*HVHOOVFKDIW IU 32/,7,6&+( INFORMATIONEN DER GESELLSCHAFT FÜR POLITISCHE AUFKLÄRUNG $8)./b581* 1U-XQL WÜRDE UND KULTUR - LOSLASSEN UND FESTHALTEN Jörg Becker Was Karl Marx (1818-1883) unter dem „aufrechten Gang“ versteht und Sigmund Freud (1856-1939) eine „ ausgereifte Persönlichkeit“ nennt, kennt die deutsche Verfassung (1949) als Begriff der „Würde des Menschen“ im ersten Satz von Art. 1 GG. Und mit dieser deutlichen Akzentsetzung unterscheidet sich politische Philosophie in Deutschland substantiell von der in den USA: Der politische Leitbegriff in der amerikanischen „Declaration of Independence“ (1776) ist der der „liberty“, also der Freiheit, nicht der der Würde wie im kontinentalen Europa. Menschenwürde meint Autonomie und Integrität der Person, ist unantastbar, gewährt freie Selbstbestimmung. Behinderungen der freien Bestimmung der Person, Verneinung von Anerkennung, Respekt, Zuspruch und Förderung durch andere, führen dazu, dass der Mensch in seiner Würde zwar noch existiert, aber nur noch in entfremdeter, in depravierter Form. Menschliche Würde kann sich nicht unter Bedingungen von Armut entfalten, freilich meint Armut weit mehr als die Abwesenheit von materiellem Elend. Der algerische Arzt und Revolutionstheoretiker Frantz Fanon ging sogar soweit zu sagen, dass Hunger unter menschenwürdigen Bedingungen besser sei als das Brot in der Knechtschaft. Menschenwürdige Bedingungen meint zweierlei. Zum einen meint es neben der materiellen auch die spirituelle Dimension von menschlichem Dasein; zum anderen geht es um die sozialen Beziehungen des Einzelnen gegen- über seinen Mitmenschen. Menschliche Würde braucht Bestätigung durch andere; das gilt auch für den Bereich der Menschenrechte. Ein Recht auf Muttersprache kann nicht durch sich selbst und mit sich selbst realisiert werden, sondern nur im sprachlichen Kollektiv. Dieses muttersprachliche Kollektiv, sei es Familie, Dorf oder Primarschule, kann man auch Kultur nennen. Anders formuliert: Die positive Erfahrung von menschlicher Würde ist nicht von der positiven Erfahrung der eigenen Kultur zu trennen. Diese Wechselbeziehungen zwischen Würde, Ich-Entwicklung, Autonomie, Befreiung und Kultur standen zwischen 1930 und 1960 im Mittelpunkt vielfältiger Theorien. Als Individual- und Sozialpsychologie bildeten sie die notwendige Ergänzung zu einem ökonomisch verkrusteten Marxismus, dem es eher um eine Aufhebung ökonomischer, kaum einer psychischen Entfremdung ging. Als Existentialismus ging es Albert Camus (1913-1960), Jean Paul Sartre (19051980) oder Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) um ein in sich stimmiges Leben - jenseits von psychischen Ausbeutungen, Krise, Verzweifelung, Tod, Ekel, Brüchigkeit und Scheitern. Eine Art Höhepunkt erfuhren Diskussionen über das Wechselverhältnis zwischen Würde und Kultur in den anti-kolonialen Manifestationen von Selbstbestimmung und Befreiung, sei es in den USA in den Gedichten der Harlem Renaissance, in Peru bei José Carlos Mariátegui (1895-1930), in Italien bei Antonio Gramsci (1891-1937), 1 im Senegal bei Léopold Sédar Senghor (1906-2001), in der Karibik bei Aimé Césaire (geb. 1913), in Vietnam bei Ho-Chi-Minh (1890-1969), in Algerien bei Frantz Fanon (19251961) oder im Iran bei Ali Shariati (1933-1977). Gegenwärtig steht der Begriff der Würde im Mittelpunkt der theoretischen Schriften von Subcommandante Marcos in Chiapas/ Mexiko. Definiert die politisch Linke ihren Begriff der Würde über das Marxsche Konzept von Entfremdung, wurde dieser Begriff im 19. Jh. sogar zu einem Kampfbegriff der Arbeiterbewegung und mutierte von dort aus zu einem zentralen Begriff im antikolonialen Befreiungskampf, so verankert die politisch Rechte ihren Begriff der Würde nicht nur naturrechtlich, sondern verknüpft ihn völkerrechtlich mit dem Selbstbestimmungsrecht und einem Recht auf Heimat - dies gilt in Deutschland besonders für die Vertriebenenverbände nach 1945. Es ist also durchaus spannend zu sehen, dass es über diesen für das Grundgesetz so zentralen Begriff keinen nennenswerte Dissenz zwischen Links und Rechts gibt, dass es bei der Entstehung des Grundgesetzes über diesen Begriff in den Debatten im Parlamentarischen Rat keine Kontroversen gab. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Also nicht: „die Würde des deutschen Menschen“ oder „die Würde der Erwachsenen“ oder „die Würde der Männer“. Der WürdeBegriff des deutschen Grundgesetzes ist universalistisch, er meint gleichermaßen und gleichwertig die Würde aller Menschen, auch die von Kindern, Frauen, Behinderten, Homosexuellen, Christen oder Muslimen. Genauso wenig wie der eigentlich feudale Begriff der Würde einfach als überholt und altmodisch abqualifiziert werden kann, genauso wenig gehören die beiden türkischen Begriffe „Veref“ und „namus“ einfach und nur der Vergangenheit an. Und so schwierig die Semantik des deutschen Begriffes Würde ist, so schwierig ist sie bei diesen beiden türkischen Begriffen. Sie meinen zugleich Ehre, Ehrgefühl, Ehrenhaftigkeit, Unbescholtenheit, guter Ruf, guter Name, auch Achtung, Würde, Zierde, Ruhm und Stolz. Würde, Veref und namus: Ist dies vielleicht eine von mehreren Brücken zwischen Türken und Deutschen? Wie wichtig eine politische Theorie der Würde gerade für Migranten und