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INFORMATIONEN DER
GESELLSCHAFT FÜR
POLITISCHE AUFKLÄRUNG
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WÜRDE UND KULTUR - LOSLASSEN UND FESTHALTEN
Jörg Becker
Was Karl Marx (1818-1883) unter
dem „aufrechten Gang“ versteht und
Sigmund Freud (1856-1939) eine „
ausgereifte Persönlichkeit“ nennt,
kennt die deutsche Verfassung
(1949) als Begriff der „Würde des
Menschen“ im ersten Satz von Art. 1
GG. Und mit dieser deutlichen Akzentsetzung unterscheidet sich politische Philosophie in Deutschland substantiell von der in den USA: Der
politische Leitbegriff in der amerikanischen „Declaration of Independence“ (1776) ist der der „liberty“, also
der Freiheit, nicht der der Würde wie
im kontinentalen Europa.
Menschenwürde meint Autonomie
und Integrität der Person, ist unantastbar, gewährt freie Selbstbestimmung. Behinderungen der freien Bestimmung der Person, Verneinung
von Anerkennung, Respekt, Zuspruch und Förderung durch andere,
führen dazu, dass der Mensch in seiner Würde zwar noch existiert, aber
nur noch in entfremdeter, in depravierter Form.
Menschliche Würde kann sich nicht
unter Bedingungen von Armut entfalten, freilich meint Armut weit
mehr als die Abwesenheit von materiellem Elend. Der algerische Arzt
und Revolutionstheoretiker Frantz
Fanon ging sogar soweit zu sagen,
dass Hunger unter menschenwürdigen Bedingungen besser sei als das
Brot in der Knechtschaft. Menschenwürdige Bedingungen meint zweierlei. Zum einen meint es neben der
materiellen auch die spirituelle Dimension von menschlichem Dasein;
zum anderen geht es um die sozialen
Beziehungen des Einzelnen gegen-
über seinen Mitmenschen. Menschliche Würde braucht Bestätigung
durch andere; das gilt auch für den
Bereich der Menschenrechte. Ein
Recht auf Muttersprache kann nicht
durch sich selbst und mit sich selbst
realisiert werden, sondern nur im
sprachlichen Kollektiv. Dieses muttersprachliche Kollektiv, sei es Familie, Dorf oder Primarschule, kann
man auch Kultur nennen. Anders formuliert: Die positive Erfahrung von
menschlicher Würde ist nicht von der
positiven Erfahrung der eigenen Kultur zu trennen.
Diese Wechselbeziehungen zwischen
Würde, Ich-Entwicklung, Autonomie, Befreiung und Kultur standen
zwischen 1930 und 1960 im Mittelpunkt vielfältiger Theorien. Als Individual- und Sozialpsychologie bildeten sie die notwendige Ergänzung zu
einem ökonomisch verkrusteten Marxismus, dem es eher um eine Aufhebung ökonomischer, kaum einer psychischen Entfremdung ging. Als Existentialismus ging es Albert Camus
(1913-1960), Jean Paul Sartre (19051980) oder Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) um ein in sich stimmiges Leben - jenseits von psychischen Ausbeutungen, Krise, Verzweifelung, Tod, Ekel, Brüchigkeit
und Scheitern. Eine Art Höhepunkt
erfuhren Diskussionen über das
Wechselverhältnis zwischen Würde
und Kultur in den anti-kolonialen
Manifestationen von Selbstbestimmung und Befreiung, sei es in den
USA in den Gedichten der Harlem
Renaissance, in Peru bei José Carlos
Mariátegui (1895-1930), in Italien
bei Antonio Gramsci (1891-1937),
1
im Senegal bei Léopold Sédar Senghor (1906-2001), in der Karibik bei
Aimé Césaire (geb. 1913), in Vietnam bei Ho-Chi-Minh (1890-1969),
in Algerien bei Frantz Fanon (19251961) oder im Iran bei Ali Shariati
(1933-1977). Gegenwärtig steht der
Begriff der Würde im Mittelpunkt
der theoretischen Schriften von Subcommandante Marcos in Chiapas/
Mexiko.
Definiert die politisch Linke ihren
Begriff der Würde über das Marxsche Konzept von Entfremdung,
wurde dieser Begriff im 19. Jh. sogar
zu einem Kampfbegriff der Arbeiterbewegung und mutierte von dort aus
zu einem zentralen Begriff im antikolonialen Befreiungskampf, so verankert die politisch Rechte ihren
Begriff der Würde nicht nur naturrechtlich, sondern verknüpft ihn völkerrechtlich mit dem Selbstbestimmungsrecht und einem Recht auf
Heimat - dies gilt in Deutschland besonders für die Vertriebenenverbände
nach 1945. Es ist also durchaus spannend zu sehen, dass es über diesen
für das Grundgesetz so zentralen
Begriff keinen nennenswerte Dissenz
zwischen Links und Rechts gibt, dass
es bei der Entstehung des Grundgesetzes über diesen Begriff in den Debatten im Parlamentarischen Rat keine Kontroversen gab.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Also nicht: „die Würde des
deutschen Menschen“ oder „die
Würde der Erwachsenen“ oder „die
Würde der Männer“. Der WürdeBegriff des deutschen Grundgesetzes
ist universalistisch, er meint gleichermaßen und gleichwertig die Würde
aller Menschen, auch die von Kindern, Frauen, Behinderten, Homosexuellen, Christen oder Muslimen.
Genauso wenig wie der eigentlich
feudale Begriff der Würde einfach
als überholt und altmodisch abqualifiziert werden kann, genauso wenig
gehören die beiden türkischen Begriffe „Veref“ und „namus“ einfach
und nur der Vergangenheit an. Und
so schwierig die Semantik des deutschen Begriffes Würde ist, so
schwierig ist sie bei diesen beiden
türkischen Begriffen. Sie meinen
zugleich Ehre, Ehrgefühl, Ehrenhaftigkeit, Unbescholtenheit, guter Ruf,
guter Name, auch Achtung, Würde,
Zierde, Ruhm und Stolz. Würde,
Veref und namus: Ist dies vielleicht
eine von mehreren Brücken zwischen
Türken und Deutschen?
