinnen im Zusammenhang mit dem "intelligenten" ursachenbezogenen Umgang mit Ressourcen eine neue Aktualität. Die Weiterentwicklung derartiger Systeme zu sogenannten offenen Systemen wie sie von Fritz Haller in Form der Bausysteme "midi", " mini " und " maxi " vorgenommen wurde, erleichtert gerade im lndustriebau die häufig erforderliche Umbautätigkeit, die aufgrund des Systemgedankens durchgeführt werden kann, ohne Abfall zu erzeugen. Ressourcenschonend Konstruieren Strukturelle Überlegungen ähnlich der oben beschriebenen Art müssen auch im weiteren Verlauf der Planung (Werkplanung) angestellt werden. Betrachtet man exemplarisch den möglichen Aufbau von Außenwandkonstruktionen, so kann man zwei Grundtypen unterscheiden: - Mehrschichtige Außenwände bestehen aus fest miteinander verbundenen Schichten. Es handelt sich hierbei um sogenannte "Verbundkonstruktionen" (Wärmedämmverbundsysteme). - Mehrschalige Außenwandkonstruktionen bestehen aus nicht fest miteinander gefügten Schichten, die lösbar sind (z. B. hinterlüftete Fassaden). Das Auflösen von konstruktiven Bauteilen in einzelne voneinander unabhängige Schichten hat natürlich die gleichen Vorteile wie sie schon unter der Rubrik "ressourcenschonend Entwerfen" im Zusammenhang mit der strukturellen Entflechtung dargestellt wurden. Funktional entflochtene Bauteile können demnach leicht auch schichtenweise demontiert, in ihre stofflichen Bestandteile zerlegt und einem sinnvollen Baustoffrecycling zugeführt werden. Auch können derartige Konstruktionen entsprechend der Lebensdauer der Bauteile "gewartet" werden (Auswechseln der Regenhaut, ohne die anderen Konstruktionsteile zu beeinflussen), was bei Verbundsystemen nicht oder nur mit einem vertretbar hohen Aufwand möglich ist. Generell gilt, daß die "Differentialbauweise" (lösbar gefügte Schichten) wesentlich ressourcenschonender ist als die " Integralbauweise" (Verbundbauteile). In diesem Sinne läßt sich ein aus vorgefertigten Bauteilen bestehendes Holz- oder Stahlskelettgebäude, dessen konstituierende Bauteile nur gefügt, nicht aber vergossen sind, zweifellos bei Nutzungsänderungen leichter umbauen bzw. nach Ablauf der Lebensdauer leichter in seine Bestandteile zerlegen als beispielsweise ein fest gefügtes "Massivhaus". Zusammenfassung Eine Verteuerung des Energiepreises durch die geplante CO2-Abgabe hätte sicherlich den Effekt, daß Baustoffe, deren Energieinhalt und damit deren Ressourcenverbrauch hoch ist, sich verteuern und Baustoffe, die mit wenig "Ressourcen" auskommen, billiger werden. Materialsparende und damit ressourcenschonende Konzepte in obigem Sinne, wie sie nur mit harter geistiger Arbeit und großer intellektueller Disziplin entwickelt werden können - das heißt viel mehr Planungszeit benötigen als in der Erscheinungsform vermeintlich "aufwendige" Projekte - werden dann belohnt werden. Wenn also, wie oben beschrieben, gedankliche Arbeit und nicht der sinnlos Materialeinsatz "belohnt" werden würde, dann wird der einzige vernünftige Gradmesser für jedes menschliche Tun endlich auch beim Bauen wieder verstärkt Berücksichtigung finden: Je intelligenter ein Produkt gemacht und erdacht wurde - je mehr der unterschiedlichen auf ein Gebäude einwirkenden Faktoren gleichzeitig unter Ausnutzung synergetische Effekte berücksichtigt werden - desto besser i es bzw. desto mehr Material ist dann durch Geist substituiert worden. Literatur Konrad Weller: Industrielles Bauen 1 und 2, Kohlhammer-Verlag 1986 System Design: Fritz Haller, Hans Wichmann (Herausgeber). BirkhäuserVerlag 1989 DBZ 9/76 http://www.lrz-muenchen.de/~architektur/fachbereich/Professoren/richarz/d_richarz_v... 10.03.2010