neo-kolonisierte Entwicklungsländer ist, sei hier stellvertretend am Werk des iranischen Literaturwissenschaftlers Ali Shariati verdeutlicht. Insbesondere in seiner aus den sechziger Jahren des letzten Jhs. stammenden Vorlesung „Exploitation und Raffinierung der kulturellen Quellen“ reflektiert Shariati über Würde und Identität, Entfremdung und Ersatzkultur. Der Kolonialismus habe den Menschen aussereuropäischer Kulturen ihre Würde mit Gewalt genommen. Nur den, dem man die Persönlichkeit weg nähme, könne man auch versklaven, da man ihn vor sich selbst zu einer Unperson gemacht habe. Die massive Zerstörung und Verzerrung alles Nicht-Europäischen, diese kulturelle Vernichtung hat nach Shariati für die westlichen Industrieländer durchaus auch eine ökonomische Funktion. Der sogenannte Maschinismus des Westens zwinge diesen zu Überproduktion und übersättigten Märkten, zum Export in alle Welt. Da westliche Güter in anderen Kulturen oft jedoch keinen Verwendungszweck hätten, müssten einheimische Gewohnheiten, Geschmäcker und Gebräuche gebrochen und durch europäische ersetzt werden. Eine Umformung des Einheimischen in Europäer zweiter Klasse und zweiter Wahl habe sich auf diese Weise vollzogen. Der Ko- lonisierte wurde zum Menschen als Puppe, ohne eigene Würde, von sich selbst entfremdet, dem man von außen alles überstülpen könne, der die Fähigkeit verloren habe, eine der eigenen Kultur und Tradition entsprechende Wahl zu treffen. Shariati folgert aus solchen Zusammenhängen: Nur, wenn wir zu uns selbst zurück kehren, nur, wenn wir unsere eigene Geschichte und Kultur kennen, nur dann haben wir Würde, nur dann haben wir die Kraft zu wählen, nur dann können wir uns gleichberechtigt mit dem Anderen, dem Fremden austauschen. Würde kann also ganz wesentlich und insbesondere (nicht: nur) in der eigenen Kultur, in der Symbolwelt der eigenen Bezugsgruppe, erfahren werden. Und diese muss sich in polyethnischen Gesellschaften frei entfalten können. Kann sich Würde aber dort nicht entfalten, weil eigene Sprache, eigene Massenmedien, eigene politische Symbole, eigene Religion und eigene Traditionszusammenhänge (Kleidung, Essen, Geschlechterrollen, Erziehungsvorstellungen) von der Dominanzgesellschaft nicht akzeptiert oder sogar diskriminiert und z. T. sogar von Mitgliedern der eigenen Gruppe verachtet werden, sind Aggressionen (gegen die Anderen) und AutoAggression (gegen sich selbst) die Folge. Vor der Folie eines Mischungsverhältnisses zwischen SichSelbst-Nicht-Leiden-Können und Verachtung und Ablehnung durch den Anderen werden Migrant/innen in Deutschland integrationsunwillig und -unfähig gemacht. Hatte Frantz Fanon über die „Verdammten dieser Erde“ (1965) geschrieben, dass der Kolonialismus seine Opfer psychisch verstümmele, dass koloniale Kulturkonflikte seine entmenschlichten Objekte in schizoide Neurosen treibe und diese die Frage nach ihrer Identität nicht mehr beantworten könnten, so sind inzwischen die überdurchschnittlich häufigen psychosomatischen Krankheiten bei Migrant/innen in Deutschland von medizinischer Seite gut belegt. Besonders die bei Migrant/innen überdurchschnittlich anzutreffenden Hautkrankheiten sind als wortwörtli- 2 cher Ausdruck ihrer Kulturkonflikte zu interpretieren: „Aus der Haut fahren“ heißt, sich selbst verlieren; „mit Haut und Haaren“ verweist darauf, dass das Beziehungsgefüge zwischen Migrant/in und Dominanzgesellschaft zu dicht sein kann; wenn „etwas unter die Haut geht“, dann ist auch dieser Prozess so intensiv und dicht, dass Identitäten zerstört werden können; wenn man „seine Haut zu Markte trägt“, wenn man etwas „mit Haut und Haaren“ tut, dann ist das alles viel zu viel, es erstickt und erdrückt, macht kaputt, engt ein und raubt Selbstbestimmung und Freiheit. Viele türkische Migrant/innen der sogenannten dritten Generation haben aus den hier beschriebenen Konflikten inzwischen insofern gelernt, als sie dynamisch und selbständig ihre sehr eigenen Wege gehen. Diese Wege folgen nicht dem des türkischen Vaters, bestehen aber auch nicht aus Anpassung an die deutsche Dominanzgesellschaft. Vielmehr folgen sie der hier beschrieben Erkenntnis, dass man mit dem Anderen nur dann kommunizieren kann, wenn man mit sich selbst im Klaren ist. Loslassen können wird als Vorbedingung von Festhalten einfach gelebt. Gutmeinende Sozialarbeiter und harmonistisch-integrationistische Intellektuelle, universalistische Sozialisten und die eine projektive Fremdenangst kultivierenden deutschen Nationalisten kommen mit der Realität der Migrant/innen in Deutschland immer weniger klar, die daran gehen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Sie nennen solche Tendenzen warnend „Ghettoisierung“ und „Parallelgesellschaft“. Sie sind nicht mehr oder noch nicht in der Lage zu begreifen, dass eine für alle Seiten sozial- und kulturverträgliche Integration ohne die selbstbestimmte Möglichkeit von kultureller Selbstvergewisserung der Migrant/innengruppen nicht zu haben ist. Wenn man all diese Erkenntnisprozesse nachvollziehen kann, sie vielleicht sogar aktiv in politisches Handeln umsetzt, dann, aber nur dann, kann und muss man sie auch ein wenig relativieren. Nur kann diese Einschränkung erst am Schluss des Nachdenkens kommen, sie kann den Nachdenkensprozess nicht einengend beginnen. In polyethnischen Gesellschaften muss sich der Weg von dynamischer, aktiver und intensiver kultureller Selbstvergewisserung den folgenden vier Bedingungen beugen: 1. friedlich, 2. freiwillig, 3. flexibel und 4. selektiv. Vielleicht ist dann zwischen „Loslassen“ und „Festhalten“ eine liebevolle Kommunikation so möglich, wie es im Qur’an in Sure 49, Vers 13 heißt: „Oh, ihr Menschen, wir haben euch von einem Mann und einem Weib erschaffen und euch in Völker und Stämme eingeteilt, damit ihr liebevoll einander kennen lernen mögt.“ Mi. 24. Juli 2002 Univ.Prof.Dr. Anton Pelinka Mi. 11. September 2002 FUEV-Präsident Romedi Arquint Mi. 25. September 2002 Univ.Prof.Dr. Arnold Suppan Mi. 2. Oktober 2002 Univ.Prof.Dr. Garnitschnig / Mag. Kramer Mi. 16. Okt.ober 2002 Univ.Prof.Dr. Pohl / Univ.Doz.Dr. Jordan Tel. 042 39/26 42 E-mail: [email protected] http://www.sodalitas.at VERBRECHEN, SCHULD UND VERANTWORTUNG Überlegungen und Eindrücke eines Besuchers der Wehrmachtsausstellung in Wien Ende Mai hat die zweite Wehrmachtsausstellung ihre Tore in Wien wieder zugemacht; die Veranstalter konnten nach eigenen Informationen eine erfolgreiche Besucherbilanz vorlegen. Das Interesse an einem schwierig, aber wichtig und notwendig aufzuarbeitendem Kapitel der jüngeren Geschichte war groß. Und seit einigen Jahren ist für einen Großteil der österreichischen Bevölkerung auch klar, dass, wenn es um das nationalsozialistische Deutsche Reich geht, ab 1938 auch Österreich (oder wie es so gerne im öffentlichpolitischen Diskurs heißt: das Territorium „Österreich und dessen Bewohner“) gemeint ist. Doch noch immer gibt es – trotz der Erosion und Revision der mythologisierten „Opferthese“ – eine gewisse relativierende Haltung und Einstellung, was die Mitschuld Österreichs an den Verbrechen des Dritten Reiches, und damit auch jenen der Wehrmacht, betrifft (1), abgesehen einmal von dem harten Kern der Revisionisten. Die neu konzipierte Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht: Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-44“ selbst ist das Produkt einer Auseinandersetzung über die erste Ausstellung zum selben Thema, die in den 90er Jahren gezeigt wurde. Philipp Kainz Aufgrund von zum Teil sehr polemisch geführter und überzogener Kritik, vor allem an mangelhaften oder fehlenden Quellenangaben zu Bilddokumenten - den Organisatoren und Ausstellungsmachern wurde unter anderem vorgehalten, mit allen Mitteln eine Demontage der Wehrmacht und der Wehrmachtssoldaten zu betreiben -, stoppte der Mentor und Financier der Ausstellung, Jan Philip Reemtsma, die Ausstellung und unterzog sie einer Überprüfung durch ein Gremium von Experten. Der Evaluierungsbericht relativierte zwar die Vorwürfe zu wesentlichen Teilen, das Ergebnis der durch die öffentliche Polemik initiierten Neukonzipierung ist nun dennoch eine komplett überarbeitete Ausstellung. Diese geht – wie ihre Vorgängerin – wieder auf Wanderschaft und soll in mehreren Städten des deutschsprachigen Raums zu sehen sein. Da ich die erste – und umstrittene – Ausstellung nicht gesehen hatte, kann ich nur von der zweiten sprechen. Im Mittelpunkt – und somit Ausgangspunkt – der Ausstellung steht die Frage nach dem verbrecherischen Charakter der Wehrmacht. Diese Fokussierung ist – zumindest im in Wien gezeigten Design - nicht nur thematisch, sondern auch räumlich 3 ersichtlich: die Tafeln zum Thema „Krieg und Recht“ befinden sich im zentralen Ausstellungsbereich. Gibt es so etwas wie „Recht“ in Zeiten von Krieg? Oder liegt es nicht in der Natur der Sache, dass kriegerische Auseinandersetzungen Unrecht zwangsläufig mit sich bringen? Sind Kriege nicht schlechthin furchtbar und schrecklich, so dass eine Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht zynisch klingt? Das Kriegsrecht hat im Völkerrecht eine lange Tradition, und die Ausstellung zeigt, welche minimalen Standards damals schon üblich waren (das betrifft z.B. die Behandlung von Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung). Diese völkerrechtlichen Vereinbarungen – oftmals kodifiziertes Gewohnheitsrecht – dienen als Hintergrundfolie, vor der die Verbrechen der Wehrmacht ersichtlich werden, weil die Kriegsführung des Dritten Reiches bewusst von den geltenden völkerrechtlichen Grundsätzen abwich. Als zweites Merkmal, um von Verbrechen der Wehrmacht zu sprechen, ist die systematische Vorgehensweise zu nennen: Es waren nicht bloß vereinzelte, unkoordinierte, spontane und nicht genehmigte Aktionen, sondern sie waren geplant und wurden gebilligt. Es gab systematische Erschießungen von Partisanen, ebenso systematisch wurde auch verbrecherisch gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen, die nicht nur als Geiseln diente, sondern auch unter den Repressalien (2) der Wehr- macht und dem Ernährungskrieg zu leiden hatte: alle Ressourcen sollten für das deutsche Volk und die Kriegsmaschinerie bereitgestellt werden. Und die Wehrmacht beteiligte sich massiv am Völkermord an den Juden und anderen als minderwertig bezeichneten Bevölkerungsgruppen. Hier wird die Einbettung der Wehrmacht in die Rassenideologie des Nationalsozialismus besonders deutlich. Die Wehrmacht stand mitten im NS-System und war Teil davon. Zur Erreichung des Ziels, Europa „judenfrei“ zu machen, hatte auch der Soldat an der Front seinen Beitrag zu leisten. Kein Pardon, keine Gnade, die als „falsche Mitmenschlichkeit“ bezeichnet wurde – so lautete auch der „Führerbefehl“. Mit den „Unterrassen“ wurde unmenschlich und zynisch verfahren, dass sie als minderwertig eingestuft wurden, zeigen auch die Dokumente, die den Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen belegen: Katastrophale hygienische Zustände, die Epidemien geradezu provozieren, bewusste Unterernährung und sogar medizinische Versuche sowie Einsatz zur oft todbringenden Zwangsarbeit. Was die Systematik von nationalsozialistischen Kriegsverbrechen – in Umgehung damals geltender Völkerrechtsnormen – angeht, scheint es keinen Zweifel zu geben. Die Ausstellung ist – in Reaktion auf die Polemik um die Bilddokumente der ersten Wehrmachtsausstellung – sehr textorientiert. Sie versucht nicht, durch Fotografien, die Verbrechen der Wehrmacht auf „dramatische Weise“ zeigen, die Auseinandersetzung der BesucherInnen mit der Ausstellung soll über das Wort erfolgen. Ich hatte den Eindruck, als wollte man eine zu starke Emotionalisierung über das Medium Bild vermeiden. Das Furchtbare und Verbrecherische kommt in der Reflexionsarbeit des Besuchers/ der Besucherin im Zusammenspiel von zahlreichen – auch filmischen – Originaldokumenten, wissenschaftlichen Kommentaren und spärlichen Fotos zum Vorschein. Die Ausstellung setzt auf distanzierte, wissenschaftliche Präsentation. Die AusstellungsmacherInnen weisen auch darauf hin, dass es nicht für das gesamte Kriegsgebiet im Osten und Südosten Europas Belege für Wehrmachtsverbrechen gibt. Die Wehrmacht als Institution hat Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Inwieweit sich der einzelne Soldat dem entziehen konnte, welche Handlungsspielräume – so auch der Titel eines Ausstellungsbereiches – es gab, auch davon erzählt die Ausstellung. Sie stellt unterschiedliche Biographien nebeneinander: Es gab Menschen, die trotz Befehlsausführung ihre Menschlichkeit bewahrten, die desertierten und nicht an den Verbrechen mitwirken wollten, oder die sogar versuchten, Menschen vor der Vernichtung zu bewahren mit dem Risiko, erwischt und exekutiert zu werden. Aber es gab auch Menschen, die den Befehl verinnerlichten, an die „Mission“, an das „Herrenmenschentum“ glaubten und bis ans Äußerste Befehle ausführten. Dieser Teil der Ausstellung ist auch deshalb so wesentlich, weil er nicht nur den militärischen Apparat und dessen Führung anklagt, sondern die Frage der Verantwortung jedes einzelnen Soldaten stellt. Konkretes Handeln – auch in Uniform – scheint immer mehrere Möglichkeiten zu beinhalten. Wenn auch sicherlich unter schwierigen und zum Teil lebensbedrohenden Bedingungen, wird deutlich, dass es auch in dieser Kriegssituation Entscheidungsalternativen gab. Und diese Frage nach der Verantwortung des Individuums erhitzt dann auch die Gemüter in der öffentlichen Debatte. In jenem Teil, in dem sich die Ausstellung selbstreflexiv zum einen mit der ersten Wehrmachtsausstellung und zum anderen mit politischen Polemiken, die mit der Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg verbunden wurden, auseinandersetzt, findet man dafür einige Beispiele. Es geht letztlich darum, wie viel die Kriegsgeneration wusste und in welchem Ausmaß sie an Verbrechen beteiligt war. In einer Debatte des deutschen Bundestages über die erste Ausstellung kommt deutlich zum Ausdruck, wie tief der Riss durch die Familien bis heute geht, wie schwierig es ist, Großväter oder Väter im Lichte der „Mittäterschaft“ 4 zu sehen. In dieser als „Sternstunde des Parlaments“ bezeichneten Sitzung ringen die Abgeordneten mit sich, der Vergangenheit ihrer Familie und der Konfrontation mit den Erkenntnissen der Geschichte. In Österreich hingegen kam der ehemalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk nach dem Besuch der zweiten Ausstellung in der Sendung „Betrifft“ zum Schluss, die OrganisatorInnen hätten doch über der gesamten Ausstellung eine Tafel anbringen können, dass nicht der einzelne Soldat als Verbrecher dargestellt wird: also wiederum der Wunsch nach Absolution für alle, anstatt kritischer Aufarbeitung, die die Ausstellung nur anregt. In derselben ORF-Sendung konnte auch Lothar Höbelt, Geschichtsprofessor an der Universität Wien, seine Relativierungsthese vom Typ „Der Krieg ist schrecklich. Alle sind Opfer“ kundtun. Und am 8. Mai – dem Tag der Kapitulation des Dritten Reiches – erinnerte eine Gruppe aus Deutschnationalen, Burschenschaftern und Rechtsextremen, angeführt von höchsten FPÖRepräsentanten, am Wiener Heldenplatz an die Gefallenen des 2. Weltkriegs. Eine kritische Kultur des Erinnerns, der eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte voraus geht, ist noch nicht selbstverständlicher Teil der politischen Kultur Österreichs. Ausstellungen wie diese werden daher auch in Zukunft notwendig sein, damit differenzierte Perspektiven anstelle von SchwarzWeiß-Malereien treten. Anmerkungen (1) Die Beteiligung von Österreichern an den NS-Verbrechen wird zwar nicht geleugnet wird; aber es wird dennoch so darüber gesprochen, als ob die Masse der Bevölkerung davon unberührt war. In diesem Zusammenhang ist etwa auch das Interview von Bundeskanzler Schüssel in der „Jerusalem Post“ vom Herbst 2000 zu verstehen, in dem er zu Beginn erneut klarstellt, dass Österreich als Staat Opfer von Hitlers Aggressionspolitik gewesen sei. (2) Zivilpersonen wurden z.B. als Geiseln genommen, um die in einem Ort vermuteten Partisanen zur Aufgabe zu bewegen. Bei einem Angriff auf Institutionen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches bzw. dessen Repräsentanten wurden diese Geiseln als Vergeltungsmaßnahme erschossen, wobei pro getötetem deutschen Soldat bis zu 10 Zivilpersonen hingerichtet wurden. kung und Mitverantwortung Wehrmachtsangehöriger bei. Die AusstelMichaela Mayrhofer lung ist in sechs Themenkomplexe gegliedert: "Sowjetische Kriegsgesahen die GegnerInnen der Ausstel- fangene“, "Partisanenkrieg", "Völlung den Beweis erbracht, dass diese kermord", "Repressalien und Geiselkeinerlei Legitimität besitze und so- erschießungen", "Ernährungs-krieg" mit auch die Grundthese falsch sein und "Deportationen und Zwangsarbeit". Die Konzeption der Ausstelmüsse. Der Leiter des Hamburger Instituts lung verlangt von den BesucherInnen für Sozialforschung, Jan Philipp viel Zeit – die Textlastigkeit wird Reemtsma, beauftragte eine Histori- aber durch Landkarten, Tonbandkerkommission, den Anschuldigun- und Videoabspielungen (zeitgegen nachzugehen. Ein Jahr später schichtliches Material bis hin zu stellte die Kommission folgende Spielfilmausschnitten, die mit AkriPunkte fest: Erstens, sachliche Feh- bie oftmals doppelt belegt sind) aufler, zweitens, Ungenauigkeiten und gelockert. Tondokumente aus jener Flüchtigkeiten bei der Verwendung Zeit, auf die sich die Ausstellung bedes Materials und drittens Kritik an zieht, werden in Glaskabinen (ausgeder Art der Präsentation und teilwei- stattet mit Stuhl, Tisch und Kopfhöse allzu pauschale und suggestive rer), die an das Nürnberger Tribunal Aussagen. Fälschungen im Sinne der oder heute an Den Haag erinnern lasGrundthese sind nicht festgestellt sen, hörbar. Die Schau „Verbrechen worden, und die Kommission emp- der Wehrmacht. Dimensionen des 1941-1944“ fahl eine Überarbeitung und Neuges- Vernichtungskrieges versucht selbst Konsensgeschichte zu taltung, was denn auch geschah. schreiben, denn sie nimmt Kritik ernst, was unter anderem durch die Die zweite Ausstellung: (Öffentlichkeits-)Politik der neuen „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges Ausstellungsleiter-in Ulrike Jureit deutlich wird. 1941-1944“ Die neue Ausstellung zog „Ver- Was man aktiv im Semperdepot beobrechen der Wehrmacht“ an die erste bachten konnte, war einerseits das Stelle des Titels, dokumentiert den rege Treiben diverser SchülergrupKrieg auf Grundlage des damals gel- pen, welche mit mehr oder weniger tenden, Kriegs- und Völkerrechts, großem Interesse außerhalb des Klasund ist nach ihrem Selbstverständnis senzimmers durch eine Führung beeine eigenständige Schau: Sie vertritt lehrt wurden, und andererseits das wohl die gleiche These, ist vom glei- stille Beschauen der Bilder und Textchen Institut veranstaltet, nur wegen dokumente durch Menschen der älteden Kontroversen um die erste Schau ren Generation, vielfach ehemalige überhaupt entstanden und ruft wei- Wehrmachtsangehörige. Es sei an testgehend die gleichen Reaktionen dieser Stelle angemerkt, dass die Alhervor. Dennoch muss sie tatsächlich tersklasse zwischen 30 und 60 in der als eigenständige Ausstellung be- Minderheit zu sein schien, ja gar trachtet werden: Nicht nur, da die fehlte. Ausstellung eine völlige Neukonzeption darstellt, sondern weil sie die Die Demonstrationen und die erste Wehrmachtsausstellung mit in Wehrmachtsausstellungen die Debatte einbindet. Dadurch eröff- Im Gesamten war die Ausstellung net sie eine neue Dimension, da sie sehr gut besucht, ebenso jene Dedie Aktualität des Sujets verdeutlicht monstrationen, die sich mit einigen und sich selbst durch die Bezugnah- tausend TeilnehmerInnen gegen die me auf die Vorgängerin zum histo- letztlich rund 120 GegnerInnen der risch-wissenschaftlichen Thema Wehrmachtsausstellung richteten, die macht. Sie ist textlastig konzipiert, sich am 13. April 2002 am Wiener beansprucht, die Ungenauigkeiten Heldenplatz zu einer Protestkundgeder Ersten korrigiert zu haben, und bung eingefunden hatten. Ich will behält die gleiche These von Mitwir- hier nicht über die Rolle der Polizei ÜBER DIE AKTUALITÄT VON GESCHICHTE UND MEINUNG In nahezu klinischer Sterilität präsentierte das Hamburger Institut für Sozialforschung seine zweite Ausstellung, um dem noch immer existenten Mythos einer „sauberen Wehrmacht“ erneut entgegenzutreten. Jenem Mythos also, der gerade in Österreich doppelt schwer wiegt, als er der Opferthese zu sekundieren scheint, und die Notwendigkeit nach Aufklärung verdeutlicht. Wie aktuell nun aber Geschichte tatsächlich sein kann, manifestierte sich am 13. April am und um den Heldenplatz, als GegnerInnen und BefürworterInnen der Ausstellung ihre Meinung kundtaten, sich beiderseits ausdrücklich auf die beiden Wehrmachtsausstellungen beriefen und sich somit die Frage stellt: Hatten die DemonstrantInnen beider - frau möchte fast sagen Lager, jene besucht? Muss mensch überhaupt eine der beiden Ausstellungen gesehen haben, um für oder gegen sie zu sein? Die erste Ausstellung: „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“ Die erste Wehrmachtsausstellung wurde zwischen 1995 und 1999 in 33 Städten in Österreich und Deutschland unter dem Titel „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“ gezeigt. Ihre Grundthese, dass Soldaten der Wehrmacht an der Planung und Durchführung des Vernichtungsfeldzuges der Nationalsozialisten im Osten beteiligt gewesen waren, erregte die Gemüter. Was unter HistorikerInnen als unumstritten gilt, stieß manchem gar sauer auf, da die These als Pauschalverurteilung der Soldaten der Wehrmacht missinterpretiert wurde. Einige ehemalige Wehrmachtsangehörige fühlten sich angeklagt und fälschlich verurteilt, Neonazis sahen ihre Helden diskreditiert, einige andere stießen sich an der Bild-Konzeption und wieder andere betrachteten die Existenz einer Gegnerschaft zur Ausstellung an sich als Skandal. Als schließlich einige der gezeigten Bilder als falsch zugeordnet erkannt wurden, 5 sprechen, oder über das NichtVerbieten einer Kundgebung, zu der viele rechtsextreme Gruppen aufgerufen hatten, auch nicht über die Konfusion um den/die Treffpunkt(e) des Protestzuges, vielmehr will ich nun erneut die Frage stellen, ob mensch die beiden Ausstellungen gesehen haben muss, dafür oder dagegen Position beziehen zu können. Wenn jemand die erste Ausstellung nicht gesehen und noch nie etwas von dieser gehört hat, dann kann er/ sie sich im Rahmen der neuen Ausstellung ein Bild von ihr machen. Wenn jemand beide Ausstellungen nicht besichtigt hat und dennoch demonstriert, so kann ich annehmen, dass entweder viel über diese gelesen worden ist, oder wenig bis gar nichts, wobei beides, „entweder“ und „oder“, mich zu dem Schluss kommen lassen, dass mensch aus Motiven des Protests gegen Neonazis u.ä. auf die Straße ging. Dennoch und gerade wenn mensch sich auf etwas so konkret bezieht (besonders im öffentlichen Raum), wie auf die beiden Wehrmachtsausstellungen, kann ein echtes Differenzieren und damit Entkommen aus einem vereinfachenden Geschichtsbild nur dann möglich sein, wenn zuvor eine Auseinandersetzung erfolgt ist. Eben jene Auseinandersetzung erlaubt erst eine seriöse Zuordnung von Bildern und Meinungen. Die Antwort lautet also, dass zumindest eine der Ausstellungen gesehen worden sein oder eine Konfrontation mit ihnen stattgefunden haben und in einem zweiten Schritt der eigenen, selbstgebildeten Anschauung vertraut werden sollte. Aufbereitete Geschichte wie in den beiden Ausstellungen folgt dem Anspruch einen Zugang zu einem Thema aufzuzeigen. Dieser kann angenommen oder abgelehnt werden, aber was zum Schluss bleibt, ist die persönliche Meinung. Weiterführendes: http://science.orf.at/science/news/48772 h ttp : //www .doew . a t/p ro jekt e / r e ch t s / chronik/2002_04/demo.html siehe auch.../ demo3.html und .../demo4.html http://www.wehrmachtsausstellung.de/ http://www.verbrechen-der-wehrmacht.de/ Balkenohl, Stephan: Die Kontroverse um die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" in Münster: eine qualitative Auswertung der Reaktionen. Geschichte 28. (Münster 2000). Bohlinger, Roland (Hg.): Gescheiterter Verleumdungskrieg: die Ausstellung "Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" - Gegengründe, Hintergründe (o.O 2001). Gaisbauer, Helmut P.: Der politische Diskurs zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" in Österreich (Diplomarbeit, Salzburg 2000). Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Verbrechen der Wehrmacht: Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 – 1944. Ausstellungskatalog (Hamburg 2002). Klundt, Michael: Geschichtspolitik: die Kontroversen um Goldhagen, die Wehrmachtsausstellung und das "Schwarzbuch des Kommunismus". PapyRossa-Hochschul-schriften 34 (Köln 2000). Mostbauer, Rainer: Die politische Kultur in Österreich und die Kontroverse über die Ausstellung "Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" (Diplom-arbeit, Wien 2001). Anmerkung Die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" ist vom 9. April bis zum 26. Mai 2002 im Atelierhaus der Akademie der Bildenden Künste in Wien (Semperdepot) gezeigt worden. Im Anschluss an die Kundgebung zogen ca. 100 Teilnehmer - mehrheitlich Skinheads durch die Innenstadt und skandierten "Sieg Heil!" und "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!". Rezension Johannes Hürter: Ein deutscher General an der Ostfront. Die Briefe und Tagebücher des Gotthart Heinrici 1941/42, Erfurt: Sutton, 2001 Max Schneider „Nachdem wir die Russen so unerwartet überfallen haben ...“ schrieb General Heinrici an seine Frau aus der damals besetzten Sowjetunion am 23. August 1941. Heinrici kommandierte damals ein Armeekorps. Später wurde er kommandierender General einer Armee. Wie ist es zu verstehen, dass ein deutscher General, der kein Nationalsozialist war, im persönlichen Umgang wahrscheinlich ein honoriger Mann, nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 am völkermörderischen Vernichtungskrieg führend beteiligt war, ohne gegen die zuneh- 6 mende Verrohung und Brutalisierung und den völligen Zivilisationsbruch durch die deutsche Wehrmacht Widerstand zu leisten? Der Autor gebraucht den Begriff der „Teilidentität der Ziele“ zwischen sehr vielen der hohen Offiziere und der NSBewegung und illustriert das an ca. 100 Seiten Aufzeichnungen, die Heinrici 1941/42 aus dem besetzten Polen und der Sowjetunion als Briefe an seine Frau geschickt hatte, mit der Aufforderung, diese für später aufzubewahren. Er hat diese Tätigkeit lange Zeit weiter geführt. Die Wurzeln der Haltung Heinricis findet der Autor in Herkunft und Sozialisierung, typisch für viele seiner Offizierskameraden. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren, protestantischer Preuße, entstammt er der staatstragenden Schicht aus Herkunft und Besitz, Bürokratie und Militär, Kirche und Bildung. Der Vater war evangelischer Generalsuperintendent und Mitglied des chauvinistischen, antisemitischen Alldeutschen Verbands. Heinrici lebte bis zur Matura im kleinstädtischen Milieu nahe der russischen Grenze. Die Sorge der ostpreußischen Bevölkerung vor der „Russengefahr“ nährte antislawische Ressentiments. Der latente Antisemitismus in ostelbischen Kirchenkreisen tat das seine. Prägend für Heinrici war seine Erziehung im kaiserlichen Heer, das elitäre Standesbewusstsein seines preußischen Regiments, Kriegs- und Revolutionserlebnis 1914-19 und von Mitte 1918 an die Furcht vor und der Hass auf die Revolution. Tagebuch 15.10 und 16.10.1918: „... unser ganzes altes Vaterland ist eingestürzt. Uns regiert jetzt eine Clique von Juden und Sozialisten, der die Internationale über alles geht.“ Wie selbstverständlich setzte er seine Laufbahn als Berufsoffizier fort. Er teilte mit vielen seiner Kameraden den Hass gegen die Weimarer Republik, gegen die „Roten“ und vor allem gegen „ Bolschewiken und Juden“. Der Wunsch nach einem autoritären starken Staat war all diesen Wehrmachtsoffizieren selbstverständlich. Als Hitler 1933 Kanzler wurde, fand Heinrici schon die ersten Regierungsmaßnahmen sehr positiv. In ei- nem Brief an seine Eltern (2.6.1933) heißt es: „Erst wenn Hitler das ganze deutsche Volk militarisiert haben wird und wir selbst wieder eine Macht darstellen, dann wird es die Miesmacher nicht mehr geben. Das werden die Nazis dann schon austreiben, das Volk werden sie schon zu führen wissen.“ Und fast zur gleichen Zeit: „Militärisch haben wir so ungeheuer viel von der neuen Regierung, sie unterstützt alle militärpolitischen Belange in so hohem Maß, wie wir es nur wünschen können.“ Am 27.2.1938 in einer Rede vor Rekruten: „... Die Grundsätze, die unsere neue Wehrmacht Ihnen zu vermitteln bestrebt ist, die die NSWeltanschauung aus dem Geist des Soldatentums geboren, Ihnen immer wieder nahe bringt.“ Heinrici war nicht Mitglied der NSDAP. Im Jänner 1939 war er als Divisionskommandeur Ehrengast bei einer Parteiveranstaltung und notierte über Rosenbergs Rede: „Er sprach eine Stunde über die gräulichen Juden. Die Judenfragen sei erst gelöst, wenn es keine Juden mehr in Deutschland gäbe und sie seien entschlossen, dies auch durchzusetzen. Am besten wäre es, wenn in ganz Europa überhaupt keine Juden mehr sei.“ Im April 1933 hatte Heinrici den pogromartigen Boykott jüdischer Geschäfte als eine unglückliche Maßnahme, die zu vielen Ungerechtigkeiten und Kränkungen führen muss, kritisiert, um wenige Tage später einzuschränken: „Größe rechtfertigt notwendige Zwangsmaßnahmen, auch manche Härten.“ Im April 1941 kam er aus Frankreich nach Polen, um an der Vorbereitung des Überfalls auf die Sowjetunion teilzunehmen. Die ersten Briefe an seine Familie (22., 25., 30. April) zeigen, wie tief eingefressen der Judenhass und übrigens auch die Verachtung der Slawen war: „Schlechtes Wetter. Wanzen und Läuse laufen überall herum. Ebenso schreckliche Juden mit Davidsternen am Ärmel.“ Drei Tage später: „Polen und Juden tun Sklavendienste. Sie arbeiten Tag und Nacht. Rücksichten werden auf sie nicht genommen.“ Am 30. April: „In den Judengassen stinkt es so, dass man nach dem Durchgehen sich die Nase putzen und ausspucken muss, nur um den eingeatmeten Dreck loszuwerden.“ Am 5. Dezember 1941 schrieb er über seine Soldaten: „Ich bemühe mich, diese durchgefrorenen, schlecht bekleideten, verhungerten, ungewaschenen und verdreckten Menschen aufzurichten. Wenn diese Leute der Russe sieht, muss er keine hohe Meinung mehr von unserer Truppe haben.“ Ob Heinrici wohl bewusst war, dass er einige Monate vorher „die Juden“ genauso beschrieben hat, wie nun seine Soldaten, nur unter Weglassung des Wortes „stinkend“. Am 21. Juni nahm das Armeekorps unter Führung Heinricis am Überfall auf die Sowjetunion teil. Die ersten Wochen des Vormarsches, die gewaltigen Erfolge der deutschen Wehrmacht, ließen die Verachtung und Geringschätzung der „Russen“, des sowjetischen Gegners, als berechtigt erscheinen. Die Ausplünderung der Bevölkerung und des eroberten Landes begann mit dem ersten Tag. Am 23. Juni schreibt er nach Hause: „Überall nehmen unsere Leute ... den Bauern die Pferde weg. In den Dörfern großes Geheul und Wehklagen. So wird die Bevölkerung ‚befreit’. Das Land muß allerdings auch genügend hergeben. Hühner, Schweine und Kälber lassen in reichlichem Maß ihr Leben.“ Einige Wochen später zum selben Thema: „... Wir selbst leben aus dem Lande. Die Truppe lebt sonst nicht schlecht. Sie futtert einfach das Land leer.“ Kein Wunder, dass der Widerstand wächst, auch die Zahl der Partisanen, zunächst mit Hasse und Verachtung betrachtet. Am 20. Juli schreibt er nach Hause: „Die russischen Partisanen sind besonders hinterlistig, sie werfen sich in den Kornfeldern hin, stellen sich tot und schießen von hinten auf unsere Leute. Die machen sie dann erbittert nieder. Einige Monate später ändert sich der Ton: Die Standhaftigkeit der Partisanen beeindruckt alle. Niemand verrät etwas. Fast immer leiden diese Leute mit stoischer Gleichmut den Tod. Sie verraten nichts und sagen nie etwas aus. Sie antworten nur, wenn sie im stundenlangen Verhör überführt sind. 7 Ein 18jähriger knüpfte sich selbst die Schlinge, rief ‚Ich sterbe für den Kommunismus!’ und sprang hinein. Solche fanatischen Kämpfer des Kommunismus gibt es in Menge.“ Die Einschätzung der Russen ändert sich zunehmend. Skeptische Bemerkungen tauchen auf. 1. August: „Es haben sich alle in den Russen verschätzt.“ Am 23. August hatte er nach Hause berichtet: „Es scheint in Russland alles unter einem furchtbaren Terror zu stehen ... nachdem wir die Russen so unerwartet überfallen haben kann man sich vorstellen, dass viele, eben auch nicht gleichdenkende, aus Vaterlandsliebe auf Stalins Seite treten ... der Krieg hier kommt uns sehr teuer. Ob er wirklich nötig war?“ Nach weiteren militärischen Erfolgen gibt es auch wieder andere Töne. Im Oktober 1941 hofft er auf die Eroberung Moskaus und schreibt an seine Frau: „Ob wir in das Kommunistennest hineingehen oder es verhungern und erfrieren lassen ... werden wir erst sehen. Wegen der Weihnachtsgeschenke aus Moskau mach Dir keine Sorgen.“ Am 5. Dezember 1941 begann die erste erfolgreiche Gegenoffensive der roten Armee, der Vormarsch der deutschen Wehrmacht wurde zum ersten Mal gestoppt. Schon vorher, aber besonders von da an, finden sich auch andere Töne in Heinricis Briefen. Am 15. November 1941 erste Kritik: „Guderian hat uns gegen unseren Widerspruch in ein Unternehmen hineinjagt, dass sich totlaufen musste und uns nun schwere Verluste kostet.“ Am 6. Dezember berichtet er, die Kampfregimenter seien in bitterster Stimmung, Anklage auf Anklage gegen die oberste Führung, die nicht rechtzeitig erkannt hat, wann ein Ende gefunden werden muß. Noch im Deuember notiert Heinrici: „Jetzt ist auch der obersten Führung die Gefahr klar. Vorher hat niemand auf die Warnrufe gehört. Nun heißt es ‚Opfert Euch!’ um die Lage wieder gut zu machen.“ Am Weihnachtstag schreibt er nach Hause: „Das Verhängnis schreitet fort und oben in Berlin an oberster Stelle will niemand es sehen. Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit ... der Frü- her will es nicht glauben.“ Am 1. Jänner 1942 besucht ihn General Felber, Kommandeur der benachbarten Armee und notiert in seinem Tagebuch am 2. Jänner: „Der Krieg ist verloren.“ Um so unverzeihlicher, dass diese Generäle praktisch bis zum Ende den Krieg engagiert mittrugen. Die bedingungslose Verachtung der Russen, Bolschewiken und Juden und anderer, der Glaube an den Endsieg, machten wenige Wochen nach dem Einmarsch in der Sowjetunion 1941 und nach den ersten Niederlagen im Dezember vor Moskau einer gewissen Unsicherheit und Skepsis Platz. Heinrici war als hochrangiger Kommandeur mitbeteiligt am Werteverfall, am Bruch aller Tabus, wahrscheinlich als Ausfluß seiner zumindest ursprünglichen Billigung des Rassenkriegs und der Errichtung eines Herrenvolksregimes mit allem, was das NS-Regime mit sich brachte. Er musste 1942 bereits die Unausweichlichkeit der Niederlage erkannt haben. Die Treue zu einem Führer, dem man eigentlich nicht mehr ver- trauen konnte, sein Soldateneid waren ihm wichtiger, als die moralische Verantwortung gegenüber seinen Soldaten und dem deutschen Volk. Ende April 1942 geriet er mit den Feldmarschällen Keitel und Jodel in Konflikt, weil er als Folge ihrer Befehle sinnlose Menschenopfer befürchtete, die er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte. Aber statt Befehlsverweigerung und eigenmächtigem Handeln wählt er den Ausweg, von seinem Posten zurückzutreten. Die Männer, die er geführt und im April 1945 verlassen hatte, konnten nicht demissionieren. Wenn er seiner Frau im Mai 1945 in einem Brief von seiner inneren Erschütterung, seinen seelischen Qualen, Zweifeln und inneren Kämpfen berichtet, dass Gehorsam, Gewissen und eigene Überzeugung miteinander gerungen hätten, so mag diese in Retrospektive ehrlich sein – genutzt hat es außer ihm niemanden. General Heinrici begab sich nach Kriegsende offenbar in englische Kriegsgefangenschaft (28. Mai 1945, Flensburg) und kehrte im Mai 1948 nach Deutschland zurück. Vor einigen Jahren hat ein Vortragender der österreichischen Landesverteidigungsakademie die These vom „Präventivschlag“ der deutschen Wehrmacht vertreten. Ihm und seinesgleichen wäre die Lektüre der Briefe Heinricis zu empfehlen. Beiträge von: Univ.Prof.Dr. Jörg Becker, Politikwissenschaftler, Universität Marburg Philipp Kainz, Student der Politikwissenschaft, Universität Wien Michaela Mayrhofer, Studentin der Politikwissenschaft, Universität Wien; Mitarbeiterin von Radio Stimme Max Schneider, ehem. Widerstandskämpfer, Wien Die GFPA im Internet http://gfpa.uibk.ac.at/ Sponsoring Post Zulassungszahl GZ 02Z030846 S Verlagspostamt 6020 Innsbruck Medieninhaber: Gesellschaft für politische Aufklärung, 6020 Innsbruck, Universitätsstraße 15, Tel.: 0512/5077057. Satz: Palli & Palli OEG, 6020 Innsbruck, Druck: Druckerei Augustin, 6020 Innsbruck 8