Wie wichtig eine politische Theorie
der Würde gerade für Migranten und
neo-kolonisierte Entwicklungsländer
ist, sei hier stellvertretend am Werk
des iranischen Literaturwissenschaftlers Ali Shariati verdeutlicht. Insbesondere in seiner aus den sechziger
Jahren des letzten Jhs. stammenden
Vorlesung „Exploitation und Raffinierung der kulturellen Quellen“ reflektiert Shariati über Würde und Identität, Entfremdung und Ersatzkultur. Der Kolonialismus habe den
Menschen aussereuropäischer Kulturen ihre Würde mit Gewalt genommen. Nur den, dem man die Persönlichkeit weg nähme, könne man auch
versklaven, da man ihn vor sich
selbst zu einer Unperson gemacht
habe. Die massive Zerstörung und
Verzerrung alles Nicht-Europäischen, diese kulturelle Vernichtung
hat nach Shariati für die westlichen
Industrieländer durchaus auch eine
ökonomische Funktion. Der sogenannte Maschinismus des Westens
zwinge diesen zu Überproduktion
und übersättigten Märkten, zum Export in alle Welt. Da westliche Güter
in anderen Kulturen oft jedoch keinen Verwendungszweck hätten,
müssten einheimische Gewohnheiten, Geschmäcker und Gebräuche
gebrochen und durch europäische
ersetzt werden. Eine Umformung des
Einheimischen in Europäer zweiter
Klasse und zweiter Wahl habe sich
auf diese Weise vollzogen. Der Ko-
lonisierte wurde zum Menschen als
Puppe, ohne eigene Würde, von sich
selbst entfremdet, dem man von außen alles überstülpen könne, der die
Fähigkeit verloren habe, eine der eigenen Kultur und Tradition entsprechende Wahl zu treffen. Shariati folgert aus solchen Zusammenhängen:
Nur, wenn wir zu uns selbst zurück
kehren, nur, wenn wir unsere eigene
Geschichte und Kultur kennen, nur
dann haben wir Würde, nur dann haben wir die Kraft zu wählen, nur
dann können wir uns gleichberechtigt
mit dem Anderen, dem Fremden austauschen.
Würde kann also ganz wesentlich
und insbesondere (nicht: nur) in der
eigenen Kultur, in der Symbolwelt
der eigenen Bezugsgruppe, erfahren
werden. Und diese muss sich in polyethnischen Gesellschaften frei entfalten können. Kann sich Würde aber
dort nicht entfalten, weil eigene
Sprache, eigene Massenmedien, eigene politische Symbole, eigene Religion und eigene Traditionszusammenhänge (Kleidung, Essen, Geschlechterrollen, Erziehungsvorstellungen) von der Dominanzgesellschaft nicht akzeptiert oder sogar diskriminiert und z. T. sogar von Mitgliedern der eigenen Gruppe verachtet werden, sind Aggressionen
(gegen die Anderen) und AutoAggression (gegen sich selbst) die
Folge. Vor der Folie eines Mischungsverhältnisses zwischen SichSelbst-Nicht-Leiden-Können
und
Verachtung und Ablehnung durch
den Anderen werden Migrant/innen
in Deutschland integrationsunwillig
und -unfähig gemacht.
Hatte Frantz Fanon über die
„Verdammten dieser Erde“ (1965)
geschrieben, dass der Kolonialismus
seine Opfer psychisch verstümmele,
dass koloniale Kulturkonflikte seine
entmenschlichten Objekte in schizoide Neurosen treibe und diese die Frage nach ihrer Identität nicht mehr beantworten könnten, so sind inzwischen die überdurchschnittlich häufigen psychosomatischen Krankheiten
bei Migrant/innen in Deutschland
von medizinischer Seite gut belegt.
Besonders die bei Migrant/innen überdurchschnittlich anzutreffenden
Hautkrankheiten sind als wortwörtli-
2
cher Ausdruck ihrer Kulturkonflikte
zu interpretieren: „Aus der Haut fahren“ heißt, sich selbst verlieren; „mit
Haut und Haaren“ verweist darauf,
dass das Beziehungsgefüge zwischen
Migrant/in und Dominanzgesellschaft zu dicht sein kann; wenn
„etwas unter die Haut geht“, dann ist
auch dieser Prozess so intensiv und
dicht, dass Identitäten zerstört werden können; wenn man „seine Haut
zu Markte trägt“, wenn man etwas
„mit Haut und Haaren“ tut, dann ist
das alles viel zu viel, es erstickt und
erdrückt, macht kaputt, engt ein und
raubt Selbstbestimmung und Freiheit.
Viele türkische Migrant/innen der
sogenannten dritten Generation haben aus den hier beschriebenen Konflikten inzwischen insofern gelernt,
als sie dynamisch und selbständig
ihre sehr eigenen Wege gehen. Diese
Wege folgen nicht dem des türkischen Vaters, bestehen aber auch
nicht aus Anpassung an die deutsche
Dominanzgesellschaft. Vielmehr folgen sie der hier beschrieben Erkenntnis, dass man mit dem Anderen
nur dann kommunizieren kann, wenn
man mit sich selbst im Klaren ist.
Loslassen können wird als Vorbedingung von Festhalten einfach gelebt.
Gutmeinende Sozialarbeiter und harmonistisch-integrationistische Intellektuelle, universalistische Sozialisten und die eine projektive Fremdenangst kultivierenden deutschen Nationalisten kommen mit der Realität
der Migrant/innen in Deutschland
immer weniger klar, die daran gehen,
ihr Schicksal in die eigene Hand zu
nehmen. Sie nennen solche Tendenzen warnend „Ghettoisierung“ und
„Parallelgesellschaft“. Sie sind nicht
mehr oder noch nicht in der Lage zu
begreifen, dass eine für alle Seiten
sozial- und kulturverträgliche Integration ohne die selbstbestimmte
Möglichkeit von kultureller Selbstvergewisserung der Migrant/innengruppen nicht zu haben ist.
Wenn man all diese Erkenntnisprozesse nachvollziehen kann, sie vielleicht sogar aktiv in politisches Handeln umsetzt, dann, aber nur dann,
kann und muss man sie auch ein wenig relativieren. Nur kann diese Einschränkung erst am Schluss des
Nachdenkens kommen, sie kann den
Nachdenkensprozess nicht einengend
beginnen. In polyethnischen Gesellschaften muss sich der Weg von dynamischer, aktiver und intensiver
kultureller Selbstvergewisserung den
folgenden vier Bedingungen beugen:
1. friedlich, 2. freiwillig, 3. flexibel
und 4. selektiv.
Vielleicht ist dann zwischen „Loslassen“ und „Festhalten“ eine liebevolle Kommunikation so möglich,
wie es im Qur’an in Sure 49, Vers 13
heißt: „Oh, ihr Menschen, wir haben
euch von einem Mann und einem
Weib erschaffen und euch in Völker
und Stämme eingeteilt, damit ihr liebevoll einander kennen lernen
mögt.“
Mi. 24. Juli 2002
Univ.Prof.Dr. Anton Pelinka
Mi. 11. September 2002
FUEV-Präsident Romedi Arquint
Mi. 25. September 2002
Univ.Prof.Dr. Arnold Suppan
Mi. 2. Oktober 2002
Univ.Prof.Dr. Garnitschnig /
Mag. Kramer
Mi. 16. Okt.ober 2002
Univ.Prof.Dr. Pohl /
Univ.Doz.Dr. Jordan
Tel. 042 39/26 42
E-mail: [email protected]
http://www.sodalitas.at
VERBRECHEN, SCHULD UND VERANTWORTUNG
Überlegungen und Eindrücke eines Besuchers der
Wehrmachtsausstellung in Wien
Ende Mai hat die zweite Wehrmachtsausstellung ihre Tore in Wien
wieder zugemacht; die Veranstalter
konnten nach eigenen Informationen
eine erfolgreiche Besucherbilanz
vorlegen. Das Interesse an einem
schwierig, aber wichtig und notwendig aufzuarbeitendem Kapitel der
jüngeren Geschichte war groß. Und
seit einigen Jahren ist für einen
Großteil der österreichischen Bevölkerung auch klar, dass, wenn es um
das nationalsozialistische Deutsche
Reich geht, ab 1938 auch Österreich
(oder wie es so gerne im öffentlichpolitischen Diskurs heißt: das Territorium „Österreich und dessen Bewohner“) gemeint ist. Doch noch immer gibt es – trotz der Erosion und
Revision der mythologisierten
„Opferthese“ – eine gewisse relativierende Haltung und Einstellung,
was die Mitschuld Österreichs an den
Verbrechen des Dritten Reiches, und
damit auch jenen der Wehrmacht,
betrifft (1), abgesehen einmal von
dem harten Kern der Revisionisten.
Die neu konzipierte Ausstellung
„Verbrechen der Wehrmacht: Dimensionen des Vernichtungskrieges
1941-44“ selbst ist das Produkt einer
Auseinandersetzung über die erste
Ausstellung zum selben Thema, die
in den 90er Jahren gezeigt wurde.
Philipp Kainz
Aufgrund von zum Teil sehr polemisch geführter und überzogener
Kritik, vor allem an mangelhaften
oder fehlenden Quellenangaben zu
Bilddokumenten - den Organisatoren
und Ausstellungsmachern wurde unter anderem vorgehalten, mit allen
Mitteln eine Demontage der Wehrmacht und der Wehrmachtssoldaten
zu betreiben -, stoppte der Mentor
und Financier der Ausstellung, Jan
Philip Reemtsma, die Ausstellung
und unterzog sie einer Überprüfung
durch ein Gremium von Experten.
Der Evaluierungsbericht relativierte
zwar die Vorwürfe zu wesentlichen
Teilen, das Ergebnis der durch die
öffentliche Polemik initiierten Neukonzipierung ist nun dennoch eine
komplett überarbeitete Ausstellung.
Diese geht – wie ihre Vorgängerin –
wieder auf Wanderschaft und soll in
mehreren Städten des deutschsprachigen Raums zu sehen sein. Da ich
die erste – und umstrittene – Ausstellung nicht gesehen hatte, kann ich
nur von der zweiten sprechen.
Im Mittelpunkt – und somit Ausgangspunkt – der Ausstellung steht
die Frage nach dem verbrecherischen
Charakter der Wehrmacht. Diese Fokussierung ist – zumindest im in
Wien gezeigten Design - nicht nur
thematisch, sondern auch räumlich
3
ersichtlich: die Tafeln zum Thema
„Krieg und Recht“ befinden sich im
zentralen Ausstellungsbereich. Gibt
es so etwas wie „Recht“ in Zeiten
von Krieg? Oder liegt es nicht in der
Natur der Sache, dass kriegerische
Auseinandersetzungen
Unrecht
zwangsläufig mit sich bringen? Sind
Kriege nicht schlechthin furchtbar
und schrecklich, so dass eine Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht zynisch klingt? Das Kriegsrecht
hat im Völkerrecht eine lange Tradition, und die Ausstellung zeigt, welche minimalen Standards damals
schon üblich waren (das betrifft z.B.
die Behandlung von Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung). Diese
völkerrechtlichen Vereinbarungen –
oftmals kodifiziertes Gewohnheitsrecht – dienen als Hintergrundfolie,
vor der die Verbrechen der Wehrmacht ersichtlich werden, weil die
Kriegsführung des Dritten Reiches
bewusst von den geltenden völkerrechtlichen Grundsätzen abwich.
Als zweites Merkmal, um von
Verbrechen der Wehrmacht zu sprechen, ist die systematische Vorgehensweise zu nennen: Es waren nicht
bloß vereinzelte, unkoordinierte,
spontane und nicht genehmigte Aktionen, sondern sie waren geplant und
wurden gebilligt. Es gab systematische Erschießungen von Partisanen,
ebenso systematisch wurde auch
verbrecherisch gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen, die nicht nur
als Geiseln diente, sondern auch unter den Repressalien (2) der Wehr-
macht und dem Ernährungskrieg zu
leiden hatte: alle Ressourcen sollten
für das deutsche Volk und die
Kriegsmaschinerie bereitgestellt werden. Und die Wehrmacht beteiligte
sich massiv am Völkermord an den
Juden und anderen als minderwertig
bezeichneten Bevölkerungsgruppen.
Hier wird die Einbettung der Wehrmacht in die Rassenideologie des
Nationalsozialismus besonders deutlich. Die Wehrmacht stand mitten im
NS-System und war Teil davon. Zur
Erreichung des Ziels, Europa „judenfrei“ zu machen, hatte auch der
Soldat an der Front seinen Beitrag zu
leisten. Kein Pardon, keine Gnade,
die als „falsche Mitmenschlichkeit“
bezeichnet wurde – so lautete auch
der „Führerbefehl“. Mit den „Unterrassen“ wurde unmenschlich und
zynisch verfahren, dass sie als minderwertig eingestuft wurden, zeigen
auch die Dokumente, die den Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen belegen: Katastrophale hygienische Zustände, die Epidemien geradezu provozieren, bewusste Unterernährung und sogar medizinische
Versuche sowie Einsatz zur oft todbringenden Zwangsarbeit.
Was die Systematik von nationalsozialistischen Kriegsverbrechen – in
Umgehung damals geltender Völkerrechtsnormen – angeht, scheint es
keinen Zweifel zu geben. Die Ausstellung ist – in Reaktion auf die Polemik um die Bilddokumente der ersten Wehrmachtsausstellung – sehr
textorientiert. Sie versucht nicht,
durch Fotografien, die Verbrechen
der Wehrmacht auf „dramatische
Weise“ zeigen, die Auseinandersetzung der BesucherInnen mit der Ausstellung soll über das Wort erfolgen.
Ich hatte den Eindruck, als wollte
man eine zu starke Emotionalisierung über das Medium Bild vermeiden. Das Furchtbare und Verbrecherische kommt in der Reflexionsarbeit
des Besuchers/ der Besucherin im
Zusammenspiel von zahlreichen –
auch filmischen – Originaldokumenten, wissenschaftlichen Kommentaren und spärlichen Fotos zum Vorschein. Die Ausstellung setzt auf
distanzierte, wissenschaftliche Präsentation. Die AusstellungsmacherInnen weisen auch darauf hin, dass
es nicht für das gesamte Kriegsgebiet
im Osten und Südosten Europas Belege für Wehrmachtsverbrechen gibt.
Die Wehrmacht als Institution hat
Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Inwieweit sich der
einzelne Soldat dem entziehen konnte, welche Handlungsspielräume – so
auch der Titel eines Ausstellungsbereiches – es gab, auch davon erzählt
die Ausstellung. Sie stellt unterschiedliche Biographien nebeneinander: Es gab Menschen, die trotz Befehlsausführung ihre Menschlichkeit
bewahrten, die desertierten und nicht
an den Verbrechen mitwirken wollten, oder die sogar versuchten, Menschen vor der Vernichtung zu bewahren mit dem Risiko, erwischt und
exekutiert zu werden. Aber es gab
auch Menschen, die den Befehl verinnerlichten, an die „Mission“, an
das „Herrenmenschentum“ glaubten
und bis ans Äußerste Befehle ausführten. Dieser Teil der Ausstellung
ist auch deshalb so wesentlich, weil
er nicht nur den militärischen Apparat und dessen Führung anklagt, sondern die Frage der Verantwortung
jedes einzelnen Soldaten stellt. Konkretes Handeln – auch in Uniform –
scheint immer mehrere Möglichkeiten zu beinhalten. Wenn auch sicherlich unter schwierigen und zum Teil
lebensbedrohenden Bedingungen,
wird deutlich, dass es auch in dieser
Kriegssituation Entscheidungsalternativen gab.
Und diese Frage nach der Verantwortung des Individuums erhitzt dann
auch die Gemüter in der öffentlichen
Debatte. In jenem Teil, in dem sich
die Ausstellung selbstreflexiv zum
einen mit der ersten Wehrmachtsausstellung und zum anderen mit politischen Polemiken, die mit der Rolle
der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg verbunden wurden, auseinandersetzt, findet man dafür einige Beispiele. Es geht letztlich darum, wie
viel die Kriegsgeneration wusste und
in welchem Ausmaß sie an Verbrechen beteiligt war. In einer Debatte
des deutschen Bundestages über die
erste Ausstellung kommt deutlich
zum Ausdruck, wie tief der Riss
durch die Familien bis heute geht,
wie schwierig es ist, Großväter oder
Väter im Lichte der „Mittäterschaft“
4
zu sehen. In dieser als „Sternstunde
des Parlaments“ bezeichneten Sitzung ringen die Abgeordneten mit
sich, der Vergangenheit ihrer Familie
und der Konfrontation mit den Erkenntnissen der Geschichte.
In Österreich hingegen kam der ehemalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk nach dem Besuch der zweiten Ausstellung in der Sendung
„Betrifft“ zum Schluss, die OrganisatorInnen hätten doch über der gesamten Ausstellung eine Tafel anbringen
können, dass nicht der einzelne Soldat als Verbrecher dargestellt wird:
also wiederum der Wunsch nach Absolution für alle, anstatt kritischer
Aufarbeitung, die die Ausstellung
nur anregt. In derselben ORF-Sendung konnte auch Lothar Höbelt, Geschichtsprofessor an der Universität
Wien, seine Relativierungsthese vom
Typ „Der Krieg ist schrecklich. Alle
sind Opfer“ kundtun. Und am 8.
Mai – dem Tag der Kapitulation des
Dritten Reiches – erinnerte eine
Gruppe aus Deutschnationalen, Burschenschaftern und Rechtsextremen,
angeführt von höchsten FPÖRepräsentanten, am Wiener Heldenplatz an die Gefallenen des 2. Weltkriegs. Eine kritische Kultur des Erinnerns, der eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte
voraus geht, ist noch nicht selbstverständlicher Teil der politischen Kultur Österreichs. Ausstellungen wie
diese werden daher auch in Zukunft
notwendig sein, damit differenzierte
Perspektiven anstelle von SchwarzWeiß-Malereien treten.
Anmerkungen
(1) Die Beteiligung von Österreichern an den
NS-Verbrechen wird zwar nicht geleugnet
wird; aber es wird dennoch so darüber gesprochen, als ob die Masse der Bevölkerung
davon unberührt war. In diesem Zusammenhang ist etwa auch das Interview von Bundeskanzler Schüssel in der „Jerusalem Post“
vom Herbst 2000 zu verstehen, in dem er zu
Beginn erneut klarstellt, dass Österreich als
Staat Opfer von Hitlers Aggressionspolitik
gewesen sei.
(2) Zivilpersonen wurden z.B. als Geiseln
genommen, um die in einem Ort vermuteten
Partisanen zur Aufgabe zu bewegen. Bei einem Angriff auf Institutionen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches bzw. dessen
Repräsentanten wurden diese Geiseln als
Vergeltungsmaßnahme erschossen, wobei pro
getötetem deutschen Soldat bis zu 10 Zivilpersonen hingerichtet wurden.
kung und Mitverantwortung Wehrmachtsangehöriger bei. Die AusstelMichaela Mayrhofer lung ist in sechs Themenkomplexe
gegliedert: "Sowjetische Kriegsgesahen die GegnerInnen der Ausstel- fangene“, "Partisanenkrieg", "Völlung den Beweis erbracht, dass diese kermord", "Repressalien und Geiselkeinerlei Legitimität besitze und so- erschießungen", "Ernährungs-krieg"
mit auch die Grundthese falsch sein und "Deportationen und Zwangsarbeit". Die Konzeption der Ausstelmüsse.
Der Leiter des Hamburger Instituts lung verlangt von den BesucherInnen
für Sozialforschung, Jan Philipp viel Zeit – die Textlastigkeit wird
Reemtsma, beauftragte eine Histori- aber durch Landkarten, Tonbandkerkommission, den Anschuldigun- und Videoabspielungen (zeitgegen nachzugehen. Ein Jahr später schichtliches Material bis hin zu
stellte die Kommission folgende Spielfilmausschnitten, die mit AkriPunkte fest: Erstens, sachliche Feh- bie oftmals doppelt belegt sind) aufler, zweitens, Ungenauigkeiten und gelockert. Tondokumente aus jener
Flüchtigkeiten bei der Verwendung Zeit, auf die sich die Ausstellung bedes Materials und drittens Kritik an zieht, werden in Glaskabinen (ausgeder Art der Präsentation und teilwei- stattet mit Stuhl, Tisch und Kopfhöse allzu pauschale und suggestive rer), die an das Nürnberger Tribunal
Aussagen. Fälschungen im Sinne der oder heute an Den Haag erinnern lasGrundthese sind nicht festgestellt sen, hörbar. Die Schau „Verbrechen
worden, und die Kommission emp- der Wehrmacht. Dimensionen des
1941-1944“
fahl eine Überarbeitung und Neuges- Vernichtungskrieges
versucht selbst Konsensgeschichte zu
taltung, was denn auch geschah.
schreiben, denn sie nimmt Kritik
ernst, was unter anderem durch die
Die zweite Ausstellung:
(Öffentlichkeits-)Politik der neuen
„Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges Ausstellungsleiter-in Ulrike Jureit
deutlich wird.
1941-1944“
Die neue Ausstellung zog „Ver- Was man aktiv im Semperdepot beobrechen der Wehrmacht“ an die erste bachten konnte, war einerseits das
Stelle des Titels, dokumentiert den rege Treiben diverser SchülergrupKrieg auf Grundlage des damals gel- pen, welche mit mehr oder weniger
tenden, Kriegs- und Völkerrechts, großem Interesse außerhalb des Klasund ist nach ihrem Selbstverständnis senzimmers durch eine Führung beeine eigenständige Schau: Sie vertritt lehrt wurden, und andererseits das
wohl die gleiche These, ist vom glei- stille Beschauen der Bilder und Textchen Institut veranstaltet, nur wegen dokumente durch Menschen der älteden Kontroversen um die erste Schau ren Generation, vielfach ehemalige
überhaupt entstanden und ruft wei- Wehrmachtsangehörige. Es sei an
testgehend die gleichen Reaktionen dieser Stelle angemerkt, dass die Alhervor. Dennoch muss sie tatsächlich tersklasse zwischen 30 und 60 in der
als eigenständige Ausstellung be- Minderheit zu sein schien, ja gar
trachtet werden: Nicht nur, da die fehlte.
Ausstellung eine völlige Neukonzeption darstellt, sondern weil sie die Die Demonstrationen und die
erste Wehrmachtsausstellung mit in Wehrmachtsausstellungen
die Debatte einbindet. Dadurch eröff- Im Gesamten war die Ausstellung
net sie eine neue Dimension, da sie sehr gut besucht, ebenso jene Dedie Aktualität des Sujets verdeutlicht monstrationen, die sich mit einigen
und sich selbst durch die Bezugnah- tausend TeilnehmerInnen gegen die
me auf die Vorgängerin zum histo- letztlich rund 120 GegnerInnen der
risch-wissenschaftlichen
Thema Wehrmachtsausstellung richteten, die
macht. Sie ist textlastig konzipiert, sich am 13. April 2002 am Wiener
beansprucht, die Ungenauigkeiten Heldenplatz zu einer Protestkundgeder Ersten korrigiert zu haben, und bung eingefunden hatten. Ich will
behält die gleiche These von Mitwir- hier nicht über die Rolle der Polizei
ÜBER DIE AKTUALITÄT VON GESCHICHTE UND MEINUNG
In nahezu klinischer Sterilität präsentierte das Hamburger Institut für Sozialforschung seine zweite Ausstellung, um dem noch immer existenten
Mythos einer „sauberen Wehrmacht“
erneut entgegenzutreten. Jenem Mythos also, der gerade in Österreich
doppelt schwer wiegt, als er der Opferthese zu sekundieren scheint, und
die Notwendigkeit nach Aufklärung
verdeutlicht. Wie aktuell nun aber
Geschichte tatsächlich sein kann,
manifestierte sich am 13. April am
und um den Heldenplatz, als GegnerInnen und BefürworterInnen der
Ausstellung ihre Meinung kundtaten,
sich beiderseits ausdrücklich auf die
beiden Wehrmachtsausstellungen
beriefen und sich somit die Frage
stellt: Hatten die DemonstrantInnen
beider - frau möchte fast sagen Lager, jene besucht? Muss mensch überhaupt eine der beiden Ausstellungen gesehen haben, um für oder gegen sie zu sein?
Die erste Ausstellung:
„Vernichtungskrieg. Verbrechen
der Wehrmacht 1941-1944“
Die erste Wehrmachtsausstellung
wurde zwischen 1995 und 1999 in 33
Städten in Österreich und Deutschland unter dem Titel „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht
1941-1944“ gezeigt. Ihre Grundthese, dass Soldaten der Wehrmacht an
der Planung und Durchführung des
Vernichtungsfeldzuges der Nationalsozialisten im Osten beteiligt gewesen waren, erregte die Gemüter. Was
unter HistorikerInnen als unumstritten gilt, stieß manchem gar sauer auf,
da die These als Pauschalverurteilung der Soldaten der Wehrmacht
missinterpretiert wurde. Einige ehemalige Wehrmachtsangehörige fühlten sich angeklagt und fälschlich verurteilt, Neonazis sahen ihre Helden
diskreditiert, einige andere stießen
sich an der Bild-Konzeption und
wieder andere betrachteten die Existenz einer Gegnerschaft zur Ausstellung an sich als Skandal. Als schließlich einige der gezeigten Bilder als
falsch zugeordnet erkannt wurden,
5
sprechen, oder über das NichtVerbieten einer Kundgebung, zu der
viele rechtsextreme Gruppen aufgerufen hatten, auch nicht über die
Konfusion um den/die Treffpunkt(e)
des Protestzuges, vielmehr will ich
nun erneut die Frage stellen, ob
mensch die beiden Ausstellungen
gesehen haben muss, dafür oder dagegen Position beziehen zu können.
Wenn jemand die erste Ausstellung
nicht gesehen und noch nie etwas
von dieser gehört hat, dann kann er/
sie sich im Rahmen der neuen Ausstellung ein Bild von ihr machen.
Wenn jemand beide Ausstellungen
nicht besichtigt hat und dennoch demonstriert, so kann ich annehmen,
dass entweder viel über diese gelesen
worden ist, oder wenig bis gar nichts,
wobei beides, „entweder“ und
„oder“, mich zu dem Schluss kommen lassen, dass mensch aus Motiven des Protests gegen Neonazis u.ä.
auf die Straße ging. Dennoch und
gerade wenn mensch sich auf etwas
so konkret bezieht (besonders im öffentlichen Raum), wie auf die beiden
Wehrmachtsausstellungen, kann ein
echtes Differenzieren und damit Entkommen aus einem vereinfachenden
Geschichtsbild nur dann möglich
sein, wenn zuvor eine Auseinandersetzung erfolgt ist. Eben jene Auseinandersetzung erlaubt erst eine seriöse Zuordnung von Bildern und Meinungen.
Die Antwort lautet also, dass zumindest eine der Ausstellungen gesehen
worden sein oder eine Konfrontation
mit ihnen stattgefunden haben und in
einem zweiten Schritt der eigenen,
selbstgebildeten Anschauung vertraut
werden sollte. Aufbereitete Geschichte wie in den beiden Ausstellungen folgt dem Anspruch einen
Zugang zu einem Thema aufzuzeigen. Dieser kann angenommen oder
abgelehnt werden, aber was zum
Schluss bleibt, ist die persönliche
Meinung.
Weiterführendes:
http://science.orf.at/science/news/48772
h ttp : //www .doew . a t/p ro jekt e / r e ch t s /
chronik/2002_04/demo.html siehe auch.../
demo3.html und .../demo4.html
http://www.wehrmachtsausstellung.de/
http://www.verbrechen-der-wehrmacht.de/
Balkenohl, Stephan: Die Kontroverse um die
Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen
der Wehrmacht 1941 bis 1944" in Münster:
eine qualitative Auswertung der Reaktionen.
Geschichte 28. (Münster 2000).
Bohlinger, Roland (Hg.): Gescheiterter Verleumdungskrieg: die Ausstellung "Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht
1941 - 1944" - Gegengründe, Hintergründe
(o.O 2001).
Gaisbauer, Helmut P.: Der politische Diskurs
zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" in Österreich (Diplomarbeit, Salzburg 2000).
Hamburger Institut für Sozialforschung
(Hg.): Verbrechen der Wehrmacht: Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 – 1944.
Ausstellungskatalog (Hamburg 2002).
Klundt, Michael: Geschichtspolitik: die Kontroversen um Goldhagen, die Wehrmachtsausstellung und das "Schwarzbuch des Kommunismus". PapyRossa-Hochschul-schriften
34 (Köln 2000).
Mostbauer, Rainer: Die politische Kultur in
Österreich und die Kontroverse über die Ausstellung "Vernichtungskrieg, Verbrechen der
Wehrmacht 1941 bis 1944" (Diplom-arbeit,
Wien 2001).
Anmerkung
Die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" ist vom 9. April bis zum 26. Mai 2002
im Atelierhaus der Akademie der Bildenden
Künste in Wien (Semperdepot) gezeigt worden.
Im Anschluss an die Kundgebung zogen ca.
100 Teilnehmer - mehrheitlich Skinheads durch die Innenstadt und skandierten "Sieg
Heil!" und "Deutschland den Deutschen,
Ausländer raus!".
Rezension
Johannes Hürter: Ein deutscher General an der Ostfront. Die Briefe und
Tagebücher des Gotthart Heinrici
1941/42, Erfurt: Sutton, 2001
Max Schneider
„Nachdem wir die Russen so unerwartet überfallen haben ...“ schrieb
General Heinrici an seine Frau aus
der damals besetzten Sowjetunion
am 23. August 1941. Heinrici kommandierte damals ein Armeekorps.
Später wurde er kommandierender
General einer Armee.
Wie ist es zu verstehen, dass ein
deutscher General, der kein Nationalsozialist war, im persönlichen Umgang wahrscheinlich ein honoriger
Mann, nach dem Überfall auf die
Sowjetunion 1941 am völkermörderischen Vernichtungskrieg führend
beteiligt war, ohne gegen die zuneh-
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mende Verrohung und Brutalisierung
und den völligen Zivilisationsbruch
durch die deutsche Wehrmacht Widerstand zu leisten? Der Autor gebraucht den Begriff der „Teilidentität
der Ziele“ zwischen sehr vielen der
hohen Offiziere und der NSBewegung und illustriert das an ca.
100 Seiten Aufzeichnungen, die
Heinrici 1941/42 aus dem besetzten
Polen und der Sowjetunion als Briefe
an seine Frau geschickt hatte, mit der
Aufforderung, diese für später aufzubewahren. Er hat diese Tätigkeit lange Zeit weiter geführt.
Die Wurzeln der Haltung Heinricis
findet der Autor in Herkunft und Sozialisierung, typisch für viele seiner
Offizierskameraden. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren,
protestantischer Preuße, entstammt er
der staatstragenden Schicht aus Herkunft und Besitz, Bürokratie und Militär, Kirche und Bildung. Der Vater
war evangelischer Generalsuperintendent und Mitglied des chauvinistischen, antisemitischen Alldeutschen
Verbands. Heinrici lebte bis zur Matura im kleinstädtischen Milieu nahe
der russischen Grenze. Die Sorge der
ostpreußischen Bevölkerung vor
der „Russengefahr“ nährte antislawische Ressentiments. Der latente Antisemitismus in ostelbischen Kirchenkreisen tat das seine.
Prägend für Heinrici war seine Erziehung im kaiserlichen Heer, das elitäre Standesbewusstsein seines preußischen Regiments, Kriegs- und Revolutionserlebnis 1914-19 und von Mitte 1918 an die Furcht vor und der
Hass auf die Revolution. Tagebuch
15.10 und 16.10.1918: „... unser ganzes altes Vaterland ist eingestürzt.
Uns regiert jetzt eine Clique von Juden und Sozialisten, der die Internationale über alles geht.“ Wie selbstverständlich setzte er seine Laufbahn als
Berufsoffizier fort. Er teilte mit vielen seiner Kameraden den Hass gegen die Weimarer Republik, gegen
die „Roten“ und vor allem gegen „
Bolschewiken und Juden“. Der
Wunsch nach einem autoritären starken Staat war all diesen Wehrmachtsoffizieren selbstverständlich.
Als Hitler 1933 Kanzler wurde, fand
Heinrici schon die ersten Regierungsmaßnahmen sehr positiv. In ei-
nem Brief an seine Eltern (2.6.1933)
heißt es: „Erst wenn Hitler das ganze
deutsche Volk militarisiert haben
wird und wir selbst wieder eine
Macht darstellen, dann wird es die
Miesmacher nicht mehr geben. Das
werden die Nazis dann schon austreiben, das Volk werden sie schon zu
führen wissen.“ Und fast zur gleichen Zeit: „Militärisch haben wir so
ungeheuer viel von der neuen Regierung, sie unterstützt alle militärpolitischen Belange in so hohem Maß, wie
wir es nur wünschen können.“ Am
27.2.1938 in einer Rede vor Rekruten: „... Die Grundsätze, die unsere
neue Wehrmacht Ihnen zu vermitteln
bestrebt
ist,
die
die
NSWeltanschauung aus dem Geist des
Soldatentums geboren, Ihnen immer
wieder nahe bringt.“
Heinrici war nicht Mitglied der
NSDAP. Im Jänner 1939 war er als
Divisionskommandeur Ehrengast bei
einer Parteiveranstaltung und notierte
über Rosenbergs Rede: „Er sprach
eine Stunde über die gräulichen Juden. Die Judenfragen sei erst gelöst,
wenn es keine Juden mehr in
Deutschland gäbe und sie seien entschlossen, dies auch durchzusetzen.
Am besten wäre es, wenn in ganz
Europa überhaupt keine Juden mehr
sei.“ Im April 1933 hatte Heinrici
den pogromartigen Boykott jüdischer
Geschäfte als eine unglückliche
Maßnahme, die zu vielen Ungerechtigkeiten und Kränkungen führen
muss, kritisiert, um wenige Tage später einzuschränken: „Größe rechtfertigt notwendige Zwangsmaßnahmen,
auch manche Härten.“
Im April 1941 kam er aus Frankreich
nach Polen, um an der Vorbereitung
des Überfalls auf die Sowjetunion
teilzunehmen. Die ersten Briefe an
seine Familie (22., 25., 30. April)
zeigen, wie tief eingefressen der Judenhass und übrigens auch die Verachtung der Slawen war: „Schlechtes
Wetter. Wanzen und Läuse laufen
überall herum. Ebenso schreckliche
Juden mit Davidsternen am Ärmel.“
Drei Tage später: „Polen und Juden
tun Sklavendienste. Sie arbeiten Tag
und Nacht. Rücksichten werden auf
sie nicht genommen.“ Am 30. April: „In den Judengassen stinkt es so,
dass man nach dem Durchgehen sich
die Nase putzen und ausspucken
muss, nur um den eingeatmeten
Dreck loszuwerden.“ Am 5. Dezember 1941 schrieb er über seine Soldaten: „Ich bemühe mich, diese durchgefrorenen, schlecht bekleideten,
verhungerten, ungewaschenen und
verdreckten Menschen aufzurichten.
Wenn diese Leute der Russe sieht,
muss er keine hohe Meinung mehr
von unserer Truppe haben.“ Ob
Heinrici wohl bewusst war, dass er
einige Monate vorher „die Juden“
genauso beschrieben hat, wie nun
seine Soldaten, nur unter Weglassung des Wortes „stinkend“.
Am 21. Juni nahm das Armeekorps
unter Führung Heinricis am Überfall
auf die Sowjetunion teil. Die ersten
Wochen des Vormarsches, die gewaltigen Erfolge der deutschen
Wehrmacht, ließen die Verachtung
und Geringschätzung der „Russen“,
des sowjetischen Gegners, als berechtigt erscheinen. Die Ausplünderung der Bevölkerung und des eroberten Landes begann mit dem ersten Tag. Am 23. Juni schreibt er nach
Hause: „Überall nehmen unsere Leute ... den Bauern die Pferde weg. In
den Dörfern großes Geheul und
Wehklagen. So wird die Bevölkerung ‚befreit’. Das Land muß allerdings auch genügend hergeben. Hühner, Schweine und Kälber lassen in
reichlichem Maß ihr Leben.“ Einige
Wochen später zum selben Thema: „... Wir selbst leben aus dem
Lande. Die Truppe lebt sonst nicht
schlecht. Sie futtert einfach das Land
leer.“
Kein Wunder, dass der Widerstand
wächst, auch die Zahl der Partisanen,
zunächst mit Hasse und Verachtung
betrachtet. Am 20. Juli schreibt er
nach Hause: „Die russischen Partisanen sind besonders hinterlistig, sie
werfen sich in den Kornfeldern hin,
stellen sich tot und schießen von hinten auf unsere Leute. Die machen sie
dann erbittert nieder. Einige Monate
später ändert sich der Ton: Die
Standhaftigkeit der Partisanen beeindruckt alle. Niemand verrät etwas.
Fast immer leiden diese Leute mit
stoischer Gleichmut den Tod. Sie
verraten nichts und sagen nie etwas
aus. Sie antworten nur, wenn sie im
stundenlangen Verhör überführt sind.
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Ein 18jähriger knüpfte sich selbst die
Schlinge, rief ‚Ich sterbe für den
Kommunismus!’ und sprang hinein.
Solche fanatischen Kämpfer des
Kommunismus gibt es in Menge.“
Die Einschätzung der Russen ändert
sich zunehmend. Skeptische Bemerkungen tauchen auf. 1. August: „Es
haben sich alle in den Russen verschätzt.“ Am 23. August hatte er
nach Hause berichtet: „Es scheint in
Russland alles unter einem furchtbaren Terror zu stehen ... nachdem wir
die Russen so unerwartet überfallen
haben kann man sich vorstellen, dass
viele, eben auch nicht gleichdenkende, aus Vaterlandsliebe auf Stalins
Seite treten ... der Krieg hier kommt
uns sehr teuer. Ob er wirklich nötig
war?“
Nach weiteren militärischen Erfolgen
gibt es auch wieder andere Töne. Im
Oktober 1941 hofft er auf die Eroberung Moskaus und schreibt an seine
Frau: „Ob wir in das Kommunistennest hineingehen oder es verhungern
und erfrieren lassen ... werden wir
erst sehen. Wegen der Weihnachtsgeschenke aus Moskau mach Dir keine
Sorgen.“ Am 5. Dezember 1941 begann die erste erfolgreiche Gegenoffensive der roten Armee, der Vormarsch der deutschen Wehrmacht
wurde zum ersten Mal gestoppt.
Schon vorher, aber besonders von da
an, finden sich auch andere Töne in
Heinricis Briefen. Am 15. November
1941 erste Kritik: „Guderian hat uns
gegen unseren Widerspruch in ein
Unternehmen hineinjagt, dass sich
totlaufen musste und uns nun schwere Verluste kostet.“ Am 6. Dezember
berichtet er, die Kampfregimenter
seien in bitterster Stimmung, Anklage auf Anklage gegen die oberste
Führung, die nicht rechtzeitig erkannt hat, wann ein Ende gefunden
werden muß. Noch im Deuember notiert Heinrici: „Jetzt ist auch der obersten Führung die Gefahr klar.
Vorher hat niemand auf die Warnrufe
gehört. Nun heißt es ‚Opfert Euch!’
um die Lage wieder gut zu machen.“
Am Weihnachtstag schreibt er nach
Hause: „Das Verhängnis schreitet
fort und oben in Berlin an oberster
Stelle will niemand es sehen. Wen
die Götter verderben wollen, den
schlagen sie mit Blindheit ... der Frü-
her will es nicht glauben.“ Am 1.
Jänner 1942 besucht ihn General Felber, Kommandeur der benachbarten
Armee und notiert in seinem Tagebuch am 2. Jänner: „Der Krieg ist
verloren.“ Um so unverzeihlicher,
dass diese Generäle praktisch bis
zum Ende den Krieg engagiert mittrugen.
Die bedingungslose Verachtung der
Russen, Bolschewiken und Juden
und anderer, der Glaube an den Endsieg, machten wenige Wochen nach
dem Einmarsch in der Sowjetunion
1941 und nach den ersten Niederlagen im Dezember vor Moskau einer
gewissen Unsicherheit und Skepsis
Platz. Heinrici war als hochrangiger
Kommandeur mitbeteiligt am Werteverfall, am Bruch aller Tabus, wahrscheinlich als Ausfluß seiner zumindest ursprünglichen Billigung des
Rassenkriegs und der Errichtung eines Herrenvolksregimes mit allem,
was das NS-Regime mit sich brachte.
Er musste 1942 bereits die Unausweichlichkeit der Niederlage erkannt
haben. Die Treue zu einem Führer,
dem man eigentlich nicht mehr ver-
trauen konnte, sein Soldateneid waren ihm wichtiger, als die moralische
Verantwortung gegenüber seinen
Soldaten und dem deutschen Volk.
Ende April 1942 geriet er mit den
Feldmarschällen Keitel und Jodel in
Konflikt, weil er als Folge ihrer Befehle sinnlose Menschenopfer befürchtete, die er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte. Aber
statt Befehlsverweigerung und eigenmächtigem Handeln wählt er den
Ausweg, von seinem Posten zurückzutreten. Die Männer, die er geführt
und im April 1945 verlassen hatte,
konnten nicht demissionieren. Wenn
er seiner Frau im Mai 1945 in einem
Brief von seiner inneren Erschütterung, seinen seelischen Qualen,
Zweifeln und inneren Kämpfen berichtet, dass Gehorsam, Gewissen
und eigene Überzeugung miteinander
gerungen hätten, so mag diese in
Retrospektive ehrlich sein – genutzt
hat es außer ihm niemanden.
General Heinrici begab sich nach
Kriegsende offenbar in englische
Kriegsgefangenschaft (28. Mai 1945,
Flensburg) und kehrte im Mai 1948
nach Deutschland zurück.
Vor einigen Jahren hat ein Vortragender der österreichischen Landesverteidigungsakademie die These
vom „Präventivschlag“ der deutschen Wehrmacht vertreten. Ihm und
seinesgleichen wäre die Lektüre der
Briefe Heinricis zu empfehlen.
Beiträge von:
Univ.Prof.Dr. Jörg Becker, Politikwissenschaftler, Universität
Marburg
Philipp Kainz, Student der Politikwissenschaft, Universität Wien
Michaela Mayrhofer, Studentin
der Politikwissenschaft, Universität Wien; Mitarbeiterin von Radio
Stimme
Max Schneider, ehem. Widerstandskämpfer, Wien
Die GFPA im Internet